Chancengerechtigkeit - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 17 Apr 2024 05:48:16 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Chancengerechtigkeit - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Szenen einer leidenschaftlichen Podiumsdiskussion https://condorcet.ch/2024/04/szenen-einer-leidenschaftlichen-podiumsdiskussion/ https://condorcet.ch/2024/04/szenen-einer-leidenschaftlichen-podiumsdiskussion/#comments Mon, 15 Apr 2024 06:36:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=16486

«Die Starke Volksschule Zürich hat am letzten Donnerstag in Zürich ein Podium organisiert, auf dem leidenschaftlich zum Thema integrative Schule gestritten worden; dies im Lichte einer kantonalen Initiative zur Wiedereinführung von Förderklassen. Die Gegnerinnen der Vorlage gaben zwar zu, dass das System die «normalen» Kinder am Lernen hindert, von Förderklassen wollen sie trotzdem nichts wissen. Das Publikum sah es anders. Die neue Condorcet-Autorin, Claudia Wirz, berichtet.

The post Szenen einer leidenschaftlichen Podiumsdiskussion first appeared on Condorcet.

]]>

Das allgemeine Unbehagen über die Entwicklung der Volksschule ist gross. Immer mehr finanzielle Ressourcen werden in die Schule gesteckt, während die Leistungsüberprüfungen immer schlechtere – oder wie es Podiumsteilnehmer und Condorcet-Autor Roland Stark nannte – lausigere Resultate zu Tage fördern. Die integrative Schule, die auf internationalistischen Gerechtigkeitsvorstellungen beruht und vorgibt, dass alle Kinder in der Regelklasse unterrichtet werden sollen, sei am Anschlag, sagte die Zürcher FDP-Gemeinderätin, Schulleiterin und Condorcet-Autorin Yasmine Bourgeois in einer kurzen Einführung zum Podiumsanlass.

Claudia Wirz, freie Journalistin, seit April auch für den Condorcet-Blog schreibend.

Bourgeois ist Co-Präsidentin der  kantonalzürcherischen Volksinitiative , die eine Rückkehr zu den Förderklassen fordert. Die im Sammelstadium befindliche Vorlage will damit vor allem Ruhe ins Klassenzimmer bringen und die Lehrpersonen entlasten, auf dass diese sich wieder aufs Schule Geben konzentrieren können. Mit dem heutigen integrativen System werde man weder den Regelschülern noch den Verhaltensauffälligen oder Lernschwachen gerecht, sagte Bourgeois. Die Initiative will deshalb das Recht auf einen Platz in einer Förderklasse festschreiben. Die Förderklasse wiederum soll die Reintegration in die Regelklasse zum Ziel haben.

Integration vor Bildung

Die beiden Gegnerinnen der Initiative wollten davon nichts wissen. Ursula Sintzel von der SP, Rechtsanwältin und Präsidentin der Kreisschulbehörde Letzi, beschrieb das Konzept Förderschule als «Abschiebung», was für die Betroffenen verletzend sei und der Willkür der Entscheider, insbesondere der Lehrpersonen, Tür und Tor öffne. Dem pflichtete die grüne Kantonsrätin und Soziologin Karin Fehr Thoma bei. Zudem warnte sie davor, die Kleinklassen zu idealisieren, ohne allerdings dafür Argumente zu liefern. Sie gab allerdings an, dass integrierte Kinder später erfolgreicher seien als solche aus Kleinklassen. Juristin Sitzel hält Förderklassen ausserdem für rechtswidrig. Sie widersprächen dem Gleichstellungsgebot.

Das Gleichstellungsgebot steht für Sintzel also offenbar über dem Bildungsauftrag der Schule. Sintzel gab nämlich indirekt zu, dass Verhaltensauffällige und Lernschwache die anderen Kinder am Lernen hindern.

Das Gleichstellungsgebot steht für Sintzel also offenbar über dem Bildungsauftrag der Schule. Sintzel gab nämlich indirekt zu, dass Verhaltensauffällige und Lernschwache die anderen Kinder am Lernen hindern. So glaubt sie nicht, dass eine Reintegration in die Regelklasse gelingen kann, weil die Regelklasse ohne die Störungen schneller vorankomme und die Förderklassenkinder so den Anschluss verpassten. Sintzel gab auch zu, dass die Konzentration der Kinder durch Störungen aller Art zunehmend leide. Sie rief deshalb dazu auf, den Unterricht einfach an die verminderte Konzentrationsfähigkeit der Kinder anzupassen.

Roland Stark, SP-Mitglied, Heilpädagoge: Gefängniswärter oder Pädagoge?

Roland Stark wiederum, ebenfalls SP-Mitglied und erfahrener Heilpädagoge, fand es verletzend, dass Förderklassen und deren Lehrpersonal mit Begrifflichkeiten wie «Abschiebung» und «Ausgrenzung» assoziiert werden. Manchmal komme es ihm vor, als werde er als Gefängniswärter gesehen und nicht als Pädagoge. Die Schaffung von Förderklassen hält er für pädagogisch dringend notwendig.

Volksschule als Problemverwaltungszone

Das Publikum, das sich beileibe nicht nur politisch mitte-rechts verortete, reagierte auf die oft halsstarrigen Positionen der Förderklassengegnerinnen grösstenteils mit Kopfschütteln. Ein mittlerweile pensionierter Lehrer warf Sintzel und Thoma vor, Schule nur noch als Ort der Problemverwaltung zu verstehen und nicht als Ort der Bildung. Über das Lesen, Schreiben und Rechnen hatten die beiden Förderklassengegnerinnen den ganzen Abend lang nämlich kein einziges Wort verloren. Eine als Heilpädagogin tätige dreifache Mutter konstatierte, wie froh sie darüber sei, dass sie ihren jüngsten Sohn dank eines Stipendiums nicht der Volksschule anvertrauen müsse, sondern an eine Privatschule schicken könne, die seine musischen Begabungen fördere. Eine erfahrene Berufsschullehrerin mahnte, dass Kinder und Jugendliche im geführten Unterricht am meisten lernten und Roland Stark meinte in der von NZZ-Redaktor Robin Schwarzenbach geführten Diskussion, dass die unselige Akademisierung des Lehrerberufs hinterfragt werden müsse.

Kein einziges Votum aus dem Publikum stützte die Argumentation von Sintzel und Thoma. Wäre an diesem Abend über die Initiative zur Einführung von Förderklassen abgestimmt worden, sie wäre haushoch, wenn nicht gar einstimmig angenommen worden.

The post Szenen einer leidenschaftlichen Podiumsdiskussion first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/04/szenen-einer-leidenschaftlichen-podiumsdiskussion/feed/ 2
Diskussionen um Integration, Notengebung und Chancengerechtigkeit flammen neu auf https://condorcet.ch/2024/03/diskussionen-um-integration-notengebung-und-chancengerechtigkeit-flammen-neu-auf/ https://condorcet.ch/2024/03/diskussionen-um-integration-notengebung-und-chancengerechtigkeit-flammen-neu-auf/#respond Sun, 10 Mar 2024 10:42:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=16122

Und wieder eine Neuerung im Condorcet-Blog: Wie angekündigt, finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, den zweiwöchentlichen Newsletter der "Starken Volksschule Zürich" nun jeweils als Beitrag in unserem Condorcet-Blog. Als Autoren wechseln sich Marianne Wüthrich und Hanspeter Amstutz ab. Den Beginn macht heute Marianne Wüthrich. Die beigelegten Artikel sind unten verlinkt.

The post Diskussionen um Integration, Notengebung und Chancengerechtigkeit flammen neu auf first appeared on Condorcet.

]]>
Neu: Der Newsletter der Starken Volksschule Zürich als Artikel bei uns zu lesen.

 

Wir laden Sie herzlich ein zum Podiumsgespräch, das die «Starke Volksschule Zürich» am Donnerstag, den 11. April, zum Thema «Förderklassen» organisiert. Im Kanton Zürich werden zurzeit die Unterschriften für die kantonale «Volksinitiative für eine Schule mit Zukunft – fördern statt überfordern» gesammelt. Wir freuen uns, wenn Sie diese unterschreiben und weitere Unterschriften sammeln. Unterschriftenbögen finden Sie unter https://www.schule-mit-zukunft.ch, oder Sie nehmen nach dem Podiumsgespräch ein paar Bögen mit.

 

Die «Starke Volksschule Zürich» setzt sich seit Jahren für eine Volksschule ein, die jedem Kind eine adäquate Lernsituation bietet. Weil dies für Kinder mit besonderem Förderbedarf in der Regelklasse oft nicht möglich ist, fordern immer mehr Fachleute quer durch die Schweiz die Errichtung von heilpädagogisch geführten Klein- oder Förderklassen. Damit wäre auch in den Regelklassen ein geordneter Unterricht möglich, was allen Schülern und Lehrkräften zugutekäme.

Vor einem Jahr haben zwei Kantonsrätinnen eine diesbezügliche Anfrage an den Regierungsrat gestellt, die wir in diesem Newsletter veröffentlichen. In seiner Antwort bestätigt dieser, dass die Gemeinden gemäss kantonalem Recht Kinder und Jugendliche mit besonders hohem Förderbedarf in Kleinklassen unterrichten können. Diese Klassen haben keinen Sonderschulstatus, sondern ihr Ziel ist der Übertritt in die Regelklasse, sobald ein Schüler «im Rahmen des Regelklassenunterrichts angemessen gefördert werden kann».

Förderklassen sind eine Chance für eine bessere Schullaufbahn

Genau dasselbe Ziel – aber mit Zugang für alle Kinder, wenn Bedarf besteht – hat die Förderklassen-Initiative, die Sie am 11. April mit unseren Referenten diskutieren können. Im Gegensatz zur Initiative beharrt der Regierungsrat jedoch auf der «Tragfähigkeit des Regelsystems», das mit den bekannten, aber ungenügenden Mitteln (Beratung und Unterstützung, Klassenassistenzen usw.) oder mit den pädagogisch verfehlten Schulinseln «getragen» werden soll.

Zur nach wie vor herumgeisternden, aber rechtlich nicht haltbaren Behauptung, die Führung von Kleinklassen sei «völkerrechtswidrig», publizieren wir einen bereits vor einigen Jahren erschienenen Artikel von Roland Stark, einem unserer Referenten («Integrativer Zwischenruf aus Basel-Stadt. Romantik statt Praxiserfahrung».) Darin hält er fest, dass in der Erklärung von Salamanca von 1994 an keiner Stelle stehe, «dass Sonderschulen abzuschaffen seien.» Dies steht übrigens auch in keinem anderen internationalen Vertrag oder Schweizer Gesetz. Roland Stark: «Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische Fragen, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.»

Diese pädagogisch-psychologische Dimension des Problems haben uns am letzten Vortragsabend die beiden Heilpädagogen Eliane Perret und Riccardo Bonfranchi nähergebracht. Zur Vertiefung des Themas empfehlen wir Perrets Artikel «Das Menschenbild entscheidet – Psychiatrie versus Pädagogik».

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte: Noten sind eine Hilfe.

Was von den Noten erwartet werden kann und was nicht

Einen hilfreichen Überblick zur Notendebatte gibt uns Carl Bossard, mit Hinweisen auf die pädagogische Literatur und auf politische Vorstösse: Noten als nützliche Hilfe, um Eltern, Lehrbetriebe und die Schüler selbst über deren Lernleistung zu informieren. Einen pädagogischen Wert haben Noten an sich nicht, so der Autor, sondern nur in Verbindung mit «einem wertschätzenden Umfeld, in einer positiven und ermutigenden Atmosphäre».

Bossard stört sich zu Recht am Vorpreschen des Schulleiterverbands-Präsidenten Thomas Minder, der die Noten abschaffen will, entgegen den Mehrheitsmeinungen in der Politik und der Bevölkerung. So hat zum Beispiel der Zürcher Kantonsrat vor knapp zwei Jahren mit deutlichem Mehr am Semesterzeugnis mit Noten festgehalten und einen diesbezüglichen Antrag auf Änderung des Volksschulgesetzes abgelehnt.

Die Volksschule zu stärken ist dringender als das Beurteilungssystem zu ändern

Selbstverständlich kann die Notengebung zuweilen voreingenommen und ungerecht ausfallen, vor allem wenn es nicht um Richtig/Falsch-Antworten, sondern zum Beispiel um Aufsätze geht. Aber die Kritik an den Schulnoten lenkt unsere Aufmerksamkeit in die falsche Richtung, so Nationalrätin und Bildungspolitikerin

Katja Christ, Nationalrätin GLP: Die Schule hat wichtigere Probleme.

