Grossbritannien - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 04 Oct 2023 04:58:41 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Grossbritannien - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Freie Debatte unerwünscht https://condorcet.ch/2023/10/freie-debatte-unerwuenscht/ https://condorcet.ch/2023/10/freie-debatte-unerwuenscht/#comments Wed, 04 Oct 2023 04:58:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=15065

Der Condorcet-Blog möchte einen Meinungsaustausch zu Bildungsfragen ermöglichen, wobei konträre Ansichten ausdrücklich erwünscht sind. Dies ist nicht selbstverständlich, da sich Interessierte zunehmend solchen Diskursen entziehen, wenn sie Beiträge lesen, die ihren Ansichten widersprechen. Dass dies auch in einem Land geschieht, das mit der Magna Charta und der Glorious Revolution den Weg für die westlichen Demokratien geebnet hat, lässt aufhorchen. Folgender Artikel von Anna Fazackerley im Guardian vom 01.Oktober 2023 schildert Beunruhigendes aus England. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat ihn übersetzt.

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Es fühlte sich an wie Diktatur (1)

 Englische Unterrichtsexperten wehrten sich gegen die Anordnung der Regierung, sie am Reden zu hindern

Spezialisten, welche die offizielle Bildungspolitik kritisieren, behaupten, das Erziehungsministerium führe geheime Akten über sie.

Felix Schmutz, Baselland: Übersetzt einen Artikel des Guardian
Anna Fazackerley, Journalistin des Guardian: Systematische Überwachung durch das Erziehungsministerium.

Es geschah an einem Dienstag Abend im März, zwei Tage, bevor Ruth Swailes, eine Expertin in Früherziehung, nach Manchester reisen sollte, um an einer Konferenz zu sprechen. Nichts an der Veranstaltung – die Gründung einer von der Regierung finanzierten Austauschplattform zur Verbesserung der Erziehung von Kindern unter fünf Jahren – war ihr als kontrovers erschienen. Aber an jenem Abend öffnete sie ein Mail ihres Co-Referenten, Dr. Aaron Bradbury, das besagte, dass die Regierung sie beide von der Teilnahme an der Veranstaltung ausschliesse.

Ausserdem erklärte die Stiftung, die von mehreren Akademien unterstützt wird und die Konferenz organisierte, dass das Erziehungsministerium (EM) der ganzen Veranstaltung den Stecker ziehen wolle, da zwei ‘nicht genehme’ (unsuitable) Experten eine Plattform erhalten sollten.

«Es war schockierend», meint Swailes heute. «Ich schickte dem EM sofort eine Mail, aber sie sagten nur, sie würden sich mit mir in Verbindung setzen. Es fühlte sich alles an wie eine hinterhältige Intrige (cloak and dagger).

Die Organisatoren waren entsetzt – und hielten eisern daran fest, dass Swailes und Bradbury, Co-Autoren eines Bestsellers über die frühe Kindheit, die Erlaubnis zu sprechen erhalten sollten.

Ruth Swailes, Expertin in Früherziehung: Es war schockierend.

Nach etlichen Verhandlungen war das EM einverstanden, dass die Veranstaltung durchgeführt werden konnte, aber nur, wenn Swailes und Bradbury virtuell über Zoom erscheinen würden. Swailes vermutet, dies sei verlangt worden, damit die Behörden «uns abschalten könnten, wenn sie nicht mit uns einverstanden wären.»

Die Stiftung lehnte Zoom ab, indem sie geltend machte, dass sie nicht gut den 120 Kinderbetreuer(innen) das Weekend belegen und sie quer durchs Land reisen lassen könnten, um ihnen einfach nur einen Bildschirm vorzusetzen.

Nachdem Swailes und Bradbury das EM darüber informiert hatten, dass die Anwälte, die sie konsultiert hatten, ein düsteres Urteil abgäben über die Versuche, sie zum Schweigen zu bringen, erhielten die beiden Experten die Erlaubnis, persönlich reden zu dürfen. Aber Swailes bemerkt, dass ein höherer Regierungsbeamter aufkreuzte, um sie zu ‘überwachen’.

Bradbury, der damals das EM gerade über die Weiterbildung des Betreuungspersonals beriet, fand den Vorfall ‘traumatisch’. «Gesagt zu bekommen, dass wir diese Debatte nicht führen können, fühlte sich an, wie wenn wir in einer Diktatur und nicht in einer Demokratie leben würden», meint er.

Ich entdeckte, dass sie mich konsequent überwachten.

Auch Swailes war beunruhigt. Sie stellte einen Antrag auf Akteneinsicht, der das EM zwang, alle e-mails oder Dokumente, die ihren Namen enthielten, herauszugeben. Die Antwort war ‘unheimlich’, meinte sie, und öffnete eine ganze Pandorabüchse (can of worms) quer durch ihren Berufssektor, da andere Erziehungsfachleute, die ebenfalls dafür bekannt waren, ihre Meinung frei zu äussern, ihre eigenen Einsichtsanträge stellten.

«Ich entdeckte, dass sie mich konsequent überwachten», sagt Swailes. Die Akte, die sie sich verschafft hatte, hob Tweets hervor, in denen sie sich kritisch über Ofsted, das Schulinspektorat, äusserte. Die Akte vermerkte Fälle, in denen sie Tweets mit einem «like» versah, die Birth to 5 Matters (Die Zeit zwischen Geburt und fünf Jahren zählt), propagierten, einen Ratgeber, der von einem Zusammenschluss von Früherziehungsexperten, nicht aber von der Regierung verfasst worden war.  Ein e-mail nennt sie eine langjährige Kritikerin der regierungskonformen Früherziehung – etwas, was sie als unwahr bezeichnet.

Welche Leute auch immer Swailes auf Twitter (heute X) nachspürten – die Namen wurden unkenntlich gemacht, so dass sie keine Ahnung hatte -, diese Leute werden auch Beiträge über den Kampf ihres Mannes Pete mit dem tödlichen Krebs gesehen haben und über die Gruppe von Fremden und Freunden, die Bilder von ihren «schicken Socken» posteten, um ihn aufzuheitern.

«Als wir Regierungsvertreter trafen, um mit ihnen über ihren Versuch, uns am Reden zu hindern, zu sprechen, wies ich darauf hin, dass ich freischaffend und eine kürzlich verwitwete alleinerziehende Mutter sei», erklärt sie. «Ich sagte: «Ich habe zwei Töchter, und mein guter Ruf ist mein Lebensunterhalt, deshalb ist nichts von Ihrem Verhalten OK.»

Neun andere Erziehungsfachleute haben inzwischen ähnliche – oft sehr umfangreiche – Akten des EM aufgedeckt, die ihre Tweets und ihre kritischen Ansichten sammelten. Viele andere warten noch auf Bescheid.

Carmet O’Hagan, eine Beraterin und Expertin in modernen Fremdsprachen, sagt, die Lektüre ihrer 37 Seiten Korrespondenz über sie, welche auch eine Excel-Tabelle enthielt, mit wem sie verkehrte, sei «bedrückend und verletzend».

(1) https://www.theguardian.com/education/2023/sep/30/it-felt-like-a-dictatorship-uk-teaching-experts-hit-out-at-government-bid-to-cancel-them

 

 

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Was Lehrer in europäischen Ländern verdienen https://condorcet.ch/2023/05/was-lehrer-in-europaeischen-laendern-verdienen/ https://condorcet.ch/2023/05/was-lehrer-in-europaeischen-laendern-verdienen/#respond Sun, 14 May 2023 13:28:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=13920

Deutschlands Schulen suchen verzweifelt Personal, vielerorts ist der Unterricht gefährdet. Doch eine langfristige Lösung ist nicht in Sicht, kaum einer will noch Lehrer werden. Können andere Länder hier Vorbild sein? Ein Überblick zeigt, wie andere Länder ihre Pädagogen behandeln – und bezahlen. Wir publizieren einen Bericht der WELT-Journalisten Martina Meister, Virginia Kirst, Julia Wäschenbach, Mandoline Rutkowski, Philipp Fritz.

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Der Fachkräftemangel im deutschen Bildungssystem ist enorm. Die Kultusministerkonferenz prognostiziert, dass bis zum Jahr 2025 rund 25.000 Lehrkräfte fehlen werden. Der Lehrerverband hält das für untertrieben: Präsident Heinz-Peter Meidinger zufolge liegt die Zahl der unbesetzten Stellen bereits jetzt zwischen 32.000 und 40.000. Was tun?

Mit früher Verbeamtung locken, mit Umzugspauschale, mit höheren Gehältern? Die Deputate aufstocken, die Klassen vergrößern, mehr Online-Unterricht anbieten? Keine der Ideen, die derzeit öffentlich diskutiert werden, scheint das grundsätzliche Problem zu lösen: Zu wenige junge Menschen wollen Lehrer werden. Wie sieht das in anderen Ländern aus? Ein Überblick.

Frankreich: Über 4000 Stellen konnten nach landesweiten Aufnahmeprüfungen ins Lehramt nicht besetzt werden.

Frankreich

Die Lage an den Schulen ist angespannt – und das seit Jahren. Hauptgrund für den chronischen Lehrermangel ist die miserable Bezahlung. Im Durchschnitt verdienen die Pädagogen in unserem Nachbarland nur die Hälfte ihrer deutschen Kollegen. Das soll sich ändern. „Kein Lehrer wird seine Karriere mehr mit einem Nettogehalt von unter 2000 Euro beginnen“, versprach Präsident Emmanuel Macron. Ein „Pakt für die Lehrenden“ soll außerdem Honorare für Zusatzleistungen ermöglichen.

Die schlechte Bezahlung hat auch Auswirkungen auf das Ansehen der Lehrer. In einer Vergleichsstudie von 2018 geben nur sieben Prozent der französischen Lehrkräfte an, „angemessene gesellschaftliche Anerkennung“ zu bekommen, während der OECD-Durchschnittswert bei einem Viertel liegt.

Zu Schuljahresbeginn im Herbst fehlten an weit über der Hälfte der Schulen Lehrkräfte. Über 4000 Stellen konnten nach landesweiten Aufnahmeprüfungen ins Lehramt nicht besetzt werden. Die Akademie von Versailles veranstaltete daraufhin sogenannte job datings, bei denen innerhalb von nur einer halben Stunde Aushilfskräfte rekrutiert wurden.

Sie müssen ihre Karriere in der Regel in Vorstädten beginnen, wo die Arbeitsbedingungen wegen der mangelnden sozialen Durchmischung hart sind.

Der Beruf ist für junge Menschen nicht nur wegen des Gehaltes unattraktiv, sondern auch wegen der eingeschränkten Mobilität. Sie müssen ihre Karriere in der Regel in Vorstädten beginnen, wo die Arbeitsbedingungen wegen der mangelnden sozialen Durchmischung hart sind. „Wir glauben, dass die Bedingungen für besondere Attraktivität geschaffen werden müssen und den Rektoren in Sachen Zulagen mehr Manövrierfähigkeit gelassen werden muss“, sagt Pierre Moscovici, Präsident des französischen Rechnungshofes, der eine Reform der Lehrerausbildung fordert, um den Beruf attraktiver zu machen.

Macron, dessen Ehefrau Brigitte Lehrerin war, hatte bei Amtsantritt 2017 grundlegende Änderungen versprochen. In sozialen Brennpunkten wurde die Klassenstärke an Grundschulen halbiert. Die schlechten Bedingungen an öffentlichen Schulen und der häufige Unterrichtsausfall führen jedoch dazu, dass Gutverdiener ihre Kinder immer häufiger auf Privatschulen schicken. Martina Meister

Italien

Auch Italien kann beim Lehrerberuf nicht als Vorbild für Deutschland dienen: Rom zahlt seinen Lehrern in der Grundschule mit rund 36.000 Euro jährlich bei 15 Jahren Berufserfahrung nicht nur eines der niedrigsten Gehälter Westeuropas. Auch der Einstieg in den Beruf ist oft prekär: Anwärter arbeiten jahrelang mit Verträgen, die auf ein Schuljahr befristet sind und beziehen im Sommer Arbeitslosengeld, bevor sie fest eingestellt werden.

