Bossard - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 12 Jul 2021 13:51:57 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bossard - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Kann es Brücken geben? https://condorcet.ch/2021/07/kann-es-bruecken-geben/ https://condorcet.ch/2021/07/kann-es-bruecken-geben/#respond Mon, 12 Jul 2021 13:11:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=8930

Codorcet-Autor Felix Schmutz nimmt die Frage von Alain Pichard (siehe Kommentar "Wo sind die Brücken?" 11.7.21) auf und konkretisiert sie, ohne sich allerdings allzu grosse Illusionen zu machen.

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Felix Schmutz, Baselland

Alain Pichard vermisste an der St. Galler Podiumsverantstaltung «Der schiefe Turm von PISA» den Brückenschlag zwischen der Leistungsevaluation gemäss PISA und dem ganzheitlichen Bildungsideal, das Carl Bossard vertritt. Ist ein Kompromiss überhaupt möglich? Gibt es Elemente in den beiden Positionen, die sich zu einer Synthese fügen lassen? Könnte die eine Position auf Elemente verzichten, um der andern entgegenzukommen? Jedenfalls wäre das eine Möglichkeit des Brückenschlags. Um darauf antworten zu können, ist ein Blick auf die Voraussetzungen der Positionen Moser und Bossard nötig. Zentral ist bei beiden Kontrahenten das Bildungsverständnis und der Geltungsanspruch ihrer Thesen.

Moser räumt zwar ein, dass die PISA-Erhebungen nur das pädagogisch

Dr. Urs Moser, Institut für Bildungsevaluation: Nie gegen den Missbrauch gewehrt?

Messbare untersuchen, um es in den schulischen Ländervergleich einzubeziehen. Damit scheint er die Bedeutung der Evaluationen zu relativieren. Doch erweist sich diese Konzession als Scheinrückzieher. Denn Moser hat sich nie dagegen gewehrt, dass die Resultate der PISA-Messungen als verbindliche Bildungsstandards der Schulabgehenden gewichtet wurden. Auch wenn er selbst vielleicht die Resultate relativiert, lässt er zu, dass für die Bildungspolitik und die Pädagogischen Hochschulen die PISA-relevanten Prüfungsaufgaben definieren, was Bildung sei. Und dass, wer diese Aufgaben löst, den gesellschaftlichen Bildungsstandard erfüllt.

Bildung ist für PISA ein abgestuftes Fähigkeitsraster, das aus gelösten oder nicht gelösten Aufgabenserien konstituiert wird.

Die entscheidende Voraussetzung dieser These ist der kompetenzbestimmte Bildungsbegriff, wonach Lernende Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Lösen definierter Aufgaben erwerben sollen. Bildung ist demnach ein modulartig strukturiertes Gebäude, dessen Elemente einzeln eingesetzt und abgerufen werden können. Denn nur eine solch baukastenartige Struktur lässt überhaupt zu, dass von punktuellen Aufgabenlösungen auf individuelle Abstufungen der Bildung geschlossen werden kann. Bildung ist für PISA ein abgestuftes Fähigkeitsraster, das aus gelösten oder nicht gelösten Aufgabenserien konstituiert wird.

Woher nehmen sich die PISA-Verantwortlichen eigentlich das Recht heraus zu entscheiden, welche Aufgabe welchen Schwierigkeitsgrad darstellen soll?

Auf welche objektive Grundlage stützen sie sich ab?

Bleibt die Frage, woher sich die PISA-Verantwortlichen eigentlich das Recht herausnehmen zu entscheiden, welche Aufgabe welchen Schwierigkeitsgrad darstellen soll. Auf welche objektive Grundlage stützen sie sich ab? Die wenigen an die Öffentlichkeit gedrungenen Aufgabenbatterien von PISA wie auch andere vom IBE (Mosers Institut für Bildungsevaluation) durchgeführte Tests lassen jedenfalls erhebliche Zweifel aufkommen, ob die Prüfungen nach fachlich sauberen Kriterien in Flächentests geeicht wurden. Es gibt starke Bedenken, ob die Tests wirklich valide und reliabel sind, denn jede statistische Erhebung im Schulbereich hängt schliesslich von sinnvoll konzipierten Testfragen ab.1  

