Bürokratie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 31 Jan 2024 19:10:16 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bürokratie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Trotz Personalmangel: In Firmen, Schulen und Spitälern greift der Bürokratiewahn um sich https://condorcet.ch/2024/01/trotz-personalmangel-in-firmen-schulen-und-spitaelern-greift-der-buerokratiewahn-um-sich/ https://condorcet.ch/2024/01/trotz-personalmangel-in-firmen-schulen-und-spitaelern-greift-der-buerokratiewahn-um-sich/#comments Wed, 31 Jan 2024 19:10:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=15851

Neue Arbeitsplätze entstehen vor allem in der Verwaltung. Dort, wo die eigentlichen Dienstleistungen und Produkte entstehen, wird gespart und fehlt das Personal. In der Sonntagszeitung beschreibt der Journalist Armin Müller den zunehmenden Bürokratiewahn in unserem Alltag und zitiert dabei auch unseren Condorcet-Blog.

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Darin sind sich immer alle einig: Man sollte Bürokratie abbauen. Bloss mit der Umsetzung hapert es.

In Zahnarztpraxen ist der administrative Aufwand stark gestiegen, die Dokumentation der Hygienekette wird immer aufwendiger. Beim Anwenden von chemischen Stoffen werden die Praxen mit grossen Industrieunternehmen gleichgestellt, obwohl sie mit kleinsten Mengen arbeiten. Laufend muss schriftlich festgehalten werden, welche chemischen Mittel wie abgemischt und wann sie ersetzt wurden. Wegen mangelnder Dokumentation wurde kürzlich einem Zahnarzt der Desinfektionsraum versiegelt.

Armin Müller, Journalist Tamedia

In einem privaten Zürcher Unternehmen haben bisher die Angestellten die wenigen Büropflanzen gegossen. Jetzt muss ein Begrünungskonzept erarbeitet werden.

Wegen eines neuen Zulassungsverfahrens für Ärzte braucht das Universitätsspital Zürich seit kurzem für jeden Arzt und jede Ärztin, die auch an der Aussenstelle im Circle am Flughafen eingesetzt wird, eine separate Bewilligung. Der administrative Aufwand für das Spital hat sich verdoppelt, die Kosten haben sich vervielfacht, wie die NZZ berichtet. Wegen des neuen Zulassungsverfahrens mussten in der kantonalen Gesundheitsdirektion neue Stellen geschaffen werden.

Will eine Lehrerin heute mit ihrer Klasse eine Velotour machen, muss sie ein “Outdoor-Konzept” vorlegen. Besucht sie eine Badeanstalt, wird ihr immer öfter eine Art Vertrag vorgelegt, die sämtliche Eventualitäten regeln soll. “Ohne Unterschrift keinen Eintritt”, schildert der Lehrer Alain Pichard seine Erfahrungen.

Die Bürokratie wächst, als wäre es ein Naturgesetz

Überall muss gespart werden. In der Privatwirtschaft sowieso, aber auch im Bildungsbereich und im Gesundheitswesen, wo ein Mangel an Lehrpersonal und Pflegekräften beklagt wird. In den St. Galler Spitälern wurden Ende Jahr 440 Vollzeitstellen abgebaut, 117 Personen wurde gekündigt, darunter 51 aus Ärzteschaft und Pflege.

Überall dort, wo die eigentlichen Dienstleistungen und Produkte für die Kundinnen und Kunden entstehen, wird abgebaut und rationalisiert, am Spitalbett wie in der Fabrik. Nur die Verwaltung und die Stabsstellen werden ausgebaut. Längst nicht nur beim Staat, sondern auch in der Privatwirtschaft wächst die Bürokratie, als handle es sich dabei um ein Naturgesetz.

“Im Interesse, das Leben besser und effizienter zu gestalten, werden immer mehr Feedback- und Controlling­schlaufen eingebaut.”

Christoph Schaltegger, Professor für politische Ökonomie

 

Es gibt viel zu tun: Administration, Organisation, Controlling, Compliance, Evaluation, Registrierung, Dokumentation, Datenanalyse, Überwachung, Zertifizierung, Akkreditierung und Monitoring sorgen für zuverlässiges Stellenwachstum. Heute komme auf weniger als fünf Mitarbeitende ein Verwalter oder Manager, schätzen der US-amerikanische Ökonom Gary Hamel und der Unternehmensberater Michele Zanini.

“Im Interesse, das Leben besser und effizienter zu gestalten, werden immer mehr Feedback- und Controlling­schlaufen eingebaut”, sagt Christoph Schaltegger, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Luzern und Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik: “Die Krankheit heisst ‹Evaluitis›.”

Administrativpersonal wächst schneller als Pflegepersonal

Beispielhaft zeigt sich das im Gesundheitswesen. Gemäss Spitalstatistik des Bundesamts für Statistik ist das Pflegepersonal zwischen 2010 und 2021 in Vollzeitstellen um 21 Prozent gewachsen – das Administrativpersonal aber um 45 Prozent.

Vergleicht man die Entwicklung nicht nach Anzahl Stellen, sondern nach der Lohnsumme, geht die Schere noch weit dramatischer auseinander, wie Berechnungen von Fridolin Marty vom Unternehmensdachverband Economiesuisse zeigen.

Im Kantonsspital St. Gallen nahm die Gesamtbesoldung der Pflegefachkräfte zwischen 2012 und 2022 um 24 Prozent ab, diejenige des Administrativpersonals aber um 86 Prozent zu. Ähnlich war die Entwicklung im Regionalspital Muri AG. Im Universitätsspital Zürich stieg die Besoldung in der Administration seit 2009 gar um mehr als 260 Prozent.

“Wir haben keine Kostenexplosion, aber eine Regulierungsexplosion.”

Fridolin Marty, Economiesuisse

 

Offensichtlich ist nicht nur das Stellenwachstum in der Bürokratie viel stärker, auch das Lohnniveau ist überdurchschnittlich gestiegen. Die Verwaltung braucht mehr gut ausgebildetes, akademisches Personal, das sich mit der Umsetzung der zunehmenden Regulierung befasst. Für Pflegefachkräfte sind höhere Löhne hauptsächlich über akademische Weiterbildung und einen anschliessenden Wechsel in die Pflegebürokratie erreichbar. Das erhöht die Gesundheitskosten, ohne den Mangel in der Pflege zu beseitigen.