Quelle: Infografik WELT

Trotzdem gibt es viele Bewerber, weil Lehrer verbeamtet werden und vielen Italienern die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes über alles geht. Dass trotz dieser Umstände zu Schulbeginn oft Pädagogen fehlen – im September 2022 waren es landesweit rund 200.000 –, liegt wiederum daran, dass sich die öffentlichen Bewerbungs- und Einstellungsrunden wegen zu viel Bürokratie in die Länge ziehen. Einspringen müssen dann wieder die befristeten Lehrkräfte. Virginia Kirst

Dänemark Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Dänemark

Auch Deutschlands nördlicher Nachbar Dänemark spürt den Lehrermangel heute schon – und es soll noch dramatischer werden. Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. Schon heute haben etliche Lehrkräfte an den öffentlichen Grundschulen in Dänemark keine Lehrerausbildung. Frisch ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer verlassen die Schulen oft schon nach wenigen Jahren wieder – und geben häufig die Arbeitsbedingungen als Grund an. Dabei ist zumindest das Gehalt im europäischen Vergleich gut: Zum Einstieg verdienen Lehrkräfte etwas mehr als 4000 Euro im Monat.

Um den Lehrermangel zu bekämpfen, will die Regierung unter anderem die Ausbildung verbessern. Das Ziel: mehr Praxis-Erfahrung, mehr Qualität in der Lehre und in der Fortbildung. Der neue dänische Unterrichtsminister Mattias Tesfaye will für die Schulen auch mehr Geld in die Hand nehmen – und meint damit nicht die Ausstattung mit iPads und Smartboards. Im Gegenteil hat Tesfaye die dänischen Schulen vor Kurzem dazu aufgerufen, den Unterricht wieder analoger zu gestalten. Die Digitalisierung habe den Schulunterricht einförmiger gemacht, beklagt auch der dänische Lehrerverband – und damit nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für deren Lehrkräfte uninteressanter. Julia Wäschenbach

Großbritannien

Schlechte Bezahlung, Krise im Bildungssystem

Rishi Sunak hat Großes vor. Um die Wirtschaft anzukurbeln, will der britische Premier den Mathematikunterricht bis zum 18. Lebensjahr verpflichtend machen. Das Problem: Das Schulsystem steckt in der Krise. Staatliche Einrichtungen sind seit Jahren unterfinanziert, das Land leidet an einem akuten Lehrermangel. Nach Angaben der National Foundation for Educational Research wird die Regierung in diesem Monat weniger als die Hälfte ihres Einstellungsziels von 26.000 Sekundarlehrern erreichen.

Das liegt vor allem an der schlechten Bezahlung. Die Gehälter in England sind nach Angaben des Instituts zwischen 2010 und 2022 um durchschnittlich elf Prozent gesunken. Derzeit verdient ein Lehrer zwischen 28.000 und 38.810 Pfund (umgerechnet zwischen 32.000 und 44.100 Euro) pro Jahr.

Im März hatten die britischen Lehrergewerkschaften ein Angebot der Regierung abgelehnt: Eine Gehaltsanpassung um rund 4,3 Prozent und eine Einmalzahlung von 1000 Pfund (rund 1140 Euro). Neue Verhandlungen sind nicht geplant. Elle Crossley, Ökonomin am Center for Economics and Business Research, schätzt die verlorene Wirtschaftsleistung von Lehrern und Universitätsmitarbeitern durch Streiks in diesem Jahr auf 270 Millionen Pfund (307 Millionen Euro).

Sunaks Rechnung scheint nicht aufzugehen. Politiker-Berater Sam Freedman schrieb auf Twitter: „Wenn du Tausende Mathematiklehrern zu wenig + die Reallöhne 13 Jahre lang gekürzt hast + eine Richtlinie einführst, die Tausende mehr Mathematiklehrer erfordert, wie wahrscheinlich ist ein Gelingen?“ Mandoline Rutkowski

Polen: Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Polen

93 Prozent aller Lehrkräfte in Polen wollen in den Vorruhestand gehen können. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Fachzeitschrift „Glos Nauczycielski“. Das liegt vor allem daran, dass polnische Lehrer in der Regel nur wenig verdienen. Ein Lehrer der Grundstufe zum Beispiel verdient durchschnittlich 4432,15 Zloty, umgerechnet weniger als tausend Euro, monatlich – und zwar brutto. Bei Lebenshaltungskosten in den Großstädten, die vergleichbar mit denen in Deutschland sind, ist das ein Hungerlohn. Dennoch ist die Zahl der Lehrer in Polen in den vergangenen Jahren leicht gestiegen. Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Und die Schüler? Die liefern seit Jahren Spitzenleistungen. Laut Pisa-Studie belegen polnische Schüler in den Disziplinen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften weltweit die Plätze fünf oder sechs.

Für viele Polen ist der Lehrerberuf trotz der überschaubaren Bezahlung attraktiv. Im Vergleich zu Deutschland gibt es innerhalb der Schulen nämlich viele Aufstiegsmöglichkeiten, das Bildungswesen ist gut digitalisiert, was die Arbeit erleichtert.

Und die Schüler? Die liefern seit Jahren Spitzenleistungen. Laut Pisa-Studie belegen polnische Schüler in den Disziplinen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften weltweit die Plätze fünf oder sechs. Davon kann Deutschland nur träumen. Philipp Fritz

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Michaela – The Power of Culture https://condorcet.ch/2022/11/michaela-the-power-of-culture/ https://condorcet.ch/2022/11/michaela-the-power-of-culture/#respond Tue, 22 Nov 2022 19:17:50 +0000 https://condorcet.ch/?p=12376

Die kämpferische Katharine Birbalsingh, Leiterin der Michaela-Schule in Londons «Brennpunkt»- Stadtteil Brent, veröffentlichte 2020 ein Buch, in dem ihre Lehrpersonen das pädagogische Konzept und die Praxis der Schule ausführlich darstellen. Gegen alle Bedenken und Widerstände der Mainstream-Pädagogik gelang es Birbalsingh und ihren Mitstreitern 2014, ihre auf traditionelle Werte ausgerichtete Sekundarschule zu eröffnen. Inzwischen erfüllt Michaela Standards, die sie im nationalen Vergleich zur fünftbesten Schule Grossbritanniens machen. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat das Buch gelesen. Die Redaktion legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass das zum Teil harte Disziplinarregime keineswegs auf Schweizer Schulen übertragbar ist. Unstrittig ist dagegen, dass die Rückbesinnung auf eine pädagogische Praxis, die wirkt und der Situation angepasst ist, erfolgversprechender ist, als die Wunschprosa mancher Bildungsexperten.

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Condorcet-Autor Felix Schmutz, Baselland

Der Titel «The Power of Culture” ist doppeldeutig: Mit «culture» ist einerseits die in der Schule umgesetzte, den Alltag bestimmende Philosophie gemeint, anderseits die Konzentration auf traditionell exemplarische Lerninhalte und Lernmethoden. Im Zusammenspiel ergibt sich, so der Tenor des Buches, eine machtvolle Wirkung auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Die Lernenden finden trotz ihrer Herkunft aus benachteiligten Familien, aus einer Gegend mit Bandenkriegen und Messerstechereien zu erstaunlichen akademischen Leistungen, die ihnen sogar den Zutritt zu begehrten Studienplätzen eröffnen.

Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden.

Michaela tritt mit dem Anspruch auf, die fehlgeleiteten Reformen der letzten Jahre zu korrigieren. Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden: Kompetenzen, standardisierte Tests, schülerzentriertes Arbeiten, selbstentdeckendes Lernen, Nachteilsausgleiche, Abschaffung der Hausaufgaben, Nachsicht bei Schwänzen seien Konzepte, die den Benachteiligten nicht geholfen hätten, sondern im Gegenteil dazu beigetragen hätten, ihre Chancen zu verringern.

Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing.

Katahrina Birbalsingh, Schulleiterin Michaela School, London: Die Bildungsforscher sollten auch von uns lernen.

Die Kolleginnen und Kollegen der Michaela-Schule begründen diesen bei Schulbehörden und Erziehungswissenschaftlern unbeliebten Standpunkt argumentativ überzeugend und präsentieren ihre Lösungen, um dem verhängnisvollen Matthäus-Effekt entgegenzuwirken:

 

  • Zentral ist der Gedanke, benachteiligten Kindern nicht mit einer Form von Nachsicht und Milde zu begegnen, die ihr soziales Fehlverhalten und ihre Lerndefizite entschuldigt. Damit würden sie von Anfang an als Opfer einer ungerechten Gesellschaft angesehen, ihre Lebensenergie, aus sich etwas zu machen, werde gleichsam erstickt, ihnen werde vermittelt, sie könnten ja doch nichts erreichen (victimhood). Vielmehr müssten sie ermutigt werden, trotz möglicher Nachteile das Beste aus sich zu machen, alles zu mobilisieren, was sie an sich selbst verändern und verbessern können und nach Höherem zu streben. Unabhängig von ihrem allfälligen Migrationshintergrund oder ihrer Religion sollen sie mit britisch-europäischem Gedanken- und Kulturgut vertraut gemacht werden, um sich fest in die einheimische Gemeinschaft einbetten zu können.

 

  • Daraus ergeben sich Konsequenz und Achtsamkeit im Schulbetrieb: Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing, Lärmen und Toben in den Gängen (Schweigepflicht beim Zimmerwechsel), Nichterledigen der Hausaufgaben. Verstösse werden täglich mit Nachsitzen (detention) oder Verweisen (demerits) geahndet. Die Lernenden werden ermuntert, freiwillig ihre I-Phones abzugeben (digital detox), stattdessen können sie einfache Natels beziehen, die keine Internetverbindung haben. Aus der Schule verbannt wird gewaltverherrlichender Rap, stattdessen ertönen über die Lautsprecher bei der morgendlichen Zusammenkunft (register) klassische Musikhäppchen. Eingefordert werden kameradschaftliches Benehmen und mündlich und schriftlich geäusserte Dankbarkeit (gratitude) gegenüber Lehrpersonen und dem schulischen Personal. Jeden Morgen erzählt die beauftragte Leitungsperson eine aufbauende Geschichte.

 

  • Was nach drakonischem Drill oder Indoktrination aussieht, wird jedoch kompensiert durch eine besondere Art der ständigen, individuell ausgerichteten Zuneigung und Förderung. Den Verweisen bei Fehlverhalten wird Lob gegenübergestellt bei Wohlverhalten, beim Erfüllen von Leistungsanforderungen, bei Fortschritten – und seien sie auch noch so gering. Strafen werden nicht ohne persönliche Gespräche verfügt. Bei fachlichen Schwierigkeiten werden bereitwillig Nachhilfe und Betreuung geleistet. Ermutigung und Beziehungsarbeit zwischen Lehrpersonen und Lernenden stehen bei Michaela an erster Stelle. Gemeinschaftsgeist und Individuum sollen auf diese Weise gleichgewichtig gestärkt werden (care for our pupils).

 

  • Die Lehrkräfte pflegen einen geführten Unterricht aus der Überlegung, dass die Lernenden wenig von zu Hause mitbringen und deshalb
    Where “working hard and being kind” are part of the curriculum.

    an die Inhalte herangeführt werden müssen. Der Lehrplan hält sich in allen Fächern an bewährte traditionelle Inhalte: Geschichtliche Epochen vor thematischen Längsschnitten, exemplarische literarische Werke (Shakespeare) vor modischer Betroffenheitsliteratur, Beherrschung der rechnerischen Grundoperationen vor Benützen des Rechners. Das Wissen wird schrittweise und systematisch aufgebaut, wobei darauf geachtet wird, dass sich die entscheidenden Inhalte sowohl langfristig einprägen (rote learning and inflexible learning) als auch vertieft und strukturiert für Anwendungen zur Verfügung stehen (flexible knowledge). Die methodischen Verfahren und die Formen der regelmässigen Überprüfung mit quizartigen Tests werden im Buch detailliert erläutert, auch um falschen Vorstellungen vorzubeugen.

