Deutsch lernen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 16 Apr 2023 06:42:21 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Deutsch lernen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Problemsprache Deutsch https://condorcet.ch/2023/04/problemsprache-deutsch/ https://condorcet.ch/2023/04/problemsprache-deutsch/#comments Sun, 16 Apr 2023 05:13:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=13682

Wer sich mit drei Jahren nicht gut genug ausdrücken kann, muss in Basel-Stadt in die obligatorische Frühförderung. Bringt das überhaupt etwas? Eine Auslegeordnung des BAZ-Journalisten Sebastian Briellmann.

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Sebastian Briellmann, Journalist bei der BAZ

Achtung, Triggerwarnung, folgende Frage kann mindestens Bluthochdruck auslösen:

Geht es nur noch mit Zwang?

Eine solche Frage schickt sich gar nicht, wird es in der Schweiz im Regelfall doch ungern gesehen, wenn die Politik den Bürgern per Diktat oktroyieren will, was sie für sich und ihre Familie im privaten Bereich zu tun und zu lassen haben (Justiziables natürlich ausgeschlossen).

Es gilt ein einfaches gesellschaftliches Credo: Eigenverantwortung.

Da sind aber doch ein paar Themen, bei denen das nicht mehr vollumfassend gilt, weil die Realität den Common Sense regelrecht ausgehebelt hat.

Geht es beispielsweise um die deutsche Sprache, scheinen ein paar staatliche Befehle nicht verkehrt – vor allem deshalb, weil es in der Gesellschaft qualitativ zusehends zu hapern scheint, wenn es um diese Landessprache geht. Das liest sich in den Medien etwa so:

«Wenn Erstklässler kein Deutsch sprechen» («Tages-Anzeiger»).

«Immer mehr Schweizer Kinder können nur ungenügend Deutsch» («20 Minuten»).

«‹Wiederhole bitte›: wenn im Kindergarten nur eines von vier Kindern fliessend Deutsch spricht» («Neue Zürcher Zeitung»).

Andrea Schenker-Wicki, Rektorin der Universität Basel: Viele Studenten und Studentinnen beherrschen die deutsche Sprahe nicht genug.

Und hat zur Folge, was Andrea Schenker-Wicki, Rektorin der Universität Basel, kürzlich in der BaZ gesagt hat: «Viele Studierende können wirklich nicht mehr korrekt schreiben.» – Eine Nivellierung nach unten, selbst bei der (angeblichen) Elite.

Der bemühte Kanton

Der Kanton Basel-Stadt steht bei der Sprachförderung ganz besonders unter Beobachtung. Er hat gemäss Bundesamt für Statistik die teuersten Schüler im schweizweiten Vergleich – aber sozusagen als Belohnung auch die schlechtesten, wie der erste nationale Schulvergleich vor vier Jahren gezeigt hat (unter anderem in den Sprachen).

Und das, obwohl der Kanton durchaus bemüht ist, in einem schwierigen Umfeld – der Ausländeranteil beträgt 37 Prozent – für eine Verbesserung zu sorgen.

Unter anderem mit einem Obligatorium für Dreijährige, bei denen Deutsch nicht die Erstsprache ist. Fast die Hälfte aller Kleinkinder in diesem Alter hat einen Förderbedarf. Eine Höchstmarke.

Seit bereits zehn Jahren müssen die Kinder nun deshalb bereits vor dem Kindergarten an zwei Nachmittagen in der Woche in die «Frühe Sprachförderung». Ein System, das auch schweizweit immer mehr Schule macht – etwa in Bern, wo das Angebot zwar freiwillig ist, aber ein Obligatorium zumindest eine Überlegung wert ist (vgl. BaZ vom Mittwoch).

Nur: Bringt diese Frühförderung den Kindern überhaupt etwas?

Ein bisschen Fortschritt

Anruf bei Alexander Grob. Der Psychologieprofessor an der Universität Basel: Wer gefördert wird, kommt zumindest nicht komplett ohne Deutschkenntnisse in den Kindergarten.

Anruf bei Alexander Grob. Der Psychologieprofessor an der Universität Basel ist seit Beginn in diesem Grossprojekt. Er hat die Fragebögen entwickelt, die der Kanton jeweils Anfang Jahr verschickt – an alle Haushalte mit kleinen Kindern, die eineinhalb Jahre später in den Kindergarten kommen.

Anhand der Antworten wird evaluiert, wer Defizite aufweist. Grobs Untersuchungen zeigen: Wer gefördert wird, kommt zumindest nicht komplett ohne Deutschkenntnisse in den Kindergarten. Aber er sagt auch: «Was wir noch nicht gut zeigen können: Haben die Kinder einen ausreichenden Spracherwerb in der deutschen Sprache?»

Das klingt noch nicht wirklich nach grossem Durchbruch – vor allem in Basel nicht. Denn der Bedarf an Frühförderung, sagt Grob, ist im Stadtkanton «sicher nicht kleiner geworden».

Aber ist ein (bisschen) Fortschritt nicht immer noch besser als gar keiner?

Richtige Richtung

Ja, sagt etwa die Lehrergewerkschaft Freiwillige Schulsynode Basel (FSS). Vizepräsidentin Marianne Schwegler spricht von einer «richtigen Richtung», die man mit der Frühförderung eingeschlagen habe. Die FSS begrüsst deshalb auch den von Erziehungsdirektor Conradin Cramer beschlossenen Ausbau des Angebots von zwei auf drei Nachmittage pro Woche (Kosten: neu drei statt wie bisher zwei Millionen Franken).

Schwegler weist auch noch auf einen weiteren (positiven) Punkt hin: Die Frühförderung habe neben der Deutschförderung auch noch andere «erwünschte Nebeneffekte». Kinder würden durch den Besuch der Spielgruppe oder der Kita «langsam an eine Ablösung vom Elternhaus herangeführt, sie lernen, sich in einer Gruppe zurechtzufinden, und werden so für den Eintritt in die Schule besser vorbereitet». Dies «sind alles ebenfalls wichtige Faktoren für eine bessere Chancengerechtigkeit».