Katja Christ. Sie weist darauf hin, dass die Schule ernsthaftere Probleme hat: «Der gravierende Lehrermangel gefährdet die Unterrichtsqualität, ein Viertel der Volksschulabgängerinnen und -abgänger ist nicht in der Lage, einen einfachen Text zu verstehen, die aus dem Ruder gelaufene Integration belastet die Regelklassen und die Überfrachtung der Lehrpläne führt zu Beliebigkeit.» Oder in den Worten Carl Bossards: Die Abkehr vom Notenmodell «ist ein unnötiges Drehen an einer (Neben-)Stellschraube, ohne den Blick auf das systemische Ganze mit den anspruchsvollen Lehr- und Lernprozessen zu richten.»

Richten wir unseren Blick also auf das Wesentliche. Als Folge der schweren Mängel in den Lehrplänen und der Lehrerbildung hat es sich längst herumgesprochen, dass die Fünfer oder Sechser im Oberstufenzeugnis vieler Schulabgänger oft nicht der Realität entsprechen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Lehrbetriebe sich selbst ein Bild von den Kenntnissen und Fertigkeiten ihrer Schnupperlehrlinge machen wollen und sie zusätzlich zu praktischen Aufgaben auch firmen- oder branchenentwickelte Aufnahmetests lösen lassen. Für eine Berufslehre muss man Betriebsanleitungen und Fachbücher lesen und verstehen können, man muss Arbeitsrapporte schreiben, mathematische Formeln anwenden oder einen Verkaufspreis kalkulieren, mit Hammer und Schraubenzieher richtig umgehen oder das Zehnfingersystem beherrschen und dazu die nötigen sozialen Kompetenzen mitbringen. Es ist die Pflicht und Schuldigkeit der Volksschule, unserer Jugend all das und noch viel mehr mitzugeben. Damit sind wir schon mitten im Thema Chancengleichheit.

Verbesserung der Chancengleichheit ist ein Auftrag der Volksschule

Regelmässig mit den ersten Primeli wächst im Kanton Zürich und anderswo die Aufregung um die Gymi-Prüfungen, und in den Medien wird einmal mehr die Frage der Chancengleichheit aufgeworfen.

Es ist nichts Neues, dass auf dem Zürichberg oder an der Goldküste prozentual mehr Jugendliche ins Gymi gehen oder zumindest die Prüfung versuchen als in Schwamendingen oder im Tösstal. Diese Tatsache mit den unterschiedlichen Durchschnittseinkommen in den betreffenden Stadtkreisen, Gemeinden oder Regionen zu erklären («Je reicher, desto eher ins Gymnasium»), ist allerdings ziemlich oberflächlich. Klar können nicht alle Eltern ihren Kindern Privatstunden bezahlen. Zu begrüssen ist, dass viele Zürcher Volksschulen kostenlose Vorbereitungskurse anbieten, was nächstens obligatorisch werden könnte, so Daniel Schneebeli im Tages-Anzeiger.

Der Kern der Chancengleichheit ist aber ein ganz anderer: Gerade weil die Kinder zuhause nicht alle gleich gut gefördert werden (können), wurden im 19. Jahrhundert die Volksschulen errichtet. Ihre Aufgabe ist es auch heute, allen Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen und damit zu mehr Chancengleichheit beizutragen. Diese Pflicht ist in den kantonalen Volksschulgesetzen verankert. Nach dreissig Jahren mehrheitlich haarsträubender Schulreformen kommt die heutige Volksschule ihrem gesetzlichen Auftrag höchstens ansatzweise nach. Das bestätigt unser Redaktionskollege Hanspeter Amstutz in seinem Leserbrief zum «Bedeutungsverlust des Fachs Geschichte». Ebenso der Rektor der Kantonsschule Uetikon, Martin Zimmermann, in seinem sehr lesenswerten Interview («Wir müssen viele Schüler enttäuschen»). Er sagt: «Viele erwarten, dass die für alle gleiche Prüfung die ungleichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen ausgleicht. Aber dafür ist es beim Übertritt an die Mittelschule zu spät. Das muss viel früher passieren.» Und weiter: «Viele Eltern machen sich Sorgen, dass der reguläre Unterricht nicht das abdeckt, was an der Gymiprüfung verlangt wird.» Das gilt übrigens auch für die Berufslehren.

Ist das nicht verrückt? Wenn die Volksschule das Wissen und die Fähigkeiten nicht abdeckt, die ein Jugendlicher für das Gymnasium oder für eine Berufslehre benötigt, dann ist es mit der Chancengleichheit nicht weit her – so einfach ist das. Deshalb brauchen wir Förderklassen für diejenigen Kinder, die in der Regelklasse unterzugehen drohen, und deshalb muss die Volksschule wieder ihren Auftrag erfüllen, den das Zürcher Volksschulgesetz in § 2,4 vorschreibt: «Die Volksschule vermittelt grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten; sie führt zum Erkennen von Zusammenhängen. Sie fördert die Achtung vor Mitmenschen und Umwelt und strebt die ganzheitliche Entwicklung der Kinder zu selbstständigen und gemeinschaftsfähigen Menschen an. Die Schule ist bestrebt, die Freude am Lernen und an der Leistung zu wecken und zu erhalten.»

Nun wünschen wir viel Freude am Lesen.

Marianne Wüthrich

Den ganzen Newsletter können Sie hier herunterladen:

https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/03/Newsletter-240310.pdf

 

 

 

 

The post Diskussionen um Integration, Notengebung und Chancengerechtigkeit flammen neu auf first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/03/diskussionen-um-integration-notengebung-und-chancengerechtigkeit-flammen-neu-auf/feed/ 0
Eine gerechte(re) Bildung?! https://condorcet.ch/2024/02/eine-gerechtere-bildung/ https://condorcet.ch/2024/02/eine-gerechtere-bildung/#comments Mon, 26 Feb 2024 16:49:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=16016

Wir publizieren hier einen Beitrag des ehemaligen Schulleiters Jürg Leuenberger, der mit seinem Text auch im Condorcet-Blog eine Debatte über die Bildungsgerechtigkeit und eine überfällige Abschaffung der Selektion anstossen möchte.

The post Eine gerechte(re) Bildung?! first appeared on Condorcet.

]]>

Ausgangspunkt für meine Überlegungen ist die Frage nach Gerechtigkeit.  Zugegeben, eine schwierige Frage. Ich neige stark der Haltung von Amartya Sen[i]und Martha Nussbaum[ii] zu, welche sich mit ihrem Befähigungsansatz gegen alles Utilitaristische wenden. Ungemein – allenfalls sogar unzulänglich – verkürzt: Das Gemeinwesen hat alles Zumutbare dafür zu tun, dass sich eine Person gemäss ihren Fähigkeiten entwickeln und an der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben kann. Tut das die Schule? Wenn ich die verschiedenen Studien zur Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten und/oder bildungsfernen Schichten oder solchen, welche bei der Selektion (noch) nicht soweit waren, lese, ist das offensichtlich nicht so. Sei das bei Hochbegabten oder Kindern/Jugendlichen mit Entwicklungsverzögerungen oder Lernstörungen[iii] oder bei Kindern mit sozialer Benachteiligung, wie der Schweizer Wissenschaftsrat 2018 festgestellt und entsprechende Empfehlungen formuliert hat[iv].

Jürg Leuenberger, ehemaliger Schulleiter

Es ist stossend, dass im aktuellen System offenbar eine Ungerechtigkeit innewohnt, ja gepflegt wird, ohne dass sich die Trägerschaft und die Verantwortlichen darum scheren.

Theorie und Praxis

Zugegeben, es ist ein schwieriges Thema und Überlegungen, was denn verändert werden müsste, werden rasch von der grossen Komplexität überstrahlt, welche den Themen rund um die Bildung innewohnt.

Fragen nach der Messbarkeit von Bildung, was denn überhaupt Bildung sei und zu leisten hat, tauchen da auf. Vieles bleibt theoretisch, auch die Ideen und Vorstellungen, was denn wie sein könnte oder müsste. Der Übergang zur Praxis ist dornenvoll.

Konkret sollten aus meiner Sicht die Eigenständigkeit und die Entwicklung vor Ort an erster Stelle stehen. Jede Schule sollte die Möglichkeit haben, sich so zu entwickeln, wie das Kollegium, die Eltern und die Gemeinde das mittragen können. Lehrpersonen und Schulleitungen müssen in die Diskussion einbezogen werden, ja an deren Ursprung stehen. Ihnen muss jedoch von der Politik (und der Gesellschaft) auch signalisiert werden, dass ihre Anstrengungen, Wünsche und Visionen Aussicht auf Erfolg haben. Dazu braucht jede Schule den grösstmöglichen Freiraum. Die Forderung nach Aufhebung der Selektion ist hier nur ein Schlagwort. Eigentlich geht es (mir) um die Neugestaltung und das Überdenken der Schule, ja der Bildung als Ganzes. Wie es Rahel Tschopp im Magazin des TA vom 2.2.24[1] formuliert, eine neue Grammatik der Schule muss her. Auf proEDU[2] sind mittlerweile etliche Schulen zusammengefasst, welche sich aktiv um eine Neuausrichtung und

Rahel Tschopp, Primarlehrerin, schulische Heilpädagogin sowie Schulleiterin, später Studium im Business Coaching und Change Management (Master of Arts): Eine neue Grammatik muss her.

um grundlegende Veränderungen bemühen[3], doch gemessen an den vielen Schulen, welche sich mit dem herkömmlichen System zuweilen schwertun, sind das wenige: Zu Beginn des Schuljahres 2021/22 gab es in der Schweiz 5 436 Schulen auf der Primarstufe 1-2 (Kindergarten/Eingangsstufe), 4 602 auf der Primarstufe 3-8 und 1 614 auf der Sekundarstufe I, also rund 11650 Schulen.[4]

Das System Schule ist (zum Teil noch) verschlossen

Die Schulen (Lehrpersonen und zum Teil Schulleitungen) haben einen Reflex entwickelt, sehr sensibel, ja ablehnend und verschlossen auf jegliche Hinweise aus der Forschung zu reagieren und dieser ihre Praxisferne vorzuhalten. Als Beispiel die Replik von Felix Hoffmann[5] auf das Interview mit Hans Brügelmann[6] oder die Reaktion von Felix Schmutz auf den Artikel von Rahel Tschopp[7] auf condorcet. Man wehrt sich gegen alles, was aus dieser Ecke kommt. Ob all der Streitereien werden die Schulen von der Wirtschaft und der realen Welt überrollt.

Die Schule wird nicht einbezogen

Heute ist es doch so, dass die Wirtschaft der Schule sagt, wie sie zu sein hat, was gute Bildung ist. Seien es Microsoft, Google[8] etc., welche mit immer neuen Tools und Innovationen die Schulen überfluten. Sie sagen und bestimmen massgeblich mit, was “gute” und “richtige” Bildung ist. In ihrem Schlepptau sind es dann die Verlage und Anbieter von Bildungsprodukten[9], welche die entsprechenden Lehr- und Hilfsmittel produzieren. Oder seien es die Sekundarstufe II, die Berufsbildung oder economie suisse[10],  welche durch ihre Forderungen der (Grund-) Schule sagen, was sie brauchen und was diese anders machen müsste. Oft wird dabei “die Schule” angesprochen, ihr vorgehalten, was sie zu tun oder zu lassen hätte. Dabei gibt es “die Schule” so gar nicht und wenn etwas konkret zu werden droht, sind es sofort die Gemeinden und Kantone, welche das Sagen haben und es wird kompliziert.

Nomen est omen – Die Trägerschaft ist träge

So ist auch klar, dass es auf Bundesebene keine Lobbygruppe[11] für “die Schule” gibt und in den Kantonen wird es wohl ähnlich sein. Die Schulen selber haben jedoch immer das Nachsehen, müssen diese und jene Forderung erfüllen. Sie reagieren immer nur und haben kaum Gelegenheit zur aktiven Mitgestaltung. Wenn sie gefragt werden, dann erst im Nachhinein. Sie können allenfalls dazu Stellung nehmen, wie sie nun mit den Anforderungen umzugehen gedenken. Und auch dann sind es lange nicht alle. Viele Lehrpersonen haben gar nicht die Zeit und Geduld an solch wichtigen, jedoch langwierigen Prozessen teilzunehmen. Die Kantone, als Verantwortliche für das Bildungswesen, kommen jeweils mit Verzögerung ins Spiel – politische Prozesse dauern. Wenn der Zug schon lange Fahrt aufgenommen hat, die PICTS und Schulleitungen landauf und -ab sich kundig gemacht und für ihre Schule einen Umgang mit den Neuerungen zurechtgelegt haben, kommen die Erziehungsdepartemente, bzw. Regierungsräte auch in die Gänge und machen sich daran, Leitlinien zum Umgang mit dem Neuen verfassen zu lassen (Beispiel Kanton Bern[12] ).

