Bildungsreformen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 12 Apr 2024 20:33:48 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bildungsreformen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Schulrevolution? So ein Blödsinn! https://condorcet.ch/2024/04/schulrevolution-so-ein-bloedsinn/ https://condorcet.ch/2024/04/schulrevolution-so-ein-bloedsinn/#comments Fri, 12 Apr 2024 20:33:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=16479

Mit diesem Schreiben rät ein Vater schulpflichtiger Kinder dazu, die geplante Schulrevolution abzusagen. Seine Beobachtungen stimmen nachdenklich.

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Als bildungsinteressierter Vater schulpflichtiger Kinder komme ich aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus, wenn ich an die Interviews und Berichte von der Schulrevoluzzer-Front denke, die seit Wochen die Zeitungen füllen. Abschaffung von Noten und Leistungsniveaus in der Sek als Heilmittel für die Volksschule? Noch weiter daneben kann man ja gar nicht liegen.

Was sind stattdessen die tatsächlichen Herausforderungen der Volksschule?

  1. chaotische Zustände in den Klassenzimmern, u.a. als Folge der als alternativlos verkauften physischen Integration nicht beschulbarer Kinder und Jugendlicher, aber auch als Konsequenz «moderner» Unterrichtskonzepte, z.B. Kinder mit iPads oder irgendwelchen Aufträgen auf dem ganzen Schulareal verteilen, ohne Kontrolle, ohne Überblick, ohne Ergebnissicherung (Leerlauf, der am Elternabend als «Selbständigkeit» verkauft wird)
  2. als Folge davon Abdelegieren des Vermittelns von Unterrichtsinhalten an uns Eltern, die sich fragen, wofür sie eigentlich Steuern bezahlen, wenn sie den Bildungsauftrag privat in ihrer Freizeit übernehmen müssen
  3. bei Punkt 2. meine ich explizit auch Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben – diese werden zunehmend im Unterricht nicht mehr richtig geübt, vermittelt, gesichert; gerade in Sachen Rechtschreibung muss zuhause schauen, wer will, dass seine Kinder diese lernen – wie können eigentlich ausgebildete Lehrpersonen die Rechtschreibung als vernachlässigbar taxieren, wo sie erwiesenermassen einen massiven Einfluss auch auf das Verstehen von Texten hat?
  4. die von den Schulrevoluzzern angeprangerten «bösen» Noten sind vor allem dann ein Problem, wenn sie keine Aussagekraft besitzen (z.B. jahrelang 6er im Frühfranzösisch, obwohl das Kind überhaupt gar kein Französisch lernt) oder wenn offensichtlich wird, dass die Lehrperson keine Ahnung hat, wie man eine sinnvolle, altersgerechte Prüfung schreibt, korrigiert und bewertet (der Fachkräftemangel lässt grüssen)
  5. der vollgestopfte Lehrplan 21 hat dazu geführt, dass niemand eine Ahnung hat, was behandelt wird, jeder macht, was er will oder kann oder auch nicht – hatte man nicht Harmonisierung damit versprochen? So kannst du also mehrere Kinder an der gleichen Primarschule haben, die in NMG vollkommen unterschiedliche Themen behandeln – und als Folge davon wissen an der Sek die Lehrer nicht, worauf sie aufbauen könnten – aber das gilt offenbar auch als modern, Slogan: «Abholen, wo sie stehen», nur schade, wenn die Kinder im Regen stehen

Darum: Schulrevolution absagen! Stattdessen dafür sorgen, dass die Schule ihren Bildungsauftrag wieder erfüllen kann – und sicherstellen, dass sie das auch tatsächlich tut!

(Der Name des Verfassers ist der Redaktion bekannt.)

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Die Krise schulischer Bildung im Gefolge fragwürdiger Reformkaskaden https://condorcet.ch/2024/03/die-krise-schulischer-bildung-im-gefolge-fragwuerdiger-reformkaskaden/ https://condorcet.ch/2024/03/die-krise-schulischer-bildung-im-gefolge-fragwuerdiger-reformkaskaden/#comments Mon, 11 Mar 2024 15:12:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=16145

Während der aktuellen Bildungsdebatte - angestossen von der Vereinigung der Schulleiterinnen und Schulleiter, gefolgt vom LCH und diversen "Schulmodernisierern" - ist auch die Rede von Lernlandschaften, individualisiertem Unterricht und Lerncoaches. Für Condorcet-Autorin und Primarlehrerin Christine Staehelin, in Basel ist das ein Ausdruck einer Ratlosigkeit darüber, was die eigentliche Aufgabe der Schule ist.

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Wer vor 40 Jahren an der Primarschule zu unterrichten begann, wusste, was gemäss Lehrplan und Lehrbüchern zu lehren war; vermittelte, was darüber hinaus als wichtig, bedeutsam und interessant erschien; war sich bewusst, dass Kinder unterschiedlich sind; wollte, wie wohl alle zuvor auch schon, alles besser machen als die vorangehende Lehrergeneration und scheiterte wie diese auch immer wieder daran, denn die Kernaufgabe des Unterrichtens, das Vermitteln von Wissen und Können und das Hinführen zu einem angemessenen und anständigen Verhalten im Kollektiv ist letztlich nicht funktional-zielgerichtet durch neue Instrumente, Konzepte und Organisationsformen zu realisieren, sondern bleibt eine fragile, interpersonale Angelegenheit zwischen den älteren und der jüngeren Generation. Hannah Arendt hielt treffend in ihrem Vortrag zur «Krise der Erziehung» schon 1959 fest: Man habe als Lehrperson eine doppelte Verantwortung zu übernehmen hat, nämlich «für das Leben und Werden des Kindes wie für den Fortbestand der Welt» zu wirken.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Nationalratskandidatin der GLP-Basel: Individualisierung ist weltfremd.

Diese Aufgabe war schon immer begleitet von dem Unbehagen, nicht genau zu wissen, ob das, was an Bestehendem vermittelt wurde, jenes sei, was für eine ungewisse Zukunft von Bedeutung bliebe und ob durch eine Vorwegnahme der Entscheidung für das als wichtig Bewertete genug Platz bliebe für das künftig Neue, das die nächste Generation einbringen würde.

Trotz dieser Bedenken schien ein gewisses Vertrauen in die Institution Schule zu bestehen, dass diese ihrer gesellschaftlichen Aufgabe in der bestehenden Form nachkommen könne.

Dies begann sich vor rund 30 Jahren zu verändern. Mit dem notorischen Verweis auf die gesellschaftlichen Entwicklungen wurde suggeriert, die Schule würde ihrem Auftrag immer weniger nachkommen und lieferte damit die Begründung zur Einführung einer ganzen Kaskade von Reformen, die in ungekanntem Ausmass über die Lehrerschaft hineinbrachen.

Diese Reformen umfassten die Neuorganisation der Schulen durch die Einführung der Teilautonomie, die Implementierung professionalisierter Schulleitungen, die Umsetzung sogenannt innovativer Unterrichtskonzepte wie das selbstorganisierte und das altersdurchmischte Lernen. Zusätzlich wurde der neue, kompetenzorientierte Lehrplan eingeführt, die integrative Schule zur absoluten Norm erhoben, der Schuleintritt vorverlegt, der frühe Fremdsprachenunterricht und der zunehmende Einsatz digitaler Hardware und Software durchgesetzt.

Hanna Arendt, Philosophin: Für das Leben und Werden des Kindes wie für den Fortbestand der Welt.

Bei allen Reformen wurde ausser Acht gelassen, dass das pädagogische Tun in seinem Kern eine personale Angelegenheit zwischen der älteren und der jüngeren Generation ist, das heisst, dass die Älteren das Wissen in ihren Köpfen an die Jüngeren weitergeben und dass sie ihnen die Welt zeigen, wie sie ist. Die Würdigung und das Verständnis für das Bestehende ist also die Grundlage für alles, was an Neuem dazu gewonnen bzw. daraus entwickelt werden kann.

Zu Beginn waren viele Lehrpersonen deshalb über den Charakter und die Inhalte der Reformen ziemlich befremdet. Sie konnten sich in den 1990er Jahren nicht vorstellen, dass die betriebswirtschaftlichen Vorstellungen des Ökonomieprofessors von der HSG St. Gallen, Ernst Buschor, Sinn und Bedeutung haben sollten zum Vorteil für die pädagogische Praxis. Im Gegenteil. Doch eine öffentliche Debatte dazu fand nie statt.

