Controlling - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 09 Aug 2023 19:44:37 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Controlling - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Multioptional? Suboptimal! https://condorcet.ch/2023/08/multiptional-suboptimal/ https://condorcet.ch/2023/08/multiptional-suboptimal/#comments Mon, 07 Aug 2023 07:45:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=14747

Condorcet-Autor Philipp Loretz mahnt angesichts der frivolen Vielfalt in Lehrplänen und Weiterbildung für eine "Common Sense - orientierte" Bildungspolitik. Der Artikel ist zuerst im "lvb inform", dem Verbandsorgan der Lehrerorganisation des Kantons Baselland, als Editorial erschienen. Philipp Loretz ist der Verbandspräsident.

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Liebe Leserin, lieber Leser

Stellen Sie sich vor, Sie brauchen einen neuen kabellosen Kopfhörer auf der Höhe der Zeit. Der Laden um die Ecke hat lediglich einen einzigen riesigen Pilotenkopfhörer im Sortiment. Im einschlägigen Multimediamarkt hingegen erleben Sie das Gegenteil und stehen nicht weniger als 206 Modellen gegenüber. Auf welche Ausstattungsmerkmale achten Sie? Klangqualität? Tragekomfort? Akkulaufzeit? Noise Cancelling? Transparenzmodus? Wasserdicht? Faltbar? Eingebautes Mic? Ergonomie? Farbe? Bedienbarkeit? In, On oder Over Ear?

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Präsident des lvb: Wir können es uns nicht länger leisten, dass bis zu 15% der Schülerschaft am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht in der Lage sind, einfachste Texte zu verstehen.

Angesichts dieses Options-Overkills haben Sie drei Möglichkeiten: Das Geschäft infolge der erlittenen Entscheidungslähmung mit leeren Händen zu verlassen, auf die Schnelle ein Modell zu kaufen, von dem Sie glauben, dass es Ihren Bedürfnissen am besten entspricht, oder tief in die Tasche zu greifen und zu Testzwecken gleich mehrere Kopfhörer zu erwerben. Für welche Strategie Sie sich auch entscheiden, Sie folgen stets dem Imperativ der Multioptionsgesellschaft.

Alternativlosigkeit bzw. Multioptionaliät führen auch im Bildungsbereich ins Abseits. Diese Erkenntnis hat an den Baselbieter Schulen bereits mehrfach zu richtungsweisenden Veränderungen geführt: Weg von inflationären Kompetenzbeschreibungen, hin zu überschaubaren Stoffinhalten; weg von einengenden Lehrmittelmonopolen, hin zur geleiteten Lehrmittelfreiheit; weg von flächendeckend verordneten Einheitsbrei-Fortbildungen, hin zu massgeschneiderten, individuell wählbaren Fortbildungsmodulen.

Die Strategie, den Unterricht innerhalb eines klar definierten Rahmens mit greifbaren und verbindlichen Standards weiterzuentwickeln, soll auch das Massnahmenpaket «Zukunft Volksschule» zum Erfolg führen. Zu diesem Zweck stellt der Kanton den Schulleitungen detaillierte Handreichungen zur Verfügung.

Im Rahmen der Teilautonomie bleibt es jedoch jeder Schule selbst überlassen, wie sie einzelne Teilbereiche, darunter die eminent wichtige «Leseförderung», in die lokale Schulentwicklung integriert. Nicht nur die deutlichen Ergebnisse der LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungen im Lehrberuf zeugen davon, dass die Schulentwicklung manchenorts aus dem Ruder gelaufen ist, sondern auch die technokratischen Orientierungsraster der PH FHNW [1], mit denen den Schulleitungen «wünschenswerte Ziele und leitende Werte» – 206 (!) an der Zahl – ans Herz gelegt werden. Schulentwicklung à discrétion, Verzettelung mit Ansage.

Zu viele Projekte, zu viele Sitzungen, zu viele Absprachen blockieren die zeitlichen und personellen Ressourcen, die für die Umsetzung des gemeinsam entwickelten 62-Millionen-Franken-Projekts dringend benötigt würden.