Eine breite Diskussion mit allen

Die Vorstellung von Bildung und was die Schule leisten soll, muss breit und unter Einbezug der Schulen und ihren Protagonisten diskutiert werden. Aus meiner Sicht muss sich die Vorstellung grundlegend verändern. Vielleicht ist die Forderung nach der Abschaffung der Selektion der erste Schritt auf diesem Weg, vielleicht wäre die Abschaffung der Noten einfacher, ich weiss es nicht. Jedenfalls beobachte ich eine Zunahme der Diskussionen rund um diese Themen – das ist erfreulich. Auch wenn in Diskussionen vor allem aus bürgerlichen Kreisen schnell (Killer-) Argumente wie “zu utopisch” oder “nicht finanzierbar” vorgebracht werden.

Ich bin nicht so naiv, dass ich denke ohne die Selektion oder durch alternative Beurteilungsformen würde alles besser oder selbst der Weg dahin sei einfach.

Aber ohne diese Fragen zu diskutieren, geschieht gar nichts und die Ungerechtigkeiten bleiben bestehen – das stört mich und kann eigentlich auch in niemandes Interesse sein.

 

[1] https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/02/Die-Schule-der-Zukunft.pdf

[2] https://proedu.ch/

[3] Neu bei der Schulvisite – Pro Edu

[4] (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsinstitutionen/schulen.html)

[5] https://condorcet.ch/2024/02/hans-bruegelmann-will-foerderorientierte-rueckmeldungen-eine-replik/

[6] https://condorcet.ch/2024/01/unternehmen-schaetzen-aussagekraft-der-noten-sehr-gering-ein/

[7] https://condorcet.ch/2024/02/eine-bildungsexpertin-weiss-rat/

[8] https://www.microsoft.com/de-ch/education , https://edu.google.com/intl/ALL_ch/

[9] https://www.startup-insider.com/tag/bildung

[10] https://www.economiesuisse.ch/de/artikel/das-notensystem-den-schulen-ist-ungenuegend

[11] https://lobbywatch.ch/de/daten/lobbygruppe

[12] https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=0792e8936cf541dfb0ade0adcd803957 , eingereicht am 14.06.23, wann dann die Richtlinien effektiv in den Schulen ankommen, ist unklar.

[i] https://www.soziopolis.de/amartya-sen.html

[ii] https://wp.uni-oldenburg.de/politische-philosophinnen/martha-nussbaum/

[iii] https://www.bildungsgerechtigkeit.ch/hintergrundwissen/literaturverzeichnis/; https://chanceplus.ch/;

[iv] https://wissenschaftsrat.ch/images/stories/pdf/de/Politische_Analyse_SWR_3_2018_SozialeSelektivitaet_WEB.pdf

The post Eine gerechte(re) Bildung?! first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/02/eine-gerechtere-bildung/feed/ 7
Pisa-Chef rechnet knallhart mit Lehrern ab – und hat dann einen wichtigen Appell https://condorcet.ch/2024/01/pisa-chef-rechnet-knallhart-mit-lehrern-ab-und-hat-dann-einen-wichtigen-appel/ https://condorcet.ch/2024/01/pisa-chef-rechnet-knallhart-mit-lehrern-ab-und-hat-dann-einen-wichtigen-appel/#comments Sun, 21 Jan 2024 14:46:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=15736

Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor und damit Pisa-Chef, ist in Erklärungsnot. Nach 20 Jahren OECD-kompatibler Kompetenzorientierung veschlechtern sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Schleichers Erklärung: Die Lehrkräfte sind schuld.

The post Pisa-Chef rechnet knallhart mit Lehrern ab – und hat dann einen wichtigen Appell first appeared on Condorcet.

]]>
OECD-Bildungsexperte und oberster PISA-Verantwortlicher Andreas Schleicher: Es hapert bei den Fähigkeiten der Lehrkräfte.

Bei der letztjährigen Pisa-Studie schnitten Deutschlands Schüler historisch schlecht ab. Seitdem brennt die Debatte: Was läuft schief an unseren Schulen? Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor und damit Pisa-Chef, sieht eine große Schuld bei den Lehrern.

In einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ rechnet Schleicher mit den deutschen Lehrern ab. Das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler überrascht ihn nicht, er sieht einen „Trend, der sich seit Jahrzehnten abzeichnet.“

Für ihn liegt das auch an den Lehrern. „Deutschland ist beim Lehrerberuf noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Zu viele Lehrer sehen sich in erster Linie als Befehlsempfänger, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan abarbeiten müssen.“

„Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis für Lehrer, die nur darauf pochen, dass sie überlastet seien“

 

Die Verteidigung der Lehrer, man habe zu wenig Zeit und zu große Klassen, um den hohen Anforderungen an den Beruf zu entsprechen, lässt er nicht gelten. Gegenüber der „Stuttgarter Zeitung“ wird Schleicher hier deutlich: „Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis für Lehrer, die nur darauf pochen, dass sie überlastet seien.“

Die deutschen Lehrer sind sehr gut bezahlt.

Er betont: „Die deutschen Lehrer sind im internationalen Vergleich sehr gut bezahlt. Lehrkräfte können sich nicht einfach darauf zurückziehen, dass sie viel zu tun haben – und dass sie sich deshalb nicht gemeinsam mit Kollegen treffen könnten, um bessere Unterrichtskonzepte zu entwickeln.“ Sein knallhartes Fazit: „Eine solche Haltung würde in keinem anderen Job akzeptiert werden.“

Verbesserungsbedarf für den Alltag der Lehrer sieht Schleicher ebenfalls reichlich. Gegenüber der „Stuttgarter Zeitung“ sagt er: „Ich bin allerdings dafür, die Arbeitszeit von Lehrkräften anders zu organisieren und sie insbesondere von Verwaltungsaufgaben zu entlasten.“

Pisa-Chef: So verbessern wir unser Schulsystem ohne zusätzliches Geld

Auch sonst hat Schleicher Verbesserungsvorschläge. Mehr Geld sei „immer gut“, sagt der Pisa-Chef, doch nicht notwendig. Man könne auch „ohne zusätzliches Geld große Verbesserungen erreichen.“ Schleicher erklärt: „Es geht darum, die Mittel dort zu konzentrieren, wo sie am meisten gebraucht werden. Das ist erstens in den Grundschulen und auch schon davor – und nicht so sehr in den Gymnasien.“

Sein zweiter Punkt: Das Geld werde da gebraucht, „wo die Herausforderungen durch Schüler aus armen Familien und mit Migrationshintergrund besonders groß sind.“ Wichtig sei dabei, die Eltern der Schüler mit ins Boot zu holen.

Bildungserfolg zu eng an die soziale Herkunft gekoppelt.

Der Bildungserfolg eines Kindes sei „zu eng an die soziale Herkunft gekoppelt“, sagt Schleicher der „Stuttgarter Zeitung“. „Unsere Idee war bislang: Wir brauchen Schulen, die alle Defizite des Elternhauses ausgleichen. Das war naiv. Die neuen Daten zeigen uns: Wir können es ohne die Eltern nicht schaffen.“

Schleichers Appell an die Lehrer: „Machen Sie sich auf den Weg“

Einen Appell an die Lehrer hat Schleicher auch: „Meine Bitte an die Lehrer ist: Machen Sie sich auf den Weg! Schauen Sie nicht nach oben, sondern im Lehrerzimmer direkt zur Kollegin oder zum Kollegen neben sich. Lehrer können gemeinsam an Schulen viel zum Guten verändern. Dafür braucht es keinen Erlass aus dem Kultusministerium

The post Pisa-Chef rechnet knallhart mit Lehrern ab – und hat dann einen wichtigen Appell first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/01/pisa-chef-rechnet-knallhart-mit-lehrern-ab-und-hat-dann-einen-wichtigen-appel/feed/ 3
Loblied aufs Mittelmass https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/ https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/#respond Tue, 19 Dec 2023 10:29:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15535

Schweizer Schülerinnen und Schüler liegen über dem internationalen Durchschnitt, im Lesen allerdings nur ganz knapp. Ein Viertel versteht einen alltäglichen Text nicht. Das sagt die PISA-Studie. Von der Bildungspolitik hätte man eine Ursachenanalyse erwartet. Doch sie redet die Resultate schön und gibt ihnen das Prädikat «gut» bis «sehr gut». Die Politik betone das Relativierende, sagt Condorcet-Autor Carl Bossard, und negiere das Unerfreuliche, den Trend nach unten in den Kulturtechniken.

The post Loblied aufs Mittelmass first appeared on Condorcet.

]]>

Schule und Unterricht seien ein Subsystem der Bildungspolitik; so jedenfalls sieht es der Systemtheoretiker Niklas Luhmann.[1] Steuern müsse die Politik. Seit Jahren aber sind Bildungsexperten und Bildungsreformer am Werk. Sie bestimmen den Kurs, und die Bildungspolitik rudert mit. Verstärkt nach der ersten PISA-Studie von 2000. Hier schlug ihre Stunde. Seither wurde unser Bildungslandschaft radikal reformiert und umstrukturiert.

Carl Bossard: Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Deutlicher Trend nach unten – trotz vieler Reformen

Alles sollte sich ändern. Erhofft und versprochen haben die Reformpromotoren bessere Lernleistungen unserer Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil. Nach einem leichten Anstieg wurden die Ergebnisse nach 2010 im internationalen Vergleich wieder schwächer. Es kam zu einem deutlichen Abwärtstrend in den Kulturtechniken. Seit über zehn Jahren sinken die Leistungen in den geprüften Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften kontinuierlich Und dies, obwohl wir heute zweieinhalb Mal so viel ins Bildungssystem investieren wie 1996, nämlich über 41 Milliarden Franken.[2] Weltweit wohl am meisten.

Signifikanter Anstieg schwacher Leserinnen und Leser

Das «Programme for International Student Assessement» (PISA) untersucht alle drei Jahre, wie gut 15-Jährige am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit alltagsrelevante Aufgaben in Mathematik, im Lesen und in den Naturwissenschaften lösen können. Spitzenreiter sind Jugendliche aus den asiatischen Staaten Singapur, Japan, Taiwan und Südkorea; im europäischen Raum ist es Estland. Für die Studie verantwortlich zeichnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

In der jüngsten Studie 2022 liegen die 15-​jährigen Jugendlichen in der Schweiz zwar über dem OECD-​Durchschnitt. Zufrieden sein darf man einzig mit dem Bereich Naturwissenschaft. Hier wurde der Trend nach unten gestoppt. Sorgen bereitet aber die grösser werdende Zahl lernschwächerer Schülerinnen und Schüler. Statistisch signifikant gestiegen ist der Anteil schwacher Leserinnen und Leser. 25 Prozent der geprüften Jugendlichen können nur ungenügend lesen. Einen alltagsnahen Text können sie zwar entziffern, verstehen ihn aber nicht. In Mathematik erreichen 20 Prozent die Mindestkompetenzen nicht. Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Unterschiedliche Wahrnehmungen für das Gleiche

Die Zahl benachteiligter Schülerinnen und Schüler steigt. Da stimmt doch das Prädikat von «guten» bis «sehr guten» Resultaten nicht. Die positive Einschätzung stammt von der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner; sie präsidiert die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Ob die offizielle Bildungspolitik hier nicht schönredet und sich mit dem noch schwächeren Abschneiden vergleichbarer Länder tröstet? Die Botschaft – PR-mässig orchestriert und professionell inszeniert – hört man wohl, allein es fehlt der Glaube.

Ganz anders reagiert Deutschland. Unser nördliches Nachbarland ist in Mathematik markant zurückgefallen; beim Lesen allerdings liegt es nur wenig hinter der Schweiz. Trotzdem sprechen die Medien von einem «neuen PISA-Debakel»[3] oder vom «Pisa-Schock 2»,[4] gar von einem «Scherbenhaufen».[5] Beim Rückgang der Lesefähigkeit sei es «kein Trost, dass es um sie in Österreich und der Schweiz nicht viel besser [als in Deutschland] bestellt ist», schreibt beispielsweise der FAZ-Feuilleton-Redaktor Jürgen Kaube.[6]

Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion.

Wiederkehr des ewig Gleichen

Auch bei den Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen spricht die deutsche Bildungspolitik Klartext. Sie fordert in der Primarschule ein konsequentes Hinführen auf die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. «Angesichts der veränderten Schülerschaft müssen wir mehr Zeit und Konzentration für das Erlernen der Basiskompetenzen» einsetzen, betont der Hamburger Schulsenator Ties Rabe.[7] Das brauche genügend Zeit zum Üben, fügt er gleich bei. Rabe hat Hamburgs Schulen vorangebracht. Mit seinem Postulat steht er darum nicht allein.

