Frühförderung. Individualisierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 07 Nov 2021 11:15:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Frühförderung. Individualisierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Kühnels-Sonntagszwischenruf: Mathematikschwäche: Jetzt sollen es die KITAS richten! https://condorcet.ch/2021/11/kuehnels-sonntagszwischenruf-mathematikschwaeche-jetzt-sollen-es-die-kitas-richten/ https://condorcet.ch/2021/11/kuehnels-sonntagszwischenruf-mathematikschwaeche-jetzt-sollen-es-die-kitas-richten/#comments Sun, 07 Nov 2021 11:15:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=9745

Wieder einmal ein Sonntagszwischenruf von Wolfgang Kühnel, Mathematikprofessor in Stuttgart. Er beschäftigt sich mit den immer sonderbareren Ideen, der chronischen Mathematikschwäche in unserem nördlichen Nachbarland entgegenzuwirken.

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Professor Kuehnel:
Sollte die Kita
schon bisher für die Sprachbildung derjenigen Kinder
sorgen, die sprachliche Defizite haben,
so sollen jetzt die Kita-Kinder auch in Mathematik und “en passant” unterrichten werden.

Liebe Mitstreiter,

dass es um die MINT-Fächer in unserem Bildungswesen nicht gerade zum besten steht, hat sich ja wohl allgemein herumgesprochen. MINT-Fächer sind weder in der Schule besonders beliebt noch sind sie bevorzugte Studienfächer an Hochschulen.

Aber gab es nicht im Anschluss an TIMSS und PISA gewaltige Reformen gerade in den Schulfächern Mathematik und Naturwissenschaften? Hat man nicht neu konzipierte Bildungsziele formuliert, hat in Deutschland die KMK Bildungsstandard verabschiedet, das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gegründet, das Monitoring eingeführt mit ständigen Mathematiktests usw.?

Hat nicht auch PISA immer auch die Kenntnisse in Naturwissenschaften mit der “literacy” getestet?

Ein “bildungspolitisches Forum 2021 des Leibniz-Forschungsnetzwerks Bildungspotentiale (LERN)” unter Leitung von Herrn Köller hat nun Vorschläge unterbreitet, wie alles besser werden kann:

Lerngelegenheiten für naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen sowie für numerisches bzw. quantitatives Denken” schaffen

https://www.leibniz-bildung.de/wp-content/uploads/2021/07/BPF21_Positionspapier.pdf

Die Vorschläge sind verblüffend: Die Kitas sollen es richten. Zu diesem Zweck soll dem Betreuungspersonal (früher mal “Kindergärtner/in” genannt) eine zusätzliche Aufgabe auferlegt werden. Sollte die Kita schon bisher für die Sprachbildung derjenigen Kinder sorgen, die sprachliche Defizite (zumindest im Deutschen) haben, so sollen sie jetzt die Kita-Kinder auch in Mathematik und anderen MINT-Fächern so “en passant” unterrichten, indem sie “Lerngelegenheiten für naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen sowie für numerisches bzw. quantitatives Denken” schaffen.

Nichts leichter als das: Woran bisher die Grundschullehrer/innen scheiterten, das sollen jetzt die Kita-Betreuer/innen richten, eine geniale Idee.

Olaf Köller: Verblüffende Vorschläge!

Nichts leichter als das: Woran bisher die Grundschullehrer/innen scheiterten, das sollen jetzt die Kita-Betreuer/innen richten, eine geniale Idee. Die Kommission empfiehlt dazu eine “länderübergreifende Einführung von Standards in der Ausgestaltung der fachschulischen Ausbildung von Erzieher*innen”, also mehr Bürokratie. Weiter heißt es: “Neben fachlichen Inhalten müssen auch fachdidaktische Inhalte flächendeckend Eingang in die fachschulische und hochschulische Ausbildung finden.”

Aber hatte man nicht vor einiger Zeit festgestellt, dass auch die Grundschullehrer/innen oft genug Schwierigkeiten mit der Mathematik haben? Wurde nicht deswegen schon ein obligatorischer Mathematikanteil im Studium des Grundschullehramts eingeführt?

Heißt das jetzt im Ernst, die künftigen Reformen müssten sich auf den Kindergarten konzentrieren, weil in der Sekundarstufe hinsichtlich Mathematik und Naturwissenschaften schon alles in bester Ordnung ist?

