Freiheit - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 30 Dec 2023 16:56:23 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Freiheit - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die amerikanische Manie, die Kinder permanent zu überwachen, zu betreuen und zu fördern, kann Angststörungen auslösen https://condorcet.ch/2023/12/die-amerikanische-manie-die-kinder-permanent-zu-ueberwachen-zu-betreuen-und-zu-foerdern-kann-angststoerungen-ausloesen/ https://condorcet.ch/2023/12/die-amerikanische-manie-die-kinder-permanent-zu-ueberwachen-zu-betreuen-und-zu-foerdern-kann-angststoerungen-ausloesen/#respond Sat, 30 Dec 2023 16:56:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=15558

Das Phänomen der omnipräsenten Helikopter-Eltern schwappt immer mehr aus den USA nach Europa über. Doch nun wird Kritik an diesem Erziehungsstil laut. Manche Forscher vermuten sogar einen Zusammenhang mit den zunehmenden Angststörungen und Depressionen unter Jungen. Wir bringen einen Artikel des NZZ-Journalisten David Signer.

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Zieht man mit Kindern in die USA um, sticht einem der andere Erziehungsstil ins Auge. Was man in der Schweiz spöttisch Helikopter-Eltern nennt, ist hier normal. Ständig kreisen Mütter und Väter in einer Mischung aus Überbehütung und Kontrolle über ihren Kindern.

Gastautor David Signer, NZZ-Journalist

Das beginnt schon beim Schulweg: Im Gliedstaat Illinois dürfen Kinder erst ab 14 Jahren allein zur Schule gehen, selbst wenn es sich nur um eine Viertelstunde zu Fuss handelt. Allein zu Hause lassen darf man sie in Illinois ebenfalls erst ab 14. Ebenso wenig dürfen Kinder ohne Aufsicht draussen spielen, nicht einmal im Hinterhof oder auf dem Rasen vor dem Haus. Es besteht das reale Risiko, dass ein Nachbar die Polizei oder die Kinderschutzbehörde anruft. Auch auf dem Spielplatz weichen die meisten Eltern kaum von der Seite ihres Nachwuchses.

Die Vorbereitung auf das College beginnt kurz nach der Geburt

Aber die meisten Kinder haben sowieso kaum Zeit zum Spielen, weil die Eltern sie nach der Schule gleich zum Schwimmunterricht, ins Ballett, zur Geigenstunde oder in den Nachhilfeunterricht bringen. Treffen mit anderen Kindern beschränken sich auf organisierte “play dates”, bei denen die Erwachsenen daneben sitzen und für Anregungen und Leitplanken sorgen.

Viele Eltern sind besessen von der Idee der Frühförderung und sorgen sich, kaum ist das Kind geboren, ob es wohl den Sprung in ein gutes College schaffen wird. Zur Nonstop-Erziehung passt auch das permanente Lob. Der häufigste Satz auf Spielplätzen ist: “Good job, buddy!”, selbst wenn das Kind bloss die Rutschbahn heruntergekommen ist. Wohlgemerkt: Das hat eine sympathische, liebevolle, positive und förderliche Seite; es zeigt aber auch, wie Eltern sich in den Mittelpunkt stellen und alles bewerten. Eigentlich sollte man auf dem Spielplatz ja nicht Mutter oder Vater zufriedenstellen, sondern Spass haben.

Zusammenhang zwischen Überbetreuung und Angststörungen

Nun gibt es jedoch zunehmend Kritik an diesem Erziehungsmodell, das nicht nur in den USA, sondern mit einer Zeitverzögerung auch in Europa immer mehr dominiert. Organisationen wie Let Grow setzen sich für mehr kindliche Autonomie und eine Änderung der Gesetze ein und werden zu einer landesweiten Bewegung.

Auch auf wissenschaftlich-pädagogischer Ebene werden kulturelle Gewissheiten infrage gestellt. Peter Gray, Psychologieprofessor am Boston College, veröffentlichte kürzlich im “Journal of Pediatrics” einen Artikel, der heftiges Medienecho auslöste. Er postuliert, dass die psychischen Störungen und die Suizide im Kindes- und Jugendalter, die beide seit Jahren markant zunehmen, im Zusammenhang stehen mit der elterlichen Intensivbetreuung und dem Mangel an freiem Spiel.

Auf einmal galt es als unterschichtstypische, bildungsferne Vernachlässigung, die Kinder “unbeaufsichtigt” zu lassen und sie nicht in jeder freien Minute zu “fördern”.

Oft wird der Anstieg von frühen Angststörungen und Depressionen mit sozialen Netzwerken, Bildschirmzeit und Corona erklärt. Laut Gray setzte die Zunahme jedoch schon vor etwa fünfzig Jahren ein, als sich auch das “overparenting” langsam ausbreitete. Offenbar begann der Trend in der – oberen, akademischen – Mittelklasse, die von Abstiegsängsten geplagt wird. Zugleich nahm die Zahl der Geschwister ab und breitete sich populärwissenschaftliches Wissen über Pädagogik und Psychologie aus.

Die Konklusion war: Man muss Kinder so früh wie möglich systematisch fördern, damit sie den Sprung in die höhere Bildung schaffen, als Garant für sozialen Aufstieg oder zumindest Status quo. Das erzieherische Mikromanagement wurde im Laufe der Jahre als vorbildlich und normal angesehen und sickerte von den oberen Klassen in die unteren. Auf einmal galt es als unterschichtstypische, bildungsferne Vernachlässigung, die Kinder “unbeaufsichtigt” zu lassen und sie nicht in jeder freien Minute zu “fördern”.

Freies, unstrukturiertes Spiel unter Gleichaltrigen ist wichtig

Vergessen ging dabei laut Gray, dass Kinder – sozial, kognitiv, intellektuell, motorisch – am meisten im freien Spiel mit Kameraden lernen. Und auch beim Nichtstun: Gerade Langeweile kann zu neuen Ideen inspirieren. Die “unstrukturiert” verbrachte Zeit ist nicht vergeudet, auch wenn man damit im Gegensatz zu Klavierstunden und Sportklub im Aufnahmeverfahren für Highschool und College nicht punkten kann. Die Optimierungsmanie führt nicht nur bei den Kindern zu Konformitätsdruck und Leistungsdenken, sondern auch bei den Eltern: Alle haben das Gefühl, in verantwortungsloser Art zu wenig für ihren Nachwuchs zu tun.

So ist es selbst bei Kindergeburtstagen üblich, dass man ein Formular unterschreiben muss, das die Gastgeber vor Klagen im Falle eines Unfalls schützt.

Hinzu kommt, vor allem in Grossstädten, die Furcht vor Autounfällen, Überfällen, Kidnapping, Pädophilen und allgemein vor der “stranger danger” – die diffuse Angst vor “gefährlichen Fremden”. Sie ist auch ein Grund für den Waffenkult. Ausgerechnet die USA, die Selbstverantwortung, Freiheit und Draufgängertum hoch bewerten, sehen, im Gleichschritt mit “woken” Überzeugungen, Kinder und Jugendliche nicht mehr als Entdecker, Forscher und Abenteurer, sondern als verletzliche Opfer, die man vor der gefährlichen Welt beschützen muss. Damit sind Ängste vorprogrammiert.

Die Jungen kennen nichts anderes als die Dauerbetreuung

Zu dieser Übervorsicht passen auch die Tendenz zum Homeschooling, das Alkoholverbot bis 21 Jahre, die um sich greifenden Bücherverbote in Schulbibliotheken sowie die Obsession mit Versicherungen und Haftungsausschuss. So ist es selbst bei Kindergeburtstagen üblich, dass man ein Formular unterschreiben muss, das die Gastgeber vor Klagen im Falle eines Unfalls schützt. Selbst über einer harmlosen Party hängt das Damoklesschwert von Verletzungen, Anwälten und Schadenersatzforderungen.

Der Prozess verstärkt sich im Lauf der Generationen. Die Jungen von heute erinnern sich, im Gegensatz zu den Älteren, nicht mehr, dass es einmal anders war: dass man stundenlang allein oder mit Kameraden draussen spielte, ohne dass sich irgendjemand Sorgen machte deswegen. Für die junge Generation ist pausenlose Betreuung normal, und so wird sie wohl dereinst auch ihre eigenen Kinder aufwachsen lassen. Diejenigen, die selbst unter den verbreiteten Angststörungen leiden, werden erst recht versuchen, ihre Schützlinge gegen Gefahren abzuschirmen, anstatt ihnen Stärke, Mut und Neugierde mit auf den Weg zu geben.

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Fata Morgana Verbotsgesellschaft https://condorcet.ch/2023/10/fata-morgana-verbotsgesellschaft/ https://condorcet.ch/2023/10/fata-morgana-verbotsgesellschaft/#comments Tue, 03 Oct 2023 15:54:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15059

Condorcet-Autor Roland Stark empfindet die Debatte um die angebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit als weit überzogen und appeliert an das Gemeinschaftsgefühl.

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Schon ein flüchtiger Blick in die Medien oder auf die «Sünneli»-Propaganda für die Wahlen im Herbst lässt Schlimmes befürchten. Wir staunen: In den 175 Jahren seit der Gründung der modernen Schweiz 1848 wurden unsere Freiheitsrechte immer stärker eingeschränkt. Selbst ein kluger Kopf wie Eric Guyer, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, behauptet allen Ernstes, die Gesellschaft mutiere zur Erziehungsanstalt, welche ihren Insassen beibringe, welches Auto sie fahren, welche Heizung sie benutzen und wie sie korrekt sprechen sollen. (NZZ, 28.7.2023).

Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge und Vorstandsmitglied des Condorcet-Trägervereins: Eine Diskussionskultur ohne Mass und Vernunft.

Heute erregen Bettler, Klima-Kleber und Gendersterne die Gemüter. Früher waren es Fremdarbeiter («Tschinggen») oder langhaarige 68er («ab nach Moskau»), die als Reize funktionierten wie beim Pawlow’schen Hund, dem der Speichel bereits floss, wenn er nur den Klang der Glocke hörte, die das baldige Essen ankündigte.