Hemdsärmlig konzipierte Tests

Ob zu Recht oder nicht, das IBE masst sich die Definitionshoheit darüber an, wie der Bildungsstand der Schülerschaft zu beurteilen sei. Seit Jahren kritisieren Lehrkräfte die oft hemdsärmlig konzipierten Tests, die schulpraktischen und didaktischen Kriterien nicht standhalten.2  Der vermeintlich objektive, da messbare Bildungsstand könnte sich leicht als Scheinwahrheit entpuppen. Die Aufgabenserien des IBE «Mindsteps», die zur Testvorbereitung angeboten werden, spielen dabei die Rolle einer digital vermittelten Scheindidaktik, deren Aussagekraft und Wert nicht den abgegebenen Versprechungen entspricht, sondern hauptsächlich ein «Teaching to the Test» darstellt, indem die Lernenden auf die immer gleichen Aufgabenformate getrimmt werden, das echte Verständnis der Sache jedoch nebensächlich bleibt .3

Das ist ein Lernen, das nicht baukastenartig funktioniert, mit abzuhakenden Einzelkomponenten.

Carl Bossards Bildungsbegriff ist ein ganzheitliches Konzept.

Carl Bossards Bildungsbegriff ist ein ganzheitliches Konzept, das Lernen als Begegnung mit Wissensgegenständen, als Verstehens- und Aneignungsprozess mit dem Ziel der eigenständigen Anwendung des Gelernten versteht und bei dem die Beziehung zur Lehrperson Katalysatorwirkung entfaltet.

In dieser Konzeption scheint Bildung viel diffuser als in der kompetenzbasierten Auffassung. Das ist ein Lernen, das nicht baukastenartig funktioniert, mit abzuhakenden Einzelkomponenten. Es ist ein schrittweises Herantasten, ein Vor- und Zurückschreiten, ein Assoziieren, ein Auf-der-Stelle-Treten, manchmal ein heureka-artiges Begreifen, ein holistisch ausgerichtetes geistiges Wachsen, immer begleitet und gestützt von einer den Prozess anstossenden Lehrperson. Es ähnelt der Vorstellung von einem verschlungenen Pfad, der mit den komplexen Vorgängen des lernenden Gehirns besser übereinstimmt als der in Kompetenzmodule zerlegte Baukasten.

Lesen, Schreiben, Rechnen, sachkundliches und kulturelles Allgemeinwissen: Erst auf der Basis solcher Grundlagen kann weiteres Wissen und Können modulartig, z.B. in der Berufsausbildung oder in der Erwachsenenbildung, erworben werden.

Entscheidend ist dabei, dass es sich bei den Inhalten um die initiale Grundbildung in kulturellen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt: Lesen, Schreiben, Rechnen, sachkundliches und kulturelles Allgemeinwissen: Erst auf der Basis solcher Grundlagen kann weiteres Wissen und Können modulartig, z.B. in der Berufsausbildung oder in der Erwachsenenbildung, erworben werden.

Welche Fähigkeiten wurden erworben? Welche Ziele wurden erreicht? Wie lässt sich der Erfolg messen?

Die Schwachstelle dieses Bildungskonzeptes ist die Minderrepräsentation des Resultats der Bemühungen. Was wurde gelernt? Welche Fähigkeiten wurden erworben? Welche Ziele wurden erreicht? Wie lässt sich der Erfolg messen? Bei dieser Form von Bildung führt eine Lerneinheit nicht zu abgezirkelten Kompetenzen, sondern zu einem Bündel von Kompetenzen, die je nach individuellen Gegebenheiten abgerufen und weiterentwickelt werden können. Es ist zukunftsoffen ausgerichtet im Gegensatz zum Kompetenzlernen, das auf abgeschlossene Einzellösungen zielt.

Es ist durchaus möglich, dass PISA-Aufgabenformate, wenn sie denn fachlich sinnvoll aufgebaut sind, mit Bossards lernbasiertem Konzept ebenso gut oder besser bewältigt werden können als mit dem kompetenzbasierten Bildungsbegriff. Allerdings drängen sich mit dem lernbasierten Konzept freiere und kreativere Aufgabenformate auf, die statistisch weniger gut zu fassen sind. Die oft benützten Multiple Choice-Formate bei PISA können Testkandidaten durch ihre Erbsenzählerei und kleinliche Verwirrstrategie allerdings auch ablenken, sodass nicht mehr Sachkenntnisse für die Beantwortung entscheidend sind, sondern Lösungsstrategien zur Bewältigung der Auswahlangebote.