Keine Angst, alles nur spielerisch

Und jetzt also auch die Erzieher/innen in der Kita. Andererseits gehörte es in Kreisen von progressiven Pädagogen geradezu zum guten Ton zu behaupten, dass sich die Ausbildung der Gymnasiallehrer viel zu sehr am Fach orientiere, ja dass diese geradezu zu “Wissenschaftlern” statt zu Lehrern ausgebildet würden? Von der Sekundarstufe ist aber seltsamerweise kaum noch die Rede in dem o.a. Link des bildungspolitischen Forums. Heißt das jetzt im Ernst, die künftigen Reformen müssten sich auf den Kindergarten konzentrieren, weil in der Sekundarstufe hinsichtlich Mathematik und Naturwissenschaften schon alles in bester Ordnung ist?

So nebenbei wird auf Seite 7 auch festgestellt, warum nicht genügend viele Frauen in den MINT-Fächern tätig sind: Es sind die “niedrigeren Lohnerwartungen von Frauen, die sich durch niedrigere Einstiegsgehälter und geringere Lohnzuwächse realisieren”, und außerdem die “anderen Karriereperspektiven”. Und deshalb sollen Frauen “umso stärker für MINT-Studiengänge begeistert werden”.

Immerhin zeigt das bildungspolitische Forum auch auf, woran es wohl generell mangelt, nämlich an den “digitalen Kompetenzen”. Das ist dann das “I” in MINT. Das müsse “in allen Bildungsetappen (vom Elementarbereich bis in die berufliche Bildung)” unbedingt berücksichtigt werden, und “dazu sollte das Fach Informatik in den Stundentafeln der Sekundarstufen I und II des allgemeinbildenden Schulsystems ausgebaut werden.”

Die letzte Forderung ist ja nun kein besonders origineller Vorschlag, das gab es doch alles schon. Aber woran ist es denn bislang gescheitert? Dazu wird nichts gesagt.

Zum Glück gibt es zu der “digitalen Bildung” in den Kitas ja schon kompetente Ausführungen von Herrn Lankau, die ich hier nicht wiederholen muss:

Kindeswohlgefährdung von Amts wegen – Offener Brief zu Tablets in Stuttgarter Kitas

 

In diesem Sinne wünscht einen schönes Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Lehrstellensuche bereits ab 8. Schuljahr? Oder: Die Folgen eines weiteren Reformflops https://condorcet.ch/2020/12/lehrstellensuche-bereits-ab-8-schuljahr-oder-die-folgen-eines-weiteren-reformflops/ https://condorcet.ch/2020/12/lehrstellensuche-bereits-ab-8-schuljahr-oder-die-folgen-eines-weiteren-reformflops/#comments Wed, 23 Dec 2020 01:03:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=7281

Neu sollen Firmen ihre Lehrstellen anderthalb Jahre vor Lehrbeginn publizieren dürfen. Die Lehrkräfte schütteln den Kopf, die Bildungsbürokratie schweigt vielsagend. Alain Pichard analysiert - wieder einmal - eine unüberlegte Adhoc-Massnahme und zeigt auf, wo der eigentliche Fehler begangen wurde.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Konsequenzen nicht bedacht

Das Alter der Einschulung unserer Kinder wurde in den verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich bestimmt. Unser nördliches Nachbarland Deutschland setzte lange auf 7 Jahre, in Frankreich werden die Kinder durch die «école matérnité» bereits mit 3 Jahren erfasst. Die Diskussion um das richtige Alter ist vermutlich so alt wie die Schule selbst. Die Befürworter der frühen Einschulung begründen ihre Position mit der Erwartung, dass Kinder aus sozial benachteiligten Schichten von einer frühen Einschulung profitierten. Damit werde – so der Diktus –  ein wesentlicher Beitrag zur Chancengleichheit geleistet.  Ausserdem entwickelten sich die Kinder – das sollen Ergebnisse der Hirnforschung zeigen – je jünger desto besser.

In der Schweiz schulte vor HarmoS nur der Kanton Tessin seine Kinder früher ein. Dort begann die Primarschule bereits mit 6 Jahren und auch den zweijährigen Kindergarten führte dieser Kanton schon lange vorher ein.

Geht es nach den Ergebnissen der umstrittenen PISA- und TIMMS-Studien, so darf der Bildungseffekt der früheren Einschulung bezweifelt werden.