Angeblich – oder tatsächlich – sind in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Gesetze und Verordnungen beschlossen worden, die offenbar grosse Teile der Bevölkerung in tiefstes Unglück stürzten. Rauchverbot in Restaurants, Vermummungsverbot, Indianer, Eskimos und Kaminfeger sind aus Spielen, Kinderbüchern und Liedern verbannt, Lehrkräfte dürfen ihre Zöglinge nicht mehr schlagen oder mit Kreiden bewerfen, AKW’s, Gasheizungen und Fleisch auf dem Teller sind bald Geschichte. Selbst die Bezeichnungen «Mutter» und «Vater» sind akut gefährdet. Bäckereien verwandelten «Meitlibei» in «Glücksbringer».

Aus “Meitschibei” wird “Glücksbringer”

Noch härter getroffen hat es aber die Autofahrerinnen und Autofahrer; ihr Ansehen rangiert unterdessen am untersten Ende der politischen Nahrungskette. Der Airbag wurde Pflicht, das Gutenobligatorium eingeführt, ein Tempolimit auf Autobahnen. Hunderte Parkplätze vernichtet, zuerst am Barfi, in der Freien Strasse, dann auf dem Marktplatz und dem Münsterplatz. Und nun auch noch in den Quartierstrassen. Dazu Tempo 30, nicht nur vor Kindergärten, sondern gleich flächendeckend. Rücksichtslose Velofahrerinnen und Velofahrer, Baustellen, Staus, Ampeln und Umleitungen behindern die freie Fahrt.

Über 30 Jahre vor Eric Guyer hatte schon Friedrich Dürrenmatt, in seiner provokanten Rede zu Ehren Vaclav Havels, den Zustand unseres Landes sinngleich beschrieben:

«Die Gefängnisverwaltung, die alles gesetzlich zu regeln versucht, behaupet, das Gefängnis befinde sich in keiner Krise, die Gefangenen seien frei, insofern sie echte gefängnisverwaltungstreue Gefangene seien, während viele Gefangene der Meinung sind, das Gefängnis befinde sich in einer Krise, weil die Gefangenen nicht frei seien, sondern Gefangene.» (22.11.1990)

Die alllwissende Suchmaschine Google nennt auf Anfrage das Stichwort Verbotsgesellschaft 3430 mal: «Sind wir auf dem Weg in die Verbotsgesellschaft?», «Wie die Verbotsgesellschaft den Bürger entmündigt», «Signal gegen eine ausufernde Verbotsgesellschaft», «Im Eiltempo unterwegs zur Verbotsgesellschaft», «Der Irrweg in die Verbotsgesellschaft» usw. usf. Blättert man in den Texten, erkennt man sogleich ein riesiges Tohuwabohu, einen wirren Mix aus vernünftigen, überflüssigen und erfundenen Regeln. Im selben Topf finden sich etwa Tempolimits, Rauchverbote auf Spielplätzen, verkehrsbefreite Innenstädte, Mieterschutz, Maskenpflicht, Solarheizungen auf Dächern, Kleidervorschriften an Schulen, Handyverbot im Klassenzimmer, Gendersprache in der Verwaltung. Wer in einigen Jahren zurückblickt, schaut verwundert und erschreckt auf eine Gesellschaft ausser Rand und Band und eine Diskussionskultur ohne Mass und Vernunft.

Es ist ein eigentümlich narzisstisches Verständnis von Freiheit, wenn jede Regel, die Rücksicht auf andere, jedes Gesetz, das mit Blick auf das Gemeinwohl mir individuell etwas abverlangt, jede Norm, die zum Schutz von Personen oder Institutionen oder der Natur erlassen wird, kategorisch abgelehnt und als mutmassliche Repression umgedeutet wird.

Carolin Emcke, Autorin: Jede Selbstbeschränkung als Zumutung?

Vielleicht liest aber auch jemand nachträglich die Kolumne von Carolin Emcke unter dem Titel «Die Maulhelden» in der Süddeutschen Zeitung:

 «Es ist ein eigentümlich narzisstisches Verständnis von Freiheit, wenn jede Regel, die Rücksicht auf andere, jedes Gesetz, das mit Blick auf das Gemeinwohl mir individuell etwas abverlangt, jede Norm, die zum Schutz von Personen oder Institutionen oder der Natur erlassen wird, kategorisch abgelehnt und als mutmassliche Repression umgedeutet wird. Jede Achtung vor anderen, jede Selbstbeschränkung, jedes Einhegen von eigenen Ansprüchen wird da schon mit infantilem Geplärre als Zumutung behauptet. Man könnte es für einen populistischen Kinder-Zirkus halten, was da gerade aufgeführt wird, wenn es nicht so gefährlich wäre in der Absage an demokratische Verbindlichkeit und Solidarität.» (SZ, 26.8.2023)

 Der Krieg in der Ukraine, Corona, die Klimakrise, Flüchtlinge, wirtschaftliche und soziale Abstiegsängste und Umweltzerstörungen verunsichern viele Menschen und liefern Vereinfachern, Demagogen und Populisten reichlich Futter für ihre Hasspredigten und ideologischen Feldzüge.

Die immensen Herausforderungen sind  jedoch nur zu bewältigen, wenn sich die Gesellschaft auf Regeln des Zusammenhalts und der Rücksichtsnahme verständigt. Das nennt man Demokratie. Politik und Medien sind gefordet. In erster Linie aber steht jede und jeder Einzelne in der Verantwortung. In Wort und Tat.

Dieser Artikel ist zuerst im bajour erschienen, 2. Oktober 2023

 

 

 

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Unterrichten ist Segeln, nicht Bahnfahren https://condorcet.ch/2023/08/unterrichten-ist-segeln-nicht-bahnfahren/ https://condorcet.ch/2023/08/unterrichten-ist-segeln-nicht-bahnfahren/#comments Tue, 15 Aug 2023 20:13:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=14818

Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet Horizonte. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen agieren vielfach unter Bedingungen der Unsicherheit. Dabei tragen sie eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Tausende von Schülerinnen und Schülern starten diese Tage in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Lehrerinnen und Ausbildnern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start. Jedem Anfang wohnt ja ein Zauber inne, wie es Hermann Hesse im Gedicht “Stufen” formuliert. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Aufbrechen zu neuen Horizonten

Lernen heisst immer auch aufbrechen und sich einlassen auf Neues, Unbekanntes. Es gleicht einer Entdeckungsreise: den geschützten Hafen verlassen und hinaussegeln in ein neues Schuljahr. Lernen bedeutet sich aufmachen, heisst die feste Mole verlassen und sich auch ins Unbekannte wagen.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Mit Kindern und Jugendlichen unterwegs sein ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich.

Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht.

Jede Pädagogin kennt die Spannung zwischen dem Machbaren und dem Unsicheren. Jeder Ausbildner weiss um den Widerspruch zwischen der Offenheit der Aufgabe und der Ungewissheit der Route; er ist sich der Diskrepanz zwischen dem theoretisch anvisierten Ziel und der immanenten Unsicherheit pädagogischen Handelns bewusst. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren – im stets gleichen Geleise. Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie bei der Seefahrt lässt sich nicht alles planen und unter Kontrolle halten, und doch muss man auf das Auslaufen, auf die Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein und das gemeinsame Ziel à fond kennen.

Freiheit als pädagogisches Elixier

Schulleitung und Lehrpersonen sind weder für Wind und Wellen noch für Sturm und Strömung verantwortlich, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord. Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt für die Schule. Freiheit sei für die Bildung “die erste und unerlässliche Bedingung”, schrieb Wilhelm von Humboldt, Philosoph und Reformer der preussischen Volksschule.[1]

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte.

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen die Kinder und Jugendlichen zur Autonomie führen, zum Vermögen, «sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen», wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert hat.

Zu viele Regeln wirken als Korsett

Darin aber liegt das Paradoxe: Die vielen Regeln und Reglemente stehen im Widerspruch zur notwendigen Freiheit. Sie bringen Schulen in Atemnot. Doch zielgerichtet navigieren und situativ richtig reagieren ruft nach Freiheit. Nur schon deshalb muss die Schule ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder. Freiheit bringt Raum fürs Unvorhersehbare.

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert.

Und in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar prognostizierbar. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorgaben; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich berührt, können wir nicht über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt!

Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die See wogt, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Fahrt hinaus ins Offene die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

 

[1] Wilhelm von Humboldt (2006), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart, S. 22.

 

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Der neue Klassenkampf https://condorcet.ch/2021/07/der-neue-%c2%acklassenkampf/ https://condorcet.ch/2021/07/der-neue-%c2%acklassenkampf/#comments Wed, 28 Jul 2021 13:27:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=9058

Liberale Meinungen werden an den Schulen nicht unterdrückt; ihr Austausch findet gar nicht erst statt. Um für ein junges Publikum attraktiv zu werden, müssten die Liberalen den Gang ins Schulzimmer wagen. Robert Benkens, Gymnasiallehrer in Oldenburg, ist der Shootingstar einer austerbenden Gattung: der liberalen und optimistischen Lehrer. Dieser Beitrag erschien zuerst im Schweizer Monat und hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Robert Benkens, Lehrer für Deutsch und Politik am Liebfrauengymnasium in Oldenburg: Liberale können kein Agendasetting.

Ob «Burn Capitalism, Not Coal» oder «System Change, Not ­Climate Change» – das sind nur zwei der Slogans auf Protestbannern von Klimaaktivisten. Eine Umfrage zeigt: In Deutschland haben 45 Prozent der jungen Menschen ein positives Bild vom Sozialismus und noch mehr, 47 Prozent, sind gegenüber dem Kapitalismus negativ eingestellt. Woran liegt es, dass ein Wirtschaftssystem, das bei allen Schwächen, die zweifellos staatliche Korrekturen und Rahmengesetze notwendig machen, so viel für die Armutsbekämpfung in der Welt getan hat wie kein anderes zuvor – dass ein solcher Kapitalismus einen schlechteren Ruf hat als der Sozialismus, der für die grössten menschengemachten Hunger- und Umweltkatastrophen verantwortlich ist?