Wie könnte der Brückenschlag gelingen?

Wie also könnte ein Brückenschlag zwischen den beiden Bildungskonzepten allenfalls gelingen?

  1. Moser muss mit der Einschränkung, dass Bildung nicht nur auf Messbares reduziert werden kann, endlich ernst machen, indem er davon abrückt, seine (zufälligen und anfechtbaren) Aufgabenserien als Bildungsstandard zu verallgemeinern. Stattdessen gibt er präzise an, welche Teilaspekte er geprüft hat und legt offen, welche Aufgaben er verwendet hat, damit seine Resultate überprüfbar sind. Er beschränkt seine Aussagen auf das, was er tatsächlich gemessen hat, und verallgemeinert die Resultate nicht mehr.
  2. Moser muss anerkennen, dass Lernen ein ganzheitlicher, im Beziehungsrahmen stattfindender Prozess ist, der zwar didaktisch schrittweise gesteuert wird, aber im Gehirn der Lernenden komplizierter abläuft, als der Modulbaukasten seiner Aufgabenbatterien suggeriert, insbesondere im Volksschulalter der Lernenden.
  3. Bossard anerkennt, dass schulisches Lernen auch überprüfbare Resultate zeitigen muss. Lehrpersonen formulieren dafür geeignete Ziele und schlagen Moser Aufgaben vor bzw. beraten Moser bei der Formulierung der Aufgaben. Es müssen erfahrene Lehrpersonen sein, die täglich mit Jugendlichen der Alters- und Leistungsstufen praktisch arbeiten und welche die interpretationsbedürftige, abstrakte Sprache des Lehrplans 21 aufschlüsseln können. Fachhochschuldozenten und Universitätsvertreter haben dabei nichts verloren, sie werden allenfalls konsiliarisch beigezogen.
  4. Da die Vermittlung von Grundlagen auch zukunftsgerichtete, nicht messbare Lernprozesse in Gang setzt, liegt es nahe, Testresultate beim Abgehen von der Schule rückwirkend durch die Erfolgsbilanz der späteren Berufs- oder Gymnasialbildung ergänzend in Betracht zu ziehen. Der tatsächliche Wert der Schulbildung zeigt sich oft erst in Potenzialen, die zwar in der Schule aufgebaut wurden, messtechnisch jedoch bei Schulabgehenden nicht feststellbar sind. Dies ist die Erfahrung vieler Ehemaliger, die ihre Schulzeit im Rückblick bilanzieren. Obwohl nicht messbar, können Studien- und Berufsabschlüsse auch ein Indikator von Schulqualität sein. Das IBE müsste die Testresultate von PISA in einer Langzeitstudie mit der späteren Erfolgsbilanz der Testierten verknüpfen und entsprechend revidieren.
Weiterhin den Gesslerhut grüssen?

Die genannten Vorschläge liessen sich bei schweizinternen Tests sicher verwirklichen, bei PISA hingegen gelten OECD-Vorgaben, die den Brückenschlag kaum zulassen. Man ist versucht, bei PISA die «fremden Vögte» zu bemühen, die uns ihr Bildungskonzept aufzwingen und in deren Sold das IBE steht. Wo ist der Tell, der dem OECD-Gessler Einhalt gebietet?

 

1 Dazu die Kritik an der ÜGK des IBE in: Dr Antoine Fischbach & Dr Sonja Ugen, ÜGK/COFO Mathematics 2016 Audit Report, Commissioned by EDK/CDIP Upon the Request of KOSTA HarmoS, Luxembourg, 23 February 2018:

“Crucially … these descriptors … lack proper empirical validation” (S. 25)

“Item development can be substantially improved and is currently the weakest link in the ÜGK/COFO operation” (S. 26)

2 Philipp Loretz Checks im Realitätscheck – Problemanalyse des LVB nach 5 Jahren Erfahrung in: lvb inform  Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins BasellandSchuljahr 20/21, Nummer 04 Juni 2021 S. 18ff.