 

  • Die Schule pflegt eine Kultur der offenen Klassenzimmer. Kolleginnen und Kollegen besuchen sich ständig unangekündigt gegenseitig im Unterricht und geben einander Anregungen, was sie gut finden oder was verbessert werden könnte. Birbalsingh zieht diese Offenheit und Ermutigungsform dem allgemein üblichen Qualitätsmanagement mit Zielvereinbarungen (targets) und dem Ausrichten von Leistungslöhnen oder Belohnungen vor. Die Zusammenarbeit wird durch intensive fachliche und pädagogische Austausch-Kolloquien gepflegt. Neue Angestellte werden von den Kolleginnen und Kollegen sorgsam eingeführt und mentoriert. So herrscht in der Michaela-Schule eine Art Unité de doctrine (alignment), die das Kollegium dauerhaft weiterentwickelt.

 

Die Zusammenfassung einiger Aspekte der Michaela-Schule zeigt auf, wie die öffentliche Schule einen Ausweg aus der Reformmanie finden könnte. Es ist gleichzeitig eine Rückbesinnung auf grundlegende erzieherische und inhaltliche Prinzipien wie auch eine Hinwendung zu einer betreuenden und fördernden Organisation. Nachdem 2020 die ersten Jahrgänge die Schule mit Erfolg verlassen haben, ist es noch zu früh, um abschliessend zu beurteilen, ob das Konzept von Michaela dauerhaft erfolgreich sein wird.

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Katharine Birbalsingh im Shitstorm https://condorcet.ch/2022/09/katharine-birbalsingh-im-shitstorm/ https://condorcet.ch/2022/09/katharine-birbalsingh-im-shitstorm/#respond Tue, 27 Sep 2022 08:03:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=11740

Am 10. Februar berichtete unser kürzlich verstorbener Gastautor, Peter Aebersold, über eine Brennpunktschule in London (https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/). Die Brennpunktschule Michaela Community School aus dem unterprivilegierten, mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Londoner Stadtbezirk Brent überflügelte, so seine Aussage, die meisten britischen Schulen. Die Schulleiterin und Mitbegründerin der Schule Katharine Birbalsingh, galt als die härteste Schulleiterin Grossbritanniens. Nun ist auch sie in den Fokus der Kritik geraten.

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Peter Aebersold schrieb am 10. Februr 2020:

Die 2014 gegründete Michaela Community School: Eine erfolgreiche Brennpunktschule.

«Indem die Michaela Schule auf den bewährten Klassenunterricht, auf geordnete Strukturen und traditionelle Werte wie Autorität, Anstand und Disziplin setzte, schaffte sie den „Brexit“ aus der 50jährigen Geschichte erfolgloser progressiver Schulreformen in Grossbritannien. Dabei setzte sie nicht nur das nie erreichte Ziel dieser Reformen, die Chancengleichheit, in die Tat um, sondern erzielte vier Mal bessere Ergebnisse als der nationale Durchschnitt.

Mehr als die Hälfte (54%) aller Klassenstufen der Michaela Schule erreichte die Note 7 oder höher (entspricht dem alten A und A*), was mehr als doppelt so hoch war wie der nationale Durchschnitt von 22%. Fast jeder Fünfte (18%) glänzte mit der Höchstnote 9, verglichen mit 4,5% im Inland, und in der Mathematik war jedes vierte Ergebnis die Höchstnote 9.

Erfahrungen mit dem staatlichen Schulsystem

Die Gründerin der Michaela Schule, Katharine Birbalsingh, hatte als erfolgreiche Absolventin der Universität von Oxford auf eine glänzende Lehrerkarriere verzichtet und begann in einer unterprivilegierten Londoner Schule zu unterrichten. Sie stellte jedoch bald fest, dass an den staatlichen Schulen vieles falsch lief: “Meine Erfahrung, die ich über ein Jahrzehnt lang in fünf verschiedenen Schulen gemacht habe, hat mich zweifelsfrei davon überzeugt, dass das System gescheitert ist, weil es arme Kinder arm hält

Nun gab es Großbritannien letzte Woche einen Shitstorm gegen Katharine Birbalsingh. Birbalsingh hatte den konservativen kanadischen Intellektuellen Jordan B. Peterson an ihre Schule eingeladen. Nachdem die Schulleiterin Fotos dieses Besuchs auf Twitter veröffentlicht hatte, meldete ein Nutzer die Pädagogin wegen eines angeblichen „Hassverbrechens“ bei der Polizei.

Forderung nach sofortiger Entlassung

Andere Nutzer forderten ihre Entlassung als Schulleiterin oder eine „sofortige Inspektion“ durch die örtlichen Bildungsbehörden. Einem Hintergrundartikel des konservativen Bildungsportals Chalkboard Review zufolge wird Birbalsingh regelmäßig des Rassismus bezichtigt. Als Grund geben ihre Verteidiger an, dass Frau Birsbalsingh an einer eher traditionellen Vorstellung von Bildung und Autorität festhält. Die Schulleiterin habe, wie die meisten ihrer Schüler, einen Migrationshintergrund. Ob diese Forderungen nach Entfernung von Frau Birbalsingh Erfolg haben werden, ist fraglich. Denn in Grossbritanniens Schulen weht inzwischen ein etwas anderer Wind.

Suella Bravermann, neue Innenministerin von Grossbritannien und Weggefährtin von Katharine Birbalsingh.

Spannend in diesem Zusammenhang ist die die Akte Suella Braverman. Suella Bravermann ist eine Weggefährtin von Kathrin Birsalingh und gründete seinerzeit die Michael Community School, die Frau Birbalsingh fortan leitete. Geboren wurde Sue-Ellen Cassiana Braverman in Harrow im Nordwesten Londons. Wie der Vater ist auch ihre Mutter indischstämmig, wobei diese nicht aus Kenya, sondern aus Mauritius nach Grossbritannien eingewandert war. Damit hat auch sie ähnliche Wurzeln wie Kathrine Birbalsingh.

Die NZZ schrieb dazu: “Bravermans Eltern hegten von früher Kindheit an grosse Ambitionen für ihr einziges Kind. Als der Vater seinen Job als Versicherungsmakler verlor und mehrere Jahre arbeitslos blieb, avancierte die Mutter zum Rückgrat der Familie. Die Krankenschwester wirkte in Wembley im Nordwesten Londons für die Tories als Gemeinderätin. Auch wenn ihr der Sprung ins Unterhaus verwehrt blieb. Dank einem Stipendium besuchte Braverman eine Privatschule, bevor sie in Cambridge Jura studierte. Später absolvierte sie ein Masterstudium an der Sorbonne in Paris und erlangte in New York das Anwaltspatent. Im Alter von 35 Jahren zog sie ins Unterhaus ein und engagierte sich von Beginn weg für den Brexit. “

Frau Bravermann wurde nun Innenministerin der neuen Regierung in Grossbritannien und ist die erste Buddhistin, die in eines der höchsten britischen Regierungsämter einzieht. Als Generalstaatsanwältin avancierte sie 2021 zum ersten Kabinettsmitglied, das Mutterschaftsurlaub bezog. Nach der Heirat mit dem Mercedes-Manager Rael Braverman kamen 2019 ein Sohn und zwei Jahre später eine Tochter zur Welt. Wie Kathrin Birbalsingh ist auch Bravermann eine Anhängerin strikter Erziehungsmethoden.

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Einfluss der Lehrmittel auf den Schulerfolg, Teil 2 https://condorcet.ch/2020/11/einfluss-der-lehrmittel-auf-den-schulerfolg-teil-2/ https://condorcet.ch/2020/11/einfluss-der-lehrmittel-auf-den-schulerfolg-teil-2/#respond Wed, 11 Nov 2020 12:54:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=6912

Würden bessere Schulbücher helfen, um die schlechten schulischen Leistungen der britischen Schulabgänger in Mathematik zu verbessern? Diese Frage untersuchten Wissenschaftler des National Institute of Economic and Social Research in London mit einer Studie unter dem Titel „Die Grundlagen der Arithmetik legen“, in dem sie mit Hilfe von Lehrern und Schulinspektoren in den 1990er Jahren die britischen Primarschulbücher in Mathematik mit denjenigen auf dem Kontinent (Deutschland und Schweiz) verglichen. Der Vergleich führte zu erstaunlichen Resultaten, die heute wieder aktuell sind. Lesen Sie den 2. Teil der historischen Evaluation in Grossbritannen. Autor ist - wie immer bei diesen Themen - Peter Aebersold.

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Auf dem Kontinent hatte Kopfrechnen (mental calculation) Priorität, schriftliches Rechnen wurde erst im Alter von 9 Jahren eingeführt. Es wurden zwei Arten von Kopfrechnen unterschieden: mündliches Rechnen (oral arithmetic) und reines Kopfrechnen (pure mental arithmetic). Mündliches Kopfrechnen wurde zur Einführung neuer Themen verwendet. Beim mündlichen Rechnen wurde die Aufgabe (in horizontaler Form) abgelesen (Buch, Arbeitsblatt, Wandtafel) und das Resultat wurde im Kopf gerechnet. Bei neuen Operationen wurden Zwischenschritte durchgeführt.

„Mit der Einführung der Zahlen von 10 bis 20 begegnen die Kinder einer der vollkommensten Erfindungen des menschlichen Geistes, nämlich unserer Zahlenschreibweise im Zehner-Stellenwertsystem.“ (Auszug aus einem Lehrerkommentar)

Eine der vollkommensten Erfindungen des menschlichen Geistes.

Beim reinen Kopfrechen wurde die Aufgabe im Ganzklassenunterricht mündlich gestellt und die Schüler antworteten mündlich. Diese Methode wurde erst angewandt, wenn das Prinzip und die Grundlagen der Aufgabe richtig verstanden worden waren, als praktisches Üben und Trainieren des schnellen Rechnens im Kopf. Der kontinentale Ansatz sollte den Schülern helfen, mit den, reinen Zählstrategien überlegenen, mentalen Methoden vertraut zu werden. Er sollte sie befähigen, Rechenstrategien zu entwickeln und vorteilhafte Arten der Berechnung von Summen usw. zu erkennen („Nutzung vorteilhafter Rechenwege“). Solche Strategien beinhalteten folgende Methoden: a) Additionen von zweistelligen Zahlen in kleinere Schritte aufzuteilen (Beispiel: 37 + 26 = 37 + 20 + 6), b) eine Zahl zum nächsten Zehner zu ergänzen und die zweite entsprechend zu vermindern (Beispiel: 38 + 54 = 40 + 52), c) Abkürzungen (shortcuts) wie 26 + 59 = 26 + 60 – 1, d)  Neuordnung in eine einfachere Reihenfolge wie 58 + 7 – 9 – 8 = 58 – 8 – 9 + 7).  Das Kopfrechnen diente der Verinnerlichung des mathematischen Denkens.

 Anspruchsvolles Kopfrechnen Ende der 1. Klasse Kanton Zürich (1956)

Bevor kontinentale Kinder in die Addition von dreistelligen Zahlen mit schriftlichem Rechnen eingeführt wurden, lernten sie die Addition im Kopf anhand einfacherer dreistelliger Zahlen, um ihr Vorstellungsvermögen für dreistellige Zahlen zu entwickeln. Auf dem Kontinent wurde gegen zu frühes schriftliches Rechnen argumentiert, dass die Aufsplittung der Zahlen (place value) dazu führen könnten, dass Zahlen nicht mehr länger als ganze Einheiten, sondern als eine Ansammlung von Ziffern wahrgenommen werden. Rechnen würde dann als reine Manipulation von Symbolen ausgeführt und trüge nicht mehr zum Verständnis von Zahlen und ihren Zusammenhängen bei, grobe Fehler würden nicht mehr erkannt.

In englischen Mathematikbüchern spielte das Kopfrechnen eine vernachlässigbare Rolle, das schriftliche Rechen mit dem vertikalen Addieren war vorherrschend und wurde auch für die Addition von zweitstelligen Zahlen angewandt.