Liberale haben offensichtlich zu lange an die normative Kraft des Faktischen, an «das Ende der Geschichte» geglaubt. Sie haben sich damit zufriedengegeben, dass die Systemalternativen scheiterten. Typisch dafür ist eine Floskel, die ich nicht nur von Schülern, sondern auch von Erwachsenen immer wieder höre: «Der Sozialismus ist ja eigentlich eine gute Idee, wurde nur falsch umgesetzt.» Die Konstruktionsfehler, die dem Sozialismus «ab Werk» eingeschrieben sind, können wenige benennen. Gleichzeitig sind die Megatrends bei der weltweiten Armutsbekämpfung weit­gehend unbekannt.

Sozialismus ist ja eigentlich eine gute Idee, wurde nur falsch umgesetzt.

Deshalb, dachte ich zu Beginn meiner Lehramtszeit vor ein paar Jahren, müsse man nur etwas ökonomische Aufklärung betreiben: Nicht nur über die Bilanzen von Bundesrepublik und DDR, USA und Sowjetunion, Süd- und Nordkorea, sondern auch über die vierzig Millionen Verhungerten im sozialistischen China unter Mao und die Befreiung von über 500 Millionen Chinesen aus der Armut durch die marktwirtschaftliche Öffnungspolitik Deng Xiaopings, über Liberalisierungsmodelle in Botswana und Chile oder Verarmungsregime wie Kuba und Venezuela. Bei der Suche nach Material stiess ich auf Bücher wie «Factfulness», «Why Liberalism Works», «Identität», «Aufklärung jetzt» und «More from Less», stöberte in «Our World in Data», entdeckte das «Breakthrough ­Institute» und erkannte, dass eine stabile Marktordnung in einem Land nicht nur die ökonomische Entwicklung begünstigt, sondern auch soziale sowie ökologische Indikatoren verbessert.

Konservative haben Religion, Familie,Dorf oder Heimatgefühle im Angebot. Linke haben Visionen internationaler Solidarität. Die Grünen sind auf Weltrettungsmission. Was haben die Liberalen jungen Leuten anzubieten?

Club of Rome: viele Fehlprognosen

Die Unterrichtsvorbereitung führte bei mir zu einem grundsätzlichen Nachdenken über das Bildungssystem: Während sich die Welt draussen rasant entwickelte, wurde weiterhin das schon zu meiner Schulzeit überholte Bild einer geteilten Welt der 1970er gezeichnet – einer Zeit, in der viele meiner Lehrer Studenten ­waren. Mit Verblüffung stellte ich fest, was aus den Untergangs­prognosen von damals geworden war, etwa denen des Club of Rome, und dass diese Fehlprognosen im Unterricht nicht auf­gearbeitet wurden. Eigentlich müsste es doch Aufgabe neuer Lehrergenerationen sein, für einen Perspektivwechsel, gewissermassen ein «Update» des Weltbildes in den Lehrerzimmern zu sorgen.

Wo bleiben die liberalen Antworten?

Stattdessen sah ich mit zunehmender Ratlosigkeit, wie ökopessimistisches, wachstumsfeindliches, antikapitalistisches und fortschrittsskeptisches bis technologiefeindliches Denken auf unterschiedlichen Kanälen auf Schüler und Lehrer einströmte. Noch ratloser liess es mich zurück, wie wenig Kontra aus der liberalen Ecke kam. Ich fragte mich, warum man liberale Antworten auf bestehende Probleme kaum vernahm. Wo war der liberale Kampf gegen sich zementierende Ungleichheit, sozialisierte Umweltschäden, ­armutsbedingte Naturzerstörung und identitätspolitische Spaltungen der Gesellschaft von rechts und links? All dies sind Phänomene, die massgeblich auf die Missachtung liberaler Grundprin­zipien in Markt, Staat und Gesellschaft zurückzuführen sind.

Dann erkannte ich, dass der Liberalismus nicht nur seine programmatische Profilierung hatte schleifen lassen, sondern auch die politische Bildung und das Agenda-Setting. Zwar bilden all die tollen Bücher, Analysen und Lösungskonzepte wichtige Argumentationsgrundlagen. Sie bleiben aber nutzlos, wenn sie nicht zur breiten Öffentlichkeit durchdringen.

Fernsehphilosoph Richard David Precht füllt mit seinen Pauschalbehauptungen die Säle in Deutschlandw
Johan Norberg, schwedischer Politikwissenschaftler: wird nirgends eingeladen.

In Talkshows sitzen Leute wie Richard David Precht, die in ­ihren Bestsellern Untergangsszenarien ausbuchstabieren, in ­anschaulichen Formaten legt Harald Lesch die Sichtweise «der» Wissenschaft zur Energiepolitik dar, auf Netflix kann man dystopische Weltuntergangsfilme streamen. Abgerundet wird der Abend von Auftritten des grünen Kabarettisten Eckart von Hirschhausen oder der Satire Jan Böhmermanns. Für die Jüngeren gibt es coole Vorbilder wie Youtuber Rezo oder freche Formate wie «Jung und naiv». Es wäre doch mal interessant, rationale Optimisten wie Johan Norberg, grüne Renegaten wie Michael Shellenberger oder Ökomodernisten wie Jesse Ausubel zur besten Sendezeit im Austausch mit Precht, Lesch oder Luisa Neubauer zu er­leben. Allein: Solche öffentlichkeitswirksamen Vordenker gibt es im deutschsprachigen Raum kaum. Der Gegenpol zum linksökologischen Mainstream wird von pöbelhaften Populisten, Klima­ignoranten und Verschwörungsdenkern gebildet, wodurch sich der gebildete Stand erst recht in der Richtigkeit der eigenen ­Annahmen bestätigt fühlt. Liberale haben kein stabiles medial-kulturelles oder gar schulisches Rückgrat. Wer die politische ­Kultur eines Landes verstehen will, sollte in die Schulen gucken: Liberale mögen überall sein, aber nicht hier.

Viele schrieben ausdrücklich, dass sie solche Perspektiven gar nicht gekannt, geschweige denn davon in der Schule gehört hätten und mehr davon wünschten.

Nicht Zensur, sondern Opportunismus

Auf einen in der «Welt» zur Klimadebatte und Kapitalismuskritik in Schulen veröffentlichten Essay erhielt ich viel Zuspruch. Die Kommentare und E-Mails zeigten mir, dass ich offensichtlich einen Nerv getroffen hatte. Viele schrieben ausdrücklich, dass sie solche Perspektiven gar nicht gekannt, geschweige denn davon in der Schule gehört hätten und mehr davon wünschten. Andere stimmten zu, warnten aber sogleich, dass meine nicht «systemkonforme» Meinung bald unterdrückt würde. Das Gegenteil war der Fall: Es gab durchaus Verwunderung, bisweilen Kritik, aber im grossen und ganzen zeigte sich Neugier und Offenheit. Meine Standpunkte wurden explizit eingefordert und in Schulprojekte wie «Fairtrade» oder «School for Future» eingebunden. Hinter einer gewissen Färbung vieler Themen in der Schule stecken also weder Verschwörungen noch Indoktrinationsabsichten. Die Lehrkräfte unterdrücken keine anderen Meinungen, weil es gar nichts zu unterdrücken gibt. Es ist viel simpler: Für das groteske Missverhältnis aus tatsächlicher ­Bilanz des Liberalismus und seiner öffentlichen Rezeption sind nicht «die anderen» oder ein «linksgrünversiffter Zensur-Mainstream» verantwortlich, sondern der Opportunismus der Lehrkräfte und die Vernachlässigung der politischen Bildung durch die Liberalen selbst. It’s the Education, Stupid!

Während Kollegen, die etwas zum Thema «Bildung für nachhaltige Entwicklung» machen wollen, mit Material zugeschmissen werden, sich an NGO und Staats­beauftragte wenden können, musste ich das Unterrichtsmaterial aus oft englischsprachigen Fachjournalen, Büchern und Internetquellen zusammensuchen, übersetzen und medial aufbereiten.

Steven Pinker: die liberale Stimme. Mit liberalem Denken fährt die Welt besser.

Es gibt keine liberalen NGO, die Material für den Unterricht oder Schulprojekte zur Verfügung stellen. Besonders aufgefallen ist mir das, als ich einen Kurs zum Ökomodernismus unter dem Titel «Wirtschaftswachstum und Umweltschutz – (wie) passt das zusammen?!» plante. «Öko… was?», lautete die Reaktion darauf. Während Lehrer und Schüler mit den Ideen der Postwachstumsökonomie etwas anfangen können – sind diese doch in jedem zweiten Schulbuch vertreten –, kannte niemand überhaupt den Begriff «Ökomodernismus». Während Kollegen, die etwas zum Thema «Bildung für nachhaltige Entwicklung» machen wollen, mit Material zugeschmissen werden, sich an NGO und Staats­beauftragte wenden können, musste ich das Unterrichtsmaterial aus oft englischsprachigen Fachjournalen, Büchern und Internetquellen zusammensuchen, übersetzen und medial aufbereiten.

Massenweise NGO-Unterrichtsmaterial, keine liberale Antwort.

Es gibt keine liberalen Pendants zu «Nachhaltigkeitswochen» oder «Eine-Welt-Läden», zu Greenpeace, Germanwatch, BUND oder Attac, von denen Schüler Antworten auf die grossen öko­nomischen, sozialen und ökologischen Fragen ihrer Zeit aus genuin liberaler Perspektive bekommen könnten. Aber wie sähen diese überhaupt aus? Es folgt ein Beispiel aus meiner Erfahrung als ­Lehrer einer «Fairtrade-Schule».