Nach solchen Tönen sucht man bei der Schweizer Bildungspolitik vergebens. Die offizielle Bildungspolitik flüchtet sich in schon Gehörtes und bereits Bekanntes. Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion. Mädchen hätten halt Angst vor der Mathematik, und es bräuchte mehr Fördermassnahmen sprich Geld. Vergessen geht der Blick ins Klassenzimmer und auf den Unterricht. In diesen Kern hinein zoomen die Analysen nicht. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen und den minimierten Übungszeiten, keine Zeile zu den Methoden, kaum ein Hinweis auf die zunehmend schwierigeren Arbeitsbedingungen im pädagogischen Parterre mit der anspruchsvollen Integrationsleistung. Dabei spielen Lehrerinnen und Lehrer und ihr guter, konkreter Unterricht vor Ort die Schlüsselrolle. Unterricht ist ein lokales Geschehen. Das zeigt die Forschung; doch das steht nicht im Fokus der Kommentare.

Sozioökonomische Disparitäten

Chancengleichheit sinkt

Der Zuschnitt der PISA-Studien misst und vergleicht; er zeigt Zahlen und Tendenzen. Die Ursachenanalyse muss vor Ort erfolgen. Im Grunde aber bringt der Befund von 2022 nicht viel Neues. Wir wissen es seit über zehn Jahren: Die Lernleistungen in den Basisfächern sinken. Was dabei bedrückt und vermutlich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Im Gegenteil! Die Zahl der eher schwächeren Schülerinnen und Schüler nimmt zu. Gerade sie leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn den Lehrkräften Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der heutige Unterricht über das Individualisieren stark auf selbstständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Benachteiligung gewisser Kinder

Aus der Forschung wissen wir, wie wirkungsvoll ein gut geführter und strukturierter Unterricht ist – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‚verstehender Zuwendung‘ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Gerade sozial benachteiligte Kinder seien darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Diese Problematik anzugehen, das sollte doch eine der zwingenden Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen 2022 sein. Allerdings müssten viele Bildungsreformer über den eigenen Schatten springen. Gefordert ist die Bildungspolitik. Sie muss handeln und steuern. Die Bildungsforschung weist den Weg.[8]

 

[1] Niklas Luhmann (2002), Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen/oeffentliche-bildungsausgaben.html [abgerufen: 14.12.2023]

[3] Heike Schmoll, Das neue PISA-Debakel, in: FAZ, 06.12.2023, S. 1.

[4] Uwe Ebbinghaus, Pisa-Schock 2, in: FAZ, 06.12.2023, S. 9.;

[5] Thomas Kerstan, Nachhilfe gesucht, in: DIE ZEIT, 07.12.2023, S. 1

[6] Jürgen Kaube, Kompetenz setzt Kenntnis voraus, in: FAZ, 12.12.2023, S. 9.

[7] Heike Schmoll, Das gab es noch nie, in: FAZ, 06.12.2023, S. 5.

[8] Vgl. die neueste Studie mit 130’000 empirischen Daten zum guten Unterricht: John Hattie (2023), Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of Over 2,100 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, New York: Routledge.

The post Loblied aufs Mittelmass first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/feed/ 0
Wie der Milliarden-Plan für die Brennpunktschulen zerrieben wird https://condorcet.ch/2023/05/wie-der-milliarden-plan-fuer-die-brennpunktschulen-zerrieben-wird/ https://condorcet.ch/2023/05/wie-der-milliarden-plan-fuer-die-brennpunktschulen-zerrieben-wird/#respond Thu, 18 May 2023 10:34:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=14019

Wie können Missstände an deutschen Brennpunktschulen behoben werden? Eine Milliarden-Förderung über zehn Jahre soll helfen – doch ein Alleingang von Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger (FDP) stösst die Länder jetzt vor den Kopf. In Ostdeutschland geht eine besondere Angst um. Ein Bericht der WELT-Journalistin Sabine Menkens.

The post Wie der Milliarden-Plan für die Brennpunktschulen zerrieben wird first appeared on Condorcet.

]]>

Eigentlich sollte es das zentrale Projekt der Ampel-Regierung werden, um mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung zu erreichen. Doch jetzt droht das lange erwartete „Startchancenprogramm“, mit dem 4000 Brennpunktschulen zehn Jahre lang mit einer Milliarde Euro pro Jahr vom Bund gefördert werden sollen, schon vor dem Start im Schuljahr 2024/25 im Hickhack zwischen Bund und Ländern zerrieben zu werden.

Sabine Menkens, Gastautorin und WELT-Journalistin

Seit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) vergangene Woche ohne Abstimmung mit den Kultusministern der Länder ein Eckpunktepapier für das Programm vorlegte, ist offener Streit ausgebrochen. „Mit seinem einseitigen Vorpreschen verhält sich der Bund wie der Elefant im Porzellanladen“, schimpft Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU). „Es kann nicht sein, dass die Länder aus der Zeitung erfahren müssen, wie der Bund sich das Konzept zum Startchancenprogramm vorstellt“, sagt Piwarz WELT. „Ich rufe den Bund zur Besinnung und zur Rückkehr auf den konstruktiven, gemeinsamen Verhandlungsweg auf.“

Startchancen-Programm auf kommunikativen Abwegen

Auf die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), warten jetzt komplizierte Verhandlungen. Zentrale Streitpunkte sind zum einen die Verteilung der Mittel an die Länder und zum anderen die vom Bund geforderte Co-Finanzierung. Nach dem Eckpunktepapier des Bundesbildungsministeriums sollen die Länder die Zuwendungen des Bundes in gleicher Höhe mitfinanzieren. Statt einer Milliarde Euro im Jahr sollen also insgesamt zwei Milliarden Euro über das Startchancenprogramm an die 4000 ausgewählten Brennpunktschulen fließen.

Zentrale Streitpunkte sind zum einen die Verteilung der Mittel an die Länder und zum anderen die vom Bund geforderte Co-Finanzierung.

Für die Länder enthält das Papier aber einen entscheidenden Haken. Denn Stark-Watzinger besteht darauf, dass bereits bestehende Programme der Länder wie etwa die „Talentschulen“ in NRW oder die „Perspektivschulen“ in Schleswig-Holstein beim neuen Programm nicht als Eigenleistung angerechnet werden dürfen. „Bestehendes Engagement darf nicht durch das Startchancen-Programm substituiert werden, damit mit dem Programm zusätzliche Effekte im System erzielt werden können“, heißt es dazu in dem Papier. Eine harte Nuss vor allem für die Länder, die sich bereits jetzt überdurchschnittlich engagieren.

Zweiter Knackpunkt ist die Verteilung der Mittel an die Länder. Stark-Watzinger besteht darauf, dass sie nicht mit der Gießkanne, sondern nach Bedürftigkeit vergeben werden. Der Ministerin schwebt eine Verteilung nach Sozialindizes vor: Zu 40 Prozent soll der Anteil der Schüler zugrunde gelegt werden, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, zu 40 Prozent die Armutsgefährdungsquote und zu 20 Prozent das negative Bruttoinlandsprodukt. So soll erreicht werden, dass mehr Geld bei tatsächlich sozial benachteiligten Schülern ankommt. Profiteure wären also eher die Bundesländer mit schwieriger Sozialstruktur.

„Bund hat keine Fachkompetenz“

Viele Punkte in dem Konzept sind noch in eckige Klammern gesetzt – ein Hinweis darauf, dass hier noch Verhandlungsmasse ist. Dennoch sorgte das Papier bei den Kultusministern für Empörung. Denn die Länder haben ihrerseits ebenfalls in monatelanger Arbeit an einem Eckpunktepapier gearbeitet, in dem sie sich auch auf einen Verteilmechanismus geeinigt haben. Danach sollen 95 Prozent nach dem üblichen Königsteiner Schlüssel verteilt werden, der sich nach der Einwohnerzahl und den Steuereinnahmen richtet, und fünf Prozent in einen „Solidarfonds“ fließen. Ein Vorschlag, der bei Bildungswissenschaftlern einhellig auf Kritik stieß. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger, bezeichnete den Solidarfonds gar als „läppisch“.

“Es kann nicht sein, dass wir unsere eigenen Programme im Zuge des Startchancen-Programms zurechtkürzen müssen.”

Die Länder wiederum sind schwer verstimmt, dass ihre Vorschläge in das Eckpunktepapier keinen Eingang gefunden haben – und sie überdies erst aus den Medien davon erfahren haben. „Der Bund hat keine Fachkompetenz in Sachen Bildung, das zeigt sich in vielen Details des Vorschlages, den die Presse bekam, noch bevor die Länder ihn kannten“, sagt Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU). „Den Vorschlag von Frau Stark-Watzinger kann man aktuell nur so zusammenfassen: zu spät, zu wenig und zu bürokratisch.“

Deutschland streitet um die Verbesserung der Startchancen für Kinder an Brennpunktschulen.

Eine Co-Finanzierung von 50 Prozent durch die Länder komme „unter keinen Umständen in Betracht“, sagt Prien WELT. „Die Länder finanzieren schon jetzt 90 Prozent der Bildung. Es kann nicht sein, dass wir unsere eigenen Programme im Zuge des Startchancen-Programms zurechtkürzen müssen. Das ist, als würden wir einen gut laufenden Motor auseinandernehmen, um dann aus den Teilen etwas zusammenzuschrauben, von dem wir jetzt schon wissen, dass es stottert, rattert und nicht funktioniert.“

Harte Kritik kommt auch aus Sachsen. Dort stößt man sich vor allem daran, dass das Konzept so stark auf den Migrantenanteil abstelle. Diese Sichtweise verkürze die Realität und sei für den Freistaat nicht akzeptabel, heißt es aus dem Bildungsministerium.

Migrationshintergrund und Sozialhilfebezug seien nur zwei von vielen Kriterien, an denen sich erschwerte Ausgangslagen festmachen ließen, sagt eine Sprecherin. „Soziale Benachteiligung in den ostdeutschen Ländern ist auch bedingt durch demografische Faktoren und Strukturwandel, belastend sind zudem Nachwirkungen von Transformationsprozessen.“ Die ostdeutschen Länder mit ihren spezifischen Problemlagen insbesondere in den ländlichen Regionen dürften deshalb bei der Verteilung „nicht systematisch hinten runterfallen“.

Scherben einsammeln und Vertrauensverhältnis kitten

KMK-Präsidentin Günther-Wünsch kündigt an, jetzt schnell mit Stark-Watzinger das Gespräch zu suchen. „Meine Aufgabe ist es jetzt, die Scherben wieder einzusammeln und das Vertrauensverhältnis wieder zu kitten. Das übergeordnete Ziel ist es, das Startchancenprogramm 2024 zum Laufen zu bringen.“

Ein Sprecher des Bundesbildungsministeriums sagt dazu, in das Konzeptpapier seien Empfehlungen aus Wissenschaft und Praxis ebenso eingeflossen wie die Erfahrungen aus den Ländern. „Der Vorschlag hat viel Zuspruch erhalten und dient nun als Grundlage für Verhandlungen mit den Ländern.“

“Das Grundgesetz verpflichtet zu gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland, die Chancen sind aber maximal unterschiedlich verteilt.”

Rückenwind erhält Stark-Watzinger von Bildungspolitikern der Ampel-Koalition. Ria Schröder, bildungspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, nannte das Konzept gar einen „Meilenstein für mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland“. „Insbesondere die Abkehr vom Königsteiner Schlüssel ermöglicht den zielgerichteten Einsatz von Mitteln, da wo sie am meisten benötigt werden“, so Schröder.

Das Grundgesetz verpflichte zu gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland, die Chancen seien aber maximal unterschiedlich verteilt. „Statt politischem Klein-Klein und billiger Polemik sollten die Länder konstruktiv mit dem Bund und den Kommunen zusammenarbeiten.“

The post Wie der Milliarden-Plan für die Brennpunktschulen zerrieben wird first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/05/wie-der-milliarden-plan-fuer-die-brennpunktschulen-zerrieben-wird/feed/ 0
Wie viel darf’s denn sein? https://condorcet.ch/2023/05/wie-viel-darfs-denn-sein/ https://condorcet.ch/2023/05/wie-viel-darfs-denn-sein/#comments Mon, 08 May 2023 05:00:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=13839

Seit geraumer Zeit wird den Lehrkräften dieses Landes ein neues Instrument in Kampf gegen Ungleichheit und für mehr Chancengerechtigkeit aufgedrängt. Pikant: Niemand weiss, wie viele Schüler von diesen Erleichterungen profitieren. Condorcet-Autor Alain Pichard über eine Illusion im Zeitalter der Grundkompetenzen.