Der Schritt-für-Schritt Ansatz

Die Sequenzierung von Übungen in den kontinentalen Schulbüchern unterstützten das Lernen der Schüler. Die Übungen waren nach Schwierigkeitsgraden geordnet: komplexe Operationen wurden in einfachere Schritte aufgebrochen, jeder Schritt wurde separat geübt, bevor sie in komplexeren Operationen angewandt wurden. Dieser abgestufte Ansatz erlaubte den Schüler sich auf nur eine neue Schwierigkeit aufs Mal konzentrieren zu müssen („Prinzip der Isolierung der Schwierigkeiten“).

Für jeden Schritt stellten die Schulbücher Aufgaben zum mündlichen Üben im Ganzklassenverband zur Verfügung und danach als individuelle schriftliche Arbeit. Die Anzahl Übungen variierten von 20 bei einfachen Schritten bis zu über 400 bei schwierigen Schritten (56 + 7 oder 56 + 37) mit Zehnerübergang. Im Nummernbereich zwischen 20 und 100 enthielt das kontinentale Schulbuch über 900 Übungsaufgaben zur Addition, während beim englischen 400 nicht überschritten wurden.

Einführung des „Zehnerübergang“ gegen Ende der 1. Klasse

In den kontinentalen Büchern wurde in sorgfältig abgestufter Weise variiert, während in den englischen Aufgaben in einem Dutzend verschiedenen Formen präsentiert wurden. Auf dem Kontinent war man der Ansicht, dass die Schüler mit einer grossen Anzahl von Variationen unnötig abgelenkt würden.

Der Schritt-für-Schritt Ansatz hatte in Deutschland und der Schweiz eine lange Tradition, bis kürzlich einige Verfechter der „Neuen Mathematik“ kritisierten, dass diese Praxis überdetailliert sei.

Der Schritt-für-Schritt Ansatz hatte in Deutschland und der Schweiz eine lange Tradition, bis kürzlich einige Verfechter der „Neuen Mathematik“ kritisierten, dass diese Praxis überdetailliert sei. Tatsache ist, dass die traditionellen Ansätze über viele Jahre auf der Basis von Erfahrung und Forschung entwickelt und verbessert wurden, während die von einigen Pädagogen als „unvergleichlich überlegen“ propagierten Alternativen,  nie in grösseren Langzeitprojekten erprobt und getestet wurden.

Übung und Festigung

Im Gegensatz zum Kontinent ist die Betonung des Übens und Festigens in England unterentwickelt, sowohl in Bezug auf die Quantität als auch auf die Qualität. Für die Pädagogen auf dem Kontinent bilden üben und festigen eines neuen Themas zweierlei Zwecken: Erstens sollten die Schüler eine gründliche Vorstellung über den Zusammenhang mit früher Gelerntem erhalten und erste Erfahrungen und eine Geläufigkeit in der Anwendung des Neuen erwerben. In dieser Phase des Lernens sollten die Schüler ermutigt werden, die Operationen zu durchdenken und mit   ihren logischen Grundlagen gründlich vertraut zu werden. Zweitens sollten die Schüler, nachdem sie das neue Thema gründlich verstanden und verinnerlicht hatten, genügend Übungszeit erhalten, um es mit zunehmender Leichtigkeit und Geschwindigkeit anwenden zu können. In Deutschland und der Schweiz war man der Meinung, dass die Kinder die grundlegenden Fertigkeiten „automatisieren“ müssten, um ihre Anwendung in komplexeren Verfahren und Kontexten zu erleichtern.

Alternative mentale Methoden

In Grossbritannien und auf dem Kontinent war man sich einig, dass alternative Kopfrechenmethoden nicht durch den Lehrer den Kindern aufgezwungen werden sollten. Kontinentale Lehrer ermutigten die Kinder, eigene Strategien auszuprobieren, worauf sie ihnen anschliessend effizientere Wege aufzeigten, weil es in der Verantwortung des Lehrers sei, ihnen effiziente Methoden, auch im Klassenverband, beizubringen.  Im Gegensatz dazu wurde in Grossbritannien jede von den Schülern selbst erfundene Methode als akzeptabel betrachtet.

Effizienz von mentalen Strategien zur Addition

In England hatte man sich weniger um die Effizienz der mündlichen Methoden gekümmert, man verwendete die gleichen Methoden für das mündliche und schriftliche Rechnen. Die ursprüngliche Dreischrittmethode (27 + 65 = 80, 5 + 7 = 12, 80 + 12 = 92) wurde in Deutschland und der Schweiz durch die Zweischrittmethode (27 + 60 = 87, 87 + 5 = 92) ersetzt. Die kontinentale Zweischrittmethode half den Schülern von der Zählstrategie wegzukommen, sie konnte für jede zweistellige Zahl angewendet werden, sowohl für Addition und Subtraktion und sie konnte für Kalkulationen mit grösseren Zahlen erweitert werden.

Konkrete Materialien und andere visuelle Hilfsmittel

Englische Lehrer ermutigten ihre Schüler (dem Lehrerhandbuch folgend) konkrete Materialien wie ineinandergreifende Würfel, Flaschenverschlüsse, Lolly-Stäbchen oder Zehnerblöcke zu verwenden, um arithmetische Probleme zu lösen. Das wurde als eigenständige, gültige Methode angesehen, um das Resultat zu finden. Ihren eigenen Ressourcen überlassen, verwendeten englische Schüler diese Objekte oder ihre Finger auch noch im Alter von 9 bis 10 und sogar darüber. So blieben sie bei ihrer Zählstrategie anstatt Rechenstrategien zu entwickeln.

„Wird zählendes Rechnen verfestigt, stellt es eine Sackgasse dar, aus der die Schüler im 2. oder im 3. Schuljahr kaum mehr herauskommen.“  J.H. Lorenz / H. Radatz, 1993

Russische Forschung in der Zwischenkriegszeit zeigte, dass das Lernen der Schüler leidet, wenn die Phase während der sie konkretes und visuelles Material verwenden, zu lange ausgedehnt wird. Der sowjetische Psychologe und Begründer der Theorie der kulturellen und sozialen Entwicklung des Menschen Lew Wygotski stellte fest, dass die zu starke Betonung des visuellen Denkens, die kleinen Anfänge des abstrakten Denkens der älteren Schüler ersticken würden. Im Unterricht sollte versucht werden, die natürliche geistige Entwicklung von Kindern zu erweitern und zu fördern und sie über ihr bereits erreichtes Entwicklungsstadium hinauszuführen.

Rechnen mit Rechner oder Fingern

Neunjährige englische Schüler wurden beobachtet, wie sie einfache Aufgaben, wie 21 minus 12, mit ihren Fingern lösten, während kontinentale Schüler in diesem Alter ein sicheres Gespür für Kopfrechenstrategien für Zahlen bis 100 hatten. In England glaubte man, wenn man den Kindern genügend konkretes Material zur Verfügung stellte, würde das Verständnis für die Zahlen schliesslich von selbst kommen. Auf dem Kontinent war man der Überzeugung, dass die verlängerte Verwendung von Zählstrategien das Verständnis für die Beziehungen zwischen den Zahlen verhindern würde.

Taschenrechner

Strategien nicht aufzwingen

Auf dem Kontinent wurden wegen der Priorität des Kopfrechnens keine Taschenrechner vor dem 13 bis 14 Altersjahr und kaum in der Primarschule verwendet. In England wurde die Verwendung von Taschenrechnern vom Grundschulalter an gefördert und wurde Teil der gesetzlichen Anforderungen des Nationalen Lehrplanes ab dem fünften Altersjahr (Key Stage 1). In England wurde die Verwendung von Taschenrechnern als eine Form der „aktiven Beteiligung“ und des „Experimentierens“ gesehen. Auf dem Kontinent wurden Rechner als ungeeignet für den primären Mathematikunterricht erachtet, weil man mit Kopfrechnen das Verständnis der Schüler für Zahlen zu einem frühen Zeitpunkt ermöglichen wollte.

 

Aus Fehlern nichts gelernt

In der Schweiz beobachteten Gymnasiallehrer in den 1990er Jahren im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich, dass den neu eingetretenen Schülern die Grundlagen für die gymnasialen Lehrmittel fehlten, die an sich inhaltlich und didaktisch gut waren. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass viele Schüler Lücken bei den Grundlagen aufwiesen. Sie hatten Mühe beim zehnerüberschreitenden Rechnen und konnten das Einmaleins nicht mehr. Und sie mieden deshalb später das Studium in diesen Fächern. Die MINT-Studie stellte 2010 einen eklatanten Mangel an qualifizierten Fachkräften im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik fest, auf die unsere Volkswirtschaft so dringend angewiesen ist.

All dies korrelierte auffallend mit der Einführung des „offeneren“, „problemorientierten“ Herangehens der „Neuen“ Mathematik-Lehrbücher (Mengenlehre usw.) von Professor Adolf Kriszten, Leiter der Arbeitsstelle Mathematik des Pestalozzianums. Die im Kanton Zürich in der Volksschule ab 1978 eingeführten, „revolutionären“ Lehrbücher „Wege zur Mathematik“ 1-6, wiesen genau die Merkmale auf, die von den britischen Wissenschaftlern bemängelt wurden. Der systematische Aufbau wurde falschen theoretischen Ideen geopfert. Die Ära der „Neuen“ Mathematik dauerte 17 Jahre mit gravierenden Folgen für diese Schülergeneration und ihre Berufskarriere.

Die Fehler der „Neuen“ Mathematik wurden von Professor dipl. math. Walter Hohl, Direktor der Sekundarlehrerausbildung an der Universität Zürich in den 1980er Jahren, wieder rückgängig gemacht. Unter seiner Leitung wurde das gut strukturierte und logisch aufgebaute Lehrmittel „Mathematik“ 1-6 geschaffen, das ab 1995 vielen Lehrern, nicht nur im Kanton Zürich, wieder einen erfolgreicheren Mathematikunterricht ermöglichte.

Es wundert wohl mittlerweile kaum jemanden, dass alle gescheiterten Elemente der „Neuen Mathematik“ und in anderen Fächern im Lehrplan 21 wieder auftauchen. Dazu kommt, dass mit dem Rückzug der Lehrer (nur noch Lernbegleiter) beim individualisierenden Lernen, der autoritäre Einfluss der kompetenzorientierten Lehrmittel verstärkt wird.

Peter Aebersold

Quellen:

Helvia Bierhoff: Laying the Foundations of Numeracy: a comparison of primary school textbooks in Britain, Germany and Switzerland. Discussion Paper no. 90, National Institute of Economic and Social Research, London January 1996.

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997.

 

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Würden bessere Schulbücher helfen, um die schlechten schulischen Leistungen der britischen Schulabgänger in Mathematik zu verbessern? Diese Frage untersuchten Wissenschaftler des National Institute of Economic and Social Research in London mit einer Studie unter dem Titel „Die Grundlagen der Arithmetik legen“, indem sie mit Hilfe von Lehrern und Schulinspektoren in den 1990er Jahren die britischen Primarschulbücher in Mathematik mit denjenigen auf dem Kontinent (Deutschland und Schweiz) verglichen. Der Vergleich führte zu erstaunlichen Resultaten, die heute wieder aktuell sind. Wir veröffentlichen hier den 1. Teil von Peter Aebersolds umfangreicher Recherche. Ein Schelm, wer an heutige Entwicklungen denkt!

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  1. Schülerleistungen und Lehrmittel

Ausgangssituation für die Untersuchung war das tiefe Niveau im britischen Mathematikunterricht. Das schlechte Abschneiden der britischen Kinder war beim International Assessment of Educational Progress (IAEP) in den Jahren 1964, 1981 und 1991 offenkundig geworden Aus diesem Grund konnten im Unterschied zum Kontinent zu wenig genügend ausgebildete und geeignete Schulabgänger für einen technischen Lehrberuf gefunden werden. Schweizer Schüler waren am Ende der Primarschule den britischen um 1 bis 2 Jahre voraus, obschon die britischen Kinder 18 Monate länger beschult worden waren.

«Zählen und Rechnen ist der Grund aller Ordnung im Kopfe.» Johann Heinrich Pestalozzi

Man forderte einen verbesserten Mathematikunterricht: „Zurück zu den Grundlagen“ und „vermehrter Ganzklassenunterricht“ wurden als Mittel zur Hebung der Leistungen in Grossbritannien empfohlen. Aber die Probleme waren zu komplex, um sie mit einzelnen Massnahmen beheben zu können.