Engagierter Liberalismus

Gerade Liberale sollten den Grundgedanken von fairem Handel unterstützen. Schliesslich wird ein marktwirtschaftliches Instrument gegen ausbeuterische Verhältnisse in Stellung gebracht: die Macht der Konsumenten. Diese können Konzerne für schlechte Produkte oder nachweislich unethische Handlungen strafen, zur Konkurrenz abwandern und so einen enormen Druck ausüben. Wenn im Sozialismus Betriebe miserabel wirtschafteten, Natur oder Menschen ausbeuteten, konnten weder Konsumenten noch Arbeiter das Unternehmen wechseln. Schüler merken also, dass sie mit ihrer Konsummacht und durch das Schaffen eines öffent­lichen Bewusstseins etwas bewirken können.

Für das groteske Missverhältnis aus tatsächlicher Bilanz des Liberalismus und seiner öffentlichen Rezeption sind nicht ‹die anderen› oder ein ‹linksgrünversiffter Zensur-Mainstream› verantwortlich, sondern der Opportunismus der Lehrkräfte und die Vernachlässigung der politischen Bildung durch die ­Liberalen selbst.

Beispielloser Rückgan der Armut.
Graphik FAZ

Die Schule neigt jedoch oft dazu, komplexe Probleme primär auf die individuelle Ebene der Lebensstile herunterzubrechen. Das ersetzt aber nicht die Analyse ökonomischer Trends, struktureller Probleme und von Fehlanreizen vieler gut gemeinter Initiativen. Problematisch wäre es, wenn Lernende vermittelt bekämen, dass Fairtrade das bessere Gegenstück zu Freetrade sei, dass Konsum respektive Wachstum und Kapitalismus stets zur Ausbeutung von Menschen und Umwelt führten, also eine Art Nullsummenspiel seien, von dem nur reiche Länder auf Kosten der ­armen profitierten. Wahr ist dagegen: Freihandel hat für eine beispiellose Reduktion der Armut gesorgt, und Fairtrade kann diesen Trend noch verbessern, denn mit steigendem Wohlstand sind ­Arbeits- und Umweltstandards möglich.

Der Weg aus Armut und Unterentwicklung verläuft über Investitionen in industrielle Wertschöpfung und Verarbeitung vor Ort sowie freie Zugänge zu Europas Märkten – vieles davon beisst sich aber mit der Wachstumsskepsis und Industriefeindlichkeit von Globalisierungskritikern. Kontraproduktiv wird es, wenn ­fairer Handel aus einer Idealisierung «naturnaher», kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft Landwirten hochproduktive (und umweltschonende) Biotechnologien verbietet und ineffizienten «Öko»-Landbau subventioniert. Statt Modernisierung und Strukturwandel sozial abzufedern und ökologisch zu umrahmen, konservieren solche Fairtrade-Ansätze die Armut, machen sie lediglich erträglicher, wie Entwicklungsökonom Paul Collier meint. All diese grundsätzlichen Bedenken waren in der Schule unbekannt. Die Kritikpunkte gingen eher in die technische Richtung, ob man denn allen Fair-Trade-Siegeln vertrauen könne. Einerseits erkannte ich durch diese Projekte also, wie viel Liberale vom Idealismus der «Weltverbesserung» lernen könnten. Andererseits kann Schule auch von der Perspektivenerweiterung durch einen engagierten Liberalismus profitieren. Das ist aber schwierig, wenn sich der Mobilisierungswille der Liberalen auf die Verhinderung der nächsten Steuererhöhung via Lobbying beschränkt, statt im intellektuellen Wettbewerb für die eigenen Positionen zu kämpfen, Mehrheiten für sich zu gewinnen und gewisse Deutungshoheiten auch mal in Frage zu stellen.

Statt Leuchttürme liberalen Denkens zu errichten und jungen Menschen Orientierung zu bieten, bewegen sich viele Liberale in der Öffentlichkeit wie lose Bojen in tosender See.

Liberale können kein Agenda-Setting …

Dafür bräuchten liberale Ideen aber mehr Gewicht in der öffent­lichen Debatte. Die wenigen liberalen Nischenmagazine, Blogs und Thinktanks in Deutschland bündeln lediglich freiheitliches Inselwissen in einem Meer aus ökopessimistischen und staatsgläubigen Meinungswellen. Statt Leuchttürme liberalen Denkens zu errichten und jungen Menschen Orientierung zu bieten, bewegen sich viele Liberale in der Öffentlichkeit wie lose Bojen in tosender See.

Sie sind kaum sichtbar und kaum hörbar. Sie schaffen es bis heute nicht, die «kalten» Mechanismen, Prinzipien und Regelwerke hinter dem Erfolg liberaler Ordnungen erfolgreich zu vermitteln. Eigentlich müsste es angesichts der Coronakrise doch ein Leichtes sein, den Mitbürgern nicht nur theoretisch, sondern ganz alltagsnah die Segnungen internationaler Arbeits- und Wissensteilung zu vermitteln, die Bedeutung einer starken Wirtschaft zur Finanzierung all der Forschungs-, Entwicklungs-, Sozial- und Klimaschutzleistungen vor Augen zu führen. Die tatsächlichen Folgen von Wirtschaftskrisen oder das Staatsversagen bei der ­Bestellung, Planung und Verteilung lebensrettender Impfstoffe sind offenkundig.

Dennoch schafft es der Liberalismus nicht mal in einer solchen die Freiheitsrechte massiv beschneidenden Situation, eine Bewegung der Freiheit hinter sich zu scharen und ein Agenda-­Setting zu betreiben, das sich vom links-grünen Mainstream unterscheidet (ohne sich der rechtspopulistischen Fundamental­opposition anzubiedern). Er schafft es nicht, dass junge Menschen zu kognitiv und emotional überzeugten Anhängern der liberalen Idee werden, sich gar in einer Jugendbewegung unter gemein­samen Bannern, Slogans und Songs zusammenschliessen. Konservative haben Religion, Familie, Dorf oder Heimatgefühle im Angebot. Linke haben Visionen internationaler Solidarität. Die Grünen sind auf Weltrettungsmission. Was haben die Liberalen jungen Leuten anzubieten?

… und lassen Bildung links liegen

Nicht viel – bis jetzt. Zusammen mit der politischen Bildung haben sie das in jeder jungen Generation brennende Bedürfnis nach «Weltverbesserung» links liegen lassen und sich lieber auf ihre privaten Erfolgskarrieren konzentriert. Damit haben sie den vorpolitischen Raum jenen überlassen, deren Zerrbilder eines «neo­liberalen Wachstumsfetischismus», der die Menschheit kaum vor­angebracht, dafür aber an den Rand des Abgrunds getrieben habe, bis ins konservative Lager Zustimmung finden. Wer über einen Uni-Campus geht, wird wissen, was gemeint ist. Noch eindeutiger wird es, wenn man in öffentlich-rechtliche Redaktionsstuben, etablierte und bis in den Bildungsbetrieb vernetzte NGO oder angesagte Szenecafés und Theater schaut.

Letztes Jahr erregte eine Umfrage unter Volontären der ARD Aufmerksamkeit, in der die erdrückende Mehrheit des linksliberalen Spektrums deutlich wurde: Über 90 Prozent wählten links-grün, Union und FDP kamen nicht mal auf 5! Wer glaubt, dass diese auch in der Schule erworbenen Vorprägungen keinen Einfluss auf die Berichterstattung hätten, möge sich die Frage stellen, ob er oder sie das auch denken würde, wenn 95 Prozent wirtschaftsliberal oder konservativ wählen würden.

Klare Linkstendenz unter Journalisten.

Eine Studie von Christian Hoffmann hat Voreinstellungen unter Journalisten untersucht und kommt zum Schluss: Im deutschen und amerikanischen Journalismus herrscht eine Linkstendenz vor. In seiner Analyse legt er einen Zusammenhang offen, den ich als Gymnasiallehrer bestätigen kann: Linke zieht es eher in Medien, an Unis und in den Bildungssektor, Liberale hingegen in die Wirtschaft. Zwar gibt es unter den Schülern auch solche, die man marktliberal nennen könnte, sie bekommen in der Schule ­jedoch kaum «Gedankenfutter», wohingegen für links oder grün tickende Altersgenossen eine Menge an idealistischen Projekten und Netzwerken zur Verfügung stehen.

Damit reproduziert sich ein intellektuelles Milieu durch Schule ständig selbst: Wer mit Anfang 20 nach erfolgreichem Abi auf die Uni geht, bleibt weitgehend in seiner Meinungsblase. Der in Harvard lehrende Steven Pinker bestätigt anhand einer Studie von 2014

, dass es an US-Unis eine überwältigende Mehrheit von Anhängern linker bis sehr linker Ideen gebe, sie überwögen Konservative im Verhältnis fünf zu eins – und das war noch vor Trump! An deutschen Unis wird es ähnlich aussehen, und satte 42 Prozent der Erstwähler würden laut einer Umfrage aus dem letzten Jahr grün wählen

– vielleicht ist an der Bundestagswahl vom 26. September gar die absolute Mehrheit drin. Die Grünen sind hier das Mass aller Dinge.

Selten gab es mehr zu tun

In jedem Land besitzt zu jeder Zeit eine Gruppe prägende Deutungshoheit. In den 1950ern lag sie in vielen westlichen Ländern bei den Konservativen. Seither haben die 68er die öffentliche Meinung durch den oft zitierten «Marsch durch die Institutionen» nach links verschoben. Bei vielen Themen kann man nur sagen: zum Glück! Niemand will in die Zeit zurück, in der Minderheiten von einem übermächtigen Staatsapparat systematisch unterdrückt, Arbeiter- und Umweltschutzgesetze durch einflussreiche Lobbys verhindert wurden, in der man das Potenzial der Hälfte der Bevölkerung durch ein reaktionäres Rollenverständnis brachliegen liess und Homosexualität für eine abscheuliche Straftat hielt.