Die Hälfte kann kein Deutsch

Schwegler liefert das Stichwort für die grosse gesellschaftliche Debatte. Haben wir Chancengerechtigkeit – oder tun wir zumindest genug dafür, dass wir sie erreichen? Was muss von den Zugezogenen an Engagement kommen, und was muss der Staat an integrativer Unterstützung leisten?

Alexander Grob sagt: «Wir können seit kurzem belegen, was vorher zwar logisch geklungen hat, aber nicht sicher gewesen ist: Je mehr Eltern pro Quartier oder Bezirk nicht deutschsprachig sind, desto schlechter reden ihre Kinder Deutsch.»

Das bringt uns zu Fragen über Ghettos, Sicherheit und Ausgrenzung. Grob sagt: «An diesem Punkt sind wir aber noch nicht, und wir sollten alles daransetzen, damit es nicht so weit kommt. Wir, die von Integration sprechen, ein integratives Schulsystem hochhalten, müssen nur schon aufgrund der Chancengerechtigkeit ein Auge darauf haben, dass keine systematische Ausgrenzung erfolgt.»

Die Sprache ist für Grob «mitentscheidend», damit das nicht passiert. Er sagt: «Wir sehen an Brennpunktschulen in Deutschland, etwa in Berlin, was sonst geschehen kann: Da musst du mit Deutsch gar nicht anfangen.»

«Am meisten erstaunt hat mich, dass je nach Gemeinde bis zu 75 Prozent der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache einen Förderbedarf aufweisen.»

Es überrascht nicht, dass Grob über ein steigendes Interesse an der Frühförderung berichten kann. Das lässt sich auch mit Zahlen belegen: 79 Gemeinden unterstützen Grob und sein Team in diesem Jahr, um den Sprachstand der Dreijährigen zu erfassen. «Im nächsten werden es gegen 100 sein.»

Die Nachfrage kommt nicht nur aus den grossen Städten wie Bern, Zürich oder Basel, wo man es am ehesten erwartet. Auch in kleineren Gemeinden ist die Nachfrage gross – weil dort der Druck ebenfalls grösser wird. Grob sagt: «Die Problematik von Deutsch als Zweitsprache ist sehr gross geworden. Am meisten erstaunt hat mich, dass je nach Gemeinde bis zu 75 Prozent der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache einen Förderbedarf aufweisen. Die Hälfte verstand und sprach praktisch kein Wort Deutsch.»

Der Faktor Mensch

Damit umzugehen, ist eine Herkulesaufgabe. Das weiss auch das Basler Erziehungsdepartement (ED). Sprecher Simon Thiriet sagt: «Wir machen am meisten – von allen Kantonen der Schweiz. Man muss aber auch sehen: Wenn man die Kinder zu noch mehr Tagen verpflichtete, würde der Eingriff irgendwann zu gross.»

Das führt dazu, dass in Basel-Stadt längst nicht alle Kinder zum Zug kommen. Alexander Grob sagt: «Tatsächlich gefördert wurden in Basel-Stadt im letzten Jahr 57 Prozent der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Mehr lässt sich gar nicht finanzieren, und es gäbe wohl auch nicht genügend Personal.»

Eine grosse Illusion?

Im neuen «Bildungsbericht Schweiz», im März publiziert, steht: Kinder, die fremdsprachig in den Kindergarten eintreten, haben im Schnitt tiefere Bildungsabschlüsse als diejenigen, die die Landessprache beherrschen. Es ist also nicht mehr garantiert, was bürokratisch-nüchtern von der Schweizerischen Eidgenossenschaft vorgesehen ist: «Die Kenntnis einer Landessprache ist eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche berufliche und soziale Integration.»

Wer glaubt, allein mit Frühförderung die Deutschkompetenzen verbessern zu können, verkennt den Umfang der komplexen Aufgabe. Foto: Dominik Plüss

Frühförderung: Basel-Stadt bietet künftig drei statt wie bisher zwei Nachmittage pro Woche an.

Alain Pichard, der «bekannteste Lehrer der Schweiz» («SonntagsZeitung»), ist ebenfalls besorgt. Das aktuelle System betrachtet er, der nach über vier Jahrzehnten immer noch unterrichtet, obschon er das Pensionsalter erreicht hat, äusserst kritisch. Er sagt: «Man holt die Kinder vor der Schule in eine Institution, will ihnen Deutsch beibringen. Das klingt gut, da kann niemand dagegen sein. Eigentlich. Dennoch bin ich skeptisch. Wenn man das tut, muss es nämlich funktionieren. Und das sehe ich nicht. Für mich ist die Frühförderung eine grosse Illusion.»

Das ED teilt mit, dass die Qualität des Unterrichts mittels Leistungsvereinbarung mit dem Dachverband der Spielgruppen festgelegt wird: Das ED zahlt den Verband dafür, dass er die Spielgruppen besucht, Ansprechpartner bei pädagogischen Fragen für Eltern und Spielgruppe ist und Weiterbildungen finanziert. Dass sich das ED nicht weiter einmischt, liegt daran, dass der Unterricht auf privater Ebene stattfindet.

Die Kinder, die die Kurse besuchen müssen, leben in anderen Milieus – sie unterhalten sich daheim in ihrer Sprache, gucken sich Filme in ihrer Sprache an, schauen Fernsehen in ihrer Sprache. Eine Schnellbleiche mit spielerischen Ansätzen und ein bisschen Liedli-Singen: Das reicht nicht.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission

Eklatante Probleme

Pichard sagt, dass Basel-Stadt nun seit zehn Jahren ein Obligatorium bei der Frühförderung habe, aber beim Lesen und Schreiben schneide der Kanton – ebenfalls seit Jahren – am schlechtesten ab. «Also taugt entweder die Frühförderung nicht – oder die Vergleichstests oder das Schulsystem versagen. Ich vermute, dass Ersteres der Fall ist. Die Fakten sprechen auf jeden Fall dagegen. Deshalb kann man schlecht argumentieren, dass es ohne die Frühförderung noch schlechter aussähe. In Biel haben wir dieselben Verhältnisse wie in Basel – und stehen ohne die gezielte Frühförderung besser da im Quervergleich.»