“Wir haben keine Kostenexplosion, aber eine Regulierungsexplosion”, sagt Fridolin Marty. Die Anzahl Geschäfte im Bundesparlament zum Gesundheitswesen hat enorm zugenommen, beschleunigt seit 2016. Dabei geht es meist um die Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit.

Ärzteschaft und Pflegefachkräfte sind mit viel Bürokratie beschäftigt

Die Folge ist eine Flut von Regulierungen in den Spitälern. Das Kantonsspital Luzern führt in seinem Qualitätsbericht nicht weniger als sechzig Register und Monitorings auf. Diese könnten “einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung und längerfristigen Qualitätssicherung leisten” – ob sie das wirklich tun, will niemand so genau wissen.

Die Qualität in den Spitälern hat sicher zugenommen, aber ebenso sicher bei weitem nicht im gleichen Ausmass wie der personelle Aufwand in der Verwaltung. Auch Ärzteschaft und Pflegefachkräfte werden zunehmend mit administrativen Aufgaben belastet. Der verrechnete Aufwand dafür hat seit 2018 pro Patient um 30 Prozent zugenommen. Das kostet Zeit, die dann für die Patienten fehlt. In den privaten Arztpraxen wenden die Mediziner mittlerweile etwa zehn Stunden pro Woche für administrative Tätigkeiten auf.

In einer Umfrage klagten angehende Ärztinnen und Ärzte über den administrativen Aufwand: “Es war frustrierend, wie viel Zeit ich am Compi oder am Telefon verbrachte”, sagte ein Medizinstudent. “Würde es im Restaurant gleich laufen wie im Spital, müsste die Kellnerin nach der Abendschicht noch aufschreiben, welche Menüs sie wann, an welchem Tisch und welcher Person serviert hat”, so eine Studentin.

Zunehmende Bildungsbürokratie

Ein enormes Wachstum verzeichnet die Bürokratie auch im Bildungswesen. An den Universitäten und Fachhochschulen bleibt das Wachstum der Lehrkräfte deutlich hinter den Studierendenzahlen zurück. Aber viel schneller wachsen die Stellen in der Administration.

In der obligatorischen Schule fallen auf eine Lehrperson durchschnittlich 14 Schülerinnen und Schüler. Dieses Betreuungsverhältnis bleibt seit vielen Jahren konstant. Viel schneller als die Schülerzahlen wächst dagegen die Bildungsbürokratie.

Während die Zahl der Lehrkräfte auf allen Bildungsstufen in Vollzeit zwischen 2012 und 2021 um 13 Prozent zugenommen hat, sind die Bildungsausgaben um 20 Prozent gestiegen, obwohl es in dieser Zeit keine Teuerung gab. Seit mehr als zwanzig Jahren wachsen die Bildungsausgaben stetig und weit stärker als das Bruttoinlandprodukt und als die Gesamtausgaben der öffentlichen Hand.

An den Lehrerlöhnen liegt es nicht. Das Lohnniveau auf der Primar- und Vorschulstufe ist seit 2012 um 3,8 Prozent gesunken. Jenes im Sekundarbereich ist zwar mit 1,5 Prozent leicht gestiegen, aber im Vergleich zu anderen Berufen klar unterdurchschnittlich. Für betriebswirtschaftliche und kaufmännische Fachkräfte stieg das Lohnniveau um über 10 Prozent.

“Es zählt, was man messen kann: Wie viele Projekte wurden bearbeitet, wie viel Geld hat man hereingeholt, wie viele Publikationen sind entstanden? Über den Inhalt der Forschung spricht man in der Verwaltung gar nicht mehr.”

Mathias Binswanger, Professor für Wirtschaftslehre

 

“An den Universitäten und Fachhochschulen ist die Kontrollbürokratie extrem ausgebaut”, sagt Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz. “Es zählt, was man messen kann: Wie viele Projekte wurden bearbeitet, wie viel Geld hat man hereingeholt, wie viele Publikationen sind entstanden? Über den Inhalt der Forschung spricht man in der Verwaltung gar nicht mehr.”

Auch Lehrerinnen und Lehrer werden zunehmend mit Papierkram belastet, verursacht durch die wachsende Bildungsbürokratie. “Windmühlen fortschreitender Wunschprosa der Bildungsbürokratie, die sich in Standardisierung, Kompetenzorientierung, Vermessung der Gesinnung, Top-Down-Politik und viel Ideologie breitmacht”, bringt es der Lehrer Alain Pichard in seinem Condorcet-Blog auf den Punkt.

Auch in der Privatwirtschaft wuchert die Bürokratie

Dass beim Personal an der Front gespart wird, während die Administration aufrüstet, ist kein exklusives Phänomen der staatlichen Anbieter. In der Privatwirtschaft läuft es nicht anders, es gibt bloss weniger verlässliche Daten.

Schweizer KMU bereiten sich derzeit auf das neue EU-Lieferkettengesetz vor, auf das sich die EU-Staaten im Dezember geeinigt haben. Sie sind nicht direkt betroffen, aber wenn sie an Grossunternehmen liefern, blüht ihnen ein Riesenaufwand für Analyse, Management und Dokumentation ihrer Lieferkette – und zwar vervielfacht, weil jeder Konzern die Dokumentation nach eigenen Standards, Formularen und Spezifikationen einfordert.

Die Konzernstäbe werden mit Spezialisten für Nachhaltigkeit, Risiko, Compliance und künstliche Intelligenz ausgebaut. Dabei geht es nicht nur um Anpassungen an neue Regulierungen, sondern zum Beispiel auch um Analysen dazu, wie das Unternehmen in Nachhaltigkeitsratings besser abschneiden kann. Andere Spezialisten arbeiten dann daran, die daraus entstehenden Kosten in der Fabrik wieder einzusparen.