Auch den sachlichen Bedenken und Einwänden der Lehrerschaft wurde von Anfang an nicht argumentativ begegnet, sondern es wurde danach gefragt, was man denn an Informationen noch brauche, um zustimmen zu können; es wurde überlegt, wie Widerständige «aktiv eingebunden» werden könnten oder es wurden Zeitreserven eingeplant für jene, die länger brauchen würden, um sich einverstanden erklären zu können. Und wer, entgegen allen Möglichkeiten, die angeboten wurden, dennoch sachliche Kritik äusserte, war nicht offen für Neues und gegen Verbesserungen, ewiggestrig und unflexibel – Zuschreibungen, die offenbar so schwer aushaltbar waren, dass auch das letzte Gegenargument bald verstummte. Übrig bleibt der wortlose Widerspruch, der sich heute darin zeigt, dass insbesondere auf der Primarstufe zunehmend Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Dass Kernargument der Reformfreudigen war die Idee, eine Schule zu schaffen, welche die Schülerinnen und Schüler auf eine zunehmend komplexere Zukunft vorbereitet. Man setzte die Zukunft und damit das Ungewisse als Gewissheit im Unterschied zur «Schule von gestern» handlungsleitend ein. Doch das vermag nicht überzeugen. Denn was eigentlich zum Ausdruck kommt, ist, dass die ältere Generation die Verantwortung für die Welt nicht mehr übernimmt. Es ist, als ob sie selbst nicht mehr wüsste, wo sie steht und wohin es gehen soll.

Jedem erfahrenen Pädagogen erscheint diese Vorstellung, die Kinder seien in der Lage, wesentliche Entscheidungen für das eigene Lernen und Tun vollkommen autonom zu fällen, äusserst befremdlich und realitätsverweigernd.

Genau diese Verantwortungsübertragung an die jüngere Generation durch Verweigerung der vertiefenden Vermittlung des Bestehenden widerspiegelt sich im aktuellen Unterrichtsgeschehen: Kinder sollen ihre Lernziele selbst wählen, ihr Lernen eigenständig organisieren, sich selbst motivieren und ihr soziales Verhalten selbst verantworten. Dazu gehört, dass Lehrerinnen und Lehrer zu Begleitern und Beobachtenden umdefiniert worden sind.  Sie sind nicht mehr jene Vorbilder, welche die bestehende Welt repräsentieren und für sie einstehen mit all ihren Schönheiten, Unzulänglichkeiten, Problemen, Anforderungen und Unberechenbarkeiten. Die Lehrpersonen sollen sich inzwischen als Arrangeure, Moderatoren, Classroom-Manager oder lediglich begleitende Entwicklungshelferinnen und -helfer einer jüngeren Generation verstehen, von der sie annehmen, sie wüssten schon alles über das Bestehende selbst. Jedem erfahrenen Pädagogen erscheint diese Vorstellung, die Kinder seien in der Lage, wesentliche Entscheidungen für das eigene Lernen und Tun vollkommen autonom zu fällen, äusserst befremdlich und realitätsverweigernd. De facto wird die jüngere Generation somit auf sich selbst zurückgeworfen und gemessen an den stetig steigenden Herausforderungen des Lebens allein gelassen; sie soll sich um sich selbst kümmern und für sich selbst sorgen. Für jene, welche dies nicht aus eigenem Antrieb in dem Sinne schaffen, wie es die Erwachsenen von ihnen als die Problemlösenden von morgen erwarten, stehen viele Förder- und Therapieangebote bereit, es werden Nachteilsausgleiche und individuelle Lernziele angeboten, Sondersettings und qualifizierte Assistenzen.

Lernlandschaften: De facto wird die jüngere Generation somit auf sich selbst zurückgeworfen .

Man braucht kein Hellseher zu sein, um vorauszusehen, dass der Lehrermangel noch viel bedeutsamer werden wird. Politiker überlegen nun unzählige Massnahmen, wie der Beruf wieder an Attraktivität gewinnen könnte. Doch diese zielen alle am Grundproblem vorbei, weil bei allen Massnahmen der Sinn der Schule, die Einführung der jüngeren Generation in die bestehende Welt, von wo aus sie als Generation selbstverständlich Neues schaffen werden, aus dem Blickfeld geraten ist. Sieht man sich den Lehrplan an, der sich auf Kompetenzen statt auf Inhalte konzentriert, so erweckt dies den seltsamen Eindruck, als sei es peinlich, auf die Bedeutsamkeit des Wissenserwerb und das Verständnis des Bestehenden zu verweisen. Der Fokus, der aktuell auf das Selbstlernen gelegt wird, verwischt die Tatsache, dass Unterrichten als pädagogisches Tun immer durch ein asymmetrisches Verhältnis geprägt ist. Eigentlich eine banale, historisch gesehen sehr alte Einsicht. Stattdessen soll die kommende Generation auf wundersame Weise in der Lage sein, sozusagen aus sich selbst heraus zu den innovativen Problemlösern von morgen zu werden. Diese Vorstellung nähren auch die aktuellen Lehrmittel.

Gleichzeitig wird der Schule vermehrt zugemutet, die gesellschaftlichen Probleme zu antizipieren und zu lösen.

Die unzähligen Reformen haben die Schule in eine ungemütliche Lage zu gebracht. Das pädagogische Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer scheint ins Wanken geraten zu sein. Das Ansehen der Institution sinkt, insbesondere die so genannt «integrative Schule» wird zunehmend in Frage gestellt und verliert an Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig wird der Schule vermehrt zugemutet, die gesellschaftlichen Probleme zu antizipieren und zu lösen. Im Gegensatz dazu weisen Internationale Schulleistungsuntersuchungen darauf hin, dass immer weniger Jugendliche in der Lage sind, einfache Texte zu verstehen. Und immer mehr Kinder sind auf Unterstützungsangebote angewiesen.

Vielleicht ist die Institution robuster, als es scheint. Doch die verordnete Zukunftsorientierung dieser traditionellen Institution ist ihr sicher nicht bekömmlich. Und der jüngeren Generation auch nicht; sie wird letztlich allein gelassen, wenn das Bestehende an Bedeutung verliert und alles ungewiss ist. Worauf soll sie bauen, wenn die ältere Generation die Welt nicht mehr vertritt und es immer weniger Lehrerinnen und Lehrer gibt, die diese Aufgabe noch wahrnehmen können und wollen?

Die ältere Generation muss ihre Verantwortung wahrnehmen.

Es ist die Aufgabe der Bildungsverantwortlichen in unserem Land, sich zu vergegenwärtigen und öffentlich zu diskutieren, welche Auswirkungen es auf die Gesellschaft längerfristig hat, wenn die ältere Generation ihre Verantwortung nicht mehr wahrnimmt, die jüngere in die bestehende Welt einzuführen, sondern diese in erster Linie als die Problemlöser von morgen sieht. Es geht um weit mehr als die Umdeutung des Lehrberufs, um neue Lern- und Unterrichtsformen, um die so genannte Digitalisierung an den Schulen, um die integrative Aufgabe der Schule, wie sie aktuell formuliert wird, und um den Mangel an Lehrerinnen und Lehrern. Es geht letztlich darum, auch angesichts einer unsicheren Zukunft, welche heute in einem hohen Ausmass die Gegenwart prägt, Vertrauen anzubieten in das Bestehende, und damit auch in die konservative Institution Volksschule. Denn wie Helmut Kohl gesagt hat: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Reformen haben Bedingungen fürs Lehren und Lernen verschlechtert https://condorcet.ch/2022/10/reformen-haben-bedingungen-fuers-lehren-und-lernen-verschlechtert/ https://condorcet.ch/2022/10/reformen-haben-bedingungen-fuers-lehren-und-lernen-verschlechtert/#comments Sun, 23 Oct 2022 07:07:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=12063

Die Primarlehrerin und Erziehungsrätin für die Grünliberale Partei Christine Staehelin fordert von der Bildungspolitik keine Einigkeit, aber ein gemeinsames Umdenken. Eine Antwort auf die Analyse von BaZ-Autor Sebastian Briellmann.

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Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel und Erziehungsrätin für die Grünliberale Partei: Die Schule ist keine widerspruchsfreie Institution.

Sebastian Briellmann moniert zu Recht die hohen Personalausgaben pro Schüler und Schülerin an der obligatorischen Schule in Basel-Stadt – die höchsten in der Schweiz. Gleichzeitig weist er auf die Ergebnisse der letzten schweizweiten Vergleichstests hin, wo man auf dem letzten Platz landete. Die Effizienz des Basler Bildungssystems scheint im Vergleich also gering zu sein. (Lesen Sie hier die ganze Analyse zur Basler Schulmisere: Note «ungenügend» – Das bürgerliche Versagen in der Bildungspolitik)

Warum dem so ist? Briellmann nennt ein bekanntes Problem: Bloss keinen Widerstand, bloss niemandem auf den Schlips treten. Diese Tatsache habe dazu geführt, dass gut klingende Reformen widerspruchslos umgesetzt worden seien und in der Realität zu einer Verlotterung der Schulen geführt hätten.

Nun kann man sich parteipolitisch gegenseitig die Schuld geben. Zu bedenken gilt es: Einzelne politische Stimmen äusserten sich bereits früher kritisch – was in einer Zeit, da Innovation als Zauberwort jede weitere politische Legitimation überflüssig machte, allerdings nicht goutiert wurde. Die meisten Parteien haben die Reformen befürwortet, ansonsten wären sie kaum zustande gekommen.