The post Wie viel darf’s denn sein? first appeared on Condorcet.

]]>

Es geschah bei einem Übergabegespräch zwischen den Lehrkräften der 6. Klässler und den Kolleginnen der Oberstufe. Eine jüngere Kollegin monierte bei einem ihrer Abgänger eine eklatante Leseschwäche. Man müsse, so die besorgte Lehrerin, dem Jungen auch im Fach Mathematik die Testaufgaben vorlesen. Denn nur so könne er im Sekundarniveau bleiben.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission.

Die designierte Klassenlehrerin entgegnete, das werde sie sicher nicht machen. «Dann», so die sichtlich verärgerte Junglehrerin, «müsse er an eine andere Schule gehen.» Der Klassenlehrerin fiel in Anbetracht der bevorstehenden Klassengrösse nichts weiter ein, als mit «Viel Glück» zu antworten.

Natürlich kam der Junge zu ihr, und natürlich gab es kein Vorlesen während des Matheunterrichts und, wie von der Junglehrerin vorausgesagt, wechselte der vermeintlich geschützte Jüngling ins Realniveau. «Dort», so meinte die Klassenlehrerin, «gedeiht er recht gut und erreicht die minimalen Kompetenzen». Auch seine Lesefertigkeit verbessere sich. Er müsse halt daran arbeiten, und das tue er auch.

Seit einiger Zeit müssen wir auch bei unserer Empfehlung fürs Gymnasium der dortigen Aufnahmebehörde mitteilen, wenn ein Nachteilsausgleich vorliegt. Das tat eine sehr beflissene Kollegin im Falle von Marco G.*, dessen Rechtschreibung nie bewertet wurde. Diagnose: Legasthenie. Marco erhielt die Gymnasialempfehlung und trat in die Quarta ein. Als der erste schriftliche Test anstand, nahm Marco seinen ganzen Mut zusammen und wies auf seine Diagnose hin. Der verdutzte Gymnasiallehrer sah ihn an und fragte: «Und jetzt?» Marco meinte, er dürfe nicht wie die anderen bewertet werden, weil er ja eine ausgewiesene Rechtschreibeschwäche hätte. «Aha», antwortete sein Lehrer, «okay, dann nimm mal den Duden, du darfst ihn benutzen.» Marco trat nach einem Jahr aus dem Gymnasium aus und absolviert zurzeit eine Elektronikerlehre. Die Rechtschreibeschwäche wird ihn wohl immer noch begleiten, aber an seinem Bestehen der Abschlussprüfung besteht kein Zweifel. Er ist ein guter Lehrling glücklich mit seinem Lebensentscheid. Dieser Nachteilsausgleich, sagte er mir vor Kurzem, sei nur wegen der Intervention seines Vaters erfolgt. Aber der sei jetzt auch zufrieden.

Wurde Marco um seine Lebenschancen gebracht? Wenn man den Tenor der gegenwärtigen Bildungsdiskussion verfolgt, ist dem sicher so: Dort wird die Matur als der allein seligmachende Olymp des Lebensglücks gesehen.

Eine Recherche des Nebelspalters liefert uns ein vielfältiges Panoptikum des holistischen Entlastungsprogramms.

  • Zeitverlängerung bei Prüfungen 10 Minuten, 15 Minuten, 20 Minuten (der Zeitzuschlag darf maximal ein Drittel der offiziellen Prüfungszeit betragen)
  •  Prüfungen nur mündlich, statt schriftlich
  •  Keine Prüfungen in den Fächern X, Y, Z
  •  Keine Bewertung der Rechtschreibung
  •  Keine Bewertung der Rechtschreibung mit Ausnahme von Fachbegriffen
  •  Diktate ab Diktiergerät
  •  Zugeschnittene Präsentation von Aufgaben und Ergebnissen, a) visuell b) auditiv
  •   Prüfung in Begleitung einer Assistenzperson
  •   Prüfung mit technischem Hilfsmittel (IPad, Taschenrechner)
  •   Prüfungsdurchführung im separaten Zimmer
  •   Prüfungsdurchführung mit individuell angepasstem Sitzplatz / Ruheplatz / im Nebenraum
  •   Prüfung mit Ohrenstöpsel / Pamir
  •   Prüfung hinter dem Paravent / hinter den Ordnern
  •   diverse Pausen während der Prüfungen

Es wird aber gemahnt, diese in einem Zusatzbericht zu dokumentieren, ein behördliches Anliegen, dem die chronisch unterbeschäftigten Lehrkräfte natürlich mit Begeisterung nachkommen.

Die Behörden wissen nicht, wie viele Nachteilsausgleiche zurzeit bewilligt werden. Und nicht zu vergessen: Es gibt ja auch noch die reduzierten Lernziele (rILZ). Im Gegensatz zu ihnen werden die Nachteilsausgleiche in den Zeugnissen nicht vermerkt. Es wird aber gemahnt, diese in einem Zusatzbericht zu dokumentieren, ein behördliches Anliegen, dem die chronisch unterbeschäftigten Lehrkräfte natürlich mit Begeisterung nachkommen. Und mit wie viel Transparenz die so Beurteilten diese Zusatzberichte, sofern sie denn überhaupt vorhanden sind, in ihren jeweiligen Bewerbungsverfahren vorlegen werden, kann nur vermutet werden.

Und da sind ja noch die Grundkompetenzen, die ein Schüler erfüllen sollte. Es war nicht die Idee der Lehrkräfte, diese Standards einzuführen. Aber jetzt haben wir sie, und sie werden geprüft. An diesen Testen werden keine Nachteilsausgleiche gewährt, wie auch später nicht in all den Herausforderungen der beruflichen Bildung.

Die weltfremde Totalindividualisierung, wie sie in den Sandkastenspielen unserer Bildungsforscher ausgedacht werden, negiere ich natürlich.

Viele erfahrene Lehrkräfte, die ihre Lernenden kennen, können abschätzen, wo diese gefordert, gefördert, belastet und eventuell auch geschont werden. Es ist mir als Lehrkraft nie in den Sinn gekommen, einem Schüler, der beim Bruchrechnen das «Gleichnamigmachen» nicht begreift, mit Doppelbrüchen zu quälen. Ich passe die Lernziele an, gewähre mehr Zeit, lasse Prüfungen wiederholen und helfe den Schwächeren, wenn sie Probleme haben. Die weltfremde Totalindividualisierung, wie sie in den Sandkastenspielen unserer Bildungsforscher ausgedacht werden, negiere ich natürlich. Wenn ein Schüler die Grundkompetenzen nicht erreicht, dann hat er sie nicht erfüllt und muss mit einer ungenügenden Note rechnen. Der Autor dieses Artikels hat als Schüler des Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasiums im Fach Mathematik etwas mehr ungenügende als genügende Noten erzielt. Er litt allerdings nicht unter Dyskalkulie, sondern unter Faulheit.

Wenn man mit diesen Nachteilsausgleichen erreichen will, dass kein Schüler mehr ungenügend ist, dann soll man lieber die Noten abschaffen. Das ist billiger, unkomplizierter und wird die Südkoreaner freuen.

 

 

The post Wie viel darf’s denn sein? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/05/wie-viel-darfs-denn-sein/feed/ 3
Ein Drittel weniger Lernfortschritt, und es trifft die Schwächsten https://condorcet.ch/2023/02/ein-drittel-weniger-lernfortschritt-und-es-trifft-die-schwaechsten/ https://condorcet.ch/2023/02/ein-drittel-weniger-lernfortschritt-und-es-trifft-die-schwaechsten/#comments Thu, 02 Feb 2023 10:49:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=13036

Während der Pandemie haben Schüler mehr als ein Drittel des normalen Lernzuwachses pro Schuljahr weniger erreicht. Das zeigt eine aufwendige Analyse aus 15 Ländern. Ohnehin schwache soziale Gruppen sind besonders davon betroffen. Wir bringen einen Beitrag der WELT-Journalistin Sonja Kastilan.

The post Ein Drittel weniger Lernfortschritt, und es trifft die Schwächsten first appeared on Condorcet.

]]>
Sonja Kastilan, Journalistin DIE WELT

Wer hilft seinen Kindern schon gerne bei Mathe? Oder Physik? Lesen, ja, das geht oft einfacher, sofern man die Sprache selbst gut spricht. Deshalb mag es manche kaum überraschen, wenn jetzt eine Studie im Fachjournal „Nature Human Behaviour“ feststellt, dass die Schulschließungen in den Anfängen der Covid-19-Pandemie sich vor allem auf die Rechenfähigkeiten auswirkten.

Dass Kinder jedoch im internationalen Durchschnitt mehr als ein Drittel weniger lernten als in normalen Schuljahren, ist dennoch ein bemerkenswert hoher Wert. Und dass dieser Verlust bis 2022 noch nicht wieder aufgeholt werden konnte, auch wenn es gelang, die Vergrößerung der bestehenden Lücken zu verhindern, sollte zu denken geben – und zu entsprechenden Fördermaßnahmen führen.

Die aktuell veröffentlichte Analyse der Lerndefizite umfasst 42 vergleichbare Studien aus 15 Ländern. Die Daten stammen vor allem aus Großbritannien und den USA; aber auch aus Deutschland sind vier Studien darunter. Neben den Defiziten in verschiedenen Schulfächern und Stufen wurden der soziodemografische Status und das Durchschnittseinkommen im jeweiligen Land erfasst.

Wie die Corona-Schulmisere Kindern das Lesenlernen erschwert

Wie sich zeigte, haben sich die Lernfortschritte während der Covid-19-Pandemie zunächst erheblich verlangsamt: Schülerinnen und Schüler lagen im Mittel 35 Prozent hinter dem üblichen Pensum zurück. Die größten Lücken wiesen Kinder mit einem niedrigen sozioökonomischen Status auf; zwischen den Klassenstufen – Grundschüler im Vergleich zu Kindern in der nächsten Stufe – ließen sich keine signifikanten Unterschiede erkennen.

Im Rahmen einer Pressekonferenz betonte der Bildungsforscher Bastian Betthäuser, Erstautor der Studie und derzeit am Centre for Research on Social Inequalities in Paris sowie an der Universität in Oxford beschäftigt, dass die Lernkrise durchaus eine Armutskrise sei. Durch die Schulschließungen wurden Kinder aus ärmeren Verhältnissen, denen zu Hause kein Computer zur Verfügung stand, mehr benachteiligt. Und die auch keine Möglichkeit hatten, sich zum Lernen in ein ruhiges Zimmer zurückzuziehen. Die größeren Defizite in Mathematik als im Lesen erklärt sich Betthäuser damit, dass die Eltern wohl an ihre Grenzen stießen, und es den meisten leichter falle vorzulesen.

Grundschüler haben im Wechselunterricht Luftballons mit Wünschen 2021 vor allem gegen die Corona-Einschränkungen beim Schulunterricht gestaltet, hier in einer Grundschule in Haar bei München. (Quelle: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Auf globaler Ebene betrachtet, lägen Länder mit geringerem Bruttoeinkommen wie etwa Mexiko oder Brasilien hinter wohlhabenden Nationen zurück, was die Kluft vergrößere; aus Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen konnten keine Untersuchungen berücksichtigt werden. Manchmal genügten allerdings schlichte Mittel, etwa SMS-Botschaften, um Kinder entweder mit Mathe-Aufgaben zu versorgen oder sie zu motivieren – erfolgreich, wie Daten aus in Botsuana und Brasilien belegen.

„Diese Studie ist methodisch sehr gut angelegt. Wichtig ist bei solchen Meta-Analysen, dass die Qualität der Einzelstudien, die in die Auswertung einfließen, ganz genau geprüft wird. Das ist hier offenbar sehr akribisch erfolgt“, erklärt Benjamin Fauth, Leiter der Abteilung Empirische Bildungsforschung am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg, gegenüber dem deutschen „Science Media Center“. Bei der Interpretation der Befunde müsse berücksichtigt werden, dass hier Studien aus unterschiedlichen Ländern eingeflossen sind, deren Ergebnisse zum Teil nicht auf die deutschen Bildungssysteme übertragen werden können.

Ungleiche Verteilung von Lernrückständen

„Aber insgesamt sehen wir auch hierzulande Lernrückstände, und wir sehen vor allem auch deren ungleiche Verteilung: Schülerinnen und Schüler, die es vor der Pandemie schon schwerer hatten, sind sehr viel stärker betroffen“, sagt Fauth, der mit Kollegen erforscht, wie sich die Schulschließungen hierzulande auswirken. Ihre Studien flossen auch in die aktuelle Meta-Analyse mit ein. „Unsere Ergebnisse zeigen die ungleiche Verteilung ebenfalls“, wie Fauth im Gespräch mit WELT bestätigt.