Sklaverei gab es vor dem “weissen Mann” und wurde durch den “weissen Mann” abgeschafft.

Heute wirft es aber auch ein Schlaglicht auf die historische und ökonomische Bildung, wenn Schüler im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nach all den gescheiterten sozialistischen Experimenten immer noch angeben, dass sie Sozialismus für eine gute Idee halten, wenn Aktivisten für die Postwachstumsökonomie eintreten, ohne je die Entbehrungen einer solchen erlebt zu haben, oder wenn Demonstranten in ritueller Selbstgeisselung «den weissen Mann» und die westlich-industrielle Moderne als Wurzel allen Übels ansehen, obwohl westliche Nationen bei weitem nicht die ersten waren, die andere Völker versklavten, wohl aber die ersten, die Sklaverei abschafften, die Aufarbeitung ihres Rassismus ebenso auf den Weg brachten wie Emanzipation und Umweltschutz. Das alles zeigt, wie sehr liberale Stimmen nicht nur in Zeitung, Funk und Fernsehen, im Netz oder an den Unis, sondern vor allem in den Bildungsinstitutionen als Korrektiv gebraucht werden. Selten gab es mehr zu tun, liebe Freiheitsfreunde. Drum – auch wenn es in vielen karrierefixierten Kreisen nicht so sexy klingen mag: Auf ins Lehramt, hinein in die Schulen!

Robert Benkens

 

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Hindernisse als Chance zum Abheben: Skaten in Afghanistan https://condorcet.ch/2021/01/hindernisse-als-chance-zum-abheben-skaten-in-afghanistan/ https://condorcet.ch/2021/01/hindernisse-als-chance-zum-abheben-skaten-in-afghanistan/#respond Tue, 05 Jan 2021 19:27:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=7451

Unser Bildungssystem strebt als Ziel die Mündigkeit der heranwachsenden Jugendlichen an. Das Skateboarden übersetzt nach Ulf Poschardt (Chefredakteur von «Die Welt» in seinem Buch «Mündigkeit») das Konzept der Mündigkeit ins Körpersprachliche. Erfunden in Dogtown (einem Vorort von Los Angeles) und nun von jungen Mädchen in Afghanistan betrieben. Alain Pichard über einen Fotoband, der ihm die Sprache verschlägt.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Maximale Freiheit

Ich konnte nie Skatebooarden. Ich konnte passabel Schlittschuh fahren, spielte Eishockey, fuhr die alten Rollschuhe auf Rädern, die ich wohl bald wieder anschnallen werde, um meinem Grosskind diese Kunst beizubringen.

Üben, üben,üben

Aber einer unserer Söhne – nur er – entdeckte das Skateboarden sehr früh. Ich – der überzeugte Mannschaftssportler – nervte mich zu Beginn über seine unzähligen Versuche, kleine Abhebeversuche über Treppen und Geländer zu üben. Üben, nicht achtmal, wie es ein PH-Direktor kürzlich meinte, nein, hundertmal, Hunderte Male. Immer wieder reizte er den Sprung ins Ungewisse aus, auf dem Weg zur physischen Weltbeherrschung.

Das war nicht immer lustig für seine Eltern. Als er den Bözingerberg (unser Hausberg) hinunterfuhr, kam er mit einem Loch im Kopf nach Hause und landete im Spital.. Es ist eben alles ein Versuch.

Er nutzte den öffentlichen Raum, Trottoire, Geländer, Treppen auf dem Weg zur Schule.

Das Velo? Etwas für die Normalos! Er nutzte den öffentlichen Raum, Trottoire, Geländer, Treppen auf dem Weg zur Schule. Vorbei an tristen Bausünden überholte er nicht selten die Velofahrer und im Stau stehende Fahrzeuge.

Skateboard ist das Gegenteil von Mannschaftssport. Er ist individuell, meditativ, ganz auf Selbstbeherrschung aus. Dazu gehören Härte, Disziplin und Schmerzunempfindlichkeit.

Fotoband von Jessica Fulford-Dobson: Das Bild auf der Titelseite gewann den Pressepreis.

Viele Jahre später entdeckte ich in einer Buchhandlung den Fotoband Skate Girls of Kabul von Jessica Fulford-Dobson. Der Band enthält Bilder, die mir die Sprache verschlugen. Mädchen aus dem Slums von Afghanistan skaten in einer Halle am Rande der afghanischen Hauptstadt. Die Photographin schrieb im Vorwort: «Ich traf so beeindruckende junge Mädchen und heranwachsende Frauen, die sich nicht als Opfer sehen wollen sondern Freiheitswillen und Lebensfreude ausstrahlten. Ich war glücklich unter ihnen.»

All diese Mädchen gehen in die Schule, die laut Jessica Fulford-Dobson von strengen, entschlossenen jungen Frauen geführt wird. Hier werden ihnen die Kulturtechniken beigebracht, die sie einmal benötigen werde, wenn sie selber Lehrerinnen oder Ingenieurinnen werden wollen. Dankbarkeit, Freude und Optimismus leuchten aus den Augen dieser Mädchen. Nach der Schule rennen sie in die Skaterhalle, vorbei an sie bewachenden Soldaten, aber scheinbar ohne Angst.

 

In einer Welt voller Einschränkungen intensivieren diese Mädchen ihre Bewegungsfreiheit maximal und demonstrieren dabei ihren Willen zur Freiheit.

Zuerst in streng geführten Schulen…
… dann in die Skaterhalle

Warum entdecken junge Mädchen im Kerker einer mädchenfeindlichen Umgebung in Afghanistan, ständig bedroht durch die Taliban, diesen Sport und nicht zum Beispiel den Fussball?

Vielleicht ist es ein Aufbegehren gegen die Tyrannei in einer ganz individuellen Form. In einer Welt voller Einschränkungen intensivieren diese Mädchen ihre Bewegungsfreiheit maximal und demonstrieren dabei ihren Willen zur Freiheit.

Wenn ich mich heute in meinem Auto ankette, das ständige Piepsen über mich ergehen lasse, meine Frau sich auf die automatische Bremsung und  Spurensicherung verlässt, dann denke ich ab und an den Eskapismus meines Sohnes.

Noch mehr aber bewundere ich diese jungen Mädchen, die – wahrscheinlich ohne es zu wissen – uns Menschen im Westen einen Wert vorleben, den wir vielleicht vergessen haben: Freiheit maximal zu erleben, trotz aller Hindernisse.

Alain Pichard

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Im Spannungsfeld von Schule und Wirtschaft https://condorcet.ch/2019/11/im-spannungsfeld-von-schule-und-wirtschaft/ https://condorcet.ch/2019/11/im-spannungsfeld-von-schule-und-wirtschaft/#comments Fri, 08 Nov 2019 11:26:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=2701

Wenn es darum geht, den Zustand unseres Bildungswesens nach der Einführung der Kompetenzorientierung mit den Ansprüchen einer modernen demokratischen Gesellschaft zu vergleichen, dann kommt man an der kritischen Analyse von Jochen Krautz (Bergische Universität Wuppertal) nicht vorbei. Krautz zeigt auf, wie unsere Schule immer stärker in den Einflussbereich des wirtschaftlich Verwertbaren gerät, der die Menschen zu Humankapital reduziert. Diese Entwicklung, so folgert Krautz, ist nicht nur schädlich für die Qualität des Unterrichts und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie gefährdet letztendlich das Funktionieren unserer westlichen Demokratien.
"Ökonomisierung der Kindheit als Herausforderung für die Schule": So lautet der Titel des Vortrags, den Prof. Dr. phil. Jochen Krautz am 30. Oktober 2019 in einer Veranstaltungsreihe des Vereins Ostschweizer Kinderärzte & Ostschweizer Kinderspital hielt und über den Urs Kalberer berichtet.

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Condorcet-Autor Urs Kalberer, Sekundarlehrer, Linguist und Betreiber des Bildungsblogs “schuleschweiz.ch”

Kinder sind keine Autos

Schule und Spital sollen wie Zahnräder funktionieren.

Die Umwandlung der Schule in einen Zulieferbetrieb für die Industrie – wie von der UNO-Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit den 1960-er Jahren angestrebt – widerspricht aber der Geschichte und Tradition unseres Bildungswesens. In der Schule geht es – im Unterschied zur Wirtschaft – nicht um Kundenzufriedenheit, sondern um einen Bildungsauftrag. Kinder sind keine Autos, die man nach Standards fertigt. Am Beispiel des Qualitäts-Managements der Volksschule des Kantons St. Gallen zeigt Krautz, wie nahe sich die Schule bereits an wirtschaftliche Organisationsformen angenähert hat. Jede Hierarchiestufe ist verantwortlich für die «Produktion» von Daten (Evaluation, Feedback, Testsysteme), die weitergereicht werden. Eindrücklich ist auch, wie in Fragen der Schulqualität die eigentlich zentrale Rolle der Lehrpersonen zurückgestuft wird. Die Lehrerinnen und Lehrer sind für die «Lernprozesssteuerung» gemäss den Direktiven von oben zuständig – ihre eigene professionelle Expertise wird dadurch entwertet. Dabei wissen wir doch, dass pädagogische Qualität nicht durch Bürokratisierung und Formalisierung erreicht werden kann.

Wie konnte es soweit kommen?

Ständige Testserien verändern den Unterricht.