Viel interessanter ist die Frage, warum die pädagogisch fundierten Argumente gegen die Reformen, die vor deren Umsetzung vornehmlich aus dem Berufsfeld kamen, nicht ernst genommen wurden. Man war überzeugt, dass die Schüler mit Frühfranzösisch besser Französisch lernen, dass eine integrative Schule allen zugutekommt, dass die Kompetenzorientierung – was auch immer darunter verstanden wird – bessere Leistungen erzielt.

Die widersprüchliche Schule

Aber: Schülerinnen und Schüler lernen mit einem neuen Lehrmittel zu einem früheren Zeitpunkt nicht einfach besser Französisch, nicht alle können in einem integrativen Unterricht am besten lernen – und ein ausufernder kompetenzorientierter Lehrplan bietet nicht wirklich eine handlungsleitende Grundlage für gutes Unterrichten.

Die Reformen haben die Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen verschlechtert statt verbessert – für alle Beteiligten.

Man hat vergessen, dass es keine einseitigen Interventionen gibt, die ohne Nebenwirkungen alles zum Bessern wenden. Die Schule ist keine widerspruchsfreie Institution. Niemand will eine Schule, bei der jeder Input zu einem entsprechenden Output führen würde, denn dann wäre man von einer Gleichmacherei und Abrichtung der Schüler nicht mehr weit entfernt. Mit Bildung hätte das nichts mehr zu tun.

Es gilt beim täglichen Unterrichten, jeweils einen Mittelweg zu finden, und es besteht immer die Möglichkeit des Scheiterns.

.Jede Lehrerin, jeder Lehrer kennt die Widersprüche: Soll ich mich der Sache zuwenden oder der Person? Soll ich mich dem Einzelnen oder der Gruppe widmen? Steht die Organisation im Vordergrund oder die Interaktion? Es gilt beim täglichen Unterrichten, jeweils einen Mittelweg zu finden, und es besteht immer die Möglichkeit des Scheiterns. Lehrpersonen sind aber auf Rahmenbedingungen angewiesen, welche die tägliche Herausforderung nicht zu einer Überforderung werden lassen.

Die Reformen haben die Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen verschlechtert statt verbessert – für alle Beteiligten. Dies, weil man davon ausging, dass Verbesserungen im Bildungsbereich mit bestimmten Interventionen widerspruchsfrei möglich seien. Eine Negation der Tatsache, dass die Schule eine widersprüchliche Institution ist – und dass das gut ist so.

Es ist bedauernswert, dass diese Erkenntnis, so alt wie die Idee der Bildung selbst, nicht ernst genommen wurde. Aber es bedeutet, dass es keine Reform geben kann und soll, die davon ausgeht, dass ein ganz bestimmter Input einen ganz bestimmten Output generiert.

Nur wenn alle Perspektiven und Argumente auf den Tisch kommen, verhindert man, dass wieder jene Stimmung der Alternativlosigkeit der Nullerjahre aufkommt.

Ja, es wurden Fehler gemacht

Da die Schule für eine liberale Demokratie eine äusserst bedeutsame Institution ist, kann es nun nicht darum gehen, dass man vergangene Fehler politisch instrumentalisiert oder sich mit neuen Vorschlägen parteipolitisch profiliert: Nur wenn alle Perspektiven und Argumente auf den Tisch kommen, verhindert man, dass wieder jene Stimmung der Alternativlosigkeit der Nullerjahre aufkommt. Diese führte zu jener Widerspruchslosigkeit, die wir jetzt vielleicht bedauern.

Es geht aber auch nicht darum, sich anschliessend auf irgendwelche kompromissfähigen Programme für die Schule zu einigen, sondern nur darum, gemeinsam festzuhalten, welches denn die grundlegenden Rahmenbedingungen für die öffentlichen Schulen sein müssen, damit sie als Institution weiter bestehen können. Dass man sich dabei an pädagogischen Erkenntnissen und Theorien orientiert und das Berufsfeld einbezieht, was zuvor vernachlässigt wurde, ist bestimmt hilfreich.

Verhindert werden müssen nur widerspruchsfreie Lösungsvorschläge; diese führen, wie wir gesehen haben, in die Irre.

Und es braucht wohl Mut, einzugestehen, dass Fehler gemacht wurden – um bereit zu sein, wirklich nochmals genau hinzuschauen. Aber mutig sein ist eine Tugend und auch ein wünschenswerter Effekt von Bildung. Es braucht auch nicht überall Einigkeit. Verhindert werden müssen nur widerspruchsfreie Lösungsvorschläge; diese führen, wie wir gesehen haben, in die Irre.

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Note «ungenügend»: Das bürgerliche Versagen in der Bildungspolitik https://condorcet.ch/2022/10/note-ungenuegend-das-buergerliche-versagen-in-der-bildungspolitik/ https://condorcet.ch/2022/10/note-ungenuegend-das-buergerliche-versagen-in-der-bildungspolitik/#comments Wed, 05 Oct 2022 20:08:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=11836

Die FDP fordert massive Verbesserungen an den Schulen. Und will damit wettmachen, was unter ihr – und der Schwesterpartei LDP – im Desaster geendet hat. Ob das gelingt? Daran darf man zweifeln. Ein Beitrag von Sebastian Briellmann in der BAZ.

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Sebastian Briellmann, Autor der Basler Zeitung

Hoppla, jetzt aber.

Mitte September hat die Grossratsfraktion der Basler FDP sechs Vorstösse eingereicht, gleichzeitig und zum selben Thema: Bildung. Es ist dies, wenn man so will, die parlamentarische Fortsetzung eines zuvor präsentierten Papiers, das, prägnant zusammengefasst, aussagt: Die Basler Schule ist schlecht. Und: Wir kümmern uns nun darum.

Die Freisinnigen haben in ihrem neuen Grundsatzprogramm ja festgelegt, dass Bildung eines von vier grossen Themen ist, die man prägen möchte. Das Dossier ist Teil einer – in wirtschaftsliberaler Sprache gehaltenen – innerparteilichen Restrukturierung.

Gefordert werden: Rankings der Sekundarschulen, Mindestpensen, mehr Einführungsklassen, Weiterbildungsgutscheine für Lehrabgänger, mehr Deutsch-Frühförderung und Ausbildungsanpassungen auf Primarstufe für Lehrer (auch via Berufsbildung anstatt nur mittels Studium).

«Populismus»

Damit möchte die Partei nach Jahren des Niedergangs – endlich, endlich – wieder Akzente setzen.

Man kann, wenn man gutmütig sein will, sagen: Das ist gelungen. Aber vielleicht nicht so, wie sich das die FDP ersehnt hat. In der «Basler Zeitung» ist einer der Vorschläge – Rankings – bereits ordentlich zerzupft worden; die Freiwillige Schulsynode Basel hält solche Vergleiche für «problematisch», und die SP-Grossrätin Franziska Roth, Präsidentin der Bildungskommission im Grossen Rat, bezeichnet die Idee als «völlig daneben».

Und auch die Lehrer empfinden die Pläne, nun ja, bisher nur als semi-witzig. Interessenvertreter – Schulsynode und Starke Schule beider Basel – sparen bei «Prime News» nicht mit Kritik: Mindestpensen sind unflexibel, schwächen die Frauen, fördern den Berufsausstieg. Und bei einer eingeführten Berufsbildung für Primarlehrer fürchtet man nichts weniger als die Abwertung des Lehrerberufs.

Kurz: Die FDP hätte sich doch besser vor der Veröffentlichung bei ihnen gemeldet.

Hoppla, jetzt aber.

Die bürgerlichen Mitstreiter – wenn man das überhaupt noch so nennen kann – haben ebenso wenig Freude an den freisinnigen Denkanstössen. Christoph Eymann, ehemaliger Erziehungsdirektor der LDP, wirft der Schwesterpartei in seiner BaZ-Kolumne sogar «Populismus» und eine «Beleidigung» der Lehrer vor. Der FDP-Vizepräsident reagiert wiederum mit einer vorwurfsvollen Replik.

Hoppla, jetzt aber.

«Katastrophales Zeugnis»

Das mag alles etwas kleingeistig wirken, ist doch noch kein Vorstoss behandelt worden – und mit Ideen könnte man sich ja zuerst einmal auseinandersetzen. Gerade im Fall von Basel-Stadt müsste eigentlich jeder Vorschlag willkommen sein, wenn man an die schulische Tristesse im Stadtkanton denkt.

Konkret an den ersten nationalen Schulvergleich von vor drei Jahren, als die Basler Schüler sowohl in Deutsch als auch in Mathematik versagt haben. Die «Neue Zürcher Zeitung», nicht für übertriebene Zuspitzung bekannt, hat damals schonungslos getitelt: «Katastrophales Zeugnis für die Basler Schulen».