Es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.

Es brauchte eine detaillierte Analyse beim Vergleich zwischen dem englischen und kontinentalen Mathematikunterricht, die mit dieser Studie unternommen wurde. Untersucht wurden Lehrmethoden und Klassenraumorganisation, Inhalt und Struktur der Lektionen, die Mathematik im Lehrplan, usw.  So wurde das Ganzklassensetting zum Gegenstand der wissenschaftlicher Untersuchung: Die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrpersonen und Schülern, die Interaktionen der Schüler bei der gemeinsamen Erarbeitung des Lernstoffs und die Grundlagen dieser Lehrmethoden. Das führte bereits zu wesentlichen, aber noch nicht ausreichenden Verbesserungen. Deshalb wurden auch die Lehrmittel Gegenstand der Forschung und es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.

Die Schüler mussten während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent.

Die Rolle der Lehrbücher in Grossbritannien und auf dem Kontinent

Die britischen Lehrbücher brauchten, im Gegensatz zum Kontinent, keine offizielle Genehmigung. Auf dem Kontinent stützte man sich mehr auf die offiziellen Lehrbücher, die sich auf eine bestimmte Altersgruppe ausrichteten und gerade in der Schweiz unter Mitarbeit von erfahrenen Lehrpersonen ausgearbeitet und begutachtet wurden. Britische Lehrer und Pädagogen gingen jedoch davon aus, dass Lehrmittel lediglich die Grundlage lieferten, die jeweils auf die speziellen Bedürfnissen jeder einzelnen Klasse und sogar jedes einzelnen Schülers ausgerichtet werden sollten. Von jeder Schule in England wurde erwartet, dass  sie ihr eigenes Arbeitsprogramm erstellte, in dem die Einzelheiten der Umsetzung des nationalen Lehrplans festgelegt wurden. Kommerzielle Schulbücher wurden als Ideenlieferant für das Arbeitsprogramm verwendet. Von den einzelnen Klassenlehrern wurde erwartet, dass sie ihr eigenes Lehrmaterial aufgrund des Arbeitsprogrammes zusammenstellten. Die Arbeitsprogramme zwischen einzelnen Schulen variierten deshalb viel stärker als auf dem Kontinent und es existierten sehr viele unterschiedliche Lernprogramme. Als wichtiger Faktor erwies sich auch das Zusammenwirken der

In den englischen Schulen wurde vorwiegend mit individualisierenden Lehrmethoden gearbeitet

Lehrmethoden mit diesen Lehrprogrammen. In den englischen Schulen wurde vorwiegend mit individualisierenden Lehrmethoden gearbeitet. Die englischen Lehrer verwendeten die meiste Zeit individuell mit einzelnen Schülern und hatten nur ein paar Minuten Kontakt mit jedem Schülern. Die Schüler mussten deshalb während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent. Gerade deshalb wären klar strukturierte und kleinschrittig und logisch aufgebaute Lehrmittel mit verständlichen Anleitungen sehr wichtig gewesen. Solche fehlten aber, was sich ebenfalls als Grund für das tiefe Niveau im Mathematikunterricht herausstellte.

Im Unterschied dazu waren damals in Deutschland und der Schweiz Do-it-yourself-Lehrmaterial nicht als Hauptbestandteil des Unterrichts erlaubt, sondern man verwendete von der Bildungsbehörden anerkannte Lehrbücher. In beiden Ländern war ein Lehrbuch pro jedes Schuljahr üblich, von dem jeder Schüler ein Exemplar zur persönlichen Verfügung besass. Lehrbücher setzten die Inhalte des Lehrplans unterrichtsbezogen um. In dem Sinne war der Lehrplan für die Lehrer auf dem Kontinent verbindlicher als für die britischen.

Lehrkräfte konnten sich auf den Unterricht konzentrieren

Wenn nötig, machten sie limitierte Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse der Klasse, in dem sie gewisse Übungen ausliessen oder zusätzliches Material verwendeten. Die Lehrer auf dem Kontinent waren so nicht gezwungen, das „Rad neu zu erfinden“, um beinahe von Grund auf erarbeiten zu müssen, was sie unterrichten sollten. Sie konzentrierten ihre Kräfte darauf, wie sie den Unterricht am besten mit Hilfe der Lehrbücher und dem Lehrerhandbuch gestalten konnten. Im Lehrerhandbuch gab es Unterrichtsvorschläge für fast jede Seite des Schülerlehrbuchs, detaillierte Lernziele und einen Jahresplan mit den Schülerbuchseiten, die in jeder Woche abgearbeitet werden sollten.

«Die Mathematik ist eine wunderbare Lehrerin für die Kunst, die Gedanken zu ordnen, Unsinn zu beseitigen und Klarheit zu schaffen.» Jean-Henri Fabre (1823–1915)

Die englischen Lehrer hingegen mussten Empfehlungen des nationalen Lehrplans für „stimulierende“ Aktivitäten und „Untersuchungen“ und die Präsentierung von Mathematik als „Fun-Fach“ nachkommen. Im Gegensatz zum Kontinent ging es nicht in erster Linie darum, mit den Übungen und Aktivitäten im Lehrbuch ein tiefes Verständnis der mathematischen Grundlagen und deren Beherrschung zu ermöglichen.

Im Rahmen dieser Studie besuchte Lehrpersonen aus der Schweiz englische Primarschulen. Für sie waren die Defizite der Mathematiklehrbücher einer der wichtigsten Faktoren für die schlechten Leistungen der englischen Schüler. Verstärkt wurde dieses Problem durch die didaktische Form des Unterrichts, die wiederum stark durch die Lehrmittel beeinflusst waren.

Bildungsforschung

In Deutschland gab es eine lange Tradition detaillierter wissenschaftlicher Forschung über die besten Möglichkeiten, den Unterricht spezifischer mathematischer Grundkonzepte anzugehen und zu strukturieren, wie die Addition und Subtraktion von Zahlen bis 20, die Einführung der Multiplikation usw. Das Forschungsziel war, sicherstellen, dass nicht nur die besten 10-20 Prozent, sondern auch die übrigen 80 Prozent einer Klasse das Lehrplanziel ihres Schuljahres im Wesentlichen beherrschen. Das war genau das Problem in Grossbritannien, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Die Forschung hatte einen starken Einfluss auf die kontinentalen Lehrbücher, wobei die Forscher manchmal auch deren Autoren waren.

In angloamerikanischen Schriften wurden generelle Prinzipien abgehandelt, wie ein „gut-strukturiertes Fundament für mathematischen Grundlagen legen“, die „Abhängigkeit der Schüler vom Lehrer verringern“ usw. Vor- und Nachteile verschiedener Ansätze wurden selten diskutiert.

Rechnen mit Rechner oder Fingern

In der hier thematisierten Studie wurden die in englischen, deutschen und Schweizer Primarschulen gebräuchlichen Lehrbücher für Schüler im Alter von ungefähr acht Jahren miteinander verglichen. Der Fokus lag beim Übergang von der Arbeit mit Zahlen bis 20, die von den englischen Erstklässlern mit Fingern oder dem Rechner ausgeführt werden, zur Arbeit mit zweistelligen Zahlen bis 100. Hier wurden die Unterschiede zwischen dem britischen und kontinentalen Unterrichtsansatz besser sichtbar und sie konnten bis zur eigentlichen Einführung der Zahlen bei den Schülern zurückverfolgt werden.

  1. Allgemeine inhaltliche Merkmale englischer und kontinentaler Mathematiklehrbücher

Grösse der Lehrbücher und Anzahl Übungen

Englische Mathematikbücher: umfangreicher, zersplitteter

Auf dem Kontinent erhielt ein Schüler ein Schulbuch pro Fach und Jahr, das den Lernstoff enthielt, der in diesem Jahr gelernt werden musste. Der englische Schüler erhielt zwischen zwei und vier dünne Schul- oder Arbeitsbücher pro Jahr. Die durchschnittliche Seitenzahl der englischen Bücher war ein Drittel grösser (rund 150 gegenüber 110 Seiten). Die Schulbücher auf dem Kontinent waren dichter gedruckt und enthielten rund drei Mal mehr Übungen und Aktivitäten (rund 4500) als die englischen (rund 1500). Der Lehrer auf dem Kontinent hatte eine grössere Auswahl an Übungen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die er an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Schüler anpassen konnte. In England wurde weniger darauf geachtet, dass so viel geübt wurde, bis der Stoff beherrscht wurde. Auf dem Kontinent wurde etwa 3 bis 5 Mal mehr Zeit für Übungen und Festigung des bereits eingeführten Mathematik-Stoffes verwendet als für die Einführung von neuem.

Betonung der Arithmetik

Während die mathematischen Themen in den Schulbüchern in allen drei Ländern ungefähr die gleichen waren, wich die Schwerpunktsetzung in England ab. Für deutsche und Schweizer Mathematikbücher war die Beherrschung der arithmetischen Grundlagen von höchster Wichtigkeit.  Sie forderten von achtjährigen Schülern (bei siebenjährigen bis 20) ein gründliches Erfassen ganzer Zahlen bis 100 (Erarbeitung des Zahlenraums) inklusive ihrer Beziehungen zu einander und den arithmetischen Operationen mit ihnen.

Weniger Zeit für Zahlenarbeit in England

In England waren die fünf Lehrplanziele (Verwendung und Anwendung von Mathematik, Zahl, Algebra, Form und Raum, Umgang mit Daten) vom Lehrer gleich zu gewichten, so dass nur ein Fünftel der Zeit für Zahlenarbeit reserviert war. In den englischen Lehrbüchern und Praxis wurde dafür etwa 50 Prozent der Zeit aufgewendet, während es in den deutschen und Schweizer Lehrbüchern über 80 Prozent waren.  Diese Differenzen zeigten, was bei der Gewichtung im englischen Mathematiklehrplan geändert werden müsste.

Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch. René Descartes (1596–1656)

 

Häufigkeit des Themenwechsels

Ein grösserer Unterschied zwischen den englischen und kontinentalen Lehrbüchern lag in der Reihenfolge der Themen. In englischen Schulbüchern gab es relativ schnelle Wechsel zwischen den Themen, während die kontinentalen grössere zusammenhängende Blöcke zu einem Thema hatten, die in zunehmender Tiefe und Komplexität behandelt wurden, bevor man zum nächsten Thema schritt. In englischen Schulbüchern wechselten die Themen 25 bis 30 Mal pro Jahr, in kontinentalen rund 10 Mal. Ein Thema wurde in den kontinentalen Schulbüchern durchschnittlich auf 12 fortlaufende Seiten behandelt (für Zahlen 16, für Längen und Zeit 5). In englischen Schulbüchern gab es durchschnittlich nur 6 fortlaufende Seiten pro Thema. Schüler auf dem Kontinent hatten damit 6 Mal mehr Übungen zur Verfügung als englische.

Von den einfachen zu den schwierigen Aufgaben

Die stark segmentierte Struktur englischer Schulbücher war mit viel Repetition verbunden, der Fokus lag weniger auf den weiterführenden Schritten oder auf einer gründlichen Festigung des Stoffes. Bereits abgehandelte einfache Grundlagen erschienen immer wieder, während schwierigere Aufgaben, welche ein Verständnis der Grundlagen voraussetzten, oft eingeführt wurden, bevor die Grundlagen beherrscht wurden. In deutschen und Schweizer Schulbüchern wurde ein eingeführtes Thema gründlich gefestigt und es war selbstverständlich, dass danach nur noch limitierte Repetitionen nötig waren. Schwierigere Aufgaben wurden erst eingeführt, wenn man davon ausgehen konnte, dass die grosse Mehrheit der Schüler die einfacheren beherrschten. Die limitierten Repetitionen auf dem Kontinent glichen in keiner Weise den Mehrfachwiederholungen und den unsystematischen Sprüngen zwischen den Themen in den englischen Schulbüchern, bei denen es keinen systematischen Verlauf von den einfachen zu den schwierigeren Aufgaben gab.