Pichard unterrichtet in Biel, er tut das schon lange – in einem Brennpunkt, wie Basel (das er auch bestens kennt) auch einer ist. Er weiss also, wovon er spricht, kennt die Lebenswelten. Deshalb sagt er: «Damit man mich nicht missversteht: Ich habe nichts gegen Frühförderung. Nur bin ich der Meinung: Wenn wir es machen, dann richtig. Die Kinder, die die Kurse besuchen müssen, leben in anderen Milieus – sie unterhalten sich daheim in ihrer Sprache, gucken sich Filme in ihrer Sprache an, schauen Fernsehen in ihrer Sprache. Eine Schnellbleiche mit spielerischen Ansätzen und ein bisschen Liedli-Singen: Das reicht nicht.»

«Wir haben eklatante Probleme disziplinarischer Art mit dem Verhalten vieler Schüler, gerade an Unterstufen. Nicht wenige Klassen sind so fast nicht unterrichtbar. Das ist auch mitentscheidend für den fehlenden Spracherwerb.»

Es gäbe noch eine Brachialvariante.

Was also tun?

Ein Brachialvorschlag – Stichwort Zwang! – wäre die Durchmischung der Klassen mit Schülern aus verschiedenen Quartieren, armen und wohlhabenden. Pichard sagt: «Das wäre sicher nicht falsch. Wir wissen ja aus Studien: Wenn mehr als 30 Prozent in einer Klasse Fremdsprachler sind, kippt es, ist der Lernerfolg stark gefährdet. Im Kleinbasel sind in gewissen Klassen 100 Prozent der Schüler solche mit Migrationshintergrund.»

Und er ist auch der Meinung, dass es möglich wäre. In den USA ist das sogenannte Bussing, wo farbige Kinder in nicht farbige Quartiere gebracht werden, durchaus etabliert. «Das hat die Chancengleichheit sicherlich verbessert. Nur: Bei uns ist das höchstwahrscheinlich chancenlos, so ehrlich muss ich sein. In Biel habe ich das mal erlebt: Der Widerstand der Eltern ist massiv. Massiv! Der Quartieregoismus geht so weit, dass man seine Kinder nicht nur nicht in einen anderen Bezirk schicken will, sondern es wird nicht mal akzeptiert, wenn andere – also ja, vor allem Ausländer – in die sogenannt guten Quartiere kommen.»

Das wird auch in Basel nie Realität werden. Für das ED ist ein solcher Grosseingriff kein Thema.

Was, ausser Zwang, könnte dann noch helfen?

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Das kann ich den Kids nicht antun https://condorcet.ch/2022/04/das-kann-ich-den-kids-nicht-antun/ https://condorcet.ch/2022/04/das-kann-ich-den-kids-nicht-antun/#comments Mon, 18 Apr 2022 07:27:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=10813

Sandro Trunz ist Gymnasiallehrer und arbeitet derzeit an einer Brennpunktschule in Biel, zusammen mit unserem eigentlich pensionierten Condorcet-Autor Alain Pichard. Beide sind sie dem Notruf der dortigen Schulleitung gefolgt. Der grassierende Lehrkräftemangel hinterlässt Spuren, das zeigt dieses Gespräch deutlich.

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Sandro Trunz (Jg. 1975), Gymnasiallehrer: Hier siehst du sofort die Effekte.

Alain Pichard

Wenn man deinen Lebensweg betrachtet, könnte man dich als einen bunten Wandervogel betrachten.

Sandro Trunz

In der Tat. Im Appenzell aufgewachsen. Viele Reisen mit Stationen in Indonesien, Australien, Portugal, Marokko, und auf dem Weg in die Schweiz sah ich die Stellenausschreibung im OSZ-Mett-Bözingen.

Dazwischen hast du aber auch eine Gymnasiallehrerausbildung absolviert. Und Geld verdient.

Ich habe Deutsch, Französisch und Englisch als Gymnasiallehrer studiert und arbeitete an verschiedenen Schulen … unter anderem an der Berufsunteroffiziersschule. Ein relaxter Job, gut bezahlt.

Wie kam es, dass du hier gelandet bist und dir diesen – ich sage es mal deutlich – Knochenjob zugemutet hast?

Ich war längere Zeit in Portugal, habe dort auch gearbeitet. Als Hochschullehrer oder Gymnasiallehrer verdienst du dort deine 1000 Euro. Ich brauchte Geld. Und so entschloss ich mich, in die Schweiz zurückzufahren. Unterwegs studierte ich die Stellenausschreibungen. In meinem Fachgebiet gab es keinen Job an den Gymnasien, wohl aber auf der Sekundarstufe 1. Und da fiel mir die originelle Webseite des Oberstufenzentrums Mett-Bözingen auf. In Spanien meldete ich mich telefonisch bei der Schulleitung, schickte meinen Lebenslauf und in Frankreich hatte ich die Stelle. Hätte ich drei Tage länger gewartet, wäre mir eine Stellvertretung mit meiner Fächerkombination am Bieler Seeland-Gymnasium angeboten worden.

Alain Pichard und Sandro Trunz folgten dem Ruf der Schulleitung.

Ein Glücksfall für unsere Schule. Für dich auch?

Mittlerweile bin ich froh, dass ich hier arbeite.

Aber der Realitätsschock muss heftig gewesen sein.

In der Tat. An einer solchen Schule zu unterrichten, ist aufwändig, arbeitsintensiv und benötigt Nerven.

Lehrerband des OSZMB: ein tolles Kollegium

Trotzdem sagst du, dass du gerne hier arbeitest.

Die Lehrkräfte hier sind eine phänomenale Gemeinschaft. Es herrscht – allen Schwierigkeiten zum Trotz – ein ungemein positiver und – teils – gar vergnügter Geist. Ich fühlte mich von Anfang an wohl.

Wo lagen die grössten Herausforderungen?

Die Klasse, die ich unterrichte, hatte unzählige Lehrerwechsel (6+). Sie wurde meines Erachtens im Stich gelassen vom abrupten Abgang meines Vorgängers. Corona-Lockdown, viele Absenzen, drückende soziale Verhältnisse, ein enorm hoher Migrationsanteil, viele unterprivilegierte Kids, disziplinarische Exzesse … es herrschte irgendwie ein Chaos. Zuerst wurde ich für eine Stellvertretung engagiert, danach bat man mich, die besagte Klasse zu übernehmen; ein kurzfristig angestellter Lehrer musste wieder gehen; du kamst; Stefan (ein anderer pensionierter Lehrer) stiess dazu. Es galt in erster Linie, Ruhe in den Betrieb zu bringen.