Dabei darf man nicht vergessen: Ein basel-städtischer Schüler kostet laut einer Erhebung (2019) des Bundesamts für Statistik mit fast 20’00 Franken fast doppelt so viel wie einer aus dem Wallis oder aus Freiburg, die natürlich auch noch viel besser abschneiden: Basel-Stadt war bei den letzten Vergleichstests abgeschlagen Letzter, Freiburg in allen Fächern auf dem Podest.

Personalaufwand pro Schüler/in in der obligatorischen Schule nach Schulkanton 2019

Die Realität sieht, sehr schonend formuliert, auch weiterhin nicht verheissungsvoll aus: Stolze 41 Prozent der Kinder müssen ab drei Jahren an staatlichen Förderprogrammen teilnehmen und Deutsch lernen – und besuchen deswegen mindestens zwei Halbtage pro Woche in einer Spielgruppe oder einer Kindertagesstätte eine «frühe Deutschförderung». In Zukunft dürfte dieser Wert noch steigen.

Sicher, es wird versucht, mit grossem Aufwand (und viel Geld natürlich), die Startbedingungen für möglichst alle Kinder zu verbessern. Aber es wirkt bestenfalls wie Pflästerlipolitik, realistischer: wie Makulatur.

Das kaschiert man mit wachsweichem Umgang mit den Schülern: ja nicht zu streng, lieber eine gute Entschuldigung finden. Heute gibts keine Ungenügenden mehr, sondern eine Lektion mehr in einer Lernoase. Spürsch-mi-fühlsch-mi-Groove (auch wenn der Erziehungsdirektor dies vehement bestreitet).

«Zu schlecht für Lehre»

Die Folgen sind gravierend: Die Gymnasialquote ist mit 33 Prozent noch immer viel zu hoch. Und gleich noch eine andere Schreckenszahl: Nur 21 Prozent aller Basler Schulabgänger beginnen nach der obligatorischen Schulzeit eine Lehre. Kurz: Das Niveau der Schulen nivelliert sich seit Jahren nach unten. Die Folgeschäden trägt die Universität, an der die Basler Maturanden die höchsten Abbruchquoten produzieren.

Und weil viele Schüler, die wunderbare Lehrlinge wären, zu Unrecht am Gymi hocken, fehlen der Wirtschaft gute Nachwuchskräfte. Die BaZ hat bereits vor drei Jahren getitelt: «Kritik an Schulen: Viele Basler zu schlecht für Lehre». Lehrmeister und Wirtschaftsverbände grummeln schon lange wegen fehlender Qualität. Die Betriebe suchen ihre Mitarbeiter stattdessen in anderen Kantonen.

Kann es das wirklich sein?

Und wenn dann eine Partei kommt, die endlich mal wieder ein paar Vorschläge bringt: Dann wird sie von allen Seiten kritisiert?

Nun, das hat durchaus seine Gründe. Die FDP ist (zusammen mit der LDP) Teil eines Blocks, der seit über 70 Jahren für die Bildungspolitik die Verantwortung trägt. Also länger, als die Queen regiert hat. Und die Freisinnigen haben alle Reformkatastrophen nicht unbegeistert mitgetragen: Integrative Schule, Frühfranzösisch, Kompetenzorientierung …

Der bekannteste Lehrer der Schweiz, Alain Pichard, lange in Basel aktiv, hat auf seinem «Condorcet»-Blog mit scharfer Klinge das bildungspolitische Versagen seziert: «Die Hüst-und-hott-Reformen der verschiedenen Schulinstitutionen, die kafkaesken Auswüchse der Schülerbeurteilungen (überfachliche Kompetenzen in mehrseitigen Fragebögen), die ultimative Umsetzung des Integrationsartikels, die exorbitanten Ausgaben für Luxusbauten, die Investitionen in den administrativen Überbau, die Schaffung vieler Plan- und Beratungsstellen und die Explosion der Anzahl von Speziallehrerinnen: alles auf Entscheide des Bildungsdepartements der letzten Jahre zurückzuführen.»

Da ist es schon erstaunlich, dass sich Freisinnige und Liberale nun gegenseitig angreifen. Sieben Dekaden in der Verantwortung: War da was?

Das ist in etwa so verständlich wie das FDP-Wahlplakat im Jahr 2000: «Das Beste am Basler Schulsystem sind die Ferien.» Da hatte man beim Freisinn nach wenigen Monaten ohne Erziehungsdepartement wohl bereits vergessen, dass man es zuvor mehr als 30 Jahre lang am Stück unter sich gehabt hatte …

Foto: Plakatsammlung der SFG Basel

Das Problem ist ein altbekanntes: bloss keinen Widerstand. Die Lehrerlobby, die Elternlobby, die Reformlobby? Niemandem soll auf den Schlips getreten werden, es könnte ja Unruhe entstehen, Widerspruch geben, auch Streit. Und wer will denn das, wenn man es sich so bequem eingerichtet hat in den bildungspolitischen Elfenbeintürmen? Also gibt es gut klingende Reformen, wohlmeinende Versprechen – während in der Realität die Schulen qualitativ verlottern …

Schwesternstreit

Deswegen muss man konstatieren: Es ist eine gute Idee der FDP, dass sie, ziemlich aufwendig umstrukturiert, nun auch alte Gewissheiten hinter sich lassen will. Aber man wünscht sich dann von Vorschlägen schon mehr Konsequenz und Fortschritt – und nicht nur einen politischen Schwesternstreit, ausgetragen via «Basler Zeitung».

Man kommt nicht umhin: Die beiden bürgerlichen Parteien übernehmen keine Verantwortung, sie wehren sich nicht wirklich gegen das Desaster. Und wenn jemand, wie FDP-Präsident Johannes Barth, das Schulproblem zwar erkennt: Dann fabriziert man trotzdem bloss ein Bildungsprogramm auf mediokrem Niveau.

Mehr geht offenbar nicht.

Man wünschte sich deswegen auch mal bildungspolitische Inputs von anderen Parteien. Und? Nun ja: dröhnendes Schweigen. Die SVP hat peinlicherweise noch nie konkretes Interesse an diesem Bereich gezeigt (und beschränkt sich auf stumpfe Schlagworte), die akademisch geprägten Grünen wissen kaum mehr, dass es ausser der Universität noch andere Bildungswege gibt – und die SP, einst die Bildungspartei und eigentlich dem Erbe von Grössen wie Fritz Hauser verpflichtet? Man weiss es gar nicht so genau. Am ehesten scheint sie besorgt darüber, dass korrekt gegendert wird.

    «Die SP-Seilschaften haben sich längst aus den Schulhäusern verabschiedet, sich in die Planungs-Forschungs-Entwicklungs-Evaluations-und-Weiterbildungs-Etage hinaufgeschoben und von der Realität abgekoppelt.»

    Roland Stark, Mitinitiant der Förderklasseninitiative

Es braucht deshalb mehr Engagement aus der Zivilgesellschaft. Dass das möglich ist, zeigt die zustande gekommene Förderklasseninitiative, deren Annahme das Ende der gescheiterten integrativen Schule bedeutete. Das sollte nur der Anfang sein. Mitinitiant Roland Stark, ehemaliger Basler SP-Präsident und Heilpädagoge, bringt es auf den Punkt, wenn er von einem bürgerlichen Totalausfall in der Bildungspolitik spricht. Und er ist auch tief enttäuscht von seiner eigenen Partei: «Die SP-Seilschaften haben sich längst aus den Schulhäusern verabschiedet, sich in die Planungs-Forschungs-Entwicklungs-Evaluations-und-Weiterbildungs-Etage hinaufgeschoben und von der Realität abgekoppelt.»

Hoppla, jetzt aber.

Dieses Fremdeln mit der Realität: Das hat den Kanton in eine katastrophale Lage gebracht. Die Schule verlottert, ein Ende ist nicht in Sicht. Aber die Beletage nippt weiterhin gemütlich am Schämpis, nachdem man sich wieder einmal selbst für eine Reform gratuliert hat.

Wann wird sich jemand ernsthaft dagegen auflehnen?

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Marc Bourgeois: «Kein Politikbereich ist so unehrlich wie die Bildungspolitik» https://condorcet.ch/2022/09/marc-bourgeois-kein-politikbereich-ist-so-unehrlich-wie-die-bildungspolitik/ https://condorcet.ch/2022/09/marc-bourgeois-kein-politikbereich-ist-so-unehrlich-wie-die-bildungspolitik/#comments Mon, 26 Sep 2022 13:34:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=11721

Nachdem die FDP lange Zeit den Pädagogen vertraut hat, regt sich in immer mehr Kantonen Widerstand gegen die pausenlosen Bildungsreformen in der Volksschule. Viele Politiker stellen ernüchtert fest, dass die versprochenen Ziele niemals erreicht wurden und dafür ständig noch mehr Mittel gefordert werden.
Wir veröffentlichen hier ein aufschlussreiches Interview mit dem freisinnigen Zürcher Kantonsrat Marc Bourgeois, der in Zürich die Bildungsdirektion mit Vorstössen zu Lehrmitteln, Lehrkräftemangel, Kindergarten usw. auf Trab hält. Dieses Interview ist von Daniel Wahl, Journalist im Nebelspalter, geführt worden.