Künstliche Intelligenz wird zu noch mehr Bürokratie führen

“Man misst die Produktivität bei den Angestellten in der Fabrik, bei den Pflegefachkräften im Spital oder bei den Forschern an der Universität und sucht ständig nach Sparmöglichkeiten. Nur nach der Effizienz dieser Bürokratie wird nicht gefragt, die wächst munter weiter”, sagt Mathias Binswanger.

Der Kampf gegen Bürokratie sei eine Sisyphus-Arbeit, erklärte er am Dienstag in einem Vortrag beim Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern. Auch künstliche Intelligenz werde keine Abhilfe schaffen, sondern im Gegenteil zu noch mehr Bürokratie führen.

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Eine halbchaotische Institution, die viel Kreativität und wenig Steuerung braucht https://condorcet.ch/2023/11/eine-halbchaotische-institution-die-viel-kreativitaet-und-wenig-steuerung-braucht/ https://condorcet.ch/2023/11/eine-halbchaotische-institution-die-viel-kreativitaet-und-wenig-steuerung-braucht/#comments Mon, 13 Nov 2023 05:25:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=15296

Es war die Starke Volksschule Zürich, welche zu einem Referat mit dem Psychologen und Psychotherapeuten Allan Guggenbühl eingeladen hatte. Die etwa 50 Anwesenden erlebten ein Feuerwerk geistreicher Analysen und verblüffend einfacher Erkenntnisse. Condorcet-Autor Alain Pichard war dabei.

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Natürlich hat der bekannte Ausbildner und Autor zahlreicher Fachbücher und Artikel zu den Themen Konfliktmanagement, Gewaltprävention, Bildung sowie Jungen- und Männerarbeit ein Heimspiel. Vor den 50 eher älteren Zuhörerinnen und Zuhörern wirkt der auch schon in die Jahre gekommene Referent spritzig, ja fast jugendlich. Der Vater von vier Kindern – das wird sofort klar – weiss, wovon er spricht. Kaum einer kennt die Jugendlichen in ihren Nöten und Bedürfnissen besser, und in der Gilde der Psychologen ist er – der ständig nah an der Praxis ist – schon fast seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen.

Allan Guggenbühl in Zürich bei einem Referat der Starken Volksschule Zürich: PH’s schaffen sich eine eigene Definitionsmacht

Guggenbühl kommt denn auch sofort zur Sache. Die Schule sei derzeit auf einer falschen Bahn. Ein Heer von Erziehungswissenschaftlern versucht seit ca. 15 Jahren, die Schule top-down von oben zu gestalten und umzuformen. Das erweise sich als schwierig, weil die Schule sehr schwierig zu steuern sei. Es handle sich hier um eine halbanarchische Institution mit vielen chaotischen Färbungen.

Die Arbeit in dieser Institution erfordere viel Kreativität, im Moment gehe aber gerade diese in einem auf Kompetenzen getrimmten Unterricht verloren. Der ehemalige Gitarrenlehrer weist darauf hin, wie wichtig die Vermittlung eines Kulturkanons sei, betont beispielsweise die Bedeutung des Singens. «Singen ist ein Teil der Arbeit, schon die Arbeitenden auf den Baustellen oder auf dem Felde pflegten früher zu singen.» Heute liest man im Lehrplan zur Musik Sätze wie: «Kann seinen Körper funktionell wahrnehmen und musisch darauf reagieren.»

Alle 10 Jahre kämen von den Pädagogischen Hochschulen neue Trends. Was bleibe, seien – vor allem auf der Oberstufe – demotivierte Schüler.

Skeptisch beurteilt der Referent auch die Tendenz, die Schule zu einem Erziehungsort verschiedener gesellschaftlicher Anliegen zu machen. Das führe meist ins Leere und zu einer Überfrachtung des Schulprogramms.

Guggenbühl – nun ganz in seinem Element – betont die Wichtigkeit der Klassengemeinschaft. Es sei für die Kinder wichtig dazuzugehören, denn die Schüler orientierten sich an Menschen. Die Rede von der kompletten Individualisierung sei ein Blödsinn. Die Idee des selbsttätigen Schülers, der alleine schon aufgrund der Tatsache, dass er selbst entscheiden könne, woran er arbeite, vor lauter Lernfreude explodiere, sei ein Betrug an den Lernenden. Man lerne in der Gemeinschaft und man lerne, weil die anderen es auch tun. Die Lehrkraft – am besten ein verantwortlicher Klassenlehrer oder eine selbstbewusste Klassenlehrerin – sei hier zentral. Sie müsse belastbar und risikofreudig sein, hinstehen, wenn es nötig ist, und auch Mut zur Emotion zeigen. Die Persönlichkeit des Lehrers sei ein zentraler Gelingensfaktor. Der Einzug der vielen zusätzlichen Bezugspersonen im Klassenzimmer führe zu einer Verantwortungsdiffusion.

Hingabe und Mut zur Emotion – die Lehrperson hat eine zentrale Bedeutung.

Kritisch geht er auch mit den Lernzielen in Sachen Sozialkompetenz ins Gericht. Für einen Lacher sorgte Guggenbühl, als er von einem Experiment an einer Schule erzählte, in der die Schüler den Unterricht hielten und die Lehrpersonen die Lernenden waren. «Sie können sich kaum vorstellen, wie oft die Lehrkräfte zu spät in den Unterricht kamen, wie undiszipliniert sie sich während der Lektionen verhielten.»

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden.

Es gibt Kritiker, die Guggenbühl eine gewisse Intellektuellenfeindlichkeit vorwerfen. Das hat auch mit dessen Referatstechnik zu tun. Guggenbühl untermauert seine Thesen immer wieder mit Praxisbeispielen und Anekdoten – positiven und negativen – und verzichtet gänzlich auf Literaturhinweise oder Quellenangaben. Es gilt die freie Rede ohne Manuskript. Es fallen verblüffende Sätze, deren Evidenz man dennoch überprüfen sollte. So behauptet Guggenbühl, dass die Anwesenheit einer zweiten Lehrperson sofort die Aufmerksamkeit beider Lehrkräfte auf die Schüler reduzieren würde. Da würde man gerne erfahren, welche Untersuchung dies belegt.

«Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen».

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden. Die würden aber in separaten Räumen fernab der schulischen Realität kreiert, gefüttert von ständig fliessenden Forschungsmitteln. Sie entwickelten sich damit immer mehr zu Playern der Bildungssteuerung. «Die obligatorische Weiterbildung gehört abgeschafft, es braucht mehrere Anbieter. Die Lehrkräfte sollen selber auswählen, was ihnen dient.»

Timotheus Bruderer moderierte den Abend souverän

Er fordert zudem einen Stopp der Papierproduktion: «Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen». In der Bürokratiekritik spricht man von Datenfriedhöfen. Als eine Massnahme schlägt der Psychologe – nun in typischer Guggenbühl-Art – vor, mit dem Protokollieren der Elterngespräche aufzuhören. So etwas zerstöre den Gesprächsfluss und die ungezwungene Gesprächskultur. Es schaffe auch einen autoritätsbehafteten Graben zwischen Lehrkraft und Eltern.

Der Mahner und Analyst Guggenbühl trägt seine Forderungen – und das unterscheidet ihn von vielen anderen Reformkritikern – stets charmant und freundlich vor. Man vernimmt kaum einen Alarmismus, und die missionarische Strenge fehlt völlig. Er verlässt sich auf die gnadenlose Plausibilität seiner Aussagen.

Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können?

Je länger das Referat dauerte, desto mehr hatte man das Gefühl, dass hier vorne eine Person aus dem Vollen schöpft und er dies noch stundenlang tun könne. Allan Guggenbühl aber – ganz der Psychologe – weiss, wann die Aufmerksamkeitsspanne ihre Grenzen erreicht. Das Publikum quittiert seine Ausführungen mit einem warmen Applaus. Dem Moderator Timotheus Bruderer gelingt es in der anschliessenden Fragerunde, die nervigen Co-Referate in Grenzen zu halten und sorgte damit auch für eine gehaltvolle Diskussion.

Dem Berichterstatter hinterlässt der Abend eine kleine Wunschprosa-Frage. Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können? Es ist anzunehmen, dass die Leitungen der PH’s ein solches Risiko scheuen.

 

 

 

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Es fehlt nicht an Lehrpersonen. Es fehlt an Lehrpersonen, die länger in ihrem Beruf bleiben wollen https://condorcet.ch/2023/06/es-fehlt-nicht-an-lehrpersonen-es-fehlt-an-lehrpersonen-die-laenger-in-ihrem-beruf-bleiben-wollen/ https://condorcet.ch/2023/06/es-fehlt-nicht-an-lehrpersonen-es-fehlt-an-lehrpersonen-die-laenger-in-ihrem-beruf-bleiben-wollen/#comments Wed, 14 Jun 2023 11:54:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=14274

Die Schulen suchen nach wie vor qualifizierte Lehrpersonen, obwohl eigentlich genügend von ihnen ausgebildet werden. Doch viele wandern ab oder reduzieren ihr Pensum. Condorcet-Autor Carl Bossard wirft den Bildungsverantwortlichen vor, die Lehrpläne zu überfrachten und den Unterricht zu bürokratisieren.

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«Robinson Crusoe» von Daniel Defoe zählte in den Jugendjahren zu meiner Lieblingslektüre. Wie habe ich mit dem Schiffbrüchigen mitgezittert! Im Sturm läuft sein Boot auf Grund; Robinson rettet sich an Land. Dann kontrolliert er das Wrack und verschafft sich einen Überblick, macht Inventur und analysiert die Lage. Zielgerichtet geht er ans Werk.

Wer die derzeitige Bildungssituation betrachtet, spürt: Auch in der Bildung sind wir da und dort auf Grund gelaufen, sind wegen Überbürokratisierung manövrierunfähig geworden, vergassen in der stürmischen Reformflut den Kompass und verloren vielfach die Zielkoordinaten aus den Augen. Wir haben das Bildungsboot inhaltlich weit überladen. Viele Lehrkräfte fliehen darum von Bord oder ziehen sich in Teilaufträge zurück. Die NZZ spricht vom «Notfall» Klassenzimmer. Wie bei Robinson braucht es eine ungeschönte Lageanalyse.

Humane Energie fürs Pädagogische resultiert aus Freiheit, nicht aus Direktiven und Dekreten.

Allerdings will kaum jemand die wirklichen Ursachen benennen. Die Kernproblematik bleibt tabu. Die Stäbe in den Bildungsdirektionen flüchten ins Oberflächliche und Unverbindliche. Sie berufen sich auf Pensionierungen, auf Lohnfragen und gestiegene Schülerzahlen. Dabei ist man sich hinter vorgehaltener Hand längst einig, dass die üppige Bürokratie viele Lehrer aus dem Beruf vertreibt. Es ist das, was unter dem Stichwort «Papierkram» daherkommt: Formulare, Berichte, Dokumente. Bildungsverwaltung und Administration wollen Schule und Unterricht von oben steuern; sie wollen standardisieren und reglementieren. So sind für Elterngespräche achtseitige Kriterienraster mit 157 Kompetenzen vorgeschrieben. Da heisst es für ein Kind der fünften Klasse beispielsweise: «Kann Problem- und Konfliktlösungen auf unterschiedlichen Ebenen vergleichen, z.B. Innerschweizer Eidgenossenschaft», unterteilt in vier Niveaustufen. Ein solch enges Raster erstickt jeden persönlichen Austausch.