Die Kids hier sind spontan, direkt und sehr menschlich. Und sie spüren, dass ich kein 08/15-Lehrer bin. Sie schätzen auch meine harte Hand, denn niemand hier will Chaos. Sie wissen, dass ich mich für sie interessiere.

Atrium des OSZMB: Ich bin froh, hier zu arbeiten.

Das hast du geschafft. Man sieht dich von morgens früh bis abends spät in der Schule, die Kolleginnen und Kollegen schätzen dich, und bei den Schülern kommst du gut an.

Ich möchte nichts nach Hause nehmen. So kommt es vor, dass ich manchmal erst um acht Uhr abends das Schulhaus verlasse. Auch meine Kolleginnen und Kollegen arbeiten hier sehr viel. Sie kommen z. B. am Mittwochnachmittag freiwillig und unbezahlt in die Schule, um ihren Schülerinnen und Schülern bei der Praktikumssuche zu helfen. Die Kids hier sind spontan, direkt und sehr menschlich. Und sie spüren, dass ich kein 08/15-Lehrer bin. Sie schätzen auch meine harte Hand, denn niemand hier will Chaos. Sie wissen, dass ich mich für sie interessiere.

Dennoch haben wir hier recht grosse Probleme. Stichwort «Arbeitshaltung», «Disziplin», «Schulkenntnisse».

Es lernen hier wunderbare Schülerinnen und Schüler. Leistungsfähig, sozial denkend, zupackend. Es sind regelrechte Influencerinnen, die die anderen mitreissen. Meine Kolleginnen und Kollegen sagen mir aber auch, dass es zurzeit unüblich viele Problemfälle gibt. Kinder mit psychischen Schwierigkeiten hat es an jeder Schule. Im Moment ist die Häufung das Problem, zusammen mit dem Lehrermangel und den vielen Corona-bedingten Lektionenausfällen. Das führte bei einem Teil der Schüler zu einer Verwilderung. Die nie dagewesenen Wechsel der Lehrer begünstigte all diese Tendenzen nur noch mehr.

Ich musste einigen Lümmeln zuerst einmal klarmachen, dass sie bei mir nicht mit dicken Windjacken und Kapuzen in den Stühlen liegen können …

Pünktlichkeit, Haltung, auch im Äusseren, Ordnung … Und dann der Absentismus, die vielen Arztbesuche während der Schulzeit … zuerst ging es mal darum, eine Basis zu schaffen …

Du hast an deiner Klasse sogar die Trainerhosen verboten.

Das gab zu reden, war aber ein Teil des Ganzen. Klar: Kleidung, Ernährung, grundsätzlich Lebensnotwendiges ist Sache der Eltern. Doch sollten wir dennoch nicht aus den Augen verlieren, dass die Kids in einem Jahr in die Arbeitswelt eintreten müssen.

Vor allem die Französischkenntnisse sind bei den Realschülerinnen inakzeptabel. Da haben diese komischen Lehrmittel einen immensen Schaden angerichtet. Französisch scheint das neue Hassfach zu sein.

Wie steht es mit dem Unterricht? Wie siehst du das schulische Niveau.

Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Potential erkennen und ausschöpfen können. Sie müssen lernen. Und sie müssen arbeiten. Und der Unterricht verträgt keine ständigen Störungen. Das müssen die arbeitswilligen Lernenden erkennen. Meine erste Aufgabe war es, dies bewusst zu machen. Und dafür zu sorgen, dass Unterricht stattfinden kann.

Du weichst etwas aus … Wie steht es mit dem Können und Wissen der Schüler?

Das Niveau bei einigen ist erschreckend tief. Vor allem die Französischkenntnisse sind bei den Realschülerinnen inakzeptabel. Da haben diese komischen Lehrmittel einen immensen Schaden angerichtet. Ungefähr 1/3 der Schülerinnen und Schüler versteht, in einem fürs unterste Lernniveau adaptierten Text, gerade mal «je», «tu», «fais» und das war’s dann auch schon. Französisch scheint das neue Hassfach zu sein.

Mit ist auch aufgefallen, dass Schüler den Spruch «aide-toi toi-même» als «Eide teu teu mem» aussprechen. In der 8. Klasse.

Das ist doch unglaublich. Nach fünfeinhalb Jahren Französischunterricht! Glücklicherweise wurde an dieser Schule immer mit zusätzlichen Lehrmitteln gearbeitet. Und jetzt haben wir ja eine zaghafte Lehrmittelfreiheit. Allerdings gibt es hier in Biel einige (fast) zwei- und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler, mit denen kann man recht gut arbeiten. Und im Englisch stellt sich die Situation einiges besser dar. Dort arbeiten die Kids motivierter und können auch viel mehr. Dabei gilt es nicht zu vergessen, dass das Englische eine germanische Sprache ist (also deutschsprachigen Lernenden näher) und – mutmasslich – vielleicht auch für slavische Studierende einfacher. Die Generation ‘TikTok, SnapChat, YouTube …’ ist dem Englischen ohnehin stets nahe.

Und wie empfindest du den Stand im Deutschunterricht?

Die Schule hier hat meines Wissens den Stand beim Leseverständnis mit einem Lesescreening erhoben. Das Ergebnis ist bedrückend. Viele Kinder haben nach 6 Primarschuljahren ein völlig ungenügendes Leseverständnis. Da fragt man sich schon, was da vorher passiert ist. Natürlich, 80 % Migrationsanteil sind eine Erklärung, aber für mich keine genügende.

Literarische Gespräche im OSZMB: Der Schwerpunkt liegt hier beim Leseverständnis und Schreiben.
Am Mittwochnachmttag helfen die Lehrer den Schülerinnen und Schülern bei der Praktikumssuche.