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Marc Bourgeois, FDP: Von vielen Reformen profitiert nur der Überbau.

Marc Bourgeois, am Wochenende stimmen die Zürcher über eine Tagesschule ab, die jährlich entweder 75 oder 126 Millionen Franken kosten soll. Ob das bisherige Angebot mit privaten Horts oder Mittagstischen genügt, steht eigentlich gar nicht mehr zur Debatte. Sind selbst die Bürgerlichen inzwischen auch für mehr Staat in der Bildung?

Marc Bourgeois: Gegen eine schlanke Tagesschule mit dem Ziel, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen, spricht nichts. Ich stelle aber ernüchtert fest, dass jene Kreise Oberhand gewinnen, welche die Eltern gleichzeitig von jeder Verantwortung entbinden wollen. Dies unter dem Vorwand der «Chancengerechtigkeit». In Wirklichkeit dürfte es diesen Kreisen, zu denen an vorderster Front Gewerkschaften gehören, schlicht darum gehen, noch mehr Stellen zu schaffen. Man muss schon froh sein, dass die Tagesschule noch freiwillig ist. Mit Betonung auf «noch».

In Zürich soll die Widerspruchslösung zum Tragen kommen: Man muss das Kind abmelden, wenn man es nicht in die Tagesschule schicken will. Die Freiwilligkeit ist doch gegeben?

In der Verordnung, ja – obwohl ich bezweifle, dass einen der Staat zu einem freiwilligen, kostenpflichtigen Angebot zwingen kann, wenn man sich nicht Monate zuvor abgemeldet hat. Das ist schlimmer als jede Abo-Falle. Dass es mit der Freiwilligkeit aber nicht weit her ist, erkennt man im Evaluationsbericht zu den Tagesschulen. Dort heisst es, das Ziel, 90 Prozent der Primarschüler und 75 Prozent der Oberstufenschüler an die Tagesschulen zu bringen, sei noch nicht erreicht worden. Die Politik hat aber nie ein solches Mengenziel festgelegt; das wurde einfach von der Verwaltung bestimmt.

Freiwillig ja, Zwang nein

Erreicht werden soll dieses Ziel durch unsanften Druck: Wer sein Kind nur an einem Tag in der Schule lässt, bezahlt oft mehr als jene, welche sich für die Tagesschule entscheiden und ihr Kind an allen Tagen mit Nachmittagsunterricht in der Schule lassen. Zudem droht mit einer Verwischung der Grenzen zwischen Bildung und Betreuung auch eine pädagogische Benachteiligung der abgemeldeten Kinder, und sie drohen zu Aussenseitern zu werden. Von Freiwilligkeit würde ich da nicht mehr sprechen.

Bloss ein Systemfehler?

Das Ganze ist zunächst gut gemeint, aber dahinter steckt der sozialistische Gedanke der Gleichschaltung. Mir ist klar, geworden, dass das genau der Effekt ist, den sich linke Kreise herbeiwünschen: Ihnen ist es egal, ob Eltern arbeiten gehen oder zuhause bleiben. Im Vordergrund stehen mehr staatliche Arbeitsplätze und ein ausgedehnter Einfluss auf die Kinder. Auch wenn solche Vergleiche schwierig sind: Es ist kein Zufall, dass gerade in der DDR unfreiwillige Tagesschulen – teils sogar «Wochenschulen» – einen Höhepunkt erlebten. Der Einfluss des Staates auf die Denkhaltung der Kinder war so riesig. Dass dieser Stempel auch politisch gefärbt ist, dürfte jedem klar sein; Stichwort Linksdrall an Schulen.

Immer mehr Kinder von bildungsnahen Familien ergänzen die Volksschulbildung durch zusätzliche Angebote. Sie trauen der Volksschule nicht mehr.

Man will allen Kindern dieselben Startchancen geben. Das klingt doch auch für die FDP verlockend?

Chancengerechtigkeit ist ein urliberales Anliegen. Aber kein Politikbereich ist so unehrlich wie die Bildungspolitik. Es geht um Kinder, da wird mit Emotionen gelogen, dass sich die Balken biegen. So werden als gute Gründe für steigende Ausgaben stets «Chancengerechtigkeit», «Bildungsqualität» und «Vereinbarkeit von Familie und Beruf angegeben». Die wahren Gründe: Bildungspersonalpolitik statt Bildungspolitik, Abschottung des Berufsstandes und Vereinnahmung der Kinder.

Wer sicher profitiert hat, ist der aufgeblähte Personaletat.

Gerade in der Bildung braucht es Mut, sich gegen Forderungen aus dem Bildungskuchen zu stemmen. Denn wir reden vermeintlich von Geldern, die den Kindern zugutekommen. Gibt es aber Hinweise darauf, dass die Bildung durch all die teuren Reformen besser geworden ist? Oder chancengerechter? Wenn es Indizien gibt, dann deuten sie in die gegenteilige Richtung. Immer mehr Kinder von bildungsnahen Familien ergänzen die Volksschulbildung durch zusätzliche Angebote. Sie trauen der Volksschule nicht mehr. Und die einzigen einigermassen objektiven Zeitreihen, die Pisa-Daten, zeigen seit der Einführung der schulischen Integration nur nach unten.

Man hat Unsummen darin investiert; die Bildung ist dabei weder besser, noch gerechter geworden. Cui bono, fragt man sich da. Nun, wer sicher profitiert hat, ist der aufgeblähte Personaletat. Was die Betroffenen dabei vergessen: Je mehr Geld in diesem System unnütz versickert, desto weniger steht letztlich für Bildung zur Verfügung, und desto höher wird der Kostendruck auf die einzelne Stelle.

Sie können aus einer schwachen Schülerin keine Raketenwissenschafterin machen. Aber aus einer möglichen Raketenwissenschafterin sehr wohl eine schwache Schülerin.

Was ist an «gleichen Startchancen»schlecht?

Wenn alle nicht nur die gleichen Chancen haben sollen, sondern auch dieselben Resultate erreichen sollen, oder dank einer Abschaffung von Noten gar keine messbaren Resultate erreichen sollen, dann kann das Niveau nur sinken. Sie können aus einer schwachen Schülerin keine Raketenwissenschafterin machen. Aber aus einer möglichen Raketenwissenschafterin sehr wohl eine schwache Schülerin. Und genau das passiert gegenwärtig im schulischen Integrationsmodell – bei der Integration von stark verhaltensauffälligen und extrem leistungsschwachen Kindern in die Regelklassen. Weil dies eine Lehrperson alleine nicht stemmen kann, stellt man einfach weitere Förderlehrpersonen und Assistenzen ins Klassenzimmer. Mit der Folge, dass oftmals Bahnhofsstimmung und ein Kommen und Gehen herrscht. Von den Kostenfolgen ganz zu schweigen. Leider schwappt dieser Trend der Gleichmacherei allmählich auch auf den vorschulischen Bereich über.

Wie kommen Sie darauf, schon von einer vorschulischen Nivellierung zu sprechen?

Zuerst hat man den früher freiwilligen Kindergarten für obligatorisch erklärt. Kindergärtner werden an der Pädagogischen Hochschule ausgebildet, der Kindergarten wird von einem Lehrplan gesteuert. Dann hat man das Eintrittsalter in den Kindergarten gesenkt. Jetzt bestehen Bestrebungen, auch vorschulische Angebote für bildungsferne Kinder verpflichtend zu machen. Es ist absehbar, dass man zwecks einer guten «Durchmischung» früher oder später auch bildungsnahe Kinder zu solchen Angeboten verpflichten will. Die Kinder werden immer früher der Verantwortung der Eltern entzogen, weil sonst gewisse Kinder einen Startvorteil haben könnten. Aber hilft man den schwachen Kindern wirklich, wenn man die stärkeren ihrer Vorteile beraubt?

Haben Sie den Kindergarten als bereits verschult erlebt, oder durften Ihre Kinder noch spielen?

Wir haben ihn nicht als verschult erlebt. Das liegt daran, dass die Kindergartenlehrpersonen heute meist noch nach gewohntem Muster die Kinder befähigen, die Welt besser zu verstehen. Der Lehrplan wird da meist links liegen gelassen. Aber das ändert sich langsam. Obwohl das Volk Nein zur Grundstufe gesagt hat, bildet man die Kindergartenlehrpersonen demnächst gleich aus wie die Primarlehrpersonen. Das wird Folgen haben.

Seit wann hat die Schule Ihrer Ansicht nach Schlagseite erhalten?