Stichtag nach HarmoS: 31. Juli

Geht es nach den Ergebnissen der umstrittenen PISA- und TIMMS-Studien, so darf der Bildungseffekt der früheren Einschulung bezweifelt werden. Der Kanton Tessin schliesst bei den regelmässigen PISA-Erhebungen im interkantonalen Vergleich regelmässig sehr schlecht ab und La Grande République ist mittlerweile in den TIMMs-Studien auf den 35. Platz (noch hinter Albanien) abgerutscht. Ausserdem produziert wohl kaum ein Bildungssystem so viel Ungleichheit wie dasjenige von Frankreich.

Früh liegt im Trend

Trotz dieser Befunde ist der Trend europaweit eindeutig. Die Schüler sollen früher eingeschult werden. Früh scheint ein Zauberwort der allgemeinen Schuldebatte zu sein, wie auch die Einführung von Frühfranzösisch oder Frühenglisch belegt.

Mit der Annahme von HarmoS wurde interkantonal der 31. Juli ein einheitlicher Stichtag festgelegt. Alle Kinder, die bis dahin das vierte Altersjahr erreicht haben, müssen obligatorisch den Kindergarten besuchen, ihre Schullaufbahn beginnt.

Margitt Stamm: Stichtag hat nichts mit dem Entwicklungsstand zu tun

Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm stellte dazu richtigerweise fest: «Der Stichtag hat nichts mit der Entwicklung eines Kindes zu tun. Jedes Kind wächst und entwickelt sich in seinem eigenen Tempo, zwischen drei und fünf Jahren sind die Unterschiede enorm und können bei gleichaltrigen Volksschulkindern bis zu einem Jahr betragen.»

Deswegen gab es vor HarmoS in den meisten Kantonen pragmatische Lösungen für Kinder, welche als noch nicht schulreif erachtet wurden.

Skeptische Lehrkräfte

Viele Lehrkräfte sahen diese Vorverlegung des Schuleintritts und auch die Umwandlung des Kindergartens in eine schulische Institution skeptisch. Vor allem die Oberstufenlehrer fragten sich natürlich, was denn während der 8. und 9. Klasse geschieht, wenn die Kinder bis zu einem Jahr jünger sein und zudem noch eine länger strukturierte Schulzeit hinter sich haben würden.

Besonders drastisch wurde mir dies bewusst, als mich einer meiner Schüler in der 8. Klasse fragte, ob es normal sei, dass er mit 13 Jahren schon Bewerbungen schreiben müsse.

Besonders drastisch wurde mir dies bewusst, als mich einer meiner Schüler in der 8. Klasse fragte, ob es normal sei, dass er mit 13 Jahren schon Bewerbungen schreiben müsse. Für eine richtige Berufslaufbahn sind viele Schüler in der 8. Klasse zu jung und einfach nicht reif genug. Ich spreche hier bewusst von Schülern, weil es sich bei diesen «unreifen» Lernenden vor allem um Knaben handelt.

Fünf Jahre vor der HarmoS-Vereinbarung wurde uns von der bernischen Erziehungsdirektion ein Schreiben zugestellt, wonach es zu viele Jugendliche gebe, die ein 10. Schuljahr besuchen wollten. Wir wurden aufgefordert, vermehrt Anstrengungen zur Optimierung des Berufswahlunterrichts zu machen. Natürlich wurde diese Massnahme auch von Stellenschaffungen (Case-Management-Stellen) begleitet.

Ein typisches Merkmal moderner Reformpolitik, welche die langfristigen Konsequenzen zu wenig bedenkt und kaum auf die Praktiker hört.

Eigene Zielsetzung torpediert

Mit der Vorverlegung des Schuleintritts torpedierten die Behörden wieder einmal die eigenen Zielsetzungen. Denn nun steigen die Zahlen derjenigen SchülerInnen wieder, die sich für ein 10. Schuljahr entschliessen. Ein typisches Merkmal moderner Reformpolitik, welche die langfristigen Konsequenzen zu wenig bedenkt und kaum auf die Praktiker hört.

Vorverlegung der Lehrstellenausschreibung ist absurd

Mit der nun neusten Verfügung des Bundesamts für Berufsbildung, wonach es den Lehrbetrieben erlaubt sein soll, bereits Mitte der 8. Klasse Lehrlinge zu rekrutieren, wird der Unsinn der ganzen Reform noch offensichtlicher.  Abgesehen davon, handelt es sich um einen offensichtlichen Diskriminierungsakt. Die fündigen Lehrbetriebe sichern sich die talentierten, reifen und von zu Hause unterstützten Jugendlichen. Wenn die anderen soweit sind, sind die attraktiven Lehrstellen bereits vergeben.