Die Schule, in der du zurzeit arbeitest, hat das Lesen und Schreiben zu einem Kernthema gemacht. Leseförderung fängt bereits in der 7. Klasse an. Lesebiografien, Erzählnächte, Tagebücher schreiben, Lesewettbewerbe, Leseaufgaben über die Ferien und die literarischen Gespräche … Das ist eine ganze Menge.

Ja, die Schule hat hier Prioritäten gesetzt, und dies völlig zu Recht. Ausserdem wird hier straff geführt und auch kontrolliert. Es gibt Teamteaching und hohe Erwartungen. Ich selber lasse auch Diktate schreiben. Das ist ja in der modernen Didaktik völlig verpönt. Übrigens ist es auch in den Gymnasien mit dem Schreiben nicht zum Besten bestellt. Vor kurzem habe ich gelesen, dass angehende Anwälte in Schreibkurse geschickt werden.

Der zweite Schwerpunkt ist die Berufswahl. Hier wird ein enormer Einsatz geleistet. Die ganze Schule steht dahinter. Die Schüler werden bereits in der 8. Klasse zu einem Praktikum «gezwungen». In der 9. Klasse folgen drei Wochen obligatorisches Praktikum. Danach hat wohl kaum eine Schule in Biel so viele Lehrverträge wie diese hier. Am Mittwochnachmittag ist eine Lehrerin in der Schule und hilft den Schülerinnen und Schülern. Und zu meiner grossen Überraschung sind auch viele Lehrkräfte da und helfen mit, gratis und franko.

Diesen Leuten in den warmen Studierstuben sollte ein Jahr Pflichtpensum an dieser Schule verordnet werden.

PH Bern: Zwangseinsatz für Dozierende

In der PH werden andere Schwerpunkte gelegt …

Ich hasse diese schöngeistige Rhetorik, die fernab der Realität formuliert wird. Diesen Leuten in den warmen Studierstuben sollte ein Jahr Pflichtpensum an dieser Schule verordnet werden.

Ich selber habe in meiner problematischen Französischklasse ein Theaterstück studieren lassen. Als ich mit einer Gruppe hinausging, um zu üben, klaute mir ein Schüler das Lösungsblatt und legte es unter den Visualizer. Die Schülerinnen und Schüler schrieben den Auftrag grösstenteils ab.

Und wie hast du reagiert?

Ich habe mich an die Arbeitswilligen gerichtet und sie gefragt, ob es das ist, was sie wollen. Es gab aber keine Diskussion … Sie schwiegen betreten. Auf jeden Fall ist die 8. Klasse noch nicht bereit, einen entdeckenden, individualisierten Unterricht zu leisten, in denen ich als Coach fungieren soll. (lacht). Unter uns … Es ist auch grundsätzlich kaum möglich.

Es ist so. Gewisse Schüler haben sich eine Bildungsresistenz zugelegt, und es gelingt uns nicht bei jedem, diese aufzuknacken. Hinzu kommt noch, dass viele Eltern machtlos sind, weit existentiellere Probleme haben oder schlicht resignieren.

Bei den meisten problematischen Kids handelt es sich um Knaben und sehr oft sind die privaten Verhältnisse schwierig.

Glücklicherweise haben wir eine hervorragende Schulsozialarbeiterin. Hier sollte man den Stundenansatz massiv ausbauen, zumal auch die entsprechenden Behörden, wie das KJPD oder die Erziehungsberatung heillos ausgelastet sind. Dies habe ich – unter anderem – gemerkt, als ich dieser Behörde eine ‘Kindesgefährdung’ meldete und – relativ schnell – merkte, dass nur in extremen Fällen sofort interveniert würde … nicht wenn das Kind «bloss» geschlagen wird.

Wie sind deine Pläne? Unsere Erfahrung mit den Gymnasiallehrern ist, dass sie gehen, wenn sie eine Stelle als Gymnasiallehrer angeboten bekommen.

Ich hatte vor, nach den Sommerferien zu gehen. Zumal ich noch 10% weniger verdiene als ein Lehrer der Sekundarstufe 1, weil ich das Gymnasiallehrerdiplom habe.

Schülerband: Du siehst hier sofort positive Effekte.

Das ist unbegreiflich.

Nun ist es allerdings zu einer weiteren Kündigung gekommen. Da sagte ich mir: Das kannst du den Schülerinnen und Schülern nicht antun. Noch ein Lehrerwechsel? Nein, die brauchen mich. Ich habe der Schulleitung zugesagt, dass ich meine Klasse bis zum Schulaustritt in einem Jahr unterrichten werde.

Da ist sehr viel Idealismus im Spiel

Sagen wir es mal so. Ich sehe das Positive! Das engagierte Kollegium, die innovative Schule und vor allem: Es ist cool zu sehen, welche Entwicklung viele dieser Kids machen, wenn sie richtig geführt werden, wenn man sich für sie interessiert und etwas von ihnen verlangt. Zudem habe viele der Lernenden ungemeine Erfolgserlebnisse, wenn sie berufsbezogene Erfahrungen sammeln können (erster Anruf in einem Betrieb, erste Bewerbung, den Lebenslauf aufpeppen usw.). Du erzielst hier in kürzester Zeit sichtbare Effekte. Und du spürst ihre Dankbarkeit. Ich möchte zurzeit nicht an einem Gymnasium arbeiten. Ich mache hier einen eminent nützlichen und wichtigen Job. Das ist auch eine Belohnung.

 

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German is too big to fail https://condorcet.ch/2020/12/german-is-too-big-to-fail/ https://condorcet.ch/2020/12/german-is-too-big-to-fail/#respond Sat, 12 Dec 2020 17:03:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=7179

Philipp Loretz, Condorcet-Autor und Mitglied des Bildungsrates des Kantons Baselland, erinnert an die schlechten Deutschresultate der Schulabgänger und betreibt Ursachenforschung.