So ist es wohl kein Zufall, dass die Anzahl Anmeldungen für die spezifischen didaktischen Fortbildungen noch hinter den Erwartungen zurückbleibt. Zu viele Projekte, zu viele Sitzungen, zu viele Absprachen blockieren die zeitlichen und personellen Ressourcen, die für die Umsetzung des gemeinsam entwickelten 62-Millionen-Franken-Projekts dringend benötigt würden.

Damit sich das ändert, braucht es nicht nur engagierte Lehrpersonen, sondern auch umsichtige Schulleitungen, die genügend Raum und Zeit schaffen, indem sie weniger bedeutsame Prozesse zurückstellen, keine neuen Zusatz-Projekte lancieren, die schulinterne Gremiendichte reduzieren und die Bürokratie spürbar zurückfahren.

Die kantonalen Behörden ihrerseits sind aufgefordert, an geeigneter Stelle mehr Leadership zu übernehmen. Dazu gehören ein funktionierendes Controlling in Form definierter Etappenziele inkl. regelmässiger Überprüfung sowie das Einfordern einer transparenten Rechenschaftslegung.

Dafür braucht es keine multioptionalen Schulentwicklungsleitfäden, sondern eine gehörige Portion Common Sense und den Willen aller Beteiligten, fokussiert an den überschaubaren, klar definierten Strängen zu ziehen – und zwar in die gleiche Richtung.

Bei den nächsten ÜGKs (Überprüfung der Grundkompetenzen) muss der ROI (Return on Investment) insbesondere im Bereich Lesen sichtbar werden. Wir können es uns nicht länger leisten, dass bis zu 15% der Schülerschaft am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht in der Lage sind, einfachste Texte zu verstehen.

 

P.S.: Der geneigte Musikliebhaber achtet beim Kauf eines Kopfhörers in erster Linie auf das Klangbild, den Tragekomfort und die Benutzerfreundlichkeit – alles andere ist Schnickschnack.

 

[1] https://www.q2e.ch/downloads/thematische-orientierungsraster/
https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/direktionen/bildungs-kultur-und-sportdirektion/bildung/handbuch/aufsicht-und-qualitaet/downloads

lvb inform Juniausgabe 2023

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Zu wenig Lehrerinnen und Lehrer: die wahren Gründe https://condorcet.ch/2023/05/zu-wenig-lehrerinnen-und-lehrer-die-wahren-gruende-2/ https://condorcet.ch/2023/05/zu-wenig-lehrerinnen-und-lehrer-die-wahren-gruende-2/#comments Thu, 18 May 2023 16:31:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=14001

Landauf, landab sind Schulpräsidenten und Schulleiter fast verzweifelt daran, für das neue Schuljahr Lehrkräfte zu suchen. Dabei werden für den Lehrermangel vonseiten der Behörden und Bildungsexperten mehrheitlich Gründe genannt, welche die wahren Ursachen verschleiern. Ein Gastbeitrag von Mario Andreotti.

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Dem Kanton St. Gallen fehlen zurzeit rund 120 Lehrerinnen und Lehrer. Was Kritiker der überstürzten Bildungsreformen schon längst vorausgesagt haben, ist nun eingetreten: ein Lehrermangel enormen Ausmasses, der Schulbehörden und Schulleiter immer häufiger zwingt, an unseren Volksschulen Personen in die Klassenzimmer zu holen, die sich entweder noch im Studium an einer Pädagogischen Hochschule befinden oder sonst wie weder fachlich noch pädagogisch-didaktisch genügend ausgebildet sind. Als Begründung ist von zu tiefen Einstiegslöhnen, von zu grossen Klassen, von steigenden Schülerzahlen, von zunehmender Teilzeitarbeit der Lehrkräfte und dergleichen mehr die Rede. Das mag ja alles stimmen.