Dass es nicht einfach ist, eine jahrhundertealte pädagogische Tradition umzukehren, zeigen die Strategien, die dabei angewendet werden. Die Initialzündung lieferte PISA: Um den Druck auf die staatlichen Bildungswesen zu erhöhen, wurden in den Mitgliedstaaten Testserien durchgeführt, welche grundverschiedene Schulsysteme ohne Rücksicht auf ihre Lehrpläne in bestimmten, wirtschaftlich relevanten Fähigkeiten vergleichen. Die Wirkung der breit in den Medien veröffentlichten Resultate verstärkte den Anpassungsdruck auf die nationalen Bildungswesen. Fortan gilt es, im Wettbewerb zwischen den Ländern mitzuhalten. Demokratisch legitimierte Lehrpläne werden durch kompetenzorientierte ersetzt, wobei der Fokus auf der praktischen Anwendbarkeit des Stoffes liegt. Dazu werden die Lerninhalte in Tausende von Kompetenzen zerstückelt, welche alle einzeln überprüfbar sind. Dieser Paradigmenwechsel vom ganzheitlichen, humanistisch geprägten Bildungsideal zu einem funktionalen Bildungsbegriff erfolgte auch in einem Land wie der Schweiz mit ihren ausgebauten Volksrechten nahezu reibungslos.

Markus Mendelin, Change Management bei der Einführung des Lehrplans 21 im Kanton Thurgau

Als weitere Etappenziele in dieser Entwicklung erwähnt Krautz Methoden wie Classroom Walkthrough und dem aus der Wirtschaft bekannten Change Management. Beide Techniken sollen durch manipulativen Druck den Widerstand der Lehrer brechen. Wer Fragen stellt, wird an den Pranger gestellt und gilt als Ewiggestriger. In den Kollegien werden Angst und eine Kultur der vorauseilenden Anpassung erzeugt. Aus selbständig denkenden, zur kritischen Reflexion fähigen Lehrkräften entstehen so Marionetten der Bildungsbürokratie. Die staatlichen Bildungswesen werden nun von ausserstaatlichen, der demokratischen Kontrolle entrückten, Institutionen konkurrenziert, welche die angestrebten Veränderungen jeweils als alternativlos bezeichnen.

Begleitet wird der Wechsel von schönfärberischen, inflationär verwendeten Begriffen wie Individualisierung und selbstorganisiertes Lernen. Man denkt, jedes Kind werde nun individuell gefördert, doch in Wirklichkeit werden die Kinder separiert, jedes lernt nun allein am Wochenplan oder am Computer. Es wird eben gerade nicht individualisiert, sondern sozial atomisiert. Die für das Lernen unabdingbare Beziehungs-Komponente wird unterbrochen. Beim selbstorganisierten Lernen findet gar kein gemeinsamer Unterricht mehr statt. Es bildet eine Vorstufe zur Digitalisierung im Grossraumbüro mit gegenseitiger Kontrolle. Die Hauptaufgabe der Lehrer beschränkt sich dabei noch auf das Kopieren und die Hilfestellung bei Computerproblemen. Die inhaltlichen Inputs werden als digitale Häppchen in unterschiedlichen Zeitintervallen an die einzelnen Schüler weitergereicht.

Gefährdete Demokratie

Die oben genannten Veränderungen im Unterricht haben Folgen: Die Lehrer werden zu blossen Coaches degradiert und deprofessionalisiert. Ihre pädagogische Freiheit (Methoden, Lehrmittel) wird eingeschränkt. Die Förderung rein anwendungsbezogener Inhalte führt zu einem Abbau von Wissen und Können bei den Schülern. Dabei werden ausgerechnet die Schwachen geschwächt. Wer es sich leisten kann, bedient sich ausserhalb der öffentlichen Schule: Privatschulen, Nachhilfeunterricht und vermehrte elterliche Unterstützung sind die Folge. Unsere anspruchsvolle direkte Demokratie benötigt Bürger, welche die elementaren Kulturtechniken beherrschen. Eine transparente Bildungspolitik ohne manipulative Gängelung wird so zum staatstragenden Akt.

Wer den Gebrauch der Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner

Was tun?

Angesichts der ernsten Lage müssen wir Lehrerinnen und Lehrer uns auf unsere Professionalität besinnen und uns nicht durch Kopien aus Management-Seminaren zu Befehlsempfängern degradieren lassen. Wir als Lehrer und Lehrerinnen sind gefordert unsere Position mit Selbstvertrauen und Beharrlichkeit gegenüber den Steuerungsorganen zu erklären. Die Kunst des Unterrichtens erfordert in erster Linie die Freiheit, unser Wissen und Können auch anzuwenden. Oder wie Carl Bossard zusammenfasst: «Wer den Gebrauch der Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner. Man muss sich Freiheit nehmen. Man muss sie wollen und sie erkämpfen – erst recht in ungewissen und bedrohlichen Zeiten.»

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Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/ https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/#respond Sun, 18 Aug 2019 13:44:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=1964 Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet einen Horizont. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen tragen eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Carl Bossard

In der Schweiz starten wie jedes Jahr im Spätsommer rund 120‘000 Lehrpersonen in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Schülerinnen und Schülern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start in ein neues Schuljahr. Jedem Anfang wohnt ja – wie Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ schreibt – ein Zauber inne. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Lernen als Hinausfahren ins Offene

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich vielleicht auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Das ist nicht immer bequem und mit unbekannten Variablen und Risiken verbunden. Das ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren – immer im gleichen Geleise. Nein, Unterrichten heisst etwas wagen und sich auch auf Nebenwege getrauen – aber mit einem Kompass für die richtige Richtung und mit den Koordinaten des gemeinsamen Ziels.

Das Unwägbare und Unberechenbare des Unterrichts

Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und das Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie in der Seefahrt lässt sich nicht alles planen, aber man muss auf die Fahrt, auf die gemeinsame Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein – und die Richtung kennen. Ob man aber immer und mit allen ankommt, das ist letztlich nie ganz sicher. Und doch darf Ankommen kein Zufall bleiben.

In diesem Sinne sind Schulleitung und Lehrpersonen ja nicht verantwortlich für Wind und Wellen, für Sturm und Strömung, für Nacht und Nebel, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord.

Alexander von Humboldt statue outside Humboldt University Berlin, Germany

Verantwortung braucht Freiheit

Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt auch für die Schule. Freiheit sei für die Bildung „die erste und unerlässliche Bedingung“,[1] schrieb der Reformer des preussischen Bildungswesens und Theoretiker der Freiheit, Wilhelm von Humboldt.

 

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen ihre Kinder zur Autonomie führen, zum Vermögen, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen“,[2] wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert hat. Eben: die eigene Freiheit ergreifen.

Viele Kinder werden in der Schule frei

Wo aber werden viele Kinder frei? Nicht zu Hause, nicht in engen sozialen Verhältnissen, sondern in der Weite der Schule – dank einer guten Bildung, dank autonomer Lehrpersonen. Beredtes Beispiel ist Albert Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation und Literaturnobelpreisträger von 1957. Ohne die Schule und ohne seinen Lehrer Louis Germain wäre Camus‘ Freiheit als Aufbruch aus dem harten, armseligen Milieu seiner Familie nicht möglich gewesen.[3]

Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit.

Und darin liegt das Paradoxon: Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit. Das bringt Schulen in Enge und Atemnot. „Schule in Ketten“ resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre.[4] Doch zielgerichtet navigieren und situativ richtig reagieren ruft nach Freiheit.

Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare

Freiheit ist die Freiheit des Handelns. Darin liegt das pädagogische Elixier. Nur schon deshalb muss die Schule – auch und gerade in den Zeiten sozialtechnologischer und ideologischer Steuerungs- und Indoktrinationsphantasien – ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs zielorientierte und kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder. Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare.

Und in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar voraussagbar. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorschriften; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich anspringt, können wir nicht ins Numerische outsourcen oder über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt

Regen voraussagen kann jeder, sagt eine indianische Weisheit; aufbrechen und hinausfahren, das zähle. Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die Wellen wogen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Jahresfahrt die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

 

[1] Wilhelm von Humboldt (2006): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart: Reclam, S. 22.

[2] Immanuel Kant (1999): Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Philosophische Bibliothek, Bd. Nr. 512. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 20.

[3] Albert Camus (1994): Le premier homme. Editions Gallimard, S. 180f.

[4] Walter Meier (2015): Schule in Ketten. Sachroman. Muri b.Bern.

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50 Jahre Mondlandung: Warum der Sieg der Amerikaner kein Zufall war https://condorcet.ch/2019/07/50-jahre-mondlandung-warum-der-sieg-der-amerikaner-kein-zufall-war/ https://condorcet.ch/2019/07/50-jahre-mondlandung-warum-der-sieg-der-amerikaner-kein-zufall-war/#comments Sat, 20 Jul 2019 06:36:11 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1663

Am 24. Juli 1969 wasserte die Apollo-Landekapsel im Pazifik. Die amerikanischen Astronauten waren sicher zur Erde zurückgekehrt. Drei Tage zuvor hatte Neil Armstrong nach einem waghalsigen Manöver mittels Handsteuerung an das Kontrollzentrum in Houston gemeldet: «Der Adler ist gelandet.» Condorcet-Autor Michael Rüegg findet, dass der amerikanische Triumph kein Zufall war. Es war ein Sieg der Freiheit über den Totalitarismus. Und es ist auch ein Lehrstück für unsere Haltung in Bildung und Forschung.

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Im Jahr 1957 gelang der Sowjetunion mitten im Kalten Krieg ein spektakulärer Erfolg, der die westliche Welt in einen Schockzustand versetzte. Vom Weltraumbahnhof Baikonur aus beförderten die Kommunisten den ersten künstlichen Erdsatelliten in die Erdumlaufbahn. Der kugelförmige «Sputnik 1» war nicht nur der Startschuss für den Wettlauf ins All. Auch das atomare Wettrüsten hatte eine neue Stufe erreicht. Denn die gleichnamige Trägerrakete war in der Lage, jeden beliebigen Punkt auf der Erde zu erreichen.

Der Sputnik-Schock war nicht von Dauer. Im 25. Mai 1961, nur wenige Wochen nachdem Juri Gagarin als erster Mensch im All die Erde umrundet und der Sowjetunion einen weiteren Prestigeerfolg beschert hatte, hielt Präsident John F. Kennedy seine berühmte Rede vor dem amerikanischen Kongress. Er kündigte an, innerhalb eines Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond und wieder sicher zurück zur Erde bringen zu lassen. Das Apollo-Programm war geboren. Es beschäftigte von 1961 bis 1972 400’000 Menschen und kostete 23 Milliarden Dollar (heute 153 Milliarden Dollar).