Eine wesentliche Zäsur war der Entscheid für das schulische Integrationsmodell, das vor gut zehn Jahren eingeführt wurde. Seit dieser Zeit ist die Schweiz im internationalen Vergleich konstant zurückgefallen, wie die Pisa-Studien ergeben haben, und zwar in allen Disziplinen. Nicht wenige Lehrmeister bestätigen dieses Bild: Viele Schulabgänger erreichen nicht einmal mehr die tief angesetzten Mindestanforderungen. Ich habe selber fast 20 Jahre lang in meinem IT-Betrieb Lehrlinge ausgebildet. Seit diesem Herbst verzichte ich darauf. Die Vorkenntnisse sind ungenügend, und der Betreuungsaufwand steigt immer mehr.

Da wird schon in frühen Klassen von Selbstkompetenz gesprochen, von Lerninseln, von Eigenverantwortung und von selbstgesteuertem Lernen. Ich spüre den Effekt nicht.

Viele Berufsbildungsleute – die in der Mehrheit bürgerlich gesinnt sind – sprechen aber von einer kompetenten Jugend. Sie könnten vielleicht nicht mehr so gut schreiben, seien aber enorm anpassungsfähig und wüssten sich zu helfen. Was sagen Sie dazu?

Es ist möglich, dass sich die Flexibilität erhöht hat. Aber was nützt Anpassungsfähigkeit im Betrieb, wenn ein Lernender sprachlich so schwach ist, dass er kein einziges Mail richtig beantworten kann? Da wird schon in frühen Klassen von Selbstkompetenz gesprochen, von Lerninseln, von Eigenverantwortung und von selbstgesteuertem Lernen. Ich spüre den Effekt nicht. Ich bin schon froh, wenn ein Lernender überhaupt auf ein dringendes Mail eines Kunden reagiert.

Übe keinen Druck aus, mache keinen Frontalunterricht.

Die Meinung der Bildungsexperten lautet, dass die Anforderungen an die Schüler stetig gestiegen sind, dass der Druck zugenommen hat und die Bildung ein hohes Niveau hat.

Das stimmt wohl. Man will tendenziell zu viel. Und vernachlässigt dadurch das Wesentliche: Das Lesen, Schreiben und die Mathematik, ein Grundstock an Allgemeinbildung und wohl eine Fremdsprache. Das hat teils mit dem überfrachteten Lehrplan 21 zu tun. Die Lehrpersonen müssen von Thema zu Thema hetzen. Das Motto der Grundschule scheint auch zu lauten: Übe keinen Druck aus, mache keinen Frontalunterricht, keine vertieften Repetitionsphasen, einfach nichts, was nach Drill und Druck klingt und gewisse Kinder aus der Komfortzone katapultieren könnte. Ich sehe das bei unseren Kindern: Die Themen werden kurz gestreift. Zwei Jahre später auf höherem Niveau. In der Zwischenzeit haben sie alles vergessen, weil sich der Stoff nie setzen konnte. Ergänzend hinzu kommt die Tendenz, keine Hausaufgaben mehr zu erteilen. Das wirklich selbständige Üben in Ruhe geht so verloren.

Was sind die Gründe?

Der «gute» Grund? Einmal mehr die Chancengerechtigkeit. Weil nicht alle Kinder zuhause Unterstützung erhalten, soll kein Kind Unterstützung erhalten. Auch dies eine Nivellierung nach unten. Der wahre Grund? Es ist natürlich angenehmer, keine Hausaufgaben korrigieren zu müssen. Ohne Hausaufgaben verlieren jene Eltern, die das wünschen, aber auch den Draht zur Schule. Das versucht man dann mit aufwändigen Konstrukten wie nichtssagenden «Zeigehefte» wettzumachen. Bildungsnahe Eltern machen es auf ihre eigene Weise wett: Sie senden ihre Zöglinge lange vor dem Übertritt in die Oberstufe scharenweise in den Privatunterricht. Oder man gibt den Kindern zuhause Zusatzaufgaben.

Nun gibt es aber auch neue Einsichten und Studien, die belegen, dass die Einführung von Frühfranzösisch falsch war oder dass das Integrationsmodell die Normalklasse zu stark belastet. Doch korrigiert wird nicht auf das nächste Semester. Warum nicht?

Das kann ich nur für den Kanton Zürich beantworten. Der Prozess verläuft träge: Verschiedene Bildungsinstitute erhalten den Auftrag, Erhebungen zu machen. Das dauert, zwei, drei Jahre. Dann erklärt die Verwaltung, sie müssten erst mal die Grundlagen für einen Entscheid erarbeiten. Zwei, drei Jahren später kommt das Geschäft endlich ins Parlament und kann politisch diskutiert werden. Natürlich ist es komplex, wenn ein Bildungsdampfer wie der Kanton Zürich an einer Stellschraube etwas ändert; es könnte beispielsweise plötzlich zu einem Mangel oder einem Überfluss an Personal führen, zu ungeeignet qualifiziertem Personal oder unpassenden Schulhäusern. Was mir bei diesen Prozessen aufgefallen ist: Wir haben nie Bildungspolitik gemacht. Sondern Bildungspersonalpolitik betrieben.

Erklären Sie.

In jedem parlamentarischen Geschäft geht es im Kern immer ums Personal, nie um die Qualität. Ein aktuelles Beispiel zum Thema Lehrpersonenmangel: Im Kanton Zürich verdienen die Primarlehrer 25 Prozent mehr als im Durchschnitt der Deutschschweizer Kantone. Allen ist bewusst, dass das Lohnniveau nicht Auslöser des Mangels ist. Im Gegenteil: Noch höhere Löhne könnten zu noch tieferen Pensen führen. Nun heisst es, man müsse am sogenannten Lektionenfaktor schrauben, damit die Lehrer entlastet würden. Der Lektionenfaktor ist die Massgabe für den Jahresaufwand einer einzelnen Wochenlektion. Daran etwas zu ändern, ist nichts anderes als eine versteckte Formulierung, die Löhne zu erhöhen. Und wenn heute von einer Flötenlehrerin, die Sechsjährige unterrichtet, verlangt wird, sie müsse dafür über ein Studium verfügen, denn geht es um eine klassische Marktabschottung, und zugleich um Arbeitsbeschaffung für FHs.

Wie lässt sich dann die Bildungsqualität steigern, ohne einfach neue Finanzmittel einzuschiessen?

Die erste, wichtigste Massnahme wäre, wieder mehr Ruhe und Kontinuität in die Klassenzimmer und den Schulbetrieb zu bringen und die Anzahl Bezugspersonen pro Kind zu reduzieren. Das bedingt Anpassungen am integrativen Schulmodell.

Das ist eine Absage an die integrative Klasse.

Zumindest in der heutigen Form. Man muss schon sehr angestrengt wegschauen, um so zu tun, also ob das heutige System funktioniere. Einfach immer noch mehr Mittel ins System zu kippen und noch mehr Personal ins Klassenzimmer zu stellen kann nicht die Lösung sein. Der gutgemeinte Gedanke bei ihrer Einführung war, Kinder sozial nicht zu isolieren. Man tut dabei so, als ob sich die Kinder nicht begegnen würden, wenn sie nicht in derselben Klasse sitzen. Das ist aber falsch. Heute wird Integration in der Klasse zum Schein ausgelebt. Da sitzen die Sonderpädagogen hinter den verhaltensauffälligen Kindern und betreuen sie separat. Die Kinder sind so besonders stigmatisiert, vor dem Hintergrund, dass allen klar ist, wer «blöd» ist und den Unterricht ständig stört. Das führt auch zu absurden Effekten: Die Eltern begabter Kinder argumentieren, dass ihr Kind mehr verdient habe, als im täglichen Chaos einer integrativen Klasse unterrichtet zu werden. Die Folge ist: Sehr schwache und stark verhaltensauffällige Kinder werden integriert, leistungsstarke wiederum in Förderprogrammen separiert. Verlierer im System sind die durchschnittlichen Kinder. Sie erhalten zu wenig Aufmerksamkeit.

Zurück zur Steigerung der Bildungsqualität, ohne höheren Aufwand zu generieren:

Es braucht wohl auch eine Verschlankung des Lehrplans. Er soll sich vermehrt an den für alle Berufe zwingenden Grundkompetenzen orientieren: Mathe, Deutsch, Lesen, Allgemeinbildung, vielleicht nur eine Fremdsprache. Dann kann der Unterricht auch wieder aus einer Hand geführt werden. Obwohl die Lehrmittel besser geworden sind, können die Lehrpersonen heute immer weniger Fächer abdecken. Der Optimalfall ist für mich ganz klar, wenn eine Lehrperson in der Primarschule eine Klasse eigenverantwortlich führen kann, getreu nach dem Motto: ein Raum, eine Chefin oder ein Chef. Jede zusätzliche Person schafft neue Schnittstellen und Koordinationsaufwand. Im Team ist dann niemand mehr wirklich für das Weiterkommen des Kindes persönlich verantwortlich.

Eine Schule ohne Leistungsmessung spiegelt den Kindern nicht nur eine Welt vor, in der Leistung nicht zählt, sondern ist auch eine Missachtung der Leistung der Kinder.