„Nicht nur sind die Lernrückstände an sich sozial ungleich verteilt, sondern auch deren Folgen werden vermutlich sehr unterschiedlich sein: Viele Schülerinnen und Schüler mit dem entsprechenden sozialen Hintergrund werden das ohne Weiteres wieder aufholen können“, sagt Fauth. Er befürchtet, dass die Folgen bei den Leistungsschwächeren und Kindern aus eher bildungsfernen Elternhäusern gravierender seien.

Deshalb müsse man auch darauf achten, wie die Ressourcen verteilt werden, wolle man den ohnehin benachteiligten und nun stärker betroffenen Kindern helfen.

Lehrer Joschka Dusil und Schüler der Klassen 1, 2 und 4 der Liebenauschule bei einer Nachmittagsunterrichtseinheit im Rahmen des Programms „Lernen mit Rückenwind“. Mit dem auf zwei Jahre angelegten Programm soll Kindern und Jugendlichen geholfen werden, Corona-Folgen und Lernlücken zu bewältigen.

„Die Relevanz des festgestellten Lerndefizites ist immens, weil es auf den Unterricht einen unmittelbaren Einfluss hat“, sagt Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Je geringer die Lernleistungen seien, desto schwieriger werde es für die Kinder, die von den Curricula geforderten Standards zu erreichen. In der Folge geht Zierer davon aus, dass sich eine „Generation Corona“ bilde, „die besonders stark unter der Pandemie gelitten hat“. Das treffe insbesondere die Jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern.

Soziales Miteinander wieder auf die Reihe bekommen

Was in der Meta-Analyse nicht beleuchtet wurde, laut Zierer aber andere Untersuchungen zeigen: Die Pandemie hat sich auch auf die psychosoziale Entwicklung und die körperliche Verfassung negativ ausgewirkt. Und Fauth berichtet: Wenn man Lehrkräfte befrage, so werde deutlich, dass neben den eigentlichen Lernrückständen noch ein anderes Problem im Vordergrund stehe, nämlich der gesamte psychosoziale Bereich. „Mein Eindruck ist, dass die Schulen zurzeit in diesem Bereich sehr viel Arbeit damit haben, bestimmte Lernroutinen wieder einzuüben und das ganze soziale Miteinander wieder auf die Reihe zu bekommen.“

„Es sollte alles unternommen werden, um die Lerndefizite aufzuholen. Leider haben viele Länder die ersten Möglichkeiten – Stichwort ,Sommerschulen‘ – verpennt oder absolut unreflektiert implementiert“, kritisiert Zierer. Damit sei noch mehr Zeit verloren gegangen: „Aus Forschungen wissen wir leider, dass sich Lerndefizite schnell kumulieren und daher immer größer werden.“ Je früher es gelinge, gegenzusteuern, desto besser.

Ein Grundschüler sitzt nach der Verlängerung des Lockdowns zuhause vor dem Bildschirm und nimmt mit einem Laptop am Onlineunterricht mit dem Lehrer teil. (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

 

Dem würde Bastian Betthäuser vermutlich zustimmen, denn er riet dazu, die langen Sommerferien, wie sie in zahlreichen Ländern üblich sind, zu nutzen, um Kindern zusätzliche Angebote zu machen: Es genüge eben nicht, einfach wieder den Normalzustand herzustellen, sondern man müsse mehr tun, um die Lernverluste aufzuholen. Gleichzeitig sollte man im Blick behalten, dass die Aufnahmefähigkeit ihre Grenzen hat – was Nachmittags- oder Wochenendkurse einschränkt. Doch Sommer-Lernprogramme hätten sich schon mehrfach bewährt und könnten verhindern, dass die Ungleichheit weiter zunimmt.

„Das Problem ist sicherlich, dass angesichts eines Lehrermangels vor allem das Personal fehlt“, meint Zierer. Hinzu komme, dass die Konzepte nicht erarbeitet wurden und alle auf die Digitalisierung schielen, die sich aber nicht als Retter in der Pandemie bewährt hätte. Vielmehr stehe Digitalisierung als Treiber für Bildungsungerechtigkeit, weil je nach Bildungsniveau digitale Medien anders genutzt würden. Zierer sieht es deshalb als Herausforderung für die nächsten zwei, drei Jahre, hier vernünftige Konzepte anzubieten.

Kein hoffnungsloser Fall, wenn Förderprogramme greifen

Wie sich die Pandemie auf lange Sicht auf den Lernerfolg auswirkt, könne man heute nicht absehen, sagt Betthäuser; man sollte die Entwicklung aber im Blick behalten und evaluieren. Zumal sich an Erhebungen aus dem Frühsommer 2021 ablesen lässt, dass in Schweden und Dänemark offenbar nicht so große Probleme auftraten: Schweden verfolgte zwar einen eigenen Weg in der Pandemie, doch Dänemark ergriff ähnliche Maßnahmen wie andere europäische Länder, ohne dass dänische Kinder ähnlich stark mit dem Schulstoff hinterherhinkten. Warum, lohne sich genauer zu analysieren.

Bildung sei nachweislich ein, wenn nicht sogar „der“ Schlüsselfaktor für einen erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt und entscheidend dafür, wie erfolgreich jemand seinen Lebensunterhalt bestreitet. Es bestehe das Risiko, dass die Generation, die jetzt von den langen Schulschließungen betroffen war, später ein ernsthaftes Problem damit hätte. Aber das bedeute nicht, dass sich nichts verbessern ließe. „Ich würde nicht sagen, dass wir es mit einem hoffnungslosen Fall zu tun haben“, betont Betthäuser. Es sei wichtig, dass jetzt entsprechende Förderprogramme zum Einsatz kommen.

In Deutschland laufen sehr unterschiedliche Programme, abhängig vom jeweiligen Bundesland. Es wurde auch eine länderübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht auf der aus Mitteln des DigitalPakts Schule finanzierten länderübergreifenden Plattform „MUNDO“ Instrumente veröffentlicht, die lizenzfrei genutzt werden können. „Das Problem muss allerdings in den Schulen gelöst werden“, sagt Fauth. Dementsprechend müsse auch geklärt werden, welche Schulen mehr Ressourcen als andere brauchen, um benachteiligte Kinder besonders zu unterstützen.

The post Ein Drittel weniger Lernfortschritt, und es trifft die Schwächsten first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/02/ein-drittel-weniger-lernfortschritt-und-es-trifft-die-schwaechsten/feed/ 1
Marc Bourgeois: «Kein Politikbereich ist so unehrlich wie die Bildungspolitik» https://condorcet.ch/2022/09/marc-bourgeois-kein-politikbereich-ist-so-unehrlich-wie-die-bildungspolitik/ https://condorcet.ch/2022/09/marc-bourgeois-kein-politikbereich-ist-so-unehrlich-wie-die-bildungspolitik/#comments Mon, 26 Sep 2022 13:34:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=11721

Nachdem die FDP lange Zeit den Pädagogen vertraut hat, regt sich in immer mehr Kantonen Widerstand gegen die pausenlosen Bildungsreformen in der Volksschule. Viele Politiker stellen ernüchtert fest, dass die versprochenen Ziele niemals erreicht wurden und dafür ständig noch mehr Mittel gefordert werden.
Wir veröffentlichen hier ein aufschlussreiches Interview mit dem freisinnigen Zürcher Kantonsrat Marc Bourgeois, der in Zürich die Bildungsdirektion mit Vorstössen zu Lehrmitteln, Lehrkräftemangel, Kindergarten usw. auf Trab hält. Dieses Interview ist von Daniel Wahl, Journalist im Nebelspalter, geführt worden.

The post Marc Bourgeois: «Kein Politikbereich ist so unehrlich wie die Bildungspolitik» first appeared on Condorcet.

]]>
Marc Bourgeois, FDP: Von vielen Reformen profitiert nur der Überbau.

Marc Bourgeois, am Wochenende stimmen die Zürcher über eine Tagesschule ab, die jährlich entweder 75 oder 126 Millionen Franken kosten soll. Ob das bisherige Angebot mit privaten Horts oder Mittagstischen genügt, steht eigentlich gar nicht mehr zur Debatte. Sind selbst die Bürgerlichen inzwischen auch für mehr Staat in der Bildung?

Marc Bourgeois: Gegen eine schlanke Tagesschule mit dem Ziel, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen, spricht nichts. Ich stelle aber ernüchtert fest, dass jene Kreise Oberhand gewinnen, welche die Eltern gleichzeitig von jeder Verantwortung entbinden wollen. Dies unter dem Vorwand der «Chancengerechtigkeit». In Wirklichkeit dürfte es diesen Kreisen, zu denen an vorderster Front Gewerkschaften gehören, schlicht darum gehen, noch mehr Stellen zu schaffen. Man muss schon froh sein, dass die Tagesschule noch freiwillig ist. Mit Betonung auf «noch».

In Zürich soll die Widerspruchslösung zum Tragen kommen: Man muss das Kind abmelden, wenn man es nicht in die Tagesschule schicken will. Die Freiwilligkeit ist doch gegeben?

In der Verordnung, ja – obwohl ich bezweifle, dass einen der Staat zu einem freiwilligen, kostenpflichtigen Angebot zwingen kann, wenn man sich nicht Monate zuvor abgemeldet hat. Das ist schlimmer als jede Abo-Falle. Dass es mit der Freiwilligkeit aber nicht weit her ist, erkennt man im Evaluationsbericht zu den Tagesschulen. Dort heisst es, das Ziel, 90 Prozent der Primarschüler und 75 Prozent der Oberstufenschüler an die Tagesschulen zu bringen, sei noch nicht erreicht worden. Die Politik hat aber nie ein solches Mengenziel festgelegt; das wurde einfach von der Verwaltung bestimmt.

Freiwillig ja, Zwang nein

Erreicht werden soll dieses Ziel durch unsanften Druck: Wer sein Kind nur an einem Tag in der Schule lässt, bezahlt oft mehr als jene, welche sich für die Tagesschule entscheiden und ihr Kind an allen Tagen mit Nachmittagsunterricht in der Schule lassen. Zudem droht mit einer Verwischung der Grenzen zwischen Bildung und Betreuung auch eine pädagogische Benachteiligung der abgemeldeten Kinder, und sie drohen zu Aussenseitern zu werden. Von Freiwilligkeit würde ich da nicht mehr sprechen.

Bloss ein Systemfehler?

Das Ganze ist zunächst gut gemeint, aber dahinter steckt der sozialistische Gedanke der Gleichschaltung. Mir ist klar, geworden, dass das genau der Effekt ist, den sich linke Kreise herbeiwünschen: Ihnen ist es egal, ob Eltern arbeiten gehen oder zuhause bleiben. Im Vordergrund stehen mehr staatliche Arbeitsplätze und ein ausgedehnter Einfluss auf die Kinder. Auch wenn solche Vergleiche schwierig sind: Es ist kein Zufall, dass gerade in der DDR unfreiwillige Tagesschulen – teils sogar «Wochenschulen» – einen Höhepunkt erlebten. Der Einfluss des Staates auf die Denkhaltung der Kinder war so riesig. Dass dieser Stempel auch politisch gefärbt ist, dürfte jedem klar sein; Stichwort Linksdrall an Schulen.

Immer mehr Kinder von bildungsnahen Familien ergänzen die Volksschulbildung durch zusätzliche Angebote. Sie trauen der Volksschule nicht mehr.

Man will allen Kindern dieselben Startchancen geben. Das klingt doch auch für die FDP verlockend?

Chancengerechtigkeit ist ein urliberales Anliegen. Aber kein Politikbereich ist so unehrlich wie die Bildungspolitik. Es geht um Kinder, da wird mit Emotionen gelogen, dass sich die Balken biegen. So werden als gute Gründe für steigende Ausgaben stets «Chancengerechtigkeit», «Bildungsqualität» und «Vereinbarkeit von Familie und Beruf angegeben». Die wahren Gründe: Bildungspersonalpolitik statt Bildungspolitik, Abschottung des Berufsstandes und Vereinnahmung der Kinder.

Wer sicher profitiert hat, ist der aufgeblähte Personaletat.

Gerade in der Bildung braucht es Mut, sich gegen Forderungen aus dem Bildungskuchen zu stemmen. Denn wir reden vermeintlich von Geldern, die den Kindern zugutekommen. Gibt es aber Hinweise darauf, dass die Bildung durch all die teuren Reformen besser geworden ist? Oder chancengerechter? Wenn es Indizien gibt, dann deuten sie in die gegenteilige Richtung. Immer mehr Kinder von bildungsnahen Familien ergänzen die Volksschulbildung durch zusätzliche Angebote. Sie trauen der Volksschule nicht mehr. Und die einzigen einigermassen objektiven Zeitreihen, die Pisa-Daten, zeigen seit der Einführung der schulischen Integration nur nach unten.