Für die Amerikaner war es der zweite technologische Triumph im 20. Jahrhundert über ein totalitäres System. Ein Vierteljahrhundert zurück bauten sie die erste Atombombe. Auch hier war es der Feind, der das amerikanische Grossprojekt auf den Weg brachte. Man wollte den Nazis um jeden Preis zuvorkommen. Im geheimen Manhattan-Projekt arbeiteten von 1942 bis 1946 130’000 Menschen. Kostenpunkt: 2 Milliarden Dollar (heute 23 Milliarden Dollar).

Es war ein Kampf der Systeme

Die beiden amerikanischen Grossprojekte waren nicht zufällig erfolgreich. Auch wenn die Gründe dafür vielschichtig sind, so spielte die Weltanschauung eine entscheidende Rolle. Es war ein Kampf der Systeme: Liberalismus gegen Sozialismus, Demokratie gegen Diktatur, christliches Menschenbild gegen nihilistische Gesellschaftsutopie.

Zur Atombombe sind die Untersuchungen des Kernphysikers Manfred Popp aufschlussreich (Darum hatte Hitler keine Atombombe, 2017). Die Sorge der Amerikaner vor einer Nazi-Atombombe war unbegründet. Heute wissen wir: Es gab keinen Wettlauf. Zwar waren die Deutschen in den 1930er Jahren führend in der Kernphysik. Während der Nazizeit aber fehlte der Wille für ein Grossprojekt, bei dem der Erfolg nicht garantiert war. Ob eine Kernspaltung nämlich technisch überhaupt machbar sein würde, war nicht sicher. Diese Unsicherheit lähmte laut Popp die deutschen Forscher entscheidend: «Viele Wissenschaftler fürchteten, dass sie im Fall der Einstellung ihres Vorhabens nicht zu einem anderen wechseln, sondern an die Front beordert würden.» Sie konzentrierten sich daher auf dezentrale Projekte im Bereich konventioneller Waffensysteme, wo sie Hitlers Wünsche nach einer Wunderwaffe besser befriedigen konnten. Das war ihre Lebensversicherung für sich selbst und ihre Familien. Anders die Amerikaner. Ohne Angst vor einer brutalen Staatsmacht, frei in der Forschung, gelang ihnen der Bau der Bombe innert weniger Jahre.

Angstfreie Forschung und mutige Fehlerkultur haben sich im 20. Jahrhundert als Bedingungen zur Abwehr totalitärer Systeme erwiesen.

Ähnliches gilt für den Wettlauf auf den Mond. Im Spielfilm «Aufbruch zum Mond» (engl. «First Man», 2018), der auf der autorisierten Biografie «First Man: The Life of Neil A. Armstrong» basiert, gibt es eine Schlüsselszene: Armstrong, gespielt von Ryan Gosling, trainiert in Texas mit einem fliegenden Simulator die Landung auf dem Mond. Er stürzt ab und rettet sich in letzter Sekunde mit dem Schleudersitz. Die Reaktion Armstrongs gegenüber seinen Vorgesetzten ist bezeichnend für die Haltung einer ganzen Nation, auch wenn es wegen der hohen Kosten durchaus heftige Kritik am Apollo-Programm in der amerikanischen Öffentlichkeit gab. Seine Worte zum Unfall, der ihm fast das Leben kostete: «Wir müssen die Fehler auf der Erde machen und nicht später da oben.»

Angstfreie Forschung und mutige Fehlerkultur haben sich im 20. Jahrhundert als Bedingungen zur Abwehr totalitärer Systeme erwiesen. Und der nächste Prüfstein wartet bereits auf die westliche Welt. Das autoritäre Regime in Peking träumt von der grossen nationalen Renaissance. Die «Neue Seidenstrasse» («One Belt, One Road»), ein gigantisches Investitionsprogramm (Kosten: über 1 Billion Dollar), soll den Weg dahin ebnen.  Das Ziel: China bis ins Jahr 2049 als führende digitale Industrienation etablieren.

Der Tag der Mondlandung ist so gesehen – wie der Bau der ersten Atombombe – nicht einfach ein erinnerungswürdiges Jahrhundertprojekt. Die amerikanischen Siege über den Totalitarismus beinhalten vielmehr für unsere Generation eine wichtige, ja vielleicht existenzielle Botschaft. Sind wir im Westen auch im dritten Jahrtausend gewillt, auf angstfreie Forschung und Fehlerkultur zu setzen, also auf Freiheit?

 

Eine gekürzte Version dieses Textes erschien im Tagesanzeiger vom 20. Juli 2019.

 

 

 

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Treibhäuser der Konformität https://condorcet.ch/2019/06/treibhaeuser-der-konformitaet/ https://condorcet.ch/2019/06/treibhaeuser-der-konformitaet/#comments Thu, 20 Jun 2019 20:57:11 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1435

Norbert Bolz, der streitbare Medienwissenschaftler aus Deutschland, hat uns diesen Beitrag zukommen lassen. Und wir freuen uns wieder einmal über eine hochstehende Analyse aus unserem nördlichen Nachbarland.

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Norbert Bolz, emer. Professor Universität Berlin

Philosophie ist das einsame und freie Denken. Aber sie war natürlich immer auch schon institutionalisiert, eingebettet in Paradigmen, gebunden an Denkstile. Heute präsentiert sie sich zumeist universitär, d.h. als Sache von Beamten und ein Departement der Wissenschaften. Dazu passt die antiphilosophische Signatur unserer Bildungsanstalten, die gar nicht mehr bilden, sondern unterweisen wollen. Studienpläne sanieren den Geist und bringen das Denken in Stromlinienform. Gerade an Universitäten bekommt man den Eindruck, dass Philosophie genau das ist, was die europäischen Strategen der Bildungsproduktion als Flausen aus den Köpfen der Studenten auszutreiben versuchen.

Der Humboldt-Universität macht der Fortschritt den Bologna-Prozess.

Max Scheler hat recht behalten: Die heutige Universität ist keine „universitas“ mehr, sondern eine Summe von Fachhochschulen. Sie bietet uns eine Philosophie ohne Geist, eine Psychologie ohne Seele und eine Soziologie ohne Menschen. Einsamkeit und Freiheit – beides wird heute bekämpft. Der Humboldt-Universität macht der Fortschritt den Bologna-Prozess. Ganz selbstverständlich und unverfroren tituliert man die Studentenschaft als „Generation Praktikum“, weil es niemand mehr wagt, die rigorose Berufsbezogenheit des Studiums in Frage zu stellen. Das verwaltete Studium findet eifrige Verfechter mittlerweile auch bei den Studenten, um deren Zurichtung es den Bildungsplanern geht. Die Angst um den Job ruft nach handfestem, abfragbarem Wissen.

Es war niemand geringeres als Jürgen Habermas, der für die Universitäten einmal die Institutionalisierung der Unzeitgemäßheit forderte: „Freiheit ist etwas Altmodisches“. Doch damals, vor gut einem halben Jahrhundert, erinnerten sich eben noch einige daran, dass der Gelehrte einmal in einer Art bürgerlicher Askese den Dienst an der Wissenschaft leistete – Helmut Schelsky zum Beispiel. Für seinen Helden Wilhelm von Humboldt war die Universität der Schauplatz, auf dem der Mensch – durch und in sich selbst – Einsicht in die reine Wissenschaft findet. „Zu diesem SelbstActus im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit.“ Freiheit ist notwendig, Einsamkeit ist hilfreich. Das kann man als zweite Urszene des freien Geistes neben Kants Aufklärungsmodell des Höhlenausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit stellen.

Zwei gut gemeinte Utopien haben die europäische Universität zerstört. Da gab es zunächst die erstmals durch die Studentenbewegung vorgetragene Utopie von innen, nämlich die Demokratisierung von Lehre und Forschung durch Mitbestimmung und Gruppenuniversität. Es zeigte sich aber sehr rasch: Mehr Demokratie wagen heißt, mehr Bürokratie in Kauf zu nehmen. In allen Lebensbereichen erzeugt mehr Demokratie mehr Bürokratie, weil sich die Leute über ihre Ansprüche definieren, die der Staat als Rechte schützen soll.

Die europanormierte Technisierung von Lehre und Forschung

Die Universität ist heute von dem geprägt, was Franz Ronneberger einmal „die emanzipierte Verwaltung“ genannt hat. Selbstverwaltung hatte das Ziel der Autonomie, aber das Ergebnis der Bürokratie. Dem politischen System ist das durchaus recht. Denn die Ministerialbürokratie hat sich in den Universitäten mit der „Selbstverwaltung“ einen Ansprechpartner geschaffen, mit dem man flüssig kommunizieren kann. Der einzelne Professor mit seinem Eigensinn kann hier nicht mehr störend dazwischenkommen. So wurden aus Dekanaten „Service-Center“. Dabei übersieht man geflissentlich, dass sich der enorme Arbeitsaufwand einer kompetenten Selbstverwaltung nicht mit seriöser theoretischer Arbeit verträgt. Jeder engagierte Dekan kann ein Lied davon singen.

Selbstverwaltung hatte das Ziel der Autonomie, aber das Ergebnis der Bürokratie.

Die zweite gut gemeinte Utopie, die die deutsche Universität zerstört hat, ist eine Utopie von außen und heute an den schönen Namen Bologna geknüpft. Gemeint ist die europanormierte Technisierung von Lehre und Forschung durch Module und Projekte. An der Idee Humboldts gemessen handelt es sich hier ganz schlicht um eine Verstaatlichung des Geistes. Und da sich die Forschung zumal eines Geisteswissenschaftlers nicht so gut organisieren und überwachen lässt wie die Lehre, erklingt überall die Einschüchterungsvokabel „Drittmittel“. In der Tat verwandelt sich die Universität immer deutlicher in eine Welt der Drittmittel und der Gefälligkeitsgutachten.