Ein pikantes Detail zum Schluss: Im Bieler Stadtrat wurde vor 6 Jahren das Polizeireglement diskutiert. Ich beantragte damals, den Passus, wonach unter 16-Jährige sich nach 22.00 Uhr nicht ohne Begleitung durch Erwachsene alleine auf der Strasse aufhalten dürften, zu streichen. Das wurde von der Ratslinken zuerst abgelehnt. Das Beispiel meines Ex-Schülers, eines 15-jährigen Kochlehrlings, der um 23.00 Uhr seinen Arbeitsplatz verlässt, um mit seinem Moped nach Hause zu fahren, belehrte sie eines Besseren.

Vielleicht müsste man auch die Artikel, welche die Kinderarbeit regeln, noch einmal überdenken.

Alain Pichard

 

 

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Wachsende Schieflage einer Wissenschaft https://condorcet.ch/2020/05/wachsende-schieflage-einer-wissenschaft/ https://condorcet.ch/2020/05/wachsende-schieflage-einer-wissenschaft/#respond Tue, 12 May 2020 08:30:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=4894

Professor Wolfgang Kühnel, deutscher Mathematiker (Differentialgeometrie und kombinatorische Topologie) in Stuttgart ist auf dem Condorcet-Blog kein Unbekannter. Und auch in den kritischen Professorenkreisen rund um die Gesellschaft Bildung und Wissen (GBW) sind seine Worte zum Sonntag aufgrund ihrer feinen Ironie legendär. Dieser Beitrag ist eine Replik auf den Artikel "Wachsende Ungleichheit"von Hanna Dumont und Petra Stanat in der FAZ vom 30.04.2020. Und Herr Kühnel wäre nicht Herr Kühnel, wenn er nicht bereits in der Titelsetzung den Spiess umdrehte.

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Professor Kühnel: Lamentieren über soziale Ungleichheiten ist in dieser Situation verfehlt.

Dieses Coronavirus hat schon seltsame Auswirkungen. Die Bildungswissenschaftlerinnen H. Dumont und P. Stanat setzen dem noch die Krone auf, indem sie behaupten: „Sie [die empirische Bildungswissenschaft] kann Hinweise zu einer der am häufigsten gestellten Fragen (!?) im Kontext der Schulschließungen geben: Führt das häusliche Lernen zu verstärkten Bildungsungleichheiten?”

Zunächst sollte man annehmen, dass es weitaus wichtigere Fragen im Zusammenhang mit diesem Virus gibt. Auch die Schulschließungen erfolgen nicht leichtfertig und nicht zum Spaß. Man kann darüber streiten, gewiss. Aber ein Lamentieren über soziale Ungleichheiten in diesem Zusammenhang ist schon von vornherein verfehlt: Selbstverständlich werden insgesamt untere soziale Schichten von diesem Virus mehr getroffen als die Bessergestellten, schon weil die letzteren meist Privatpatienten sind und die anderen meist nicht. Die Wohnverhältnisse kommen hinzu: Beengte Verhältnisse begünstigen Ansteckungen. Und Kurzarbeit und Jobverlust treffen vorwiegend die finanziell Schwachen.

Selbstverständlich werden insgesamt untere soziale Schichten von diesem Virus mehr getroffen als die Bessergestellten, schon weil die letzteren meist Privatpatienten sind und die anderen meist nicht. Die Wohnverhältnisse kommen hinzu: Beengte Verhältnisse begünstigen Ansteckungen. Und Kurzarbeit und Jobverlust treffen vorwiegend die finanziell Schwachen.

Hausaufgaben sollen “unsozial” sein

Aber darum geht es den Autorinnen nicht. Sie legen mal wieder die alte Platte auf, nach der Hausaufgaben und ähnliche Eigenaktivitäten von Schülern außerhalb der Schulräume soziale Ungleichheiten verstärken, weil gebildete Eltern ihre Kinder dabei besser unterstützen können und dies auch oft (nicht immer) machen. Das gipfelte schon in Forderungen nach genereller Abschaffung von Hausaufgaben als schlechthin “unsozial”.

Seltsam ist nur, dass es auch in Europa Länder gibt, in denen die Kinder routinemäßig (ohne Viren) knapp 3 Monate Sommerferien haben.