3 Felix Schmutz, Kompetenzen, Standards: Alles klar? Condorcet-Blog, 12. Juni 2019

 

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Kommentar zur St. Galler Podiumsveranstaltung: Wo sind die Brücken? https://condorcet.ch/2021/07/kommentar-zur-st-galler-podiumsveranstaltung-wo-sind-die-bruecken/ https://condorcet.ch/2021/07/kommentar-zur-st-galler-podiumsveranstaltung-wo-sind-die-bruecken/#respond Sat, 10 Jul 2021 08:57:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=8884

Condorcet-Autor Alain Pichard findet es in seinem Kommentar befremdlich, wie die Medien eine solch hochkarätig besetzte Bildungsdiskussion negieren. Beiden Referenten zollt er Respekt, vermisst aber die Suche nach möglichen Brückenschlägen.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE):
Besonders unseren reformkritischen Kolleginnen und Kollegen müsste dieser Fall zu denken geben.

Kein Zweifel, die von den Ostschweizer Kinderärzten organisierte Vortragsreihe zu Schul- und Bildungsthemen gehören zum Besten, was die gegenwärtige Bildungsdiskussion in diesem Land zu bieten hat. Hier werden wirklich relevante Themen mit kompetenten Persönlichkeiten besprochen, und das seit Jahren. Die Tatsache, dass sich die Kinderärzte bei der Wahl der Gäste und der Ausrichtung der Diskurse an keine behördlichen Agenden halten, stiess in den Schaltzentralen der Reformpolitik nicht immer auf Gegenliebe. Auch behördliche Mahnungen, sich nicht in politisch brisante Themen zu positionieren, waren zu vernehmen. Und wie das heute so ist, steht auch eine immer enger werdende Berichterstattung stramm auf Behördenlinie. Seit Jahren werden die Veranstaltungen der Ostschweizer Kinderärzte negiert. Oder wie soll man es deuten, wenn in der Stadt St. Gallen der schweizweit bedeutendste Experte für Bildungsevaluation auf einen prominenten Kritiker der Vermessungsindustrie trifft, und kein einziges lokales Medium berichtet darüber?

Ganz im Gegensatz zu diesen engen Denkschemen setzen die Verantwortlichen dieser Bildungsveranstaltungen auf den offenen und fairen Diskurs. Ohne Zweifel sind die Reformkritiker unter den Zuhörern in der Mehrheit. Aber ihnen wird auch etwas zugemutet. Sie müssen sich gegensätzliche Positionen anhören und tun dies auch. Es gibt nie Missfallensäusserungen und am Schluss auch einen freundlichen Applaus.

Mit dem Empiriker Urs Moser und dem Pädagogen trafen zwei Menschen aufeinander, die nicht in die gängigen Schemata passen.

Mit dem Empiriker Urs Moser und dem Pädagogen trafen zwei Menschen aufeinander, die nicht in die gängigen Schemata passen. Der nüchterne und brillante Analyst Moser ist keineswegs nur der kalte Technokrat, der alles standardisieren will. Er hat durchaus auch eine kritische Haltung zu den Auswüchsen der Testmanie und ist vom Lehrplan 21 nicht vollends überzeugt. Und Carl Bossard ist nicht einfach nur der Pädagoge mit Herzblut und Engagement. Vielmehr verfügt er über ein enormes Wissen in der Pädagogik, seine publizistischen Beiträge erfüllen stets höchste wissenschaftliche Kriterien. Seiner Meinung nach müsse sich Unterricht auch hinterfragen lassen.

Zum Schluss eine Anregung

Da wäre es spannend gewesen herauszufinden, wo sich diese beiden Herren treffen können, wie die Brücken gebaut sein müssten, auf denen sie sich finden und miteinander verhandeln könnten. So blieb es einfach bei einer Gegenüberstellung mehrheitlich bekannter Positionen mit klarem Heimvorteil für Carl Bossard. Vielleicht – und das soll jetzt mehr als Anregung und nicht als Kritik verstanden sein – wäre es in diesem Fall angebracht gewesen, die Länge der Referate zu begrenzen und dafür eine Diskussion folgen zu lassen, die von einem kompetenten Moderator oder einer kompetenten Moderatorin geleitet würde, mit der Aufgabe, die möglichen Brückenköpfe zu sondieren.