Schliesslich setzte ich mich für eine schlanke, wenig aufwändige Leistungsmessung ein: die Noten. Kompetenzorientierter Unterricht ist nicht falsch, aber man kann nicht Dutzende Kompetenzen pro Kind messen. Eine Parlamentsmehrheit im Kanton Zürich hat kürzlich im Gesetz festgehalten, dass es Semesternoten geben muss. Eine Schule ohne Leistungsmessung spiegelt den Kindern nicht nur eine Welt vor, in der Leistung nicht zählt, sondern ist auch eine Missachtung der Leistung der Kinder. Noten sind nicht perfekt. Aber sie sind besser als keine Noten.

Die Ratslinke hat zwar beteuert, man wolle die Noten nicht abschaffen, nur um dann im nächsten Satz zu sagen, dass Noten überflüssig seien. Genau deshalb hat der Kantonsrat hier präventiv eine Notenpflicht eingeführt.

Der Trend geht in Richtung «keine Noten».

Ja, Kreise um das Institut für Erziehungswissenschaften an der Uni Zürich geben Bücher heraus wie «Schule ohne Noten». Folgt man diesen Personen in den sozialen Medien, so erkennt man rasch, wie radikal links sie ticken. Neben diesem Institut führt die Uni auch das Institut für Bildungsevaluation; Bildungsforschung betreibt auch die Pädagogische Hochschule, ebenso die ETH. Und alle müssen immer neue Ansätze, neue Reformen erfinden. Sie würden sich sonst als überflüssig erweisen. Das wäre das Schlimmste für die Bildungsindustrie. Dabei bräuchte die Volksschule vor allem etwas: endlich einen Reformstopp.

Das sind viele Akteure, die sich für die Staatsschule einsetzen. Liegt eine Lösung darin, die Konkurrenz, die Privatschulen, zu stärken?

Das ist eine Entwicklung, die abzusehen ist: Viele Reiche kaufen sich bereits jetzt aus der Volksschule heraus und lassen ihren Nachwuchs an Privatschulen ausbilden. Am Zürichberg besucht jedes sechste Kind eine Privatschule. Und dort, wo ein solcher Entscheid folgerichtiger wäre, aber das Portemonnaie dünner ist, nämlich in Schwamendingen, sind es weniger als drei Prozent. Da sich nicht beliebig viele Eltern Privatschulen leisten können, erfolgt die Privatisierung der Bildung unsichtbar, indem Kinder bildungsnaher Eltern neben der Volksschule gefördert werden. Insgesamt ist das ein unerfreulicher Trend, der genau das Gegenteil der angestrebten Chancengerechtigkeit erreicht, und an angloamerikanische Verhältnisse erinnert, wo Geld über Bildung entscheidet. Wir dürfen es nicht so weit kommen lassen.

Können Sie das Ruder mit Ihrer Partei herumreissen?

Die FDP im Kanton Zürich begleitet die sich jagenden Reformen kritisch. Aber ganz ehrlich? Man kann schon den Glauben verlieren. Die Personallobbys rund um den Bildungsbereich sitzen einfach am längeren Hebel. Zeit für die Bürgerlichen, sich wieder vermehrt um dieses Thema zu kümmern.

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Bleibt das Gymnasium eine Schule für universitätsreife Köpfe? Das fragt sich, wer den Ansturm auf die Mittelschulen beobachtet. Nun soll das Gymi reformiert werden. Doch in welche Richtung, fragt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Condorcet-Autor Carl Bossard

«Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen!», so entfährt es einer thrakischen Magd. Sie sieht den Philosophen und Astronomen Thales von Milet auf seinem nächtlichen Spaziergang, den Blick fest auf den Sternenhimmel gerichtet, in die Zisterne stürzen – und lacht dabei. Seither hallt das Lachen der Thrakerin hörbar weiter. Es kommt manchen in den Sinn, wenn sie sich mit aktuellen Schulreformen befassen.

Der spürbare Sog des Gymnasiums

Eine grosse Reformwelle hat sich über die Schweizer Bildungslandschaft ergossen. Unzählige Innovationen haben die Volksschule umgestaltet. Auch das Gymi soll einer umfassenden Reform unterzogen werden. Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität WEGM heisst das Projekt. Der Handlungsbedarf geht aus dem Willen hervor, den prüfungsfreien Zugang an die Hochschule und Universitäten langfristig zu sichern.

Die Matura ist heute für viele ein Muss: eine Art Conditio sine qua non. In Basel schafften 2018 rund 45 Prozent den Zugang. Das erinnert an französische und deutsche Verhältnisse. Einige Schlagzeilen aus Schweizer Medien. «Die Goldküste im gymnasialen Rausch», «Zuger Gymnasien boomen wie noch nie», «Ins Gymnasium – auf Biegen und Brechen». Die Titel mögen plakativ sein, doch sie verweisen auf einen Trend, den Drang ans Gymnasium. Ein Drittel schafft es nur mit Nachhilfeunterricht. Manche sind überfordert, etliche verlassen die Schule vor der Matura. Evaluationen zeigen Defizite. Nicht umsonst schreibt die ETH-Wissenschaftlerin Elsbeth Stern: «Mindestens 30 Prozent der Mittschüler gehören nicht ans Gymnasium.» Und weiter sagt sie: «Wenn man die überdurchschnittlich Intelligenten an den Universitäten haben will, dann sollte man eine [Studier-]Quote von etwa 20 Prozent anstreben – das ergibt sich aus der Normalverteilung der Intelligenz.»[1]

Qualität und Quote korrelieren umgekehrt

Stefan C. Wolter, Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern, votiert für die gleiche Prozentzahl.[2] «Das System ist in Schieflage geraten», analysiert er und fügt bei: «Einzelne Gymnasien vergeben Noten, die in keinem Verhältnis zu den objektiven Leistungen stehen.» Der Bildungsbericht 2018, das Standardwerk zur Schweizer Bildungspolitik, konstatiert nüchtern: Nicht allen Maturandinnen und Maturanden kann man aufgrund der gemessenen Kompetenzen «eine volle Studierfähigkeit attestieren».[3]

Doch das wäre das Ziel. Höhere Quoten gehen oft mit sinkenden Ansprüchen einher. Der Zusammenhang von «upgrading access and downgrading skills» ist bildungsgeschichtlich nichts Neues: Qualität und Quote korrelieren umgekehrt. Ein Zielkonflikt! Und doch: «Mehr Maturanden, bitte!» fordert Professor Philipp Sarasin, Universität Zürich, seit Jahren.[4] Dezidiert verlangt er für einen Drittel aller Jugendlichen den Zugang zum Gymnasium. Gar eine «Matura für alle!» postulierte 2018 eine Publikation.[5] Gemeint ist nicht nur die gymnasiale.

Die Schule von Athen: Maler Raffael – Fresko um 1510

Gymnasiale Dilemmata

Das Schweizer Gymnasium kennt manche Spannungsfelder. Einige wenige seinen kurz skizziert, allerdings mit van Goghs dickem Pinsel und nicht mit Dürers feinem Stift: Da haben wir die Ambiguität zwischen einer allgemeinen Hochschulreife und einer Fakultätsreife. Weiter steht das Ziel des Hochschulstudiums einer verstärkten Vorbereitung aufs Berufsleben gegenüber, wie sie der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse fordert. Die Vergleichbarkeit der Abschlüsse und die notwendige Schulautonomie widersprechen sich, ebenso zusätzliche Unterrichtsfächer und die notwendige Tiefe. Es gibt in diesen Dialektiken wohl keinen Wert, der nicht einen gleich-gültigen Gegenwert hat. Und beide Werte lassen sich nicht gleichzeitig maximieren.

Qualitätsverbesserung braucht ein hohes Mass an Autonomie

In welche Richtung aber soll sich das Schweizer Gymnasium entwickeln, wenn es nicht einem amorphen Vektorhaufen gleichen will? Wer steuert – und wie? Von oben? Top-down: über mehr Vorschriften und Vorgaben, über mehr Dekrete und Direktiven, über Daten und Dokumente? Über den geplanten, überfrachteten Lehrplan mit rund 460 Seiten? Formuliert in der praxiserfahrungsverdünnten Luft von Bildungsstäben! In der Lernbürokratie?

Oder Bottom-up: Über eine hohe Autonomie der Einzelschule, die mit entsprechender Verantwortung von pädagogischer Schulleitung und Kollegium korreliert? Auch das wissen wir aus der Forschung ziemlich genau: Qualitätsverbesserungen lassen sich nur dann erreichen, wenn die lokalen Akteure über ein hohes Mass an Autonomie verfügen – immer mit Blick auf das konkrete Lernen der Schülerinnen und Schüler und gekoppelt mit Verantwortungsbewusstsein. Dieser Autonomie ist Sorge zu tragen.