Man hat Unsummen darin investiert; die Bildung ist dabei weder besser, noch gerechter geworden. Cui bono, fragt man sich da. Nun, wer sicher profitiert hat, ist der aufgeblähte Personaletat. Was die Betroffenen dabei vergessen: Je mehr Geld in diesem System unnütz versickert, desto weniger steht letztlich für Bildung zur Verfügung, und desto höher wird der Kostendruck auf die einzelne Stelle.

Sie können aus einer schwachen Schülerin keine Raketenwissenschafterin machen. Aber aus einer möglichen Raketenwissenschafterin sehr wohl eine schwache Schülerin.

Was ist an «gleichen Startchancen»schlecht?

Wenn alle nicht nur die gleichen Chancen haben sollen, sondern auch dieselben Resultate erreichen sollen, oder dank einer Abschaffung von Noten gar keine messbaren Resultate erreichen sollen, dann kann das Niveau nur sinken. Sie können aus einer schwachen Schülerin keine Raketenwissenschafterin machen. Aber aus einer möglichen Raketenwissenschafterin sehr wohl eine schwache Schülerin. Und genau das passiert gegenwärtig im schulischen Integrationsmodell – bei der Integration von stark verhaltensauffälligen und extrem leistungsschwachen Kindern in die Regelklassen. Weil dies eine Lehrperson alleine nicht stemmen kann, stellt man einfach weitere Förderlehrpersonen und Assistenzen ins Klassenzimmer. Mit der Folge, dass oftmals Bahnhofsstimmung und ein Kommen und Gehen herrscht. Von den Kostenfolgen ganz zu schweigen. Leider schwappt dieser Trend der Gleichmacherei allmählich auch auf den vorschulischen Bereich über.

Wie kommen Sie darauf, schon von einer vorschulischen Nivellierung zu sprechen?

Zuerst hat man den früher freiwilligen Kindergarten für obligatorisch erklärt. Kindergärtner werden an der Pädagogischen Hochschule ausgebildet, der Kindergarten wird von einem Lehrplan gesteuert. Dann hat man das Eintrittsalter in den Kindergarten gesenkt. Jetzt bestehen Bestrebungen, auch vorschulische Angebote für bildungsferne Kinder verpflichtend zu machen. Es ist absehbar, dass man zwecks einer guten «Durchmischung» früher oder später auch bildungsnahe Kinder zu solchen Angeboten verpflichten will. Die Kinder werden immer früher der Verantwortung der Eltern entzogen, weil sonst gewisse Kinder einen Startvorteil haben könnten. Aber hilft man den schwachen Kindern wirklich, wenn man die stärkeren ihrer Vorteile beraubt?

Haben Sie den Kindergarten als bereits verschult erlebt, oder durften Ihre Kinder noch spielen?

Wir haben ihn nicht als verschult erlebt. Das liegt daran, dass die Kindergartenlehrpersonen heute meist noch nach gewohntem Muster die Kinder befähigen, die Welt besser zu verstehen. Der Lehrplan wird da meist links liegen gelassen. Aber das ändert sich langsam. Obwohl das Volk Nein zur Grundstufe gesagt hat, bildet man die Kindergartenlehrpersonen demnächst gleich aus wie die Primarlehrpersonen. Das wird Folgen haben.

Seit wann hat die Schule Ihrer Ansicht nach Schlagseite erhalten?

Eine wesentliche Zäsur war der Entscheid für das schulische Integrationsmodell, das vor gut zehn Jahren eingeführt wurde. Seit dieser Zeit ist die Schweiz im internationalen Vergleich konstant zurückgefallen, wie die Pisa-Studien ergeben haben, und zwar in allen Disziplinen. Nicht wenige Lehrmeister bestätigen dieses Bild: Viele Schulabgänger erreichen nicht einmal mehr die tief angesetzten Mindestanforderungen. Ich habe selber fast 20 Jahre lang in meinem IT-Betrieb Lehrlinge ausgebildet. Seit diesem Herbst verzichte ich darauf. Die Vorkenntnisse sind ungenügend, und der Betreuungsaufwand steigt immer mehr.

Da wird schon in frühen Klassen von Selbstkompetenz gesprochen, von Lerninseln, von Eigenverantwortung und von selbstgesteuertem Lernen. Ich spüre den Effekt nicht.

Viele Berufsbildungsleute – die in der Mehrheit bürgerlich gesinnt sind – sprechen aber von einer kompetenten Jugend. Sie könnten vielleicht nicht mehr so gut schreiben, seien aber enorm anpassungsfähig und wüssten sich zu helfen. Was sagen Sie dazu?

Es ist möglich, dass sich die Flexibilität erhöht hat. Aber was nützt Anpassungsfähigkeit im Betrieb, wenn ein Lernender sprachlich so schwach ist, dass er kein einziges Mail richtig beantworten kann? Da wird schon in frühen Klassen von Selbstkompetenz gesprochen, von Lerninseln, von Eigenverantwortung und von selbstgesteuertem Lernen. Ich spüre den Effekt nicht. Ich bin schon froh, wenn ein Lernender überhaupt auf ein dringendes Mail eines Kunden reagiert.

Übe keinen Druck aus, mache keinen Frontalunterricht.

Die Meinung der Bildungsexperten lautet, dass die Anforderungen an die Schüler stetig gestiegen sind, dass der Druck zugenommen hat und die Bildung ein hohes Niveau hat.

Das stimmt wohl. Man will tendenziell zu viel. Und vernachlässigt dadurch das Wesentliche: Das Lesen, Schreiben und die Mathematik, ein Grundstock an Allgemeinbildung und wohl eine Fremdsprache. Das hat teils mit dem überfrachteten Lehrplan 21 zu tun. Die Lehrpersonen müssen von Thema zu Thema hetzen. Das Motto der Grundschule scheint auch zu lauten: Übe keinen Druck aus, mache keinen Frontalunterricht, keine vertieften Repetitionsphasen, einfach nichts, was nach Drill und Druck klingt und gewisse Kinder aus der Komfortzone katapultieren könnte. Ich sehe das bei unseren Kindern: Die Themen werden kurz gestreift. Zwei Jahre später auf höherem Niveau. In der Zwischenzeit haben sie alles vergessen, weil sich der Stoff nie setzen konnte. Ergänzend hinzu kommt die Tendenz, keine Hausaufgaben mehr zu erteilen. Das wirklich selbständige Üben in Ruhe geht so verloren.

Was sind die Gründe?

Der «gute» Grund? Einmal mehr die Chancengerechtigkeit. Weil nicht alle Kinder zuhause Unterstützung erhalten, soll kein Kind Unterstützung erhalten. Auch dies eine Nivellierung nach unten. Der wahre Grund? Es ist natürlich angenehmer, keine Hausaufgaben korrigieren zu müssen. Ohne Hausaufgaben verlieren jene Eltern, die das wünschen, aber auch den Draht zur Schule. Das versucht man dann mit aufwändigen Konstrukten wie nichtssagenden «Zeigehefte» wettzumachen. Bildungsnahe Eltern machen es auf ihre eigene Weise wett: Sie senden ihre Zöglinge lange vor dem Übertritt in die Oberstufe scharenweise in den Privatunterricht. Oder man gibt den Kindern zuhause Zusatzaufgaben.

Nun gibt es aber auch neue Einsichten und Studien, die belegen, dass die Einführung von Frühfranzösisch falsch war oder dass das Integrationsmodell die Normalklasse zu stark belastet. Doch korrigiert wird nicht auf das nächste Semester. Warum nicht?

Das kann ich nur für den Kanton Zürich beantworten. Der Prozess verläuft träge: Verschiedene Bildungsinstitute erhalten den Auftrag, Erhebungen zu machen. Das dauert, zwei, drei Jahre. Dann erklärt die Verwaltung, sie müssten erst mal die Grundlagen für einen Entscheid erarbeiten. Zwei, drei Jahren später kommt das Geschäft endlich ins Parlament und kann politisch diskutiert werden. Natürlich ist es komplex, wenn ein Bildungsdampfer wie der Kanton Zürich an einer Stellschraube etwas ändert; es könnte beispielsweise plötzlich zu einem Mangel oder einem Überfluss an Personal führen, zu ungeeignet qualifiziertem Personal oder unpassenden Schulhäusern. Was mir bei diesen Prozessen aufgefallen ist: Wir haben nie Bildungspolitik gemacht. Sondern Bildungspersonalpolitik betrieben.

Erklären Sie.

In jedem parlamentarischen Geschäft geht es im Kern immer ums Personal, nie um die Qualität. Ein aktuelles Beispiel zum Thema Lehrpersonenmangel: Im Kanton Zürich verdienen die Primarlehrer 25 Prozent mehr als im Durchschnitt der Deutschschweizer Kantone. Allen ist bewusst, dass das Lohnniveau nicht Auslöser des Mangels ist. Im Gegenteil: Noch höhere Löhne könnten zu noch tieferen Pensen führen. Nun heisst es, man müsse am sogenannten Lektionenfaktor schrauben, damit die Lehrer entlastet würden. Der Lektionenfaktor ist die Massgabe für den Jahresaufwand einer einzelnen Wochenlektion. Daran etwas zu ändern, ist nichts anderes als eine versteckte Formulierung, die Löhne zu erhöhen. Und wenn heute von einer Flötenlehrerin, die Sechsjährige unterrichtet, verlangt wird, sie müsse dafür über ein Studium verfügen, denn geht es um eine klassische Marktabschottung, und zugleich um Arbeitsbeschaffung für FHs.

Wie lässt sich dann die Bildungsqualität steigern, ohne einfach neue Finanzmittel einzuschiessen?

Die erste, wichtigste Massnahme wäre, wieder mehr Ruhe und Kontinuität in die Klassenzimmer und den Schulbetrieb zu bringen und die Anzahl Bezugspersonen pro Kind zu reduzieren. Das bedingt Anpassungen am integrativen Schulmodell.

Das ist eine Absage an die integrative Klasse.

Zumindest in der heutigen Form. Man muss schon sehr angestrengt wegschauen, um so zu tun, also ob das heutige System funktioniere. Einfach immer noch mehr Mittel ins System zu kippen und noch mehr Personal ins Klassenzimmer zu stellen kann nicht die Lösung sein. Der gutgemeinte Gedanke bei ihrer Einführung war, Kinder sozial nicht zu isolieren. Man tut dabei so, als ob sich die Kinder nicht begegnen würden, wenn sie nicht in derselben Klasse sitzen. Das ist aber falsch. Heute wird Integration in der Klasse zum Schein ausgelebt. Da sitzen die Sonderpädagogen hinter den verhaltensauffälligen Kindern und betreuen sie separat. Die Kinder sind so besonders stigmatisiert, vor dem Hintergrund, dass allen klar ist, wer «blöd» ist und den Unterricht ständig stört. Das führt auch zu absurden Effekten: Die Eltern begabter Kinder argumentieren, dass ihr Kind mehr verdient habe, als im täglichen Chaos einer integrativen Klasse unterrichtet zu werden. Die Folge ist: Sehr schwache und stark verhaltensauffällige Kinder werden integriert, leistungsstarke wiederum in Förderprogrammen separiert. Verlierer im System sind die durchschnittlichen Kinder. Sie erhalten zu wenig Aufmerksamkeit.

Zurück zur Steigerung der Bildungsqualität, ohne höheren Aufwand zu generieren:

Es braucht wohl auch eine Verschlankung des Lehrplans. Er soll sich vermehrt an den für alle Berufe zwingenden Grundkompetenzen orientieren: Mathe, Deutsch, Lesen, Allgemeinbildung, vielleicht nur eine Fremdsprache. Dann kann der Unterricht auch wieder aus einer Hand geführt werden. Obwohl die Lehrmittel besser geworden sind, können die Lehrpersonen heute immer weniger Fächer abdecken. Der Optimalfall ist für mich ganz klar, wenn eine Lehrperson in der Primarschule eine Klasse eigenverantwortlich führen kann, getreu nach dem Motto: ein Raum, eine Chefin oder ein Chef. Jede zusätzliche Person schafft neue Schnittstellen und Koordinationsaufwand. Im Team ist dann niemand mehr wirklich für das Weiterkommen des Kindes persönlich verantwortlich.