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Von der pädagogischen Wirkkraft des Pygmalion-Effekts https://condorcet.ch/2019/09/von-der-paedagogischen-wirkkraft-des-pygmalion-effekts/ https://condorcet.ch/2019/09/von-der-paedagogischen-wirkkraft-des-pygmalion-effekts/#respond Sun, 08 Sep 2019 08:48:50 +0000 https://condorcet.ch/?p=2156

„Karl, das kannst du!“ An diese Worte meines Primarlehrers erinnere ich mich noch immer. Und ich weiss: Erwartung ist ein wirkungsstarkes Wort. Nicht als flinke Phrase formuliert, sondern als echtes Feedback artikuliert und mit Lernhilfen intensiviert. Gedanken von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Bild: fabü

Sechste Klasse, strenge Zeit! Der Übertritt steht bevor. Doch die Welt hält noch anderes bereit als nur Unterricht. Da ist beispielsweise das Mädchen in der Parallelklasse. Schule wird zur Nebensache; Kraft und Konzentration kanalisieren sich neu. Ich weiss noch, wie ich in dieser Zeit einen schluderig formulierten Text abgegeben habe. Unser Lehrer hat jeden Aufsatz eigenhändig korrigiert – elf in der fünften, elf in der sechsten Klasse – und ihn mit jedem Einzelnen besprochen. Kurz. Klar. Konzentriert. Ich stand vor ihm am Pult. Hinter seiner Strenge leuchtete etwas. Er zeigte mir die Korrektur und sagte lediglich den einen Satz: „Karl, das kannst du!“ Mehr nicht.

Lehrererwartungen wirken

Die Aussage traf mich; die wenigen Worte wirkten: Der Lehrer traute mir Besseres zu; er erwartete mehr, als ich im Moment lieferte. Unbewusst nahm ich wahr: Er wollte den Brotkorb hoch hängen, damit sich mein geistiger Hals recke. Und er traute es mir zu; er vertraute mir.

Vertrauen ist der Anfang von allem. Auch in der Pädagogik – in diesem subtilen intersubjektiven Geschehen zwischen Lehrpersonen und ihren Kindern und Jugendlichen. Vertrauen, dieses kleine Wort mit neun Buchstaben, ist gebunden an Glaubwürdigkeit. Es bedarf kaum vieler empirischer Daten, um zu erkennen, welchen Einfluss das Vertrauen und die damit verknüpfte Glaubwürdigkeit im menschlichen Miteinander haben.

Glaubwürdigkeit als Kern einer intakten Lehrer-Schüler-Beziehung

Ohne Glaubwürdigkeit sind Kooperation und Kommunikation nur erschwert möglich. Das haben viele schon erfahren. Darum überrascht es nicht, dass John Hatties wegweisende Studie dem Faktor „Glaubwürdigkeit“ der Lehrperson eine der höchsten Effektstärken zuordnet.[1] Ihre Glaubwürdigkeit beeinflusst den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler positiv. Viele Daten zeigen es.

Glaubwürdigkeit basiert auf ehrlichem, intensivem Feedback und klarer, konkreter Sprache.

Glaubwürdigkeit basiert auf ehrlichem, intensivem Feedback und klarer, konkreter Sprache. Beiden Aspekten kommt – nicht überraschend – ebenfalls ein grosser Wirkwert zu. Klarheit braucht pädagogischen Mut. Fehler beschönigen oder sie gar verschweigen versperrt Lernwege und schwächt das Vertrauen. Die Lernenden wissen meist um ihre Schwächen; sie können sie aber nicht präzis benennen. Oberflächliches Feedback kratzt darum an der Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Eine differenzierte, sachlich unerbittliche Rückmeldung, menschlich wohlwollend und zuversichtlich formuliert, stärkt die Lehrer-Schüler-Beziehung.

Lernen braucht intakte Beziehungen

Mein Text aus der sechsten Klasse war schlampig verfasst; irgendwie wusste ich es. Doch der Lehrer sagte nicht: „Das ist unbrauchbar! Das kannst du nicht!“ Er verwies mich lautlos auf die Korrektur und meinte nur: „Karl, das kannst du!“

Wie Rückkoppelungen formuliert werden und wirken, ist wissenschaftlich gut untersucht.[2] Entscheidend im Feedback-Verhalten sind Sprache und Ausdruck. Spürt die Schülerin die Zuversicht der Lehrperson? Erfährt der Schüler eine wertschätzende Haltung des Vertrauens und Zutrauens? Erkennt der junge Mensch die Differenz zwischen Sein und Sollen? Und weiss er, was der Lehrer von ihm erwartet?