Jetzt sind die langen Ferien im Visier

Jetzt trifft dieses Verdikt auch noch die Schulferien: Lange Schulferien sind sozial ungerecht, so der Tenor des Artikels. In den USA habe man das in Tests festgestellt. Seltsam ist nur, dass es auch in Europa Länder gibt, in denen die Kinder routinemäßig (ohne Viren) knapp 3 Monate Sommerferien haben. Das ist insbesondere in Italien der Fall (im Süden noch etwas länger als im Norden). Haben die immerhin schon sieben PISA-Studien jemals darauf hingewiesen, wie schädlich doch 3 Monate Sommerferien sind, wurde Italien dafür gerügt? Nein, Italien gilt als Vorbild in Sachen Inklusion. In Belgien gibt es auch insgesamt mehr Ferien, u.a. volle zwei Monate Sommerferien, sogar Estland hat sehr lange Sommerferien, und das ist einer der neuen PISA-Sieger.

Bildungsgleichheit?

Allein das Wort „Bildungsungleichheit” in diesem Zusammenhang lässt aufhorchen. Was ist denn der Gegenbegriff dazu? Doch offenbar „Bildungsgleichheit”, was sonst? Ist diese Gleichheit also neuerdings das eigentliche Ziel unserer Schulen? Das Jammern über die unterschiedlichen Testergebnisse bei Kindern aus unterschiedlichen sozialen und ethnischen Verhältnissen übersieht gerne, dass diese Unterschiede nicht primär von der Schule verursacht werden, sondern schon in 6 Jahren vor der Einschulung und natürlich im häuslichen Umfeld.

Der Staat darf gar nicht konsequent für eine Bildungsgleichheit sorgen, denn er würde dabei mit verbrieften Rechten der Eltern kollidieren.

Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler: Wovon denn sonst als vom sozioökonomischen Status hängt der Bildungserfolg ab?

Dazu sagt Klaus Zierer in dem Buch zur neuen Bildungskatastrophe (mit Julian Nida-Rümelin) auf S. 65: „Im Kontext von PISA wird darauf verwiesen, dass der Bildungserfolg stark vom sozioökonomischen Status der Eltern abhängt. Ich frage hier provokativ: Wovon soll er sonst abhängen? Aus Studien ist beispielsweise bekannt, dass wir bis zum Schuleintritt einen Unterschied von 30 Millionen gehörten Wörtern bei Kindern aus bildungsnahen Milieus im Vergleich zu Kindern aus bildungsfernen Milieus haben. Allein dadurch also, dass Eltern einen anderen Bildungsabschluss haben, sprechen sie mehr mit ihren Kindern, und die wiederum bekommen eine größere Variante von Wörtern mit.” Hinzu kommt etwas, das die Gerechtigkeitsbeflissenen von sich aus nie thematisieren: Unser Grundgesetz gibt ausdrücklich den Eltern das alleinige Recht, ihre Kinder zu beeinflussen und zu erziehen. Der Staat darf nur bei schwerer Kriminalität (z.B. Kindesmisshandlung) eingreifen. Also darf der Staat gar nicht konsequent für eine Bildungsgleichheit sorgen, denn er würde dabei mit verbrieften Rechten der Eltern kollidieren.

Umwerfende Erkenntnisse

Richtig ist ganz gewiss die Feststellung der Autorinnen: „Aufgrund des Zusammenhangs zwischen sozialem Hintergrund und erreichtem Leistungsniveau ist es wahrscheinlich, dass Kinder aus sozial weniger privilegierten Familien seltener zu denjenigen gehören, die gut selbständig lernen können.”

Ja, wenn das so ist, liebe Bildungswissenschaftler/innen, dann müsste man doch in der Schule zum Ausgleich mehr unselbständiges Lernen praktizieren, also mehr Frontalunterricht mit effizienter Kontrolle.

Ja, wenn das so ist, liebe Bildungswissenschaftler/innen, dann müsste man doch in der Schule zum Ausgleich mehr unselbständiges Lernen praktizieren, also mehr Frontalunterricht mit effizienter Kontrolle. Aber das Gegenteil ist doch der Fall: Alle sich für progressiv haltenden Erziehungswissenschaftler, Didaktiker und Bildungspolitiker möchten gerne den Frontalunterricht möglichst weitgehend durch individuelles und möglichst selbständiges Lernen ersetzen, und zwar schon in der Grundschule. Da sollen die Kinder sogenannte „Lerntagebücher” führen und darin feststellen, „ich kann dieses und jenes”. Die Friedrich-Ebert-Stiftung verkündete schon „das Ende des Frontalunterrichts” unter Berufung auf eine Studie von Frau Prof. M. Vock (Uni Potsdam) und pries die Heterogenität mit dem individuellen Lernen. Ein individuelles Lernen muss aber zwangsläufig weitgehend ohne Lehrer stattfinden, die Lehrer werden dann zu sogenannten „Lernbegleitern”. Das letztere bleiben sie aber selbst in Zeiten der Coronakrise durch elektronische Kommunikation.