Mario Andreotti, Bildungsexperte

Doch die eigentlichen Gründe für den akuten Mangel an Lehrkräften liegen anderswo. Seit einiger Zeit brodelt es in verschiedenen Schulen, weil Schulbehörden, aber auch Schulleiter den Lehrkräften in teilweise forscher Gangart Lernkonzepte verordnen wollen, die sich am Lehrplan 21 orientieren. Die Lehrkräfte werden dazu in Weiterbildungskurse geschickt, um auf ihre neue Rolle als Coaches oder Lernbegleiter getrimmt zu werden. Zudem werden sie kontrolliert und evaluiert, mit Lernberichten, Beobachtungsbögen, Protokollen und Koordinationssitzungen belastet, so dass sie kaum mehr zum Unterrichten kommen, geschweige denn Zeit für den menschlichen Kontakt mit den Schülern finden. Trotz ihrer mehrjährigen Hochschulausbildung traut man ihnen nicht mehr zu, den Unterricht selbständig zu organisieren. Es braucht dazu noch Lernberater, Schulentwickler, Evaluatoren, Supervisoren und Instruktoren, die in erster Linie zu kontrollieren haben, ob die einzelnen Lehrkräfte in ihr Raster passen.

Trotz ihrer mehrjährigen Hochschulausbildung traut man Lehrkräften nicht mehr zu, den Unterricht selbständig zu organisieren.

Der Lehrerberuf ist im Begriff, massiv abgewertet zu werden. Bis anhin organisierten und erteilten die Lehrkräfte den Unterricht und genossen dabei, im Rahmen des Lehrplans, Methodenfreiheit. Sie leiteten die Geschicke ihrer Klassen und wurden von administrativem Krimskrams weitgehend verschont, so dass sie sich ihrer Hauptaufgabe, dem Unterrichten, vollumfänglich widmen konnten. Heute haben die Lehrkräfte nach dem Lehrplan 21 zu unterrichten, der auf 470 Seiten über 2000 Kompetenzstufen auflistet. Die einst hochgehaltene Methodenfreiheit ist nur noch Theorie. Der Frontalunterricht, der nachgewiesenermassen die besten Lernergebnisse brachte, ist vollkommen verpönt. An seine Stelle tritt “selbstorganisiertes Lernen”, bei dem die Schüler ihren Lernprozess weitgehend selber steuern sollen und die Lehrperson nur noch als Coach, als Lernbegleiter an der Seitenlinie den Lernprozess begleitet.

Zu all dem beklagen sich die Lehrkräfte zunehmend über die mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit. Überfüllte Klassen, integrativer Unterricht und ständig neue administrative Aufgaben tragen dazu bei, dass bei den Lehrkräften das Gefühl fehlender Anerkennung für ihre verantwortungsvolle Lehrtätigkeit und Erziehungsarbeit entsteht. Verwundert es da noch, dass unter solchen Bedingungen immer mehr Lehrkräfte die Freude am Beruf verlieren?

Nicht zuletzt muss den Lehrerinnen und Lehrern vonseiten der Öffentlichkeit, vor allem der Eltern und der Schulbehörden, wieder jene Wertschätzung entgegengebracht werden, die heute viele vermissen lassen.

Will man dem jetzigen Lehrkräftemangel erfolgreich begegnen, so muss sich neben attraktiveren Rahmenbedingungen, zu denen unter anderem mehr Lohn sowie kleinere Klassen zählen mögen, die Unterrichtsform selber tiefgreifend ändern. Aus den Lernateliers müssen wieder Klassenzimmer, aus dem “selbstgesteuerten Lernen” muss ein Klassenunterricht und aus dem reinen Lernbegleiter eine Lehrperson werden, die sich in der Beziehung zu ihren Schülern souverän einbringen kann, ohne dauernd durch unergiebige Evaluationen und fragwürdige Reformen von ihrem Kernauftrag abgelenkt zu werden.