Unterricht ist im Kern Beziehungsarbeit

Lernen braucht eine intakte Lehrer-Schüler-Beziehung und eine angstfreie, lernförderliche Atmosphäre der Zuversicht. Der Schlüssel dazu ist die Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse.

Neu ist die viel höhere Effektgrösse, die John Hattie heute dem Faktor „Lehrererwartung“ zuordnet, dies im Vergleich zu seiner Ursprungspublikation von 2009.[3] Zusätzliche Studien bestätigten in der Zwischenzeit, wie wichtig dieser Aspekt ist. Sie verstärkten den Wirkwert der Lehrererwartung. Das lässt aufhorchen.

Pygmalion-Effekt mit Langzeitwirkung

Pygmalion Bild: AdobeStock

Bekannt geworden ist dieser Effekt durch die berühmte Studie „Pygmalion im Unterricht“ von Robert Rosenthal und Leonore F. Jacobson.[4] Die beiden Forscher wiesen 1968 nach: Wenn Lehrpersonen ein positives Bild von Lernenden haben und viel von ihnen erwarten, fördern sie diese Jugendlichen stärker als deren Mitschülerinnen und Mitschüler. Das zeigt sich beispielsweise an der Intensität der Zuwendung oder an der Geduld bei Lernprozessen. Winfried Kronig, Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Freiburg i. Üe., konnte nachweisen, dass die Erwartungshaltung der Lehrperson aus der zweiten Klasse die Leistung in der 6. Klasse noch immer beeinflusst – dies über eine Zeitachse von vier Schuljahren.

Der Pygmalion-Effekt zählt zu den bestuntersuchten pädagogischen Wirkfaktoren. Prototypisches Beispiel ist der Phonetiker Higgins im Musical „My Fair Lady“, verfilmt mit Audrey Hepburn und Rex Harrison. Higgins glaubt an das Blumenmädchen Eliza Doolittle und traut ihr das blütenreine Oberklassen-Englisch zu. Eliza schafft es und besteht beim Ball des Botschafters als angebliche Herzogin.

Sich der Erwartungen an die Schüler bewusst sein

Umgekehrt lässt der Pygmalion-Effekt auch den Schluss zu, dass gleichgültige oder gar negative Lehrererwartungen zu schwächeren Lernleistungen führen können. Darum müssen sich Lehrinnen und Lehrer ihrer Erwartungshaltung bewusst werden. Die self-fulfilling prophecy, die selbsterfüllende Prophezeiung, gilt für positive wie für negative Erwartungen.

Ob unser 5./6.-Klasslehrer den Phonetikprofessor Higgins gekannt hat, weiss ich nicht. Der Film erschien jedenfalls erst nach meiner Primarschulzeit. Ich weiss nur: Er erwartete eine bessere Lernleistung und traute sie mir zu. Mein Primarlehrer wirkte – im positiven Sinne. Noch heute höre ich seinen Satz: „Karl, das kannst du!“

 

[1] John Hattie & Klaus Zierer (2017): Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 81.

[2] John Hattie, Gregory C.R. Yates (2015): Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von “Visible Learning and the Science of How We learn”, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 295ff.

[3] John Hattie & Klaus Zierer (2018): VISIBLE LEARNING. Auf den Punkt gebracht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 128.

[4] Robert Rosenthal & Leonore Jacobson: Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler (übersetzt von Ingeborg Brinkmann [u. a.]). Weinheim/Berlin/Basel: Beltz Verlag, 1983.

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Der Philosoph als pädagogischer Heilsbringer https://condorcet.ch/2019/08/der-philosoph-als-paedagogischer-heilsbringer/ https://condorcet.ch/2019/08/der-philosoph-als-paedagogischer-heilsbringer/#respond Mon, 26 Aug 2019 15:08:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=2059

Der Kultphilosoph Richard David Precht fordert erneut eine Bildungsrevolution. Angesagt ist digitalisiertes und individualisiertes Lernen. Doch seine Ideen sind weder neu noch praktikabel. Ein Zwischenruf von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Bild: api bearbeitet
Carl Bossard

Er publiziert in kurzen Zyklen. Mit seinen Erfolgsbüchern erzielt er rege Resonanz. Und wenn er auftritt, sind ihm ein grosses Auditorium und mediale Multiplikation sicher. Gemeint ist der deutsche TV-Philosoph Richard David Precht. Viele liegen ihm zu Füssen. Mitte August 2019 lud ihn die NZZ am Sonntag zu einem grossen Interview.[1] Als Bestsellerautor verkündet er auch hier seine Bildungsrevolution: Es muss alles ganz anders werden. Die Schule grundlegend neu denken, verlangt der Vielgefragte.