Ein individuelles Lernen muss aber zwangsläufig weitgehend ohne Lehrer stattfinden, die Lehrer werden dann zu sogenannten „Lernbegleitern”. (laut Friedrich Ebert-Stiftung)

Petra Stanat: Widersprüchliche Argumentation

Auch die Autorinnen schreiben dazu: „Auf der pädagogischen Ebene sind die einzelnen Schulen und Lehrer in dieser Zeit mehr denn je gefragt, auf die unterschiedlichen Lernstände der Schüler mit Methoden der Individualisierung (aha!) und Differenzierung einzugehen.” Was bitte soll aber beim Lernen „Individualisierung” anderes bedeuten als weitgehend selbständiges Lernen (mit Anleitung), das doch angeblich zu sozialer Bildungsungleichheit führt? Dass die optimale individuelle Förderung jedes einzelnen am Ende nahezu automatisch zu großer Bildungsungleichheit führen muss, wird dabei verdrängt. Der eine lernt halt nachmittags gerne, interessiert sich für vieles, liest Bücher und sieht im Fernsehen informative Sendungen an, der andere spielt lieber Fußball und sieht sich Krimis und Actionfilme an oder lässt sich in Diskotheken volldröhnen. Der eine Musiker übt fleißig, der andere nicht, alles mit entsprechenden Resultaten später nach Jahren. Und wir sollen über Bildungsungleichheiten lamentieren, die ausschließich empirisch durch Korrelationen festgestellt wurden? Ob 15-jährige Testpersonen als 7-jährige mal Bildungschancen hatten oder nicht, kann nie festgestellt werden.  Chancen können auch vertan werden.

Die empirische Bildungswissenschaft ist in Gefahr, zu einem Anhängsel politischer Ziele zu werden.

Mir scheint, die empirische Bildungswissenschaft ist in Gefahr, zu einem Anhängsel politischer Ziele zu werden. Man unterstützt neuerdings bereitwillig alle Forderungen nach sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, bei PISA-Pressekonferenzen ist das inzwischen ein sehr wichtiges Thema geworden, aber wie viele unserer Gymnasiasten in der Oberstufe noch das kleine 1×1 auswendig können (von der eigentlichen gymnasialen Mathematik ganz zu schweigen) oder eine passable Rechtschreibung beherrschen, das erfahren wir nie. So etwas hält die Bildungswissenschaft nicht für wert, erforscht zu werden. Es gehört offenbar nicht zur Qualität im Bildungswesen (offiziell die zentrale Aufgabe des IQB unter Leitung von Frau Stanat). Man beglückt uns lieber von Test zu Test mit einer neuen Einteilung der Testpersonen in Kompetenzstufen ohne eine nutzbringende Erkenntnis.

 

 

 

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Wir müssen die Reformrhetorik entblättern https://condorcet.ch/2020/02/wir-muessen-die-reformrhetorik-entblaettern/ https://condorcet.ch/2020/02/wir-muessen-die-reformrhetorik-entblaettern/#comments Tue, 18 Feb 2020 11:22:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=4022

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin in der Stadt Basel, weiss, wovon sie redet, wenn sie mit Begriffen wie Integration, Frühförderung oder Kompetenzorientierung konfrontiert ist. Aber wissen es die anderen auch, oder besser, reden alle vom Gleichen? Eine brisante Analyse aus der Praxis!

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Die Schulreformen der letzten zwanzig Jahre sind geprägt von Begriffen wie Integration, Partizipation, Kompetenzorientierung, Individualisierung, Frühförderung und früher Fremdsprachenunterricht, sowie Digitalisierung und nicht zuletzt selbstorganisiertes Lernen und Selbstreflexion.