Nur so lässt sich wieder ein solides Bildungsfundament aufbauen, was umso dringlicher ist, als heute 40 Prozent der Schüler die minimalen Grundkompetenzen in Mathematik nicht erreichen und als jeder fünfte Schüler die Volksschule ohne genügende Kompetenzen im Lesen und Schreiben verlässt. Nicht zuletzt muss den Lehrerinnen und Lehrern vonseiten der Öffentlichkeit, vor allem der Eltern und der Schulbehörden, wieder jene Wertschätzung entgegengebracht werden, die heute viele vermissen lassen. Das wären die besten Voraussetzungen, um weiterhin geeignete Männer und Frauen für den Lehrerberuf zu gewinnen und sie auch längerfristig in diesem Beruf zu halten.

Mario Andreotti

 

Prof. Dr. Mario Andreotti, ehem. Gymnasiallehrer und heute Dozent für Neuere deutsche Literatur, ist ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungslandschaft. 2019 veröffentlichte er im Verlag FormatOst dazu das vielbeachtete Buch «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache».

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Vergesst Horizon 2020! https://condorcet.ch/2023/02/vergesst-horizon-2020/ https://condorcet.ch/2023/02/vergesst-horizon-2020/#comments Wed, 22 Feb 2023 18:30:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=13250

Schweizer Wissenschaftler und Politiker halten die Teilnahme am EU-Forschungsprogramm für überlebenswichtig. Dabei ist das ein bürokratischer Käfig, der vom Denken ablenkt, schreibt unser Gastautor Mathias Binswanger. Der Artikel ist zuerst im Nebelspalter erschienen.

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Die Situation ist untragbar. Uni-Rektoren alarmiert» – so lautete eine Schlagzeile im Januar. Es ging um das World Economic Forum, das WEF, in Davos, wo sich auch die Rektoren der wichtigsten Universitäten der Schweiz treffen durften. Der Rektor der Universität Zürich, Michael Schaepman, liess dort verlauten: «Wenn es so weitergeht, nehmen wir in Kauf, dass wir im internationalen Ranking tauchen.» Denn wenn die Schweiz weiterhin keinen vollen Zugang zum europäischen Forschungsprogramm «Horizon» habe, würden die hiesigen Universitäten schlechter beurteilt.

Schleichende Aufgabe der Eigenständigkeit

Volkswirtschaftler Mathias Binswanger, Gastautor

Tatsächlich ist die Situation untragbar, aber in einem ganz anderen Sinn als von den Rektoren dargestellt. Es ist untragbar, dass sich die Schweizer Forschung von der EU-Förderung abhängig und damit erpressbar gemacht hat. Diese schleichende Aufgabe der Eigenständigkeit ist ein Armutszeugnis und spricht nicht für den Forschungsstandort Schweiz. Die Schweiz ist Teil der EU-Forschungsbürokratie geworden, welche wesentlich dazu beiträgt, aus Forschern fleissige Antragsschreiber und Berichtverfasser für Projekte zu machen, auf deren Resultate niemand gewartet hat.

Akademiker sollten eigentlich zu den intelligentesten Mitgliedern einer Gesellschaft gehören. Das zumindest vermuten viele Leute ausserhalb des Wissenschaftsbetriebes. Doch gleichzeitig müssen sich Akademiker de facto wie kleine Kinder behandeln lassen, wenn es um die Überprüfung ihrer Leistungen geht. Jahr für Jahr versuchen sie, Artikel um Artikel in Fachzeitschriften zu veröffentlichen, Projektanträge zu schreiben, Berichte zu verfassen oder Dokumente für Akkreditierungen zu erstellen, um so bei internen und externen Ratings und Beurteilungen gut dazustehen. Und dann sollten sie auch noch so tun, als ob ihnen all diese Tätigkeiten ein grosses Anliegen wären.

Es ist untragbar, dass sich die Schweizer Forschung von der EU-Förderung abhängig und damit erpressbar macht.

Hinter vorgehaltener Hand beklagen sich zwar viele Akademiker über diese Gängelung. Doch die Mehrheit fügt sich brav den Anforderungen der Forschungsbürokratie. In deren Zentrum steht der quantitativ messbare Input oder Output der Forschung. Wichtig ist die Zahl der Publikationen, der Zitationen, Impact-Faktoren, H-Index, i10-Index, G-Index . . . Die Liste an Kennzahlen zur quantitativen Erfassung von Forschungsleistungen wird immer länger.