Eine zeitgemässe Schule braucht weder Fächer noch Klassen

Eines ist tröstlich: Immerhin fordert Precht nicht mehr, als wir aus seinen Büchern und Referaten bereits kennen. 2013 erschien seine Schrift „Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern“. Die Titelgrafik zeigt ein verängstigtes Mädchen; immer wieder muss es – offenbar als Strafe – den rüden Satz schreiben: „Ich darf nicht denken.“

Es ist eine radikale Abrechnung mit dem deutschen Schulsystem – oder mit dem katastrophenverliebten Titel der ersten ZDF-Philosophie-Sendung „Precht“ ausgedrückt: „Skandal Schule. Macht Lernen dumm?“ Woher Dummheiten kommen, ist nicht so eindeutig. Entsprechend maliziös fragte darum die ZEIT: „Macht Precht dumm?“

Im gleichen Jahr, 2013, trat er in der Aula der Universität Zürich auf. Prechts Botschaft: Er möchte – spätestens nach dem sechsten Schuljahr – Klassen und Fächer abschaffen. Natürlich kennt Prechts Schule weder Zensuren und Klausuren, weder direkte Instruktion noch Hausaufgaben. Stattdessen sollten Lernhäuser entstehen, in denen jedes Kind nach seinem eigenen Tempo arbeitet – und erst noch ohne Anstrengung, dafür mit Spass.

Lernen à la englisches College-System

Das Vorbild ortet der Philosoph im englischen College-System. Die Schülerinnen und Schüler sollten möglichst individuell begleitet werden und in jahrgangsübergreifenden Projektgruppen eigenmotiviert arbeiten, beispielsweise an Problemen einer nachhaltigen Ernährung oder an aktuellen wirtschaftspolitischen Themen.

Schulisch hat Precht eigentlich nichts Neues zu sagen; viele seiner Gedanken kennen wir beispielsweise aus der “child centered education” der bekannten amerikanischen Reformpädagogin Marietta Johnson (1864–1938) und ihrer “organischen Schule”. Forschungstheoretische und empirische Belege für seine provokativen Aussagen gibt es keine; Studien sucht man vergebens.

Nicht umsonst wirft ihm der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube „intellektuelle Schlampigkeit“ vor.[2] In manchem muss man Precht allerdings auch recht geben: Er kritisiert die Fächerfülle, die überladenen Lehrpläne, den immensen Stoffdruck, die fehlende Übungszeit, die dichte Prüfungskaskade. Das gilt auch für die Schweizer Volksschule. Und der Lehrplan 21 schafft hier keine Abhilfe. Leider. Im Gegenteil. Das erhöht die Last der Hast.

Gutes Kind – böse Gesellschaft

Precht erklärt die deutschen Schulen für irreparabel krank, so dass man „einer normalen Mittelschichtsfamilie“ für ihr Kind die öffentliche Schule nicht mehr empfehlen könne. Mit diesem Zerrbild beleidigt er unzählige Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit Sachverstand und Leidenschaft um die Kinder und den Schulalltag kümmern. Tag für Tag. Sie müssten eigentlich entrüstet aufschreien. Warum aber erfährt er trotzdem einen derart grossen Zuspruch, obwohl sein Buch eine unheilvolle Botschaft aussendet?

Der renommierte deutsche Bildungswissenschaftler Andreas Helmke versucht eine Antwort:[3] Die Botschaft von dem guten Kind und der bösen Gesellschaft mit ihren Zwangsanstalten verkündet neben Richard David Precht beispielsweise auch der Hirnforscher Gerald Hüther. „Man kennt sie seit Jean Jacques Rousseaus Émile. Für die Pädagogik ist sie weitgehend fruchtlos. Aber das hindert nicht einmal die vielen Lehrer unter den Zuschauern am Applaus.“