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Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Vorstandsmitglied des lvb, Mitglied des Bildungsrats und der Condorcet- Redaktion

Unersetzliche Grundlagen
Über welche entscheidenden Fähigkeiten angehende Studentinnen und Studenten für eine erfolgreiche Universitätskarriere verfügen müssten, wurde ein Universitätsrektor in einem Radiointerview gefragt. Antwort: solide Deutsch- und Mathematikkenntnisse. Es sei ihm gar nicht mal so wichtig, welche Themen in anderen Fächern erarbeitet würden. Ohne fundiertes mathematisches Denkvermögen aber sei ein naturwissenschaftliches Studium aussichtslos. Und ohne sicheres Beherrschen der deutschen Sprache in Wort und Schrift liessen sich keine den universitären Qualitätsanforderungen entsprechenden Arbeiten verfassen.

Auch an den Pädagogischen Hochschulen geniessen Mathematik und Deutsch einen hohen Stellenwert. Wenn angehende Lehrpersonen scheitern, sei dies nicht primär mangelhaften pädagogischen Fähigkeiten geschuldet, sondern ungenügenden Deutsch- und Mathematikkenntnissen, so die Feststellung. Diese Tatsache ist mitunter ein Grund dafür, warum auch die Verantwortlichen der basellandschaftlichen Fachmittelschulen auf ebendiese Grundlagenfächer fokussieren und in Mathematik und Deutsch keine Abstriche akzeptieren.

Man ist sich folglich auf breiter Front einig: Gute Deutschkenntnisse sind matchentscheidend.

Im Gesprächen mit Wirtschaftsvertretern wird mir regelmässig beschieden, wie zentral gute Deutsch- und Mathematikkenntnisse auch in der Berufsbildung seien. Bei der Rekrutierung von Lernenden im kaufmännischen Bereich beispielsweise richte man ein besonderes Augenmerk auf die Basics hinsichtlich Grammatik und Stilistik.

Der beunruhigende Befund schliesslich, dass vermehrt nur noch Abgängerinnen und Abgänger der Sek P die Voraussetzungen für das erfolgreiche Absolvieren einer Lehre im kaufmännischen Bereich mitbrächten, verdeutlicht, dass Wunsch und Wirklichkeit immer weiter auseinanderdriften.

Man ist sich folglich auf breiter Front einig: Gute Deutschkenntnisse sind matchentscheidend. Gleichzeitig wird eingeräumt, dass Fachmittelschulen viel Zeit in die Vermittlung basaler Grundkompetenzen investieren müssten (faktisch ein Nachholen verpasster Lernfortschritte während der obligatorischen Schulzeit), die sprachlichen Anforderungen für einen Teil der PH-Studierenden eine zu hohe Hürde darstellten und es auch um die von universitären Hochschulen vorausgesetzte Studierfähigkeit nicht zum Besten bestellt sei. Der beunruhigende Befund schliesslich, dass vermehrt nur noch Abgängerinnen und Abgänger der Sek P die Voraussetzungen für das erfolgreiche Absolvieren einer Lehre im kaufmännischen Bereich mitbrächten, verdeutlicht, dass Wunsch und Wirklichkeit immer weiter auseinanderdriften.

Streichkonzert

Stargeiger David Garrett: Keine zwei Wochen Ferien.

Mir scheint, dass der Faktor Zeit im Bezug auf diesen Abwärtstrend eine wesentliche Rolle spielt. Starviolinist David Garrett erklärte in einem Interview, dass er sich nur sehr selten Ferien gönne. Würde er nämlich zwei Wochen lang nicht üben, bräuchte er zwei Monate, um sich zurück auf denselben Stand wie vor Urlaubsbeginn zu fiedeln.

Bekanntlich ist Garrett bereits ein Meister seines Fachs, was man von Sekundarschülerinnen und -schülern hinsichtlich ihrer Deutschfertigkeiten kaum behaupten kann. Trotzdem hat es die Politik im Zuge von HarmoS, Lehrplan 21 und Stundentafel-Revision geschafft, an den Sekundarschulen, um im musikalischen Jargon zu bleiben, ein veritables Streichkonzert zu veranstalten, was dazu beiträgt, dass immer mehr Lernende im sprachlichen (Orchester-)Graben landen.

Mit einem Schlag 5 Jahresektionen weniger

Ein Drittel weniger

Durch keine noch so gute Binnendifferenzierung wettzumachen.

Mit der Umstellung auf 6/3 brachen dem niveaudifferenzierten Deutschunterricht auf der Sekundarstufe I mit einem Schlag fünf Jahreslektionen weg, was rund 180 Lektionen entspricht. Man kann nun einwenden, dass es sich bei dieser Kürzung lediglich um eine Verschiebung von einer Schulstufe auf die andere gehandelt habe. Rein rechnerisch mag das stimmen. Aber auf den zweiten Blick wird klar, dass auch die beste Binnendifferenzierung in den hochgradig heterogenen Primarschulklassen keinen niveauspezifischen Fachunterricht zu ersetzen vermag.

Mit der Einführung der Projektarbeit im letzten Sekundarschuljahr wurde dem Deutschunterricht eine weitere Jahreslektion im Umfang von noch einmal 37 Lektionen entzogen. Abhängig von der teilautonomen und deshalb variablen Umsetzung der Projektarbeit sind es an manchen Standorten sogar noch deutlich mehr. Der Einwand, die Lernenden würden beim Verfassen einer Projektarbeit ja gerade ihr sprachliches Vermögen anwenden und trainieren, hat sich nachträglich als falsch erwiesen: Rein schriftliche Arbeiten stellen nämlich Ausnahmen dar. Auch Schülerinnen und Schüler im Niveau P entscheiden sich oft für praktische Themen. Das Führen eines simplen Arbeitsprotokolls aber vermag in Sachen Lerneffekt dem Erschaffen verschiedener anspruchsvoller Texte zu vielfältigen Themen – im früheren System mit weit mehr Deutschunterricht im 9. Schuljahr noch möglich – ganz sicher nicht das Wasser zu reichen.

Mit dem Einzug der Anwendungen in Medien und Informatik wurden durch den kantonalen Sparmodus mindestens 20 weitere Deutschlektionen nonchalant zweckentfremdet.