  1. Einführung in einen Zahlenbereich

Bei einer der entscheidenden Etappe zur Schaffung der Grundlagen des mathematischen Verständnisses und Kompetenz differierten die kontinentalen und britischen Unterrichtspraktiken in verschiedenen wichtigen Punkten: Das waren der von den kontinentalen Pädagogen entwickelte detailliertere Schritt-für-Schritt Ansatz für das Lernen und Üben, die Verwendung von Standards und abgekürzten Rechnungsmethoden, die Rolle des Übens und der Festigung, die Verwendung von konkretem Material und die Effizienz alternativer Methoden des Auswendiglernens (Kopfrechnen).

In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.

In England wurde der Zahlenraum zwischen 20 und 100 im Alter von sieben Jahren eingeführt, ein Jahr früher als auf dem Kontinent, wo die Schüler auch ein Jahr später mit der Schule begannen. In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.

Konkretisierung (Verständnis, Vorstellung, Begriff) von Zahlen und Stellenwert

Die ungenügende Vorstellung von Zahlen bei britischen Schülern konnte darauf zurückgeführt werden, wie sie mit den Zahlen von 20 bis 100 nach der Einführung vertraut (Festigungsphase) gemacht wurden. Dabei spielte in England das Stellenwert-Konzept (place-value) eine wichtige Rolle. Zum Beispiel wurde die Zahl 52, aus 5 Zehnern und 2 Einern zusammengesetzt.  Auf dem Kontinent wurde 52 als die Zahl 50 plus 2 geübt. Die englischen Schüler zählten die Einer, um die Zehner zu finden während auf dem Kontinent in Zehnern gezählt wurde. Für den englischen Schüler war die Zahl 52 aus 5 und 2 zusammengesetzt, sie rechneten im Kopf nicht mit Mehrfachen von 10, was häufig zu Fehlern und Langsamkeit führte. Auf dem Kontinent verstanden die Schüler 52 als 2 mehr als 50.

Reihenfolge der Zahlen

Im Gegensatz zu England war für die Schulbuchautoren auf dem Kontinent die Ordnung der Zahlen wichtig für die Entwicklung des Verständnisses und der Vorstellung von Zahlen. Englische Schulbücher enthielten keine Übersichtsillustrationen und auch keine visuellen Hilfen (100er Quadrat, Zahlenband) über den neuen Zahlenbereich (1-100). Die Schüler auf dem Kontinent wurden nicht in die grösseren Zahlen eingeführt, bis sie die kleineren Zahlen sicher beherrschten. In englischen Schulbüchern fehlte eine komplette Übersicht über den neuen Zahlenbereich und es hatte kaum Aufgaben zur Einführung und Orientierung.

Quellen:

Helvia Bierhoff: Laying the Foundations of Numeracy: a comparison of primary school textbooks in Britain, Germany and Switzerland. Discussion Paper no. 90, National Institute of Economic and Social Research, London January 1996.

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997.

 

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Britische Schulreformen und die Schweiz, Teil 2 https://condorcet.ch/2020/09/britische-schulreformen-und-die-schweiz-teil-2/ https://condorcet.ch/2020/09/britische-schulreformen-und-die-schweiz-teil-2/#respond Sun, 06 Sep 2020 07:52:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=6274

In den Jahren 1992 bis 1994 besuchten britische Schulexperten und Schulpraktiker über 50 Schullektionen in einem Dutzend Schulen in der Schweiz, um das Schweizer Schulsystem zu studieren und mit dem britischen zu vergleichen. Weil die britischen Schulreformen zu einem Desaster geführt hatten, begannen 1995 in London Versuche mit der Einführung des Klassenunterrichts nach dem Vorbild der besuchten Zürcher Schulklassen. Die wissenschaftliche Auswertung wurde 1997 von der Universität Cambridge als Buch veröffentlicht. Lesen Sie heute den 2. Teil dieser spannenden Historie, die Peter Aebersold ausgegraben hat.

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Unterrichtsmethode

Die britischen Experten achteten besonders auf jene Unterschiede beim Unterricht, die sich auf die Leistungen der Schüler auswirkten. Speziell bei der Mathematik wurde der auf Bekanntem aufbauende Schritt-für-Schritt-Ganzklassenunterricht der Schweizer Lehrer beobachtet. In britischen Klassenzimmern arbeiteten die Schüler in kleinen Gruppen um runde Tische herum, davon einige mit dem Rücken zur Wandtafel. Sie arbeiteten in ihrem Tempo („eine der fundamentalen Ideen der progressiven Reformer“) mit Aufgaben aus Büchern, Arbeitsblättern oder –karten, meistens für sich allein, was jedoch aussah, als würden sie in Gruppen arbeiten. Die Schüler im selben Klassenzimmer waren unterschiedlich weit im Stoff, je nach dem individuellem Leistungsniveau.

Ganzklassenunterricht kam nur selten vor

Ganzklassenunterricht kam in britischen Klassenzimmer kaum vor, am seltensten bei den schwächeren Schülern. Er dauerte meist nur wenige Minuten, z.B. wenn ein neues Thema eingeführt wurde. Die Lehrer halfen den Schülern individuell, wenn sie Schwierigkeiten hatten. Sie reagierten nur, wenn sie vom Schüler gefragt wurden. Vor dem Lehrerpult standen die Kinder mit Fragen Schlange. Der Druck auf den Lehrer führte dazu, dass Schülerarbeiten nur flüchtig korrigiert werden konnten. Viele Schüler erhielten keine adäquate Unterstützung und Falschverstandenes wurde nicht bemerkt. Mittlere und schwächere Schüler litten ständig. Arbeiten nach eigenem Tempo bedeutete vielfach, nur das absolut Nötige zu leisten, aber so zu tun, als ob man arbeite, wobei die Lernzeit nicht effizient genutzt wurde.

Der Druck auf den Lehrer führte dazu, dass Schülerarbeiten nur flüchtig korrigiert werden konnten.

Hufeisenförmig arrangierte Pulte, Lehrer in der Mitte

Foto api

Die Schweizer Klassenzimmer unterschieden sich davon. Die Pulte waren typischerweise hufeisenförmig arrangiert, mit dem Lehrerpult in der Mitte. Während der Hälfte oder zwei Dritteln der Unterrichtsstunde fand eine ständige Interaktion zwischen dem Lehrer und der ganzen Klasse statt. Die Schüler wurden mit einem fragend-entwickelnden Unterricht zum selbständigen Finden der Lösungen geführt. Die ganze Klasse war während der mündlichen Phasen des Lernprozesses mental engagiert. Die Schülerantworten versetzten den Lehrer in die Lage zu beurteilen, wie weit er bei der Erklärung von schwierigen Lernschritten gehen musste, und er sah, welche Schüler individuelle Hilfe während der sich anschliessenden schriftlichen Übungsphasen benötigten.  Gruppenarbeiten fanden im Gegensatz zu den britischen Schulen eher selten statt.

In den Sekundarschulen wurde der gleiche Unterrichtsstil angewendet, wobei der Ansatz abstrakter und konzeptioneller war. Der Unterricht schritt schneller voran, weil die Schüler altersentsprechend höhere Fähigkeiten besassen und ihr Klassenniveau homogener war.

 Lehrbücher und Lehrplan im Vergleich

Die britischen Lehrbücher waren meistens für das Selbststudium („teach yourself“) ausgelegt und die Lösungen konnten direkt ins Buch geschrieben werden. Die Lehrbücher blieben normalerweise in der Schule.

Die Schulbücher wurden meistens pro Kanton von einer Gruppen erfahrener Lehrer oder Lehrerausbildner erstellt, behandelten auch regionale Themen und hatten die verschiedenen Lehrpläne der einzelnen Kantone abzudecken.

In der Schweiz gab es pro Schuljahr und Fach ein Lehrbuch, das den Stoff für das Jahrgangsziel enthielt und für den gemeinsamen Klassenunterricht und nicht für das Selbststudium gebraucht wurde. Es war dünner als die britischen Lehrbücher und enthielt viele Übungen, die in einem Heft gelöst wurden. Die Bücher wurden nach Hause mitgenommen zur Lösung der Hausaufgaben. Für den Lehrer gab es dazu jeweils ein dickes Lehrerhandbuch mit Unterrichtsvorschlägen für fast jede Seite des Schülerlehrbuchs, detaillierte Lernziele und einen Jahresplan mit den Schülerbuchseiten, die in jeder Woche  abgearbeitet werden sollten, sowie Vorlagen für den Hellraumprojektor. Den Lehrern war freigestellt, auch alternative Lehrmittel zu verwenden. Die Schulbücher wurden meistens pro Kanton von einer Gruppen erfahrener Lehrer oder Lehrerausbildner erstellt, behandelten auch regionale Themen und hatten die verschiedenen Lehrpläne der einzelnen Kantone abzudecken. Der Lehrplan bestand aus einem kurzen, schematischen Dokument über die Fächer/Themen auf den verschiedenen Schulstufen, die pro Jahr unterrichtet werden mussten. 

Praktische Fächer und Arbeitshaltung

Praktische Fähigkeiten hatten das gleiche Gewicht

Der Unterschied zwischen der britischen „akademischen Voreingenommenheit“ und der Schweizer „Vorbereitung auf das Leben und die Arbeit“ (wie schon bei Pestalozzi) zeigte sich besonders bei den handwerklichen Fächern (Holzarbeiten, Textiles Werken, Kochkurse) in der Sekundarschule. Neben dem Unterricht in den intellektuellen Fächern wurden von Schweizer Arbeitgebern und Realschullehrern die praktischen Fächer als wichtig zur Stärkung der Motivation und der Arbeitshaltung (Ausdauer, Zuverlässigkeit, Sorgfalt, Geduld, Präzision) für das Arbeitsleben angesehen. Bei der Auswahl von Lehrlingen hatten die praktischen Fähigkeiten das gleiche Gewicht wie die intellektuellen, weshalb Realschüler oft bevorzugt wurden.

In Grossbritannien war der Nationale Lehrplan breiter und „einfallsreicher“, wobei es nicht gelang, auf irgendeine präzise, verständliche Weise das wesentliche Kernstück jedes Faches zu beschreiben.

Die Rolle des Klassenunterrichts

Die Hauptunterschiede zwischen den beiden Ländern lagen gemäss den britischen Experten in erster Linie in der bedeutenderen Rolle des Klassenunterrichts in der Schweiz, zweitens in den anerkannten Grundfähigkeiten in Lesen, Grundrechenarten, naturwissenschaftlichen Fächern und praktischen Fertigkeiten sowie im Grundkonsens in der Schweiz, dass diese Grundfähigkeiten von allen Schülern beherrscht werden mussten. In Grossbritannien war der Nationale Lehrplan zwar breiter und „einfallsreicher“, doch gelang es nicht, auf präzise, verständliche Weise das wesentliche Kernstück jedes Faches zu beschreiben. Die Leistungen der Schweizer Schüler waren beim Übergang in die Sekundarschule viel homogener, was auch auf die Exzellenz der Primarschullehrer zurückzuführen sei. Dabei wurde sehr darauf geachtet, ein Kind nicht in eine Klasse zu platzieren, in die es intellektuell nicht passte.  Obwohl Klassenrepetitionen in der Schweiz selten vorkamen, vermittelten sie Schülern, Eltern und Lehrern ein realistisches Bild der gegenwärtigen Schulleistungen.

In den ab 1995 laufenden Versuchen in London wurde der Klassenunterricht nach dem Vorbild der Zürcher Schulklassen anstelle des individualisierenden Unterrichts eingeführt.

Versuchsklassen in London

“Dramatische Verbesserung“ der Leistungen der Kinder durch das Schweizer Modell

In den ab 1995 laufenden Versuchen in London wurde der Klassenunterricht nach dem Vorbild der Zürcher Schulklassen anstelle des individualisierenden Unterrichts eingeführt. Die Kinder lernten wieder Grammatik anstatt sich „kreativ auszudrücken“,  sie übten Kopfrechnen und das Einmaleins auswendig, statt Zahlen zu „erleben“. Es wurde vorwiegend im Ganzklassenunterricht unterrichtet und Grundlagen in Rechnen, Lesen und Schreiben geübt, bis sie beherrscht wurden.  Dabei stellten die Verantwortlichen eine „dramatische Verbesserung“ der Leistungen der Kinder fest. 