Der Wunsch nach Feldgottesdiensten und pädagogischen Priestern

Bild: AdobeStock

Weiter schreibt Helmke: „Die Sehnsucht, endlich von den Mühen des Alltags zwischen erster Stunde und abendlicher Klassenarbeitskorrektur befreit zu werden, scheint gross zu sein. Ebenso die Hoffnung, dass es doch eine andere Welt gibt. Eine Welt, in der die Schüler ganz von alleine einsehen, dass sie sich anstrengen müssen, eine Welt, in der Lehrer nicht mehr Lehrer sind, sondern Coachs und, ja, Freunde.“

Helmke zitiert den Bildungsjournalisten und Filmemacher Reinhard Kahl: “Aus der Alltagsverzweiflung vieler Lehrer erwächst der Wunsch nach Feldgottesdiensten und Priestern.” Precht und Hüther nähren entsprechende Illusionen. Doch der pädagogische Alltag ist anspruchsvoll und anstrengend; denn die Gesellschaft fordert von der Schule Vieles und auch Widersprüchliches. Das ist schlichte Realität.

Der Unterricht ist darum voller Dilemmata, voller Spannungen. Wir können sie nicht einfach ausblenden. Die Widersprüche lassen sich auch nicht auflösen. Lehrerinnen und Lehrer müssen sie aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Hier muss man sie stärken: Es ist die pädagogische Kernaufgabe, Schülerinnen und Schüler gesellschaftsfähig zu machen.

Die Schule muss nicht neu erfunden werden

Man würde gerne wissen, wo denn die politischen Mehrheiten für eine Precht’sche „Bildungsrevolution“ zu finden sind und welche Vorteile dieser radikale Umbruch mit sich bringen wird. Precht bleibt die Antwort schuldig. Staatspolitisch wäre das ein weiterer Schritt zur Entsolidarisierung. Individualisierung – so lautet auch Prechts pädagogische Zauberformel. Die Digitalisierung verstärkt sie. Auf der Gegenseite schwindet die Sozialität. Das wissen wir aus der Forschung.

Die Schule wird die neuen Technologien für sich nutzen und muss deswegen nicht neu gedacht und neu erfunden werden; das glauben nur modische Philosophen, die von ihrer missionarischen Botschaft leben.

 

Zuerst erschienen in: www.journal21.ch (25.08.2019)

 

[1] Richard David Precht, „Algebra braucht kaum jemand im Leben. Das ist verschwendete Zeit“, in: NZZaS, 18.08.2019, S. 18f.

[2] Jürgen Kaube, Oh ihr Rennpferde, fresst einfach mehr Phrasenhafer!, in: FAZ, 29.04.2013, S. 28.

[3] Andreas Helmke (2014), Von der Hattie-Studie zu Handlungsstrategien für den Unterrichtsalltag. Vortrag. Msc. unpubl.

 

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Geschichtsvergessenheit als Programm https://condorcet.ch/2019/07/geschichtsvergessenheit-als-programm/ https://condorcet.ch/2019/07/geschichtsvergessenheit-als-programm/#respond Mon, 29 Jul 2019 18:46:15 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1823

Ein Artikel von Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz zum Geschichtsunterricht (NZZ 2.7.19) regte unseren Condorcet-Autor Carl Bossard zu einem Leserbief an. Wir veröffentlichen ihn gerne.

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Bild: fabü

Wer mit jungen Menschen zu tun hat, weiss um ihr historisches Interesse und erlebt, wie sie sich für Zeiten und Kulturen faszinieren lassen. Er kennt ihren Wunsch nach Verstehen eigener und fremder Welten. Doch die Sachkenntnis ist klein, das Wissen um Zusammenhänge bescheiden. Wegschauen ist keine Lösung; die Schule müsste Gegensteuer geben. Stattdessen schafft sie Geschichte als Fach ab (redaktioneller Einschub: NZZ, 2.7.2019). Sobald aber eine Disziplin als eigenständiger Bereich verschwindet, verschwindet auch der Inhalt. In den Köpfen der Kinder sowieso. Stattessen gibt es nun Sammelfächer wie „Natur, Mensch, Gesellschaft“ (NMG). Doch vor einem solchen Sammelsurium warnte der renommierte Entwicklungspsychologe Franz E. Weinert, auf den sich der ganze Lehrplan 21 beruft: „Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch.“ Das progressive deutsche Bundesland Hessen schaffte das Schulfach Geschichte vor einigen Jahren ab und führte es in der Zwischenzeit wieder ein – durch Aktualität eines Besseren belehrt. Wann folgt die Schweizer Bildungspolitik?

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