Vorgaben und Vorschriften wachsen und wuchern. Pädagoginnen aber sollten kreativ sein und spontan gestalten können. Das bedingt Freiheit und Freiraum. Humane Energie fürs Pädagogische resultiert aus Freiheit, nicht aus Direktiven und Dekreten. Gute Pädagogik und Bürokratie passen nicht zusammen. Organisation aber kommt heute vor Interaktion: Da wird gemessen und getestet, evaluiert und verglichen, korreliert und prognostiziert wie noch nie. Freude haben höchstens die Beratungsbüros. Dicke Berichte entstehen und neue Erlasse. Viele Lehrpersonen fühlen sich darum gefangen in den Tentakeln administrativer Fesseln. Sie beklagen das Korsett künstlich konstruierter Komplexität heutiger Schulwelten. «Schule in Ketten», resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre. Doch die Bildungspolitik blickt konsequent weg.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Viele spüren, dass der Lehrplan 21 mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe und der Fülle von Kompetenzen überladen ist. Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Das Gesetz der Gegenbuchung! Darunter leiden vor allem der Kernbereich Rechnen und das Grundlagenfach Deutsch mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Das macht guten Lehrerinnen und engagierten Pädagogen zu schaffen. Sie hetzten von Thema zu Thema, beklagen manche – ohne die nötige Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne genügend Freiraum fürs Erlebnis und das Musische. Das hat seinen Grund: Die Primarschule hat sich inhaltlich entgrenzt. Gleichzeitig weiss man seit langem um den minimen Wirkeffekt vor allem von Frühfranzösisch. Die Langzeitstudie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger weist dies nach; sie stellt den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen infrage. Die Bildungspolitik verschliesst die Augen.

Will die Bildungspolitik den Lehrermangel beheben, muss sie sich auf den schulischen Kernauftrag besinnen.

Viele erleben, dass die angedachte Integration in dieser Form nicht recht funktioniert. Verhaltensauffällige Schüler belasten den pädagogischen Alltag. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum und erschwert den Unterricht. Die Koordinationsabsprachen mit all den Betreuungspersonen sind anspruchsvoll; der administrative Aufwand steigt. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Das geht auf Kosten des Kernauftrags Unterricht; oft verkommt er gar zur Nebensache. Viele Lehrpersonen können das nicht verantworten und ziehen die Konsequenzen. Auch hier schauen die Stäbe weg.

Nach dem Kentern seines Schiffes verschaffte sich Robinson Überblick. Er analysierte die Lage und konzentrierte sich aufs Wesentliche. Das gilt auch für die Bildungspolitik. Will sie den Lehrermangel beheben, muss sie sich auf den schulischen Kernauftrag besinnen. Schiffbrüchige sind sonst die Schulkinder.

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Zu wenig Lehrerinnen und Lehrer: die wahren Gründe https://condorcet.ch/2023/03/zu-wenig-lehrerinnen-und-lehrer-die-wahren-gruende/ https://condorcet.ch/2023/03/zu-wenig-lehrerinnen-und-lehrer-die-wahren-gruende/#comments Tue, 21 Mar 2023 13:33:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=13458

Landauf, landab sind Schulpräsidenten und Schulleiter daran, für das neue Schuljahr Lehrkräfte zu suchen. In der Ostschweiz ist die Situation zwar etwas weniger dramatisch als in anderen Landesteilen. In der Bodenseeregion konnten erneut alle offenen Lehrerstellen besetzt werden. Trotzdem bleibt die Situation auch hier angespannt, wie Gastautor Prof. Dr. Mario Andreotti schreibt.

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Für den sich seit Jahren zuspitzenden Lehrermangel werden vonseiten der Schulbehörden und Bildungspolitiker mehrheitlich Gründe genannt, welche die wahren Ursachen verschleiern. Es ist von zu tiefen Einstiegslöhnen, von zu grossen Klassen, von steigenden Schülerzahlen, von zunehmender Teilzeitarbeit der Lehrkräfte und dergleichen mehr die Rede. Das mag ja alles stimmen. Doch die eigentlichen Gründe für den akuten Mangel an Lehrkräften liegen anderswo.

Gastautor Prof. Dr. Mario Andreotti

Seit einiger Zeit brodelt es in verschiedenen Schulen, weil Schulbehörden, aber auch Schulleiter den Lehrkräften in teilweise forscher Gangart, sich am Lehrplan 21 orientierende Lernkonzepte verordnen wollen. Die Lehrkräfte werden dazu in Weiterbildungskurse geschickt, um auf ihre neue Rolle als Coaches oder Lernbegleiter getrimmt zu werden. Zudem werden sie kontrolliert und evaluiert, mit Lernberichten, Beobachtungsbögen, Protokollen und Koordinationssitzungen belastet, so dass sie kaum mehr zum Unterrichten kommen, geschweige denn Zeit für den menschlichen Kontakt mit den Schülern finden. Trotz ihrer mehrjährigen Hochschulausbildung traut man ihnen nicht mehr zu, den Unterricht selbständig zu organisieren. Es braucht dazu noch Lernberater, Schulentwickler, Evaluatoren, Supervisoren und Instruktoren, die in erster Linie zu kontrollieren haben, ob die einzelnen Lehrkräfte in ihr Raster passen.

Verpönter Frontalunterricht würde beste Lernergebnisse bringen

Der Lehrerberuf ist im Begriff, massiv abgewertet zu werden. Bis anhin organisierten und erteilten die Lehrkräfte den Unterricht und genossen dabei, im Rahmen des Lehrplans, Methodenfreiheit. Sie leiteten die Geschicke ihrer Klassen und wurden von administrativem Krimskrams weitgehend verschont, so dass sie sich ihrer Hauptaufgabe, dem Unterrichten, vollumfänglich widmen konnten. Heute haben die Lehrkräfte nach dem Lehrplan 21 zu unterrichten, der auf 470 Seiten über 2000 Kompetenzstufen auflistet. Die einst hochgehaltene Methodenfreiheit ist nur noch Theorie. Der Frontalunterricht, der nachgewiesenermassen die besten Lernergebnisse brachte, ist vollkommen verpönt. An seine Stelle tritt “selbstorganisiertes Lernen”, bei dem die Schüler ihren Lernprozess selber steuern sollen und die Lehrperson nur noch als Coach an der Seitenlinie den Lernprozess begleitet.

Zu all dem beklagen sich die Lehrkräfte zunehmend über die mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit. Überfüllte Klassen, integrativer Unterricht und ständig neue administrative Aufgaben tragen dazu bei, dass bei den Lehrkräften das Gefühl fehlender Anerkennung entsteht. Verwundert es da noch, dass unter solchen Bedingungen immer mehr Lehrkräfte die Freude am Beruf verlieren?