Zuckerbrot und Peitsche

Inzwischen gibt es eine eigene «Wissenschaftsdisziplin», die sich ausschliesslich mit dem richtigen Messen von wissenschaftlichen Leistungen beschäftigt: die Szientometrie. Auf diese Weise wird eine bürokratische Tätigkeit – das Messen von Forschungsleistungen – selbst zur Wissenschaft und erhält den Anstrich objektiver Notwendigkeit.

Engt sich der Blick des Wissenschaftsbetriebs durch die Forschungsbürokratie ein?

Wie ist es aber möglich, dass Akademiker zu willfährigen und (selbst)disziplinierenden Vollstreckern eines Systems geworden sind, das ihnen oft die Freude an ihrer Tätigkeit raubt? Die Antwort ist einfach: Zuckerbrot und Peitsche. Eine Karriere als Akademiker ist heute nur möglich, wenn man entsprechend Artikel publiziert, Projekte akquiriert und, das gehört heute auch dazu, sich stets politisch korrekt verhält. Wer das fleissig tut, der wird belohnt und steigt in der Wissenschaftshierarchie nach oben.

Politisch korrekter Output

Wer hingegen keine messbare Leistung erbringt, endet schnell auf einem akademischen Abstellgleis oder muss sich aus dem System verabschieden. So ist etwa die Anzahl der von einem Forscher veröffentlichten Zeitschriftenartikel zum wichtigsten Anliegen, aber auch zur grössten Sorge unter vielen Akademikern geworden. Wo man veröffentlicht hat, ist wichtiger, als was in einer Arbeit steht. So kann man bei informellen Diskussionen mit Kollegen sich oft stundenlang darüber unterhalten, welche Artikel jetzt gerade wo veröffentlicht werden, welche in der Pipeline sind und mit welchen Co-Autoren weitere wichtige Arbeiten geplant sind. Nur über den eigentlichen Inhalt erfährt man kaum etwas.

Wo man veröffentlicht hat, ist wichtiger, als was in einer Arbeit steht.

Das ganze Controlling führt zu einer Standardisierung von Forschung und Lehre. Immer mehr an die Norm angepasste Forscherinnen und Forscher produzieren immer mehr standardisierten, berechenbaren und in Sozialwissenschaften auch politisch korrekten Forschungsoutput.

Ein System, das Qualität belohnen will, verwandelt sich in ein System, das Qualität behindert.

Nicht Kreativität, sondern Vorhersehbarkeit und Planbarkeit sind wichtig, denn nur so lassen sich Forschungsanträge schreiben, bei denen man über Jahre hinaus jeden Teilschritt schon im Vornhinein angeben kann. In den Artikeln entwickelt sich ein standardisierter Aufbau und ein normierter Schreibstil, bei dem die Individualität der einzelnen Forscher möglichst wenig zum Ausdruck kommt.

Auch was Methoden, Modelle, Verfahren und Inhalte betrifft, fügen sich Wissenschaftler in die momentan gerade vorherrschende Norm ein. Je mehr Forscher aber durch Regeln und Standards eingeschränkt werden, umso mehr neigen sie dazu, auf Nummer sicher zu gehen und nachzuahmen, was andere getan haben – sogenanntes gap-spotting.

Quantitativ messbarer Output verdrängt den Inhalt.

Unerwartete, neue oder herausfordernde Ideen werden dadurch seltener. Ein System, das eigentlich die Qualität messen und belohnen will, verwandelt sich so in ein Kontrollsystem, welches Qualität zunehmend behindert. So entsteht ein ständiger Strom von Artikeln, die von immer mehr Akademikern als sinnlose, uninteressante technische Übungen beurteilt werden und inhaltlich kaum einen Beitrag leisten. Die Artikel dienen in erster Linie dazu, sich in entsprechenden Rankings zu verbessern. Quantitativ messbarer Output verdrängt den Inhalt. Und die intrinsische Motivation der Forscher, oder wie Robert Merton es nannte: der «Taste of Science», wird verdrängt durch extrinsische Motivation oder einen taste for publications and projects.