Von den verantwortlichen Politikern erfährt man, dass es sich bei den Kritikern dieses Prozesses um „ewig Gestrige“ handelt. Die Euphorie des Studiums, die Freude am „psychosozialen Moratorium“, zu Deutsch: das Leuchten in den Augen der Studenten – das gehört einer längst vergangenen Zeit an. Wer nicht blind und gefühllos ist, spürt an den Bologna-Universitäten eine Atmosphäre der Freudlosigkeit und geistige Sterilität.

Gewinner sind aber auch die Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und die Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen.

Von dem Lateiner Bert Brecht haben wir gelernt, zu fragen: Cui bono? Wer sind die Gewinner des Bologna-Prozesses? Zu den Gewinnern gehören die Verwaltung, deren Bedeutung ins Groteske angewachsen ist, und die Wissenschaftsfunktionäre in den Gremien. Was Dietrich Schwanitz vor Jahrzehnten darüber in seinem Roman „Campus“ schrieb, ist nach wie vor die reine Wahrheit – nur fällt es heute schwer, die Sache mit Humor zu nehmen. Gewinner sind aber auch die Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und die Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen. Verklärt wird das Ganze durch die konsumistische Rhetorik vom Studenten als Kunden.

Man muss nicht mehr erwachsen werden, man wird emanzipiert

Den Hauptgewinn aber streichen die Politisch Korrekten ein. Sie haben den Politikern erfolgreich eingeredet, Universitäten seien pluralistische Institutionen, die nach Proporz und Quote besetzt werden müssten. Das neue Stichwort „Diversity“ heißt nämlich nichts anderes als: Bevorzugung bestimmter politisch organisierter Gruppen, die Erhöhung von Gruppenanteilen. Die ideologische Färbung eines Bewerbers wiegt viel schwerer als seine Qualität.

Studenten und Professoren haben vor allem an geisteswissenschaftlichen Fakultäten heute eine gute Chance, in ein Treibhaus der Weltfremdheit hineinzugeraten.

Studenten und Professoren haben vor allem an geisteswissenschaftlichen Fakultäten heute eine gute Chance, in ein Treibhaus der Weltfremdheit hineinzugeraten. Man muss nicht mehr erwachsen werden, man wird emanzipiert. Das ist vielleicht die schwerste Folgelast der Studentenbewegung. Sie wiederholt sich heute als die Farce der Politischen Korrektheit. Ihr „Diskurs“ setzt sich zusammen aus „Demobürokratie“ (Niklas Luhmann) und Sprachhygiene, aus Moralismus und Heuchelei, aus Sozialkitsch und einer politisch gefährlichen Perversion der Toleranz. Der Ton wird übrigens immer schärfer. Denn man wird politisch aggressiv, wenn man theoretisch nicht mehr weiter weiß.

Der Ton wird übrigens immer schärfer. Denn man wird politisch aggressiv, wenn man theoretisch nicht mehr weiter weiß.

Eine Gesellschaft, die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand orientieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern ausgebrütet wird. Man darf ihn übrigens nicht offiziell als Politische Korrektheit ansprechen – das wäre politisch unkorrekt. Alan Charles Kors und Harvey A. Silverglate haben in ihrem eindrucksvollen, beklemmenden Report über den akademischen Verrat an der Freiheit, „The Shadow University“, die heutige Universität als den größten Feind der freien Gesellschaft bezeichnet, weil sie die Studenten nicht mehr als Individuen sondern als Verkörperungen von Gruppenidentitäten behandelt und sie entsprechend in Gruppenrechten unterrichtet.

Die neuen Ingenieure der Seele arbeiten mit Sprachcodes, Gruppenidentitätszuschreibungen und Trainingscamps für „sensitivity“ und „awareness“. Wer das Wort „Individuum“ benutzt, weckt den Verdacht, gegen den heiligen Geist der Gruppe zu sündigen. In dieser „Schattenuniversität“ der Politischen Korrektheit ist die offene Diskussion freier Individuen längst durch Zensur, Einschüchterung und Indoktrination ersetzt worden. In der Vergangenheit diskriminierte Gruppen sollen durch positive Gegendiskriminierung Wiedergutmachung erfahren. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Das ist der Sieg von Herbert Marcuse über John Stuart Mill.

Alexander von Humbold, Denkmal in Berlin, An die Stelle von Humboldts „Einsamkeit und Freiheit“ ist dort längst das „soziale Lernen“ getreten. Bild: AdobeStock

Wissenschaft im Dienst des Gruppenkults

Der Ungeist der Gruppe breitet sich vor allem in den Bildungsanstalten aus. An die Stelle von Humboldts „Einsamkeit und Freiheit“ ist dort längst das „soziale Lernen“ getreten. Systematisch betreibt die Gruppe an Schulen und Universitäten die Austreibung der Einsamkeitsfähigkeit. Unsere moderne Massendemokratie scheint prinzipiell schutzlos gegen diesen Konformismus zu sein. Sie überbetont die sozialen Tugenden der Kooperation und zerstört die nur im Privatleben entfaltbare Kultur der Einsamkeit dessen, der alleine für eine Sache kämpft. Einsamkeit ist nämlich der Preis der Freiheit und Einsamkeitsfähigkeit deshalb die Bedingung der Freiheit.

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Die Wissenschaft ist längst in den Dienst des Gruppenkults getreten. Und an dem typischen Campus-Phänomen der Politischen Korrektheit kann man sehen, dass heute nicht mehr die Wissenschaft verfolgt wird, sondern sie selbst die Verfolgung des häretischen Geistes organisiert. Auch an Universitäten darf man heute dumm sein, aber man darf nicht von der Parteilinie abweichen. Viele Professoren reagieren darauf mit innerer Emigration und/oder einer Flucht in die außeruniversitäre Reputation. Zumeist verwirklicht der Professor dann seine akademische Freiheit als Bockigkeit.

„Der Staat als Leitstern der Bildung!“ – das war Nietzsches höhnische Formel für den Hass auf den Geist, für die Angst vor der Philosophie. Die Formel ist aktueller denn je; nur dass der Leitstern heute nicht mehr Preußen sondern Brüssel heißt. Dort werden die Direktiven eines neuen Konformismus ausgegeben, der sich kurioserweise mit seinem Antonym benennt: Diversität. Für einen guten Europäer gibt es ja nichts Wertvolleres als die Meinungsfreiheit. Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt aber gerade die abweichende Meinung, den Dissens, ins Zentrum der Freiheitsidee. Von dieser Einsicht ist die Elite der europäischen Politik unendlich weit entfernt. Abweichende Meinungen werden heute schärfer sanktioniert als abweichendes Verhalten. Diese Sanktionen laufen zumeist nicht über Diskussionen, sondern über Ausschluss.

Nun könnte man denken, dass ja immerhin noch die Gedanken frei sind. Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, dass derjenige, dem man das Sprechen und Schreiben beschneidet, noch frei denken könne. Es gibt keine Freiheit des Denkens ohne die Möglichkeit einer öffentlichen Mitteilung des Gedachten. Und das gilt nicht nur für die wenigen Schreiber, sondern gerade auch für die vielen Leser. Gedankenfreiheit bedeutet für die meisten Menschen nämlich nur die Möglichkeit, zwischen einigen wenigen Ansichten zu wählen, die von einer kleinen Minderheit öffentlich Redender und Schreibender verbreitet worden sind. Deshalb zerstört das Zum-schweigen-bringen abweichender Meinungen die Gedankenfreiheit selbst.

Den abweichend Meinenden als unmoralisch verurteilen

Die neuen Jakobiner berufen sich darauf, dass viele Meinungsäußerungen Ehre, Scham und Anstand verletzen. Mit dem Vorwurf der Volksverhetzung ist man in Deutschland sehr rasch bei der Hand. Doch auch die Immoralität einer Meinung ist kein Grund dafür, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu beschneiden. Auch wenn nur ein einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen.

Wer eine Diskussion zum Schweigen bringt, beansprucht für sich selbst Unfehlbarkeit. Im Anspruch der Unfehlbarkeit steckt aber die Unfähigkeit, einen Irrtum zu korrigieren – und irren ist menschlich. Zur Korrektur eines Irrtums reicht Erfahrung nicht aus; man muss die Erfahrung auch interpretieren, und dazu braucht man die Diskussion. Deshalb darf es keine Einschränkung der Freiheit zum Widerspruch und zur abweichenden Meinung geben.

Der Politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Silencing nennt man das im angelsächsischen Sprachraum. Die Passage über das Zum-Schweigen-bringen der abweichenden Meinung gehört zu den großartigsten und aktuellsten in John St. Mills Freiheits-Essay.

Nonkonformismus ist kein kognitives Problem. Es geht um Mut und Angst. Und hier ist es in der Moderne zu einer charakteristischen Verschiebung gekommen. Früher fürchteten sich die Menschen, das Unwahre zu sagen, also die unrichtige Meinung zu haben. Heute fürchten sie sich nur noch davor, mit ihrer Meinung allein zu bleiben. Kierkegaard nennt das die Angst davor, ein Einzelner zu sein. Sie ist für die moderne Massendemokratie charakteristisch; ihr Thema ist die Gruppe, das Team; ihr Anathema ist der Einzelne, der Eigensinnige.

Der Gruppe und den Medien zu trotzen – nur wenigen ist heute die Freiheit wichtig genug, um dieses Wagnis einzugehen. Ein Einzelner zu sein, ist die Häresie unserer Zeit. Der Berliner Philosoph Peter Furth, der die linke Szene wie kein zweiter kennt, hat in seiner brillanten Abschiedsvorlesung den hier entscheidenden Zusammenhang benannt: Politische Korrektheit ist die Macht des Konformismus, die andere zum Heucheln zwingt. Sich diesem Zwang zur Heuchelei zu entziehen, erfordert heute den Mut, den man Zivilcourage nennt.

Norbert Bolz

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