Prof. Dr. Mario Andreotti, Dozent für Neuere deutsche Literatur

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Ein Gespenst geht um in Europa – der Lehrermangel https://condorcet.ch/2022/06/ein-gespenst-geht-um-in-europa-der-lehrermangel/ https://condorcet.ch/2022/06/ein-gespenst-geht-um-in-europa-der-lehrermangel/#comments Tue, 28 Jun 2022 13:23:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=10985

Condorcet-Autor Roland Stark räumt in seinem Artikel mit einigen Mythen zum gegenwärtigen Lehrkräftemangel auf. Dagegen benennt er die seiner Meinung nach entscheidenden Faktoren: die massive Mehrbelastung der Lehrkräfte, welche diese in die Teilzeitarbeit treibt.

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Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge: Keines dieser Probleme wurde entschärft.

Aus heiterem Himmel prasselten in den letzten Tagen Berichte über einen dramatischen Lehrermangel auf die Öffentlichkeit nieder (siehe auch Nebelspalter). Der Schock ist auch eine Folge davon, dass in den Medien die Bildungspolitik seit vielen Jahren ein Schatt‚endasein fristet und qualitativ sowie quantitativ weit hinter der Tigermücke, dem Benzinpreis, den Affenpocken oder den We‚erkapriolen herhinkt. Schon ein flüchtiger Blick in die Zeitungen belegt, dass der Misere an unseren Schulen bedeutend weniger Aufmerksamkeit zuteil wird, als etwa dem Zustand der Schweizer FussballNationalmannschaft.
Die schrillen Weckrufe haben hektische Aktivitäten ausgelöst. Auf Initiative des Schweizerischen Lehrervereins (LCH) werden in verschiedenen  Kantonen politische Vorstösse für ein Monitoring zur Sicherstellung von ausreichendem und qualifiziertem Lehrpersonal eingereicht. Im Kanton BaselLandschaft denkt eine Arbeitsgruppe der Bildungsdirektion über kurz, mitt‚el und langfristige Massnahmen zur Behebung des Missstandes nach.

Jahrzehntelange Versäumnisse
Ein Blick weit in die Vergangenheit zurück offenbart schwere Versäumnisse der verantwortlichen Bildungsbürokratien. Vor über 20 Jahren, im Jahre 2001, startete das Basler Erziehungsdepartement das Projekt «hot help our teachers», dessen Anliegen es war, an der Verbesserung der Arbeitssituation der Baselstädtischen Lehrkräfte zu arbeiten und diese zu realisieren.
Die Schulen und ihre Lehrkräfte hatt‚en eine Phase permanenter Reformen hinter sich.

 

Die Fragestellung des Zürcher Instituts für Arbeitsforschung und Organisationsberatung lässt sich nach Aussagen der Wissenschaftler auf die gesamte schweizerische Schullandschaft übertragen und gilt unverändert bis zum heutigen Tag: Zu dieser Zeit, so die damalige Ausgangslage, befand sich das Schulsystem zusehends im Spannungsfeld von innerem Druck und äusserer Kritik. Die Schulen und ihre  Lehrkräfte hatt‚en eine Phase permanenter Reformen hinter sich. Die Überlastung der Lehrkräfte war bereits seit längerem ein unüberhörbares Thema. Gleichzeitig erfuhr der Lehrerberuf einen laufenden Imageverlust in der Öffentlichkeit. Die Schule stand zusehends in der öffentlichen Kritik als eine Institution, die ihren Auftrag nicht zufriedenstellend erfüllen kann. 2022 also wie 2001.
Die Ergebnisse der Untersuchung von Arbeitsbedingungen, Belastungen und Ressourcen der Lehrerinnen und Lehrer waren wenig überraschend. Ein paar Gespräche in der Kaffeepause in einem beliebigen Lehrerzimmer hätten die gleichen Erkenntnisse schneller und preisgünstiger zu Tage befördert. Sie sind (leider) unverändert auch nach über zwanzig Jahren aktuell.

Interessanterweise spielte die Forderung nach einer besseren Entlöhnung keine prioritäre Rolle; ein klarer Hinweis darauf, dass die Berichtersta‚ttung der letzten Wochen in den Medien mit dem Schwerpunkt «Lohn» an den tatsächlichen Sorgen der Lehrerschaft vorbeigeführt hat.

Als besonders belastend wurden folgende Punkte festgestellt:

  1. ausgeprägte Merkmale emotionaler Erschöpfung
  2. Verhalten «schwieriger» Schülerinnen und Schüler
  3. Heterogenität der Klasse
  4. Administrative Pflichten
  5. Ausserunterrichtliche Verpflichtungen
  6. Berufliches Image und Prestige
  7. Koordination von beruflichen und ausserberuflichen Verpflichtungen
  8. Zeitdruck bei der Arbeit
  9. Klassengrösse
  10. Neuerungen, Veränderungen im Schulsystem

Interessanterweise spielte die Forderung nach einer besseren Entlöhnung keine prioritäre Rolle; ein klarer Hinweis darauf, dass die Berichtersta‚ttung der letzten Wochen in den Medien mit dem Schwerpunkt «Lohn» an den tatsächlichen Sorgen der Lehrerschaft vorbeigeführt hat.

Aufblähung der Bildungsbürokratien
Kein einziges der in der Untersuchung von 2001 beschriebenen Probleme wurde seither entschärft. Im Gegenteil: Die Aufblähung der Bildungsbürokratien hat den administrativen Aufwand («Papierkrieg») massiv erhöht, die überstürzt durchgezwängte Einführung der integrativen Schule mit der Abschaffung der Kleinklassen hat die Heterogenität in den Klassen noch zusätzlich verstärkt. Das Image und die Autorität der Lehrkräfte haben weiter geli‚tten, die Ansprüche der Gesellschaft steigen stetig an. Das eigentliche Kerngeschäft wird immer weiter in den

Immer wieder genannt: zu viel Bürokratie!