Praktische Begriffe

Diese Begriffe sind äusserst praktisch: Damit lassen sich Notwendigkeiten von Reformen begründen, Zielvorstellungen formulieren und Prozesse beschreiben. Auch im Diskurs selbst sind sie vielfältig einsetzbar: Man kann damit fordern, argumentieren, plädieren, diskutieren, reflektieren, moralisieren, widersprechen, zustimmen; was auch gern getan wird und worin vielleicht ihr eigentlicher Zweck liegt.

Vielseitige Einsatzbarkeit und Jongliermöglichkeiten

Mit diesen Begriffen kann frivol jongliert werden.

Doch was genau repräsentieren diese Begriffe eigentlich? Könnte es sein, dass ihre vielseitige Einsetzbarkeit und die Jongliermöglichkeiten in erster Linie darauf hinweisen, dass niemand weiss, was eigentlich damit gemeint ist, dass sie also keine eigentliche Bestimmung haben? Dass sie in erster Linie Prozesse beschreiben, die irgendwelche Zustände herbeiführen wollen, welche aber als solche auch nicht geklärt sind? Ganz abgesehen davon muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist, davon auszugehen, dass sich zukünftige Zustände überhaupt beschreiben lassen, ausser man geht davon aus, dass sie sich aus dem bis anhin Geschehenen naturgemäss weiterentwickeln werden.

Wenn die Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden will, muss sie selbstverständlich klären, wie sie sich zeitlich und räumlich strukturiert, wie das erzieherische Verhältnis und das Vermitteln beschrieben werden sollen und wie sie den Zugang zur Welt mit dem Ziel der Partizipation an derselben schaffen will.

Beim Versuch der Verortung der Begriffe erkennt man bei der Frühförderung und dem frühen Fremdsprachenunterricht einen zeitlichen sowie bei der Integration und der Partizipation einen räumlichen Aspekt. Individualisierung, selbstorganisiertes Lernen und Selbstreflexion scheinen sich am einzelnen Kind zu orientieren, während Kompetenzorientierung und Digitalisierung vielleicht etwas damit zu tun haben, wie der Welt begegnet wird oder begegnet werden soll.

Wenn die Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden will, muss sie selbstverständlich klären, wie sie sich zeitlich und räumlich strukturiert, wie das erzieherische Verhältnis und das Vermitteln beschrieben werden sollen und wie sie den Zugang zur Welt mit dem Ziel der Partizipation an derselben schaffen will.

Eine Gesellschaft, die nicht weiss, was ist und wohin es geht

Doch die oben beschriebenen Schulreformen scheinen nach dem Prinzip der «pädagogischen Panik» (Basil Bernstein) zu funktionieren, welche er als «eine tiefe Panik in unserer Gesellschaft» beschreibt, «die nicht weiss, was ist und wohin es geht».

Wohin geht die Reise?

Die Tatsache, dass nicht alle in der offenbar angestrebten Weise an der Welt partizipieren können, führt zur Forderung einer integrativen Schule und vermehrter Partizipation. Vermutete mangelnde Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen nach einer Vorverlegung der Instruktion. Wenn nicht mehr klar ist, was die nachfolgende Generation wissen und tun soll und die Probleme als kaum zu bewältigen erscheinen, dann sollen die Kinder selber wissen, was sie können und tun müssen, Hauptsache sie werden in irgendeiner Form kompetent; und nicht zuletzt sollen sie auch auf die zunehmende Digitalisierung – was auch immer damit gemeint ist – vorbereitet sein. Die Reformen sind nichts Anderes als schnelle Antworten mit im Schulkontext schwer zu verortenden und ungeklärten Begriffen auf Herausforderungen, auf welche die ältere Generation keine Antworten weiss und die sie damit der jüngeren Generation weitergibt; damit wird das Pädagogische, welches jeder Erziehung per se zugrunde liegt, letztlich ausgeklammert.

Das Pädagogische wird ausgeklammert.

Der Schule die Lösung von Herausforderungen der Zukunft mittels Reformen zuzumuten, die auf ungeklärten, allein Prozesse beschreibenden Begriffen basieren, macht sie in erster Linie kritikanfällig und instabil. Ganz abgesehen davon, dass die Herausforderungen an sich ungeklärt sind, wie alles, was erst in der Zukunft – wenn überhaupt – eintreten wird.  Die damit einhergehende Infragestellung der Leistungsfähigkeit und

Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Tun immer häufiger legitimieren.