Wissenschaftliche Fleissarbeiter ohne Geist

Doch es geht nicht nur um die Optimierung von Prozessen, sondern auch um eine Optimierung der in Forschung und Wissenschaft tätigen Menschen selbst. Rein äusserlich scheint die Freiheit an Hochschulen grösser zu werden. Man kann im Home-Office arbeiten, Online-Veranstaltungen machen, neue Lernformen erproben oder sich weltweit mit anderen Wissenschaftlern vernetzen. Aber gleichzeitig macht die Hochschulbürokratie immer mehr Druck und zwingt Akademiker dazu, messbaren und der Norm entsprechenden politisch korrekten Output zu produzieren.

Immer mehr Druck für politisch korrekten Output.

Aus diesem Grund treffen wir im akademischen Umfeld verstärkt wissenschaftliche Fleissarbeiterinnen und -arbeiter ohne Geist an. Diese sind intelligent, clever und beherrschen ihr Handwerk. Aber sie sind opportunistisch und an Inhalten letztlich nicht interessiert.

Kein Wunder, dass unter solchen Bedingungen immer mehr Wissenschaftler immer weniger originelle Beiträge liefern. Eine im Januar 2023 publizierte Untersuchung in der Zeitschrift Nature unter dem Titel «Papers and patents are becoming less disruptive over time» zeigt: In den letzten Jahrzehnten ist der Umfang neuer wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse exponentiell gestiegen.

Rückgang der Vielfalt

Im Gegensatz dazu deuten verschiedene Beobachtungen aber darauf hin, dass sich der Fortschritt verlangsamt. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Veröffentlichungen und Patente mit der Vergangenheit in einer Weise brechen, die Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen lenkt. Und genau das wäre die Idee von wissenschaftlichem Fortschritt oder, neudeutsch: von disruptiver Veränderung.

Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Veröffentlichungen und Patente mit der Vergangenheit in einer Weise brechen, die Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen lenkt.

Eine mögliche Erklärung ihrer Resultate sehen die Autoren in der Zunahme des Publikationsdrucks. Wissenschaftler und Erfinder konzentrieren sich verstärkt auf die Verfeinerung von Details und Modellen aus früheren Arbeiten, um aus einer Idee oder einem Modell möglichst viele Publikationen herauszuholen. Die Autoren beobachteten auch einen Rückgang der Vielfalt der zitierten Arbeiten, was wiederum ein Hinweis darauf ist, dass sich die heutige Wissenschaft mit immer engeren Ausschnitten des vorhandenen Wissens befasst.

Bleibt der wissenschaftlich offene Geist zunehmend in der Flasche?

Dieser Rückgang der Vielfalt geht einher mit einer Zunahme des Anteils an Zitaten des einen Prozents der am häufigsten zitierten Arbeiten. Im Laufe der Zeit zitieren Wissenschaftler zunehmend die gleichen «exzellenten» früheren Arbeiten, wodurch auch die neu publizierten Arbeiten sich thematisch immer ähnlicher werden. Mit andern Worten: Wissenschaft wird zur Fleissarbeit ohne Geist!

 

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen.

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Wenn Widerstand zur Pflicht wird https://condorcet.ch/2019/06/wenn-widerstand-zur-pflicht-wird/ https://condorcet.ch/2019/06/wenn-widerstand-zur-pflicht-wird/#respond Fri, 28 Jun 2019 09:54:33 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1547

Kämpfe zwischen Schulleitung und Lehrpersonen häufen sich. Massive Direktiven von oben stossen auf pädagogische Praxis unten. Schulleitungen bleiben, Lehrer kündigen; Leidtragende sind die Schüler. Condorcet-Autor Carl Bossardt ordnet die Geschehnisse ein und benennt, was wir schon alle wissen: Der Umbau der Öffentlichen Schule ist im Gang.