Hintergrund gedrängt. Bereits 1999 hat die Studie von Hermann J. Forneck, dem ehemaligen Direktor der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, die strukturell bedingten Überzeiten von Lehrpersonen der Volksschule bestätigt: zu wenig Zeit für den Kernauftrag des Unterrichtens, zu viel Aufwand für zusätzliche Aufgaben, oft auch Nebensächliches.
Die fahrlässige Missachtung der Probleme durch die politisch Verantwortlichen über Jahrzehnte hat die Flucht aus dem Schulzimmer gefördert. Denn eigentlich besteht überhaupt kein Lehrermangel. Die Zahl der Studierenden an den Pädagogischen Hochschulen hat sich innert 15 Jahren mehr als verdoppelt. Auch Heilpädagoginnen und Heilpädagogen werden in genügender Zahl ausgebildet. Wir haben also nicht zu wenig Lehrkrätfe, sondern zu viele Lehrer und Lehrerinnen, die zu wenig unterrichten. Von den Zürcher Lehrerinnen und Lehrer unterrichten 80 Prozent in einen Teilzeitpensum. Im Durchschni‚tt beträgt ihr Arbeitspensum 69 Prozent eines regulären Pensums. Heilpädagogen arbeiten häufig nur wenige Stunden. Es gibt Schulleitungen, die können ihre Ressourcen nicht nutzen, weil die passenden Lehrer nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Mit mehr Geld ist diesen Schwierigkeiten nicht beizukommen.

Die vielen Teilzeitstellen führen nicht nur zu «Lehrermangel», sondern fördern auch die unselige Entwicklung, dass die Kinder bereits in der Primarschule mit mehr als einem halben Dutzend Lehrkräften konfrontiert sind.

Verzett‚elung, Unruhe, Hektik
Die vielen Teilzeitstellen führen nicht nur zu «Lehrermangel», sondern fördern auch die unselige Entwicklung, dass die Kinder bereits in der Primarschule mit mehr als einem halben Dutzend Lehrkräften konfrontiert sind. Ein sogenannter Klassenlehrer mit den Fächern Turnen
und Französisch ein paar Stunden wöchentlich ist keine Ausnahme mehr. Diese Verzett‚elung führt zusätzlich auch noch zu Stundenplänen, die in ihrer Unübersichtlichkeit an ein Maislabyrinth erinnern. Das produziert Unruhe und Hektik. Eine Lösung wäre, eine minimale Stundenzahl für die Lehrkräfte festzulegen, Kleinstpensen also zu verbieten. Die Forderung ist nicht populär, in linken Kreisen sowieso nicht, kein Weg aber führt daran vorbei. Es ist einfach nicht zu verantworten, dass die Gesellschaft Jahr für Jahr Tausende Lehrkräfte ausbildet und diese dann ihre Fähigkeiten den Schulen nur in homöopathischen Dosen zur Verfügung stellen. Voraussetzung allerdings ist, dass die Rahmenbedingun- gen der Lehrtätigkeit verbessert werden. Auch eine Entschlackung der Bildungsbürokratie (schlanker Staat nennen das die Bürgerlichen in der Theorie) hätt‚e positive Auswirkungen auf den Schulalltag, insbesondere auf den administrativen Aufwand für die Werktätigen an der «Front». Und nicht zuletzt: Die Wiedereinführung der Kleinklassen ist unerlässlich.

Roland Stark, 42 Jahre lang Lehrer in Kleinklassen in Pra‚tteln und Basel, Heilpädagoge

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In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Schulpraktiker https://condorcet.ch/2022/05/in-krisenzeiten-schlaegt-die-stunde-der-schulpraktiker/ https://condorcet.ch/2022/05/in-krisenzeiten-schlaegt-die-stunde-der-schulpraktiker/#comments Tue, 03 May 2022 09:58:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=10883

Der dramatische Lehrkräftemangel ist ein schweizweites Problem. Nach dem Artikel von Carl Bossard (Innerschweiz) und Alain Pichard (Biel) nimmt sich auch der ehemalige Bildungsrat Hanspeter Amstutz dieses Themas an. Er sieht die Bildungsverwaltung in der Verantwortung.

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Hanspeter Amstutz:
Beispielloses Versagen

Jahrelang versuchte die Zürcher Bildungsdirektion den chronischen Lehrermangel in der Volksschule kleinzureden. Doch letzte Woche erfolgte eine radikale Kehrtwende. Aufgrund der dramatisch verschlechterten Personalsituation erging ein eigentlicher Hilferuf an alle, die sich pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vorstellen können. Selbst Unausgebildete sollten sich für den Schuldienst zur Verfügung stellen, sofern sie sich die herausfordernde Aufgabe zutrauten. Dieses Versagen vorausschauender Bildungspolitik ist in neuerer Zeit wohl beispiellos.

 Hausgemachte Gründe für den Lehrermangel sind offensichtlich

Die Reaktionen in der Presse auf das konzeptlose Agieren der Bildungsdirektion und die zunehmenden Burnouts in der Lehrerschaft liessen nicht lange auf sich warten. Scharf formulierte Leserbriefe erschienen im Tages-Anzeiger und in der NZZ. Für die Leserbriefschreiber ist die überproportionale Zunahme der Schülerzahlen in den letzten Jahren kein ausreichender Grund, um den grossen Lehrermangel zu erklären. Alle kritisieren zu Recht, dass sich die dramatische Entwicklung längst abgezeichnet hat und für den Lehrermangel eine Reihe hausgemachter Ursachen vorliegen. Sie erwähnen die gestiegene Grundbelastung in den Regelklassen, weil die Kleinklassen abgeschafft wurden. Sie sehen im überladenen Lehrplan, in der Verzettelung auf zu viele Bildungsziele und in der oft praxisfernen Lehrerbildung die stärksten Belastungsfaktoren.

Jahr für Jahr wird die Lehrerschaft vertröstet, dass man das komplexe Fördersystem verbessern und versuchen werde, mehr Heilpädagoginnen einzusetzen. Doch dass dies in Zeiten des Lehrermangels Luftschlösser sind, ist allen klar.