Autorität der Schule impliziert auch jene der Lehrerinnen und Lehrerin, der eigentlichen Träger der Institution; sie müssen ihr Tun und Lassen immer häufiger legitimieren. Dies fällt zunehmend schwer, da Lehrerinnen und Lehrer sich durchaus bewusst sind, dass viele Vorgaben nicht einlösbar bzw. nicht richtig verortet sind und dass ihre Tätigkeit vorwiegend aus einem Tun und Handeln besteht, nicht aus der Herstellung von Zuständen.

Lehrkräfte stellen keine Zustände her

Die Reformen der letzten zwanzig Jahre hatten durchaus bestimmte Zielsetzungen bzw. Absichten. Nur konnten sie diese nicht einlösen. Dies mag damit zu tun haben, dass Bildungs- und Erziehungsprozesse nicht nach dem Kausalitätsprinzip funktionieren. Die Gründe dafür liegen aber auch darin, dass die Verantwortlichen nie klärten, ob die Begriffe, welche den Reformen ihren Stempel aufgedrückt haben, als solche überhaupt geklärt sind, in der Institution funktionieren und woran sie sich eigentlich orientieren bzw. inwiefern sie mit Bildung, Erziehung und Wissensvermittlung etwas zu tun haben.

Aber das eigentliche Lehren und Vermitteln ist letztlich eine personale Angelegenheit und findet in unserem täglichen Tun statt.

Der Berufsalltag muss leistbar bleiben

Als Lehrerinnen und Lehrer verstehen wir uns als Wissensvermittler, als jene, welche das Wissen, welches Weltzugänge ermöglicht, in einem kollektiven Setting, – das als solches an sich wiederum viele Lernmöglichkeiten bietet – weitergeben möchten. Wir verfügen über ein bestimmtes Professionswissen, das unserer Arbeit zugrunde liegt. Aber das eigentliche Lehren und Vermitteln ist letztlich eine personale Angelegenheit und findet in unserem täglichen Tun statt. Wir wissen, dass dies nicht immer so gelingt, wie wir uns das vorstellen, wir wissen, dass wir es mit widersprüchlichen Herausforderungen zu tun haben – Gleichheit oder Gerechtigkeit, Mensch oder Sache, Gemeinschaft oder Individuum etc.  – ,

Nicht leistbare Zumutungen

bei welchen wir uns immer wieder und oft kurzfristig zugunsten des einen oder anderen entscheiden müssen. Wir lehren und steuern, fordern heraus und ermutigen, begeistern und regulieren, ermöglichen und korrigieren, schaffen Freiräume und setzen Grenzen, reüssieren und scheitern, kurz: Wir wissen um die Komplexität unseres Berufsauftrags und auch darum, dass die Schule ökonomische, soziale und politische Aspekte aufweist. Doch der Berufsauftrag muss leistbar bleiben. Wenn das Lernen immer früher institutionalisiert stattfinden soll, wenn das Setting aufgrund der unterschiedlichen Lernfähigkeiten immer komplexer wird wegen der so genannt integrativen Schule, wenn wir vor lauter Kompetenzen die Inhalte nicht mehr sehen, wenn Kinder alles selber lernen und organisieren sollen, wenn die Schülerinnen und Schüler hinter Bildschirmen verschwinden und wir nur noch Administratoren und Begleiter sein müssen: Dann können wir nicht mehr pädagogisch tätig sein.

Wenn das Lernen immer früher institutionalisiert stattfinden soll, wenn das Setting aufgrund der unterschiedlichen Lernfähigkeiten immer komplexer wird wegen der so genannt integrativen Schule, wenn wir vor lauter Kompetenzen die Inhalte nicht mehr sehen, wenn Kinder alles selber lernen und organisieren sollen, wenn die Schülerinnen und Schüler hinter Bildschirmen verschwinden und wir nur noch Administratoren und Begleiter sein müssen: Dann können wir nicht mehr pädagogisch tätig sein.

Es gilt Abschied zu nehmen von Utopien, von nicht leistbaren Zumutungen und von Begriffen, die Zustände herstellen wollen, welche sich per se nicht herstellen lassen, ohne dass alles Unerwartete ausgeschaltet würde und allein Anpassung als Möglichkeit des menschlichen Daseins übrigbliebe. Eine Schule, die nicht mehr versteht, was sie tut bzw. tun muss, wird in ihrer eigentlichen Sinnhaftigkeit erschüttert. Sie muss zurückfinden zu ihrem eigentlichen Auftrag als Institution der Gesellschaft für die Gesellschaft. Wir verlieren sonst mehr, als wir uns wahrscheinlich vorstellen können.

 

 

 

 

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