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Carl Bossard

Die Muster gleichen sich: Neue Schulleitungen kommen und mit ihnen neue Konzepte. Angekündigt sind grosse Reformen. Das Bisherige interessiert wenig; eine klare Analyse der Situation vor Ort fehlt meist, ebenso eine fundierte empirische Datenbasis. Schulpräsidien und Aufsichtskommissionen lassen sich nicht selten von schönen Innovations-Worten und Changemanagement-Vokabeln blenden und ziehen mit. So geschehen in der Thurgauer Schulgemeinde Wigoltingen, so passiert an manch andern Orten der Schweiz. „Verwerfungen an Schulen häufen sich auffällig – von der Volksschule bis zur Hochschule. Mittendrin finden sich jeweils die Schulleitungen und Rektorate“, schrieb die NZZ vor Kurzem.[i]

Pädagogisch-didaktische Einseitigkeiten

Auch wenn die aktuellen Konflikte unterschiedliche Hintergründe haben, scheint den verschiedenen Geschehenskomplexen eines gemeinsam: Im subtilen Gleichgewicht schulischen Lehrens und Lernens wurden Einseitigkeiten favorisiert und „durchgeboxt“. Das dynamische Dreieck zwischen Strategie (Was wollen wir gemeinsam erreichen?), Kultur (Wer sind wir als Schulteam?) und Struktur (Wie machen wir’s als Lehrerkollegium?) geriet so aus der Balance.

 

Es kam zu Konflikten mit unüberbrückbaren Fronten. Gesiegt hat in allen aktuellen Fällen das System mit dem Rektorat und den Aufsichtskommissionen. Die Schulleitung behielt ihr Amt, Lehrpersonen gingen; zurück blieben Scherben. Leidtragende sind Kinder und Jugendliche. Ihretwegen aber wagten verschiedene Lehrpersonen den Widerstand.

Schule ist kein Entweder-Oder; guter und lernwirksamer Unterricht ist ein Sowohl-als-Auch.

Vermischung von strategischer und operativer Ebene

Nationales Echo löste der Fall an der Sekundarschule im thurgauischen Wigoltingen aus. Zwei neue Leiter übernahmen auf Anfang des Unterrichtsjahres 2018/19 das Regiepult der Volksschulgemeinde. Beide kamen aus privatwirtschaftlich geführten Schulen. Ihre erste Handlung: Was existierte und funktionierte, wurde sofort als reformbedürftig problematisiert. Das schuf vordergründigen Reformbedarf und einen Innovationsdruck.

Mit an Bord waren die Schulbehörden und ihre Präsidentin Nathalie Wasserfallen. Die strategischen Vorgesetzten verbündeten sich mit den beiden operativ Verantwortlichen. Das erwies sich als problematisch. Eine spätere Distanz war kaum mehr möglich. Dazu zeigte sich eine völlige Indifferenz der politischen Ebene gegenüber widersprüchlichen, weil undurchdachten Zielsetzungen des Reformierens.

Poster im Lehrerzimmer des OSZ-Orpund
Bild: api

Reformdiktat von oben

Sehr schnell wurde von oben her umgebaut und der Primarschulunterricht auf 2019/20 von bisherigen Jahrgangsklassen auf altersdurchmischtes Lernen AdL umgestellt – mit geplantem Weiterzug auf die Sekundarstufe. Der Arbeitsaufwand für Lehrpersonen ist gross, der Wirkwert auf Schülerseite dagegen gering, sozial wie kognitiv. Das zeigt die Forschung. Skeptischen Stimmen wurde der Weggang nahegelegt. „Wir haben eine Richtung und dann schauen wir, wer mitmachen will“, so die Schulleitung.[ii] Die Lehrer seien nur ausführende Kraft; geführt werde die Schule wie ein KMU-Unternehmen – mit Weisungen von oben.[iii]

 

„Bringe mir nichts bei!“

Letztlich ist es ein Methodenstreit um das autonome Arbeiten, der zum Zerwürfnis geführt hat. Die neue Schulleitung verlangte eine absolute Dominanz des selbstorganisierten Lernens SOL mit der Lehrperson als Lerncoach. Ein solcher Unterricht kündigt das pädagogische Grundverhältnis zwischen Lehrer und Schüler auf und macht Kinder zu isolierten Lernplanbewältigern. Diese Methode wird u.a. vom Ostschweizer Schulentwickler Peter Fratton mit seinem Credo „Lehrer, bringe mir nichts bei! Erkläre mir nicht!“ gepredigt. Ein krudes Verbot, letztlich ein Lehrverbot! Der neue Wigoltinger Schulleiter Mirko Spada verfolgt diese Spur konsequent, obwohl sie einem wissenschaftlichen Diskurs kaum standhalten dürfte.