Inkusion: Pragmatische Lösungen gefragt

Die kantonalen Bildungsdirektionen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass es den Verantwortlichen an Entschlossenheit mangelt, bei gewissen Schulprojekten endlich zu einem Abschluss zu kommen. Was wurde nicht schon alles geschrieben über die Integration verhaltensauffälliger Schüler in Regelklassen! Jahr für Jahr wird die Lehrerschaft vertröstet, dass man das komplexe Fördersystem verbessern und versuchen werde, mehr Heilpädagoginnen einzusetzen. Doch dass dies in Zeiten des Lehrermangels Luftschlösser sind, ist allen klar. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen mit aller Deutlichkeit, dass bei einer zu grossen Zahl an verhaltensauffälligen Schülern auch bei grösstem Einsatz der Klassenlehrer die Integration zum Scheitern verurteilt ist. Nötig sind pragmatische Lösungen mit Einbezug von gut geführten Kleinklassen, um die blockierenden Dogmen in der Integrationsfrage endlich überwinden zu können.

Erfahrene Kolleginnen unterstützen mit Rat und Tat Studierende, die vorzeitig in Vikariaten eingesetzt werden. Bei den Schulleitungen hat man gemerkt, dass gut qualifiziertes und zupackendes Personal weit wichtiger ist als die Lenkung des Bildungsgeschehens durch ausgeklügelte Lernprogramme und zeitraubende Lehrplan-Weiterbildungen.

Gefragt ist Zupackendes Engagement und Besinnung aufs Wesentliche

Um in diesen aufwühlenden Zeiten die Qualität unserer Volksschule zu erhalten, braucht es ein aussergewöhnliches Engagement der Lehrerinnen und Lehrer. Die meisten arbeiten nicht erst seit Corona weit mehr, als dies der kleinkarierte Berufsauftrag vorschreibt. Würde man die Überstunden am Jahresende kompensieren, könnte einige bereits im November in die Ferien gehen. Der Aufruf zur Unterstützung der Schulen verhallt zum Glück nicht ungehört. Manch pensionierter Lehrer übernimmt in seiner ehemaligen Schule eine verwaiste Klasse. Lehrerinnen erhöhen trotz Familienpflichten ihr Pensum oder springen spontan für eine erkrankte Kollegin ein. Erfahrene Kolleginnen unterstützen mit Rat und Tat Studierende, die vorzeitig in Vikariaten eingesetzt werden. Bei den Schulleitungen hat man gemerkt, dass gut qualifiziertes und zupackendes Personal weit wichtiger ist als die Lenkung des Bildungsgeschehens durch ausgeklügelte Lernprogramme und zeitraubende Lehrplan-Weiterbildungen. In der Praxis muss die Spreu vom Weizen geschieden werden, wenn die Schulen die Krise unbeschadet überleben wollen. Schulpraktiker geniessen wieder sehr viel mehr Kredit, und das ist gut so. Jetzt bietet sich die Chance, die Schulen pädagogisch und inhaltlich wieder aufs Wesentliche auszurichten.

Dringend nötig wäre ein schonungsloses Überprüfen umstrittener Reformen und aufwändiger administrativer Massnahmen der letzten Jahre.

Die Bildungspolitik muss endlich ihre Hausaufgaben lösen

Und was tun lautstarke Bildungspolitiker in dieser wichtigen Phase? Einige schweigen, und das ist nicht einmal das Dümmste. Doch ihre Aufgabe wäre es eigentlich, all die Hemmnisse in den Schulen abzubauen, welche das tägliche Unterrichten erschweren. Dringend nötig wäre ein schonungsloses Überprüfen umstrittener Reformen und aufwändiger administrativer Massnahmen der letzten Jahre. Und nicht zuletzt wäre es auch die Aufgabe einer mutigeren Bildungspolitik, den Ursachen des Lehrermangels auf den Grund zu gehen.

KV-Lehre: schwammige Konzepte

Ein Blick auf das Gesamtsystem unseres Bildungsangebots zeigt, dass auch die KV-Schulen in einer turbulenten Phase stecken. Dieser wichtige Zweig des dualen Berufsbildungssystems ringt je länger je mehr um begabte Schülerinnen und Schüler, die zwischen KV-Lehre und Gymnasium schwanken. Doch die Bildungsverantwortlichen sind drauf und dran, die Weichen mit der neuen KV-Reform falsch zu stellen. Statt in Leistungsfächern die Jugendlichen gründlich auszubilden, werden schwammige Konzepte mit Modulen für situatives Verhalten entwickelt. Erfahrene KV-Lehrpersonen sind entsetzt über die unausgegorene Reform. Sie befürchten wohl zu Recht einen massiven Abbau an Schulqualität. Interessant ist, dass die Banken beim neuen Modell ausscheren und weiterhin an einem fächerorientierten Unterricht festhalten.

Die Stärkung der Berufsbildung bleibt eine Herausforderung

Vielleicht hilft ein Blick über die Grenzen, um fatale Entwicklungen im Bildungsbereich noch zu verhindern. In einigen deutschen Bundesländern hat die Verwässerung der Anforderungen an den Mittelschulen zu einer Zunahme der Abiturientenquote auf über 50 Prozent und zu einer höchst unerfreulichen Abwertung der Berufsbildung geführt. Universitäre Ausbildungen sind das Ziel, handwerklich-technische Berufe gelten als zweite Wahl. Die Schweizer Bildungspolitik müsste durch die hohe Arbeitslosigkeit in Ländern mit einem zu leichten Zugang zu den Gymnasien und einem tiefen Sozialprestige der Berufslehren gewarnt sein. Besser als eine Erhöhung der Maturitätsquote ist eine Aufwertung der Berufslehren vom KV bis zur Schreinerlehre, denn ohne hervorragend ausgebildete Berufsfachleute kann unsere Wirtschaft ihre starke Stellung nicht behaupten.

Hanspeter Amstutz

Ehemaliger Bildungsrat und Sekundarlehrer

Fehraltorf

 

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