Die Schweiz kopiert das gescheiterte britische Modell

Die britischen Experten stellten fest, dass man – wie auch in anderen Ländern –Druck auf die Schweiz ausgeübt hatte, damit sie Gesamtschulen einrichte. Aber die Schweizer seien langsam und vorsichtig vorgegangen: Im Kanton Zürich hatte man  nämlich 1977 mit dem Projekt AVO („Abteilungsübergreifende Versuche an der Oberstufe”) begonnen, die britische Reform zu kopieren, allerdings in kleinem Rahmen (es betraf bis 1994 etwa 10% aller Sekundarschüler) – und das, obschon mittlerweile ihr Versagen bekannt gewesen sein dürfte. Die AVO-Schulen entsprachen den britischen abteilungsübergreifenden Schulen („multi-lateral schools“) der 1970er Jahre und noch nicht den späteren integrativen, leistungsdurchmischten Gesamtschulen. Die AVO-Schulen unterschieden sich von der herkömmlichen Schweizer Oberstufe durch grössere Heterogenität der Klassen, erhöhte Durchlässigkeit und Unterricht in Niveaugruppen in gewissen Fächern.

Schweiz begann das britische Modell zu kopieren

1984/85 wurden eine Vergleichsstudie zwischen den TaV-Schulen und den bisherigen Sekundarschulen durchgeführt. Während auf dem mittleren Realschulniveau etwa gleiche Durchschnittsresultate erzielt wurden, schnitten das obere Sekundarschul- (27 zu 34 Punkte) und das untere Oberschulniveau (56 zu 63 Punkte) bei den AVO-Schulen deutlich schlechter ab. Das wurde zurückgeführt auf ein Drittel weniger Hausaufgaben, die vielen Unterbrechungen des Klassenunterrichts durch Lager, Ausflüge, sozialisierende Projekte und die niedrigere Motivation.

Ernst Buschor, Bildungsdirektor im Kanton Zürich

Die grosse Reformwelle (wieder nach britischem Vorbild) konnte erst im Schuljahr 1997/1998 gestartet werden. Im Kanton Zürich brachte es das neoliberale New Public Management (NPM) Projekt der sogenannten „Teilautonomen Schule“ (TaV) mit der „Politik der leeren Kassen“ fertig (Pelizzari 2001), mit der Anstellung von Schulleitern die demokratische Volksaufsicht zu marginalisieren und mit der lohnwirksamen Mitarbeiterbeurteilung (MAB) den Widerstand der Lehrer gegen die Reformen zu brechen.

 

Quellen:

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: Schooling as Preparation for Life and Work in Switzerland and Britain. Discussion Paper no. 75. National Institute of Economic and Social Research, London 1995.

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997.

Robin Alexander, Jim Rose, Chris Woodhead: Curriculum Organisation and Classroom Practice in Primary Schools. Department of Education and Science. London 1992.  http://www.educationengland.org.uk/documents/threewisemen/threewisemen.html

Alessandro Pelizzari: Die Ökonomisierung des Politischen: new public management und der neoliberale Angriff auf die öffentlichen Dienste. Konstanz 2001, ISBN 3-89669-998-9

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In den Jahren 1992 bis 1994 besuchten britische Schulexperten und Schulpraktiker über 50 Schullektionen in einem Dutzend Schulen in der Schweiz, um das Schweizer Schulsystem zu studieren und mit dem britischen zu vergleichen. Weil die britischen Schulreformen zu einem Desaster geführt hatten, begannen 1995 in London Versuche mit der Einführung des Klassenunterrichts nach dem Vorbild der besuchten Zürcher Schulklassen. Die wissenschaftliche Auswertung wurde 1997 von der Universität Cambridge als Buch veröffentlicht. Unser Bildungshistoriker vom Dienst, Peter Aebersold, hat diese bemerkenswerte Geschichte für Sie aufgearbeitet. Wir veröffentlichen hier den ersten Teil.

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Britische Schulreform von 1967

Die britische Schulreform geht auf den „Plowden-Report“ von 1967 zurück. Dieser empfahl, dass es im Lehrplan mehr um „spielerische Aktivitäten“ und „individuelles Entdecken“ gehen solle als darum, Wissen zu erwerben und Fakten auswendig zu lernen. Die Schule müsse den Kindern erlauben, „sich selbst zu sein“, um sich „auf ihre Weise und in ihrem Tempo“ entwickeln zu können. Die propagierten Lehr- und Lernformen förderten „erlebnisorientiertes“, „spielerisches Lernen“, die Rolle des Lehrers als Animator und Organisator, den „individualisierten Unterricht“ und den „Gruppenunterricht“ vor dem Klassenunterricht.

Labour-Mann Professor Hasley klagte an

1993 machte der Gründer der neuen „Gesamtschule“ (comprehensive system), Professor Halsey, seine eigene Partei für Jahrzehnte des Schulversagens und des Wertverlustes verantwortlich. Die Schulreform habe die Schüler im Stich gelassen, zu schlechtem Unterricht und zu zerrütteten Familien geführt.

International Assessment of Educational Progress (IAEP)

Die Schweiz nahm 1991 zum ersten Mal an internationalen Tests in Mathematik und Naturwissenschaften mit grossen repräsentativen Stichproben von 13-jährigen Schülern teil. Das International Assessment of Educational Progress (IAEP) wurde von Schülerinnen und Schülern in rund zwanzig Ländern unter der Schirmherrschaft des US-Bildungsministeriums durchgeführt. Die Resultate der Schweizer Schüler lagen bei den höchsten Durchschnittswerten in Mathematik und Naturwissenschaften. Die Werte, die das niedrigste Zehntel aller Schweizer Schüler erreichte, lagen sehr weit vor dem entsprechenden Anteil der Schülerinnen und Schüler in Grossbritannien und allen anderen Ländern in dieser Umfrage. China, Korea und Taiwan hatten ähnliche Durchschnittswerte wie die Schweiz; aber für das unterste Zehntel der Schüler lag die Schweiz immer noch weit vorne.

Aufgrund der inzwischen anerkannten Notwendigkeit, die schulischen Leistungen in Grossbritannien zu verbessern, insbesondere bei Schülern mit unterdurchschnittlichen Fähigkeiten, waren die englischen Schulexperten an der Schweiz mit ihren Erfolgen bei den schwachen Schülern sehr interessiert.

Schweizer Pädagogen mit internationalem Ruf

Johann Heinrich Pestalozzi, in England ein Begriff

Die britischen Schulexperten wiesen auf die lange Schweizer Tradition und die Reihe pädagogischer Denker hin, die internationales Ansehen erworben haben: Rousseau, Pestalozzi und Fröbel (Mitarbeiter Pestalozzis und Schulreformer in Deutschland) waren im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert aktive Reformer. Im 20. Jahrhundert führten Binet und Piaget grundlegende Arbeiten zur Messung und Entwicklung der Intelligenz und der Fähigkeiten von Kindern durch.

Dass Pestalozzis Schwerpunkt vor über zweihundert Jahren auf der Förderung des Rechnens in jungen Jahren gelegen habe, sei auch heute noch von Interesse, wenn man sich die IAEP-Umfrage ansehe, die die herausragenden Leistungen der Schweizer Schüler in Mathematik und besonders in Arithmetik (Grundrechenarten) zeigten. Die Schweizer Reformer förderten ein besseres Verständnis der Lehrer von der frühkindlichen intellektuellen und emotionalen Entwicklung, eine engere Lehrer-Schüler-Beziehung und eine familiäre Unterrichtsatmosphäre.

In der Schweiz führten die Lehrer die Schüler im Ganzklassenunterricht aktiv beim Lernen, wie das schon von Pestalozzi und Fröbel empfohlen wurde. Während in England dieser Ansatz grösstenteils durch Methoden ersetzt wurde, bei denen die Lehrer ihre Zeit –  zwangsläufig in Minutenportiönchen –  auf ihre vielen Schüler aufteilen müssen.

Das britische Expertenteam bestand neben den untersuchenden Wissenschaftlern aus erfahrenen Schulinspektoren, Schuldirektoren und langjährigen Schullehrern.

Britische Schulexperten besuchen die Schweiz

Das britische Expertenteam bestand neben den untersuchenden Wissenschaftlern aus erfahrenen Schulinspektoren, Schuldirektoren und langjährigen Schullehrern. Es wurden Schulen in den Kantonen Zürich, Bern und St. Gallen besucht und auch Diskussionen mit Schulexperten, Lehrerausbildnern, Berufsberatern und Lehrlingsausbildnern grosser Firmen geführt. Schulen mit über- und unterdurchschnittlichen Leistungen wurden ausgewählt.  Schweizer Lehrer und Pädagogen machten Gegenbesuche in England. In einer anschliessenden Vergleichsstudie zwischen Grossbritannien und dem europäischen Kontinent wurden neben der Schweiz auch Deutschland und andere Länder einbezogen.

 Grossbritannien hatte seit langem ein grosses Defizit an ausgebildeten Handwerkern und technischen Berufsleuten mit soliden Grundkenntnissen in Mathematik, Naturwissenschaften und praktischen Fächern.

Grossbritannien hatte seit langem ein grosses Defizit an ausgebildeten Handwerkern und technischen Berufsleuten mit soliden Grundkenntnissen in Mathematik, Naturwissenschaften und praktischen Fächern. Deshalb lag der Fokus des Besuchs darin, wie man die unterdurchschnittlichen Leistungen der Schulabgänger auf ein Niveau heben könnte, das ihnen erlauben würde, sich auf den wegen dem technischen Fortschritt anforderungsreichen Arbeitsstellen behaupten zu können. 

Die kleineren Schweizer Sekundarschulen (250-500 Schüler) seien intimer als die englischen Gesamtschulen mit etwa 1000 Schülern.

Schulstrukturen im Vergleich

Die britischen Experten waren insbesondere von den föderalen, direktdemokratischen Strukturen mit der Kantonshoheit im Erziehungswesen, von den Volksentscheiden in Sachfragen und von der Lehrerwahl in den Gemeinden beeindruckt. Der obligatorische Schulbeginn lag in der Schweiz 18 Monate später als in England. Den Besuchern fiel auch die freundliche Atmosphäre und die Abwesenheit von Spannungen und Feindseligkeiten zwischen Schülern und Lehrern auf. Die kleineren Schweizer Sekundarschulen (250-500 Schüler) seien intimer als die englischen Gesamtschulen mit etwa 1000 Schülern. Eine gute soziale Atmosphäre ermögliche besseres Lernen und sei ein ganzheitliches Ziel der Pestalozzi-Schule.

Die Rolle des Klassenlehrers wieder mehr gewichten

Die Rolle des Klassenlehrers wurde als besonders wichtig für die Klassenatmosphäre bezeichnet. Weil die Real- und Sekundarschullehrer die Mehrzahl der Fächer und die gleiche Klasse während drei Jahren unterrichten, würden sie die Stärken und Schwächen jedes Schülers kennen, ihm bei seinen Problemen zu einem früheren Zeitpunkt helfen sowie die Klasse nach solchen Gesichtspunkten organisieren können. Die Schweizer Lehrer würden grossen Wert auf die Entwicklung der sozialen Verantwortung bei den Schüler legen. Die „Menschenbildung“ für das demokratische Zusammenleben sei zum Beispiel als Aufgabe der Schule im Zürcher Lehrplan 1991 festgelegt.

Mathematik und Arithmetik

Grosse Probleme in der Mathematik …

Die schlechten Kenntnisse in Mathematik (vorwiegend bei den Grundrechenarten) der britischen Schulabgänger mit durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Noten galten seit langem als Hindernis, um eine Ausbildung in einem technischen oder handwerklichen Beruf antreten zu können. Beim IAEP-Test erreichte das oberste Viertel der englischen Schüler nur das Schweizer Durchschnittsresultat. Das unterste Viertel der Schweizer Schüler erreichte sogar das Durchschnittsresultat der englischen. Anstatt die Grundlagen im Rechnen zu fördern, wurden in England schon jüngere Schüler in Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Statistik unterrichtet. Die britischen Experten waren überrascht von den guten Leistungen der Realschüler und ihrer einheitlichen, ordentlichen und sauberen Heftführung. Ihrer Ansicht nach hatten unterdurchschnittliche Schweizer Schüler ein Niveau, das in England erst ein bis zwei Jahre später und nur von Durchschnittsschülern erwartet wurde.