Diesem unbedingten methodischen Imperativ widersprach auch die Professionsempirie langjähriger Pädagogen. Sie wiesen darauf hin, dass Lehrer eben mehr als nur Lernbegleiter wären und dass gutes Lernen ein pädagogisch-didaktisches Beziehungsgeschehen zwischen Menschen sei. Solche Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass erfolgreicher Unterricht ein hohes Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung verbindet. Schule ist kein Entweder-Oder; guter und lernwirksamer Unterricht ist ein Sowohl-als-Auch.

 

Kampf zwischen Rektorat und Prorektorat

Auch das zweite Beispiel führt in den Kanton Thurgau. An der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen kam es zum Konflikt zwischen der Hochschul-Rektorin Priska Sieber als Repräsentantin des Systems und ihrem Prorektor Matthias Begemann. Ein klassischer Kampf zwischen Ordnung und Freiheit, zwischen der Präferenz für Regelungen bzw. Controlling auf Seiten der Rektorin und dem Wunsch nach Freiraum für neue Ideen und pädagogisches Wirken von Seiten des Prorektors. Die Rektorin setzte auf Verordnung, der Prorektor auf Freiheiten.

Klar ist, wer gewinnen musste: Wenn Individuum und System in Konflikt geraten und aufeinanderprallen, siegt im Regelfall das System. Und die Aufsichtskommissionen stehen meist auf der Seite des Systems. Sollte es einmal anders sein, nennt man diese Individuen „Helden“ oder, im tragischen Fall, „Märtyrer“. Prorektor Martin Begemann musste gehen.

 

Zwei Kräfte kann man nicht gleichzeitig maximieren

Für alle diese Fälle gilt: Niemand kann zwei gegensätzliche Kräfte – im Fall Kreuzlingen ist es Freiheit auf der einen und Controlling auf der anderen Seite – gleichzeitig maximieren. Das geht nicht. Wer einen Strang wie jenen der Vorschriften maximiert, reduziert und minimiert den andern Vektor, jenen der Freiheit. Die Balance geht verloren. Schulisch positives Wirken resultiert stets aus der Dynamik eines Sowohl-als-Auch. Es ist die Resultante aus beiden Kräften zugleich.

 

Einseitigkeiten sind verheerend

„Bildungspolitiker ignorieren die Erkenntnisse der Wissenschaft“, schrieb DIE ZEIT vor Kurzem.[iv] Das gilt auch für die politische Ebene der Aufsichtskommissionen. Wie anders ist es zu erklären, dass so viele Schulbehörden schönen Schalmeien aufsitzen und Schulleitungen stützen, die ihre gewagten Theorien und inkonsistenten Konzepte gegen langjährige operative Praxiserfahrung durchdrücken? Die Schule Wigoltingen mit dem Narrativ des „autonomen Lernens“ ist kein Einzelfall. Leidtragende sind die Kinder. Sie aber haben ein Recht auf einen lernwirksamen Unterricht. Hier wird Widerstand zur moralischen Pflicht.

[i] Jörg Krummenacher, An den Schulen lebt der Filz, in: NZZ 23.06.2019, S. 14.

[ii] Sabrina Bächi, Mehr Niveau für die Schüler, in: St. Galler Tagblatt 04.01.2019, S. 29.

[iii] Dies., Wigoltinger Lehrer fordern Schulleiter zur Kündigung auf, in: St. Galler Tagblatt, 05.04.2019.

[iv] Nina Kolleck, Das grosse Desinteresse, in: DIE ZEIT, 27.09.2018, S. 67.

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