Etikettenschwindel

Mit dem Einzug der Anwendungen in Medien und Informatik wurden durch den kantonalen Sparmodus mindestens 20 weitere Deutschlektionen nonchalant zweckentfremdet. Selbst den Pilotklassen, die am Projekt «Digitale Lernbegleiter» teilnahmen, gestand man nicht einmal die wenigen ICT-Lektionen zu. So wurden im Baselbiet ICT-Basics – vom Zehnfingersystem über Betriebssystemkenntnisse und Dateistrukturen bis hin zum Setzen von Lesezeichen – im Umfang von rund 40 Lektionen plötzlich unter dem Label «Deutschunterricht» verkauft. Ein Etikettenschwindel par excellence.

Im System 5/4 (5 Jahre Primar- und 4 Jahre Sekundarschule) hatten an den Sekundarschulen 740 Lektionen für Deutschunterricht zur Verfügung gestanden. Übrig geblieben sind heute noch knapp 500 Lektionen – eine Reduktion um ein Drittel also!

Pilotenausbildung: Plötzlich ein Drittel weniger?

Anderswo undenkbar

Urs Lehmann, Präsident von Swiss-Ski, würde geteert und gefedert, sollte er das Trainingsvolumen von Wendy Holdener, Beat Feuz & Co. auf Schnee massiv verringern und stattdessen Einheiten in Minigolf und Bogenschiessen als «Skiweltcup-relevant» deklarieren.

Das Bundesamt für Zivilluftfahrt würde sofort intervenieren, falls die «Swiss» die Flugstunden angehender Piloten auf zwei Drittel zusammenstreichen würde.

Das Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester müsste sein Repertoire von anspruchsvollen Werken aus allen Epochen der klassischen Musik auf Adaptionen simpler Schlager umstellen, falls ein beträchtlicher Teil der Proben und Konzertauftritte dauerhaft wegbrechen würde.

Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren.

Und das Beherrschen der deutschen Sprache? Wie wichtig diese Kompetenz aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus weiterhin ist, unterstrich Peer Teuwsens kürzlich publizierter Appell: «Wir riskieren viel, wenn wir die Sprache, die wir als Kommunikationsmittel unter uns deutschsprachigen Menschen verwenden, nicht gründlich erwerben. […] Nur wer die deutsche Sprache beherrscht, kann aktiv an unserer Gesellschaft teilhaben, an ihrer Geschichte, ihrer Gegenwart, ihrer Zukunft. Die deutsche Sprache ist der Schlüssel zu fast allem. […] Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren: die Ausdrucksfähigkeit. […] Wer sich damit bescheidet, seine Sprachkenntnisse auf eine Bierbestellung zu reduzieren, hat sich von einem Miteinander verabschiedet.»[1]

Anlass zur Hoffnung
Die schlechten Resultate der Baselbieter Schülerinnen und Schüler im Kontext der ersten Überprüfung schulischer Grundkompetenzen (ÜGK) haben Bewegung in die Sache gebracht. Eine Rückkehr zur Stärkung des Deutschunterrichts fand Eingang in die politische Diskussion. Auch der LVB war eingeladen, sich im Gremium «Plattform Bildung plus» unter Vorsitz von Bildungsdirektorin Monica Gschwind einzubringen. Bei Redaktionsschluss des vorliegenden Hefts war die Kommunikation von Beschlüssen des Regierungsrats zur Zukunft der Volksschule für Anfang Dezember anberaumt.

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Dezember-Ausgabe 2020)

Peer Teuwsen: Lernt endlich Deutsch!, NZZ am Sonntag, 31. Oktober 2020

 

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Deutsch lernen – ein unterschätzter Grundauftrag der Volksschule https://condorcet.ch/2019/12/deutsch-lernen-ein-unterschaetzter-grundauftrag-der-volksschule/ https://condorcet.ch/2019/12/deutsch-lernen-ein-unterschaetzter-grundauftrag-der-volksschule/#respond Sat, 14 Dec 2019 14:08:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=3275

Für Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz sind die PISA-Ergebnisse nicht überraschend. Er beklagt seit langem, dass sich die Prioritäten im Unterricht verschoben haben und mahnt, den Deutschunterricht wieder mehr ins Zentrum zu rücken.

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Hanspeter Amstutz
Bild: Fabü

Liegt es primär am veränderten Freizeitverhalten oder trägt die Schule massgebend zum Lesedebakel der Schweizer Schüler bei der PISA-Studie bei? Bildungsfachleute rätseln, wo die Ursachen liegen könnten. Sicher hat der Trend hin zum oberflächlichen schnellen Lesen mit der Flut der Informationen zugenommen. Wer Unmengen von Kurzfutter-Botschaften auf dem Smartphone konsumiert und sich dabei nicht gross darum kümmert, was auf der Welt geschieht, wird sich kaum in eine längere Lektüre vertiefen.

Die Schule darf sich nicht der Verantwortung entziehen

Obwohl die Ursachen des Debakels teilweise im gesellschaftlichen Umfeld liegen, kann sich die Schule ihrer Verantwortung nicht entziehen. Lesen und Schreiben lernen ist ein Grundauftrag der Volksschule. Was so banal tönt, ist letztlich ein komplexer Lernprozess, der systematisch gefördert und fächerübergreifend stattfinden muss. Deutsch lernen ist für Kinder ein ganzheitlicher Vorgang,  der sich in persönlichen Beziehungen am besten entwickelt.

Spürbare Folgen vernachlässigter Erzählkultur

Kinder und Jugendliche wollen angesprochen werden und sind bereit aktiv zuzuhören, wenn sie merken, dass eine Lehrerin etwas Neues oder gar Spannendes vermitteln will. Sie haben Hunger nach Geschichten, bei denen sie in eine andere Welt eintauchen und sich mit Erzählfiguren identifizieren können. Dabei spielt die Rolle der Lehrerin eine zentrale Rolle. Kinder lesen im Gesicht und in der Gestik der Erzählerin, was sich in der Geschichte abspielt. Wortwahl und Tonfall der Sprache verstärken das Emotionale, aber auch die Logik des Handlungsablaufs ist nicht nebensächlich. Kinder protestieren sofort, wenn beim Rückblick auf eine Geschichte eine logische Reihenfolge verändert wird. Der Lernprozess ist offensichtlich.

Vergebens warten die Schüler auf faktenbasierte dramatische Erzählungen, die ihren Wortschatz auf lebendige Weise erweitern würden.

Die Kunst des Erzählens hat in der Lehrerausbildung an Bedeutung verloren.