Ihrer Ansicht nach hatten unterdurchschnittliche Schweizer Schüler ein Niveau, das in England erst ein bis zwei Jahre später und nur von Durchschnittsschülern erwartet wurde.

Im britischen Lehrplan gab es für die Mathematik unter anderem sogenannte Untersuchungen („Investigations“). Das sind zeitaufwändige offene Aufgaben, für die es keine einzelne korrekte Lösung gibt, weil nicht das „Produkt“, sondern der „Prozess“ wichtig sei. Die Schüler müssen beschreiben, wie sie vorgehen wollen, was sie getan haben, welchen Schwierigkeiten sie begegnet sind (das gibt eine gute Note) , welche falschen Lösungswege sie verfolgt haben usw.

Beim Schweizer Ansatz müssten die Aufgabenstellungen realistisch und lösbar sein, damit die verfügbare Zeit effizient genutzt wird und möglichst alle Schüler in der Klasse die Aufgaben beherrschen.

 

Quellen:

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: SCHOOLING AS PREPARATION FOR LIFE AND WORK IN SWITZERLAND AND BRITAIN. Discussion Paper no. 75. National Institute of Economic and Social Research, London February 1995

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997

Robin Alexander, Jim Rose, Chris Woodhead: Curriculum Organisation and Classroom Practice in Primary Schools. Department of Education and Science. London 1992. http://www.educationengland.org.uk/documents/threewisemen/threewisemen.html

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Brennpunktschule übertrifft alle https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/ https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/#comments Mon, 10 Feb 2020 21:28:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=3905

Bei den letztjährigen landesweiten GCSE-Prüfungen in Grossbritannien, einer nationalen Prüfung für 15- und 16-Jährige, die deren zukünftige akademische Laufbahn bestimmt, gab es eine sensationelle Überraschung: Die Brennpunktschule Michaela Community School aus dem unterprivilegierten, mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Londoner Stadtbezirk Brent überflügelte die meisten britischen Schulen. Peter Aebersold stellt sie für unsere Condorcet-Community vor.

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Die Gründerin der Michaela Schule, Katharine Birbalsingh: Das heutige Schulsystem hält arme Kinder arm.

Die 2014 gegründete Michaela Community School, die das erste Mal an den nationalen Prüfungen teilnahm, hat Schülern, von denen viele aus benachteiligten Verhältnissen kommen, zu einigen der besten Ergebnisse aller nicht selektiven staatlichen Sekundarschulen des Landes verholfen.

Noch bemerkenswerter: Indem die Michaela Schule auf den bewährten Klassenunterricht, auf geordnete Strukturen und traditionelle Werte wie Autorität, Anstand und Disziplin setzte, schaffte sie den „Brexit“ aus der 50jährigen Geschichte erfolgloser progressiver Schulreformen in Grossbritannien. Dabei setzte sie nicht nur das nie erreichte Ziel dieser Reformen, die Chancengleichheit, in die Tat um, sondern erzielte vier Mal bessere Ergebnisse als der nationale Durchschnitt.

Mehr als die Hälfte (54%) aller Klassenstufen der Michaela Schule erreichte die Note 7 oder höher (entspricht dem alten A und A*), was mehr als doppelt so hoch war wie der nationale Durchschnitt von 22%. Fast jeder Fünfte (18%) glänzte mit der Höchstnote 9, verglichen mit 4,5% im Inland, und in der Mathematik war jedes vierte Ergebnis die Höchstnote 9.

Erfahrungen mit dem staatlichen Schulsystem

Die Gründerin der Michaela Schule, Katharine Birbalsingh, hatte als erfolgreiche Absolventin der Universität von Oxford auf eine glänzende Lehrerkarriere verzichtet und begann in einer unterprivilegierten Londoner Schule zu unterrichten. Sie stellte jedoch bald fest, dass an den staatlichen Schulen vieles falsch lief: “Meine Erfahrung, die ich über ein Jahrzehnt lang in fünf verschiedenen Schulen gemacht habe, hat mich zweifelsfrei davon überzeugt, dass das System gescheitert ist, weil es arme Kinder arm hält.”

Sagen, was alle denken, aber niemand sagt.

Durch ihren Blog To Miss With Love, wo sie seit 2007 anonym über ihre Erfahrungen als Lehrerin an einer Inner City Sekundarschule in London schrieb, wurde sie bald bekannt.

“Bildung heisst, den Kindern Wissen beizubringen und nicht Kompetenzen.” – Katharine Birbalsingh

Der größte Verrat an unseren Kindern ist unser Schweigen

Als sie das Buch The Schools We Need and Why We Don’t Have Them (Die Schulen, die wir benötigen und warum wir sie nicht haben) des renommierten amerikanischen Schulkritikers und Vertreters der traditionellen Unterrichtsmethoden E.D. Hirsch las, wurde ihr bewusst, woran die Schule krankte: „Bildung sei, den Kindern Wissen zu lehren und nicht Kompetenzen (skills) beizubringen“. Für Hirsch ist der Grund, warum die meisten Studenten am Community College und nicht an der Universität landen, nicht die angeborenen Fähigkeiten oder der familiäre Hintergrund, sondern das für den akademischen Aufstieg fehlende Grundwissen über kulturelle Begriffe und Konzepte.

Von der Bildungspolitik der Labour Party enttäuscht, hielt sie eine Rede an der Conservative Party-Konferenz 2010, wo sie das staatliche britische Bildungssystem kritisierte und die Bildungspolitik der Partei unterstützte. Mit dieser Rede erlangte sie nationale Berühmtheit, verlor aber ihren Job als stellvertretende Leiterin einer von der Regierung geführten Schule im Süden Londons.

Londons damaliger Bürgermeister Boris Johnson besuchte 2015 die Michela School: “What an incredible experience. This is one of the most extraordinary schools I have seen.”

In ihrem 2011 erschienenen Buch To Miss with Love schreibt Birbalsingh: „Ich mache mir Sorgen, dass ich meinen Job verliere, weil ich dieses Buch geschrieben habe. Als Berufsstand werden wir stark davon abgehalten, uns gegen das System auszusprechen. Aber ich glaube, der größte Verrat an unseren Kindern ist unser Schweigen. Wie eine Freundin von mir bei der Lektüre sagte: To Miss with Love wagt es, das zu sagen, was wir Lehrer immer denken, aber niemand sagt.“

Chancengleichheit für die Unterprivilegierten

Birbalsingh gründete ihre eigene Schule, eine gebührenfreie Gemeindeschule (kostenlose, staatlich finanzierte, von örtlichen Behörden unabhängige „Freie Schule“)  für Unterprivilegierte und wirtschaftlich Benachteiligte im Londoner Bezirk Brent. Im September 2014 startete die Michaela Community School mit 120 Schülern (für 2020 sind 840 Schüler geplant). Die Schüler, die zur Michaela Schule kamen, konnten sich keine Privatschule leisten. Aber sie brauchten Ordnung und Disziplin im Leben, die ihnen in ihren Familien und Gemeinschaften verzweifelt fehlten. Die Schule wird von vielen Medien als „strikteste Schule Grossbritanniens“ verunglimpft. Von den Laisser-faire-Standards, die man an britischen Schulen beobachten kann, grenzt sie sich wohltuend ab.

Ich ließ Hunderte von Kindern in meinem Leben scheitern, weil ich Teil eines Systems war, das Kinder scheitern ließ.” – Katharine Birbalsingh

Mit der neuen Michaela Sixth Form ( die letzten drei Jahre der Sekundarschule) wird die Tradition der Schule in Bezug auf akademische Exzellenz, hohe Standards und außergewöhnliche Ergebnisse für die Schüler fortgesetzt. Für September 2020 werden Bewerber gesucht, die einen Studienplatz in Oxford, Cambridge und anderen Spitzenuniversitäten in Großbritannien und der ganzen Welt anstreben.

Ich ließ Hunderte von Kindern in meinem Leben scheitern, weil ich Teil eines Systems war, das Kinder scheitern ließ. Ich habe mir vorgenommen, nie mehr ein weiteres Kind scheitern zu lassen, und wenn mir das gelingt, dann hat die Michaela Schule nicht nur sie gerettet, sondern auch mich. Es ist möglich. Wir müssen nur anders denken.“  – Katharine Birbalsingh, The Spectator 19. März 2016

Verantwortung, Rücksichtnahme und Handlungsfähigkeit lehren

In der Schulordnung wurde festgehalten, welches Benehmen und Verhalten von den Schülern erwartet wurde. Birbalsingh hatte die Erfahrung gemacht, dass eine Schule Gefahr läuft, bei ihren Schülern eher Hilflosigkeit, Egoismus oder Abhängigkeit zu schaffen als Verantwortung, Rücksichtnahme und Handlungsfähigkeit, wenn sie zu freizügig ist und zu viele Ausnahmen zulässt. Sie meint, wenn eine Schule ihre Standards für ärmere Schüler aufgrund ihrer Armut oder ihres schwierigen Heimlebens herabsetze, erweise sie ihnen einen schlechten Dienst und erwecke den Eindruck, dass sie nicht genug an sie glaube.

OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher war beeindruckt.
By Andreas Schleicher
Director, Directorate of Education and Skills

OECD-Direktor Andreas Schleicher, beeindruckt von dem Besuch der erfolgreichen Michaela Schule im November 2019, meinte: „Vielleicht ist es an der Zeit, den lehrergeleiteten Unterricht und das schülerorientierte Lernen nicht mehr gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, das eine sei altmodisch und erdrückend, das andere zukunftsorientiert und befähigend. Beide Ansätze haben eindeutig ihren Platz.”

Zu Katharine Birbalsingh

Birbalsingh wurde in Neuseeland als ältere von zwei Töchtern des Lehrers Frank Birbalsingh aus Guyana und seiner Frau Norma, einer Krankenschwester aus Jamaika, geboren und ist in Kanada aufgewachsen. Ihr Großvater Ezrom S. Birbalsingh war Leiter der kanadischen Missionsschule in Better Hope, Demerara, Guyana. Mit fünfzehn Jahren übersiedelte sie ins Vereinigte Königreich, wo ihr Vater an der University of Warwick als Gaststipendiat weilte.

Sie studierte Französisch und Philosophie an der University of Oxford. Nach ihrem Abschluss ließ sie sich im Vereinigten Königreich nieder. Sie schreibt regelmäßig für den Daily Telegraph. Ihr im März 2011 veröffentlichtes Buch To Miss with Love, das ihre Erlebnisse während eines Schuljahres beschreibt, wurde sofort zu einem Bestseller: Es wurde zum Buch der Woche gewählt und von Radio BBC 4 als Serie ausgestrahlt. 2017 wurde sie auf Anthony Seldons Liste der 20 einflussreichsten Personen im britischen Bildungswesen aufgeführt. 2019 erhielt sie den Contrarian Prize als Schulleiterin, die es wagte, das Bildungssystem herauszufordern..

Peter Aebersold, Zürich

 

 

Quellen:

https://oecdedutoday.com/working-hard-and-being-kind/  Bericht von Andreas Schleicher OECD

https://de.wikipedia.org/wiki/Katharine_Birbalsingh

Katherine Birbalsingh: To Miss with Love, Penguin Books 2011, ISBN 978-0-670-91899-7

Katherine Birbalsingh et al.: Battle Hymn of the Tiger Teachers: The Michaela Way. John Catt Educational Ltd, Woodbridge (Suffolk) 2016, ISBN 978-1909717961

Katharine Birbalsingh et al.: Michaela: The Battle For Western Education. Tiger Teachers Take Two: The Michaela Way. John Catt Educational Ltd, Woodbridge (Suffolk) 2020, ISBN 978-1-912906-21-5

 

 

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