Eine Schule ohne Leistungsmessung spiegelt den Kindern nicht nur eine Welt vor, in der Leistung nicht zählt, sondern ist auch eine Missachtung der Leistung der Kinder.

Schliesslich setzte ich mich für eine schlanke, wenig aufwändige Leistungsmessung ein: die Noten. Kompetenzorientierter Unterricht ist nicht falsch, aber man kann nicht Dutzende Kompetenzen pro Kind messen. Eine Parlamentsmehrheit im Kanton Zürich hat kürzlich im Gesetz festgehalten, dass es Semesternoten geben muss. Eine Schule ohne Leistungsmessung spiegelt den Kindern nicht nur eine Welt vor, in der Leistung nicht zählt, sondern ist auch eine Missachtung der Leistung der Kinder. Noten sind nicht perfekt. Aber sie sind besser als keine Noten.

Die Ratslinke hat zwar beteuert, man wolle die Noten nicht abschaffen, nur um dann im nächsten Satz zu sagen, dass Noten überflüssig seien. Genau deshalb hat der Kantonsrat hier präventiv eine Notenpflicht eingeführt.

Der Trend geht in Richtung «keine Noten».

Ja, Kreise um das Institut für Erziehungswissenschaften an der Uni Zürich geben Bücher heraus wie «Schule ohne Noten». Folgt man diesen Personen in den sozialen Medien, so erkennt man rasch, wie radikal links sie ticken. Neben diesem Institut führt die Uni auch das Institut für Bildungsevaluation; Bildungsforschung betreibt auch die Pädagogische Hochschule, ebenso die ETH. Und alle müssen immer neue Ansätze, neue Reformen erfinden. Sie würden sich sonst als überflüssig erweisen. Das wäre das Schlimmste für die Bildungsindustrie. Dabei bräuchte die Volksschule vor allem etwas: endlich einen Reformstopp.

Das sind viele Akteure, die sich für die Staatsschule einsetzen. Liegt eine Lösung darin, die Konkurrenz, die Privatschulen, zu stärken?

Das ist eine Entwicklung, die abzusehen ist: Viele Reiche kaufen sich bereits jetzt aus der Volksschule heraus und lassen ihren Nachwuchs an Privatschulen ausbilden. Am Zürichberg besucht jedes sechste Kind eine Privatschule. Und dort, wo ein solcher Entscheid folgerichtiger wäre, aber das Portemonnaie dünner ist, nämlich in Schwamendingen, sind es weniger als drei Prozent. Da sich nicht beliebig viele Eltern Privatschulen leisten können, erfolgt die Privatisierung der Bildung unsichtbar, indem Kinder bildungsnaher Eltern neben der Volksschule gefördert werden. Insgesamt ist das ein unerfreulicher Trend, der genau das Gegenteil der angestrebten Chancengerechtigkeit erreicht, und an angloamerikanische Verhältnisse erinnert, wo Geld über Bildung entscheidet. Wir dürfen es nicht so weit kommen lassen.

Können Sie das Ruder mit Ihrer Partei herumreissen?

Die FDP im Kanton Zürich begleitet die sich jagenden Reformen kritisch. Aber ganz ehrlich? Man kann schon den Glauben verlieren. Die Personallobbys rund um den Bildungsbereich sitzen einfach am längeren Hebel. Zeit für die Bürgerlichen, sich wieder vermehrt um dieses Thema zu kümmern.

The post Marc Bourgeois: «Kein Politikbereich ist so unehrlich wie die Bildungspolitik» first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/09/marc-bourgeois-kein-politikbereich-ist-so-unehrlich-wie-die-bildungspolitik/feed/ 5
Lehrkräftemangel: Die grösste Bedrohung für die Chancengleichheit https://condorcet.ch/2022/04/lehrkraeftemangel-die-groesste-bedrohung-fuer-die-chancengleichheit/ https://condorcet.ch/2022/04/lehrkraeftemangel-die-groesste-bedrohung-fuer-die-chancengleichheit/#comments Mon, 18 Apr 2022 08:54:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=10831

Condorcet-Autor Alain Pichard ist dem Ruf seiner ehemaligen Schule gefolgt und unterrichtet wieder. Er arbeitet an demselben Ort, in dem er vor 45 Jahren seine Lehrerkarriere angetreten hat. Das Oberstufenzentrum Mett-Bözingen, wo seine Frau als Schulleiterin wirkt, ist eine Brennpunktschule in Biel. Und sie leidet besonders unter dem Lehrkräftemangel.

The post Lehrkräftemangel: Die grösste Bedrohung für die Chancengleichheit first appeared on Condorcet.

]]>
Alain Pichard, pens. Lehrer Sekundarstufe 1, Publizist, Mitglied der GLP: Respekt für die Lehrkräfte, die standhalten.

Als sich die Kunde verbreitet hat, dass ich nach einem halben Jahr Rentnerdasein wieder im Schuldienst tätig bin – und zwar in dem Schulhaus, in dem ich vor 45 Jahren meine Lehrerkarriere startete und in der meine Frau als CO-Schulleiterin wirkt, gab es Leute, die Bescheid wussten: «Ja, der Pichard, er ist halt ein Vollblutlehrer, er kann es nicht lassen.» Wer meine Biografie kennt, der könnte solche Aussagen für durchaus plausibel halten. Das Problem: Sie stimmen nicht, überhaupt nicht. Ich brauche diesen Einsatz weder finanziell noch suche ich einen Ausweg aus einem geruhsamen Rentnerdasein.

Mich erreichten in den vergangenen Monaten viele Anfragen für Stellvertretungen, darunter auch einige Notrufe. Der Grund ist der Öffentlichkeit schon lange bekannt, wenn auch in seinen Dimensionen kaum bewusst. Der Lehrkräftemangel macht sich immer deutlicher bemerkbar. Und die Spitze ist noch gar nicht erreicht. In zwei Jahren werden allein im Kanton Bern 600 weitere Lehrkräfte pensioniert. Vor knapp 10 Jahren lag die Rate noch bei 50!

Leidtragende sind die Schülerinnen und Schüler der Primarstufe und der Sekundarstufe 1. In ihrer Not stellen die Schulleitungen Personal ein, die weder über ein Patent noch über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügen. An meiner ehemaligen Schule arbeiten derzeit zwei Lehrkräfte, die kaum Deutsch sprechen. Auf Ausschreibungen melden sich Mediamatikerinnen aus der Ostschweiz, eine  Militärhistorikerin aus Serbien, ein entlassener Elektroingenieur und viele andere berufsfremde Leute.

Aus einem zweijährigen Albtraum erwacht.

Hinzu kommt, dass die Schulen gerade erst aus einem zweijährigen Albtraum herausfinden müssen. Zwei Jahre Coronamassnahmen, Lockdowns, Quarantänepflicht, Maskenobligatorium, Absagen von Skilagern und Schulanlässen, unzählige Stundenausfälle, Massentests, erkrankte Lehrkräfte, Homeoffice und verzweifelte Eltern brachten die Lehrkräfte unseres Landes an die Grenzen der Belastbarkeit. Und sie liessen auch teilweise stark verunsicherte Schülerinnen und Schüler zurück.

Die Kinder des Mittelstands werden diese Krise einigermassen überstehen. Die Unterstützung des Elternhauses, finanzielle Reserven, gute digitale Ausrüstung, Nachhilfestunden, Wohnortwechsel, Privatschulen – der Mittelstand weiss sich zu helfen.

Unter die Räder kommen wieder einmal die Kinder der unterprivilegierten Schichten.

Es sind wieder einmal die Kinder der unterprivilegierten Schichten, die in dieser Situation unter die Räder zu geraten drohen und keine Lobby haben. Ihnen gilt meine Solidarität. Sie gilt aber auch den Lehrkräften, die standhalten, ihr Pensum aufstocken, ihre Arbeitszeit ausdehnen und die ihnen anvertrauten Jugendlichen nicht im Stich lassen. Dies ist unter anderem auch der Fall im OSZ-Mett-Bözingen, einer Brennpunktschule in Biel. Die Lehrkräfte, die ich dort angetroffen habe, leisten Grossartiges und es ist eine Ehre, ihnen helfen zu dürfen. Das mag jetzt pathetisch klingen, aber ich halte diese Situation für die grösste Bedrohung der Chancengerechtigkeit in unserem Land. Es gibt Situationen, in denen nicht politische Galaschwätzer gefragt sind, sondern resiliente Berufsleute. Während der Coronazeit waren es Ärzte, Pflegekräfte, Verkäuferinnen, jetzt sind wir es, die Praktiker der Bildung.

In dieser prekären Situation sind alle Leute gefragt, denen die Bildung am Herzen liegt. Die PH-Bern hat bereits reagiert. Ähnlich wie in den sechziger Jahren, als ebenfalls ein Lehrkräftemangel herrschte und ganze Jahrgänge in halbjährige Praktikas geschickt wurden, werden jetzt Ausbildungsgänge verlängert, damit die PH-Studentinnen und -Studenten in den Schulen eingesetzt werden können. Das wird allerdings nicht reichen.

Wir brauchen auch die älteren pensionierten Lehrkräfte, sie sollten in der gegenwärtigen Situation mindestens einige Wochen ihres Rentnerdaseins opfern, um den Migrantenkids beizustehen, ihnen über diese kritische Phase zu helfen.

Sie sollten ihre geschützte Werkstatt einige Monate verlassen und versuchen, ihre didaktischen Konzepte nun in der schulischen Alltagsrealität auszuprobieren.

Mein Appell geht allerdings auch an die PH-Dozentinnen und -Dozenten, an die Lehrplanentwickler, die Redaktoren der Bildungsblätter, die Funktionärinnen und Funktionäre, alles ehemalige Lehrkräfte, die uns seit Jahren mit unausgegorenen, praxisfremden Vorgaben Stirnrunzeln verursacht und belustigt haben. Sie sollten ihre geschützte Werkstatt einige Monate verlassen und versuchen, ihre didaktischen Konzepte nun in der schulischen Alltagsrealität auszuprobieren. Wenn sie Erfolg haben, wäre es für sie die beste Werbung, wenn sie scheitern, können sie in Anspruch nehmen, einen äusserst wertvollen solidarischen Einsatz geleistet zu haben. Und sie werden zudem mit etwas belohnt, das der Gymnasiallehrer Sandro Trunz folgendermassen ausdrückte: «Es ist cool zu sehen, welche Entwicklung viele dieser Kids machen, wenn sie richtig geführt werden, wenn man sich für sie interessiert und etwas von ihnen verlangt. Du erzielst hier in kürzester Zeit sichtbare Effekte. Und du spürst ihre Dankbarkeit. Ich möchte zurzeit nicht an einem Gymnasium arbeiten. Ich mache hier einen eminent nützlichen und wichtigen Job. Das ist auch eine Belohnung.» (https://condorcet.ch/2022/04/das-kann-ich-den-kids-nicht-antun/ )

Einem ausgebildeten Gymnasiallehrer, der sich bereit erklärt, an der Sekundarstufe 1 zu unterrichten, einen Lohnabzug von 10% wegen nicht adäquater Papiere aufzubrummen, ist ohnehin schon absurd. In der gegenwärtigen Situation ist diese Verordnung geradezu fahrlässig.

Und die Rituale, in denen Schulinspektorinnen und Schulpflegemitglieder während ihres Kontollbesuchs in den Schulen einfach die verlangten Konzepte auf ihr Existieren hin abhaken, könnte man getrost durch zweitätige Besuche in allen Klassenzimmern der Schulhäuser ersetzen. Ein Realitätscheck schadet nie. Und die im Einsatz stehenden Lehrkräfte und Schulleitungen haben das Recht, eine Zeitlang von diesem hohlen Prozedere in Ruhe gelassen zu werden. Sie haben Wichtigeres zu tun.

Eine erste und leicht zu vollziehende Massnahme könnte das Kantonsparlament in Bern vollziehen. Einem ausgebildeten Gymnasiallehrer, der sich bereit erklärt, an der Sekundarstufe 1 zu unterrichten, einen Lohnabzug von 10% wegen nicht adäquater Papiere aufzubrummen, ist ohnehin schon absurd. In der gegenwärtigen Situation ist diese Verordnung geradezu fahrlässig.

Natürlich müssen sich die politisch Verantwortlichen fragen, wie es zu dieser prekären Situation hat kommen können, die man ja schon seit Längerem vorhergesagt hat. Aber jetzt ist nicht die Zeit für solche Diskussionen. Es braucht dringend Massnahmen, welche die gegenwärtige Lage mildern.

 

 

The post Lehrkräftemangel: Die grösste Bedrohung für die Chancengleichheit first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/04/lehrkraeftemangel-die-groesste-bedrohung-fuer-die-chancengleichheit/feed/ 1