Leider hat die Kunst des Erzählens in der Lehrerausbildung völlig zu Unrecht an Bedeutung verloren. Der Geschichtsunterricht an der Volksschule führt in manchen Klassen ein Schattendasein. Zurückgestutzt auf nur eine Wochenlektion wird Geschichte  narrativ höchstens noch in Bruchstücken vermittelt und selbst die spannendsten Epochen können nur angetippt werden. Vergebens warten die Schüler auf faktenbasierte dramatische Erzählungen, die ihren Wortschatz auf lebendige Weise erweitern würden. Eine grosse Zahl von Jugendlichen, die übers Ohr eine Sprache mit einer gewissen Leichtigkeit aufnimmt, kommt so zu kurz.

Attraktive Realienfächer dienen der Sprachförderung

Die sprachliche Gestaltungs- und Motivationskraft einer Lehrerpersönlichkeit ist für den unmittelbaren Spracherwerb zentral. Nicht nur beim Erzählen, auch beim Erklären eines Sachverhalts oder im dialogischen Umgang mit der Klasse prägt die Sprache der Lehrperson die Lernkultur. Die Motivation neugieriger Schüler hängt zu einem grossen Teil davon ab, wieweit ein Lehrer es schafft, in den allgemein bildenden Realienfächern die Welt ins Schulzimmer zu holen. Attraktiver Sachunterricht mit klaren Bildungszielen ist sprachfördernd. Wo eine Sache oder ein Geschehen fasziniert, wollen die Schüler die Zusammenhänge verstehen und darüber reden. Nicht selten sind es lesebequeme Buben, die über einen fesselnden Sachunterricht zum sprachlichen Ausdruck finden. Endlich gelingt es ihnen, sich in ein Thema zu vertiefen und in einem  Vortrag ihr Wissen frei zu präsentieren.

Mehr Zeit fürs Üben und den Aufsatzunterricht

Um Sicherheit im sprachlichen Ausdruck zu gewinnen, sind die meisten Schülern auf anregendes Üben im Klassenverband angewiesen. Wird diese wichtige Basisarbeit aus Zeitgründen reduziert oder weitgehend an digitale Lernprogramme delegiert, bleibt dies nicht ohne Auswirkungen. Digitale Programme haben im Rahmen des individualisierenden Lernens durchaus ihren Wert. Doch wenn  Lehrer ihre Schüler lieber über Bildschirme steuern als den unmittelbaren Kontakt zu suchen, geht etwas Wesentliches verloren. Eine Lehrperson muss kreative Übungsformen finden und zeigen, dass sie Freude an den sprachlichen Formen hat. Ähnlich wie ein guter Fussballtrainer beim Üben mit seiner Mannschaft höchste Präsenz ausstrahlt, wird ein Lehrer das sprachliche Training mit der Klasse gestalten. Und wie die Erfahrung zeigt, macht gezieltes Üben den meisten Schülern mit der Zeit durchaus Spass.

Wer selber kurze Texte, Berichte und längere Briefe in überzeugender Form schreiben kann, merkt besser, was den Wert eines Beitrags ausmacht.

Beklagt wird im Bericht zum PISA-Test, dass viele Schüler den Wahrheitsgehalt von Meldungen und die sprachliche Qualität von Texten schlecht erkennen würden. Sicher ist es richtig, wenn die modernen Formen der schriftlichen Kommunikation im neuen Fach Medienkunde genauer unter die Lupe genommen werden. Doch das reicht noch nicht. Die Schüler müssen erst einmal Vertrauen zum eigenen Schreiben finden. Wer selber kurze Texte, Berichte und längere Briefe in überzeugender Form schreiben kann, merkt besser, was den Wert eines Beitrags ausmacht. Der Weg dazu fällt nicht allen leicht und ist auch für die Lehrpersonen aufwändig. Gelingt es einer Lehrerin jedoch in einem lebendigen Aufsatzunterricht einen schriftlichen Dialog mit den Schülern zu entwickeln, wird die Sensibilität für sprachliche und inhaltliche Qualität geweckt.

Das Gedicht kann auch heute immer noch begeistern.

Vielseitiger Zugang zur deutschen Sprache

Die bis hier geschilderten Wege zur sprachlichen Förderung sind exemplarisch und bei Weitem nicht vollständig. Vor allem der mündliche Bereich bietet eine Fülle von Möglichkeiten für eine abwechslungsreiche Unterrichtsgestaltung. So lässt eine Ballade wie Fontanes John Maynard keinen Schüler gleichgültig, wenn das Gedicht packend vorgetragen, erhellend interpretiert und sprachlich-spielerisch von den Jugendlichen gestaltet wird. Genauso verhält es sich mit altersgemässen Theaterstücken oder der gemeinsamen Klassenlektüre eines Jugendbuch-Klassikers. Und selbstverständlich ebnen anregende Veranstaltungen wie Lesenächte oder organisierte Bibliotheksbesuche den Jugendlichen den wohl leichtesten Einstieg in die weite Sprachwelt: ins Lesen.

Guter Deutschunterricht muss erste Priorität erhalten

Das alles zeigt, dass das Lernen der deutschen Sprache eine sehr zeitaufwändige Aufgabe ist. Abkürzen kann man dabei nicht. Doch genau da wird es bildungspolitisch brisant. Vor allem die Primarschule ist arg unter Druck, auf zu vielen Hochzeiten tanzen zu müssen. Die beiden frühen Fremdsprachen absorbieren sehr viel Lernenergie, ohne dass die Bilanz von Aufwand und Ertrag wirklich überzeugt. Auch die sprachfördernden Realienfächer sind stark an den Rand gedrängt worden, da deren Nutzen nur schwer evaluierbar ist und sie für Leistungsvergleiche ungeeignet sind. Wer glaubt, allein mit Frühförderung die Deutschkompetenzen verbessern zu können, verkennt den Umfang der komplexen Aufgabe. Nötig wären vielmehr eine Neubewertung der Prioritäten des gesamten Bildungsprogramms und eine entsprechende Kurskorrektur bei der Lehrerbildung. Das aber würde wohl ein bildungspolitisches Erdbeben auslösen.

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