Wider die Kompetenzraster à la Lehrplan 21

Bei der sogenannten Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität geht es um die Stärkung der MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik. Und es geht darum, das Gymnasium anspruchsvoller zu machen. Gegen diese Intention ist nichts einzuwenden.

Das Gymnasium bleibt in seiner Struktur mit dem Fachprinzip, dem Wissenschaftspropädeutischen und dem allgemeinen Hochschul-/Universitätszugang, der sogenannten «Hochschulreife», unangetastet. Am Bildungsziel des Gymnasiums ändert sich nichts. Humboldt bleibt! Skepsis aber ergibt sich gegenüber dem kompetenzorientierten Lehrplan-Dokument von gegen 460 Seiten, gegen die Kompetenzraster à la Lehrplan 21. Hier heisst es beispielsweise: «Die Schülerinnen und Schüler können nach einer langen Laufbelastung die Geschwindigkeit anpassen.»

Der Lehrplan 21 legt lauter kleinparzellierte Einzelkompetenzen fest. Überprüfbar. Kontrollierbar. Anwendbar. Im Fach Musik wird zum Beispiel von einem Kind gefordert: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.» Ein solches Korsett wird für viele zum Problem. Es sind Hunderte von Seiten mit rund 3’600 Teilkompetenzen. Alles wird dann noch in drei Stufen aufgeteilt. Das wirkt wenig gymnasial.

Den Unterricht inhaltlich fassen, nicht kompetenztheoretisch

Die Kompetenzen sind eine universelle Idee. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Bildungskultur. Wie soll ich beispielsweise die Mathematik der dritten Gymnasialklasse in Kompetenzstufen aufteilen? Es ist der Versuch, transparent zu machen, was notwendig vage bleibt. Unterricht ist ja immer mit Ungewissheit konnotiert. Das Ganze führt zu Strichlisten. Und das ist illusionär. Die Implementation von solchen Kompetenzrastern ist ein Riesenaufwand; und ob die Universitäten und die ETH wollen, was bei solchen Vorgaben «rauskommt»? Zweifel sind angebracht. Im Normalfall ist es ja trivial.

Athene – die alte Kantonsschule Zug

Es gilt, den Unterricht inhaltlich zu fassen – nicht kompetenztheoretisch! Die Studierenden müssen inhaltlich vorbereitet sein; das lässt sich nur bedingt in ein Kompetenzvokabular mit drei Stufen fassen – vor allem wenn der Lehrplan von fremden, schulexternen Kommissionen entwickelt wird, wie das im Moment geschieht. Anders gesagt: Lehrerinnen und Lehrer werden durch externe, überdimensionierte Rahmenlehrpläne zunehmend von der eigentlichen Berufsaufgabe abgelenkt – und damit von dem, was sie gerne tun und das Kernelement ihres pädagogischen Wirkens nennen: unterrichten! Darum: Humboldt ja! McKinsey nein!

Wider der (Reform-)Sturz in die Zisterne

Wer in der Schule tätig ist, der muss nach den Sternen schauen und gleichzeitig achtgeben auf die Gassen. Genau wie es die witzige Magd Thales von Milet nahelegte, als er nachts in die Zisterne gefallen war. Der griechische Philosoph war aber nicht nur Denker im Grundsätzlichen, er war auch Pragmatiker im Tatsächlichen. Er durchmass die Höhen des Himmels und war gleichzeitig gewiefter Ökonom. Dieser Thales sollte in jeder Schulleitung stecken, sollte alle Gymnasiallehrerinnen und -lehrer leiten: die schulischen Zusammenhänge im Blick und das gymnasiale Bildungsziel vor Augen haben und gleichzeitig den pädagogischen Alltag meistern. Das bewahrt vor dem (Reform-)Sturz in die Zisterne

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Goldgräberstimmung in der Bildungsindustrie https://condorcet.ch/2022/06/goldgraeberstimmung-in-der-bildungsindustrie/ https://condorcet.ch/2022/06/goldgraeberstimmung-in-der-bildungsindustrie/#comments Sun, 26 Jun 2022 13:19:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=10964

Nach einer längeren Pause nimmt der Condorcet-Blog wieder seine Tätigkeit auf. Er tut dies mit dem Sonntagseinspruch von Professor Kühnel aus Stuttgart, der mit seinem hintergründigen Humor die Wunschprosa auf der diesjährigen "didacta" in Köln kommentiert.

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Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Das ganze Leben ist ein einziges Problem, da brauchen wir jetzt zahlreiche Lebenskompetenzen, um es zu bewältigen.

Auf der diesjährigen Didacta in Köln konnte man sich vorkommen wie auf einer Computermesse, etwa der früheren Cebit. Überall wurde von digitalen Geräten, von der Digitalisierung, von der digitalen Bildung, von der Digitalität usw. geredet, man wurde geradezu aufdringlich mit Reklame in dieser Richtung überschüttet. Eine seelenlose “Apparate-Pädagogik” einer neuen “Bildungsindustrie” scheint sich breit zu machen und wird als die Lösung aller wichtigen Probleme angepriesen. Geschäftemacher von neuen  Start-Up-Unternehmen wittern dabei eine gewisse Goldgräberstimmung. Wer da nicht so recht mitmachen will, der ist ein ewig Gestriger und “verschläft” die Entwicklung.

Meine Motivation für einen Besuch war eine ganz andere: Ich wollte Schulbücher ansehen und vergleichen. In früheren Jahren war eine ganze Halle mit Tischen gefüllt, auf denen die Verlage ihre Bücher zur Ansicht bereit hielten. In diesem Jahr waren nur noch ganz weniger Bücher zu sehen. Jetzt ist alles digital. Dafür gab es eine neue “Schulleitungsstudie”, die von einem  Forschungsinstitut unter Leitung von Prof. Hurrelmann durchgeführt und auf der Didacta mit einer Podiumsdiskussion gewissermaßen “geadelt” wurde. Die Ergebnisse kann man hier in Kurz- und Langversion ansehen:

https://www.fibs.eu/aktuelles/meldung/news/detail/News/online-umfrage-fr-die-cornelsen-schulleitungsstudie23/

So nebenbei erfährt man im Vorwort, dass Herr Hurrelmann – aus  einfachen Verhältnissen stammend – von seiner Grundschule ausdrücklich ans Gymnasium empfohlen wurde, dass er dort aber Schwierigkeiten mit seinen lieben Mitschülern bekam. Aber ist Mobbing unter Schülern nicht weit verbreitet und keineswegs eine Spezialität der Gymnasien? Was sagen die Schulreformer dazu?

Der Lehrermangel und der bauliche Zustand der jeweiligen Schule waren nicht dabei, die Größe der Schulklassen auch nicht.

Inwieweit die Befragung tatsächlich repräsentativ war, mag jeder selbst beurteilen. Jedenfalls wurden zahlreiche Schulleitungen zu jenen Themen befragt, die man offenbar für besonders wichtig hielt. Der Lehrermangel und der bauliche Zustand der jeweiligen Schule waren nicht dabei, die Größe der Schulklassen auch nicht. Aber natürlich war die Chancengleichheit ein wichtiges Thema, wie könnte es anders sein. Sie wird als ein “zentrales Betätigungsfeld von Schulleitungen” bezeichnet.

Digitalität = Chancengleichheit?

In der Kurzversion heißt es: “97 % der Schulleitungen sehen die Ermöglichung von Chancengleichheit als eine zentrale Aufgabe von Schule an.” Wobei “Ermöglichung von Chancengleichheit” eine seltsame, typisch halbherzige Formulierung ist, denn das Gegenteil wäre ja, die Chancengleichheit unmöglich zu machen, ein offensichtlicher Unsinn, den wohl niemand für richtig halten dürfte.

In der Langversion sieht das in Abb. 11 auf S. 42 etwas anders aus. Da wurden den Befragten zum Thema “Sehen Sie eine Verschärfung von Bildungsungleichheiten durch die verschiedenen Schulformen?” 10 Antworten vorgelegt, von denen sie sich genau eine aussuchen sollten. Die am meisten (von 37 %) gewählte Antwort lautete: “Nein, die Verschärfung von Bildungsungleichheiten entsteht nicht durch die verschiedenen Schulformen, sondern dadurch, dass Schüler:innen, die besondere Unterstützung benötigen, diese nicht ausreichend bekommen.” Mit 20 % als zweite genannt wurde die Antwort: “Ja, deshalb bin ich für ein integrierendes Schulsystem, in dem alle Kinder bis zum jeweiligen Abschluss ganztägig gemeinsam lernen.”

Ganz besonders scheint den Leitern der Studie der Fächerkanon zu missfallen, denn sie zitieren einen Schulleiter mit den Worten “Die Schule ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.”

Die 97 % entstammen der Feststellung “Schule soll die Chancengleichheit aller ermöglichen” mit Zustimmungwerten wie “Trifft voll und ganz zu”, was 79 % ankreuzten, bzw. “Trifft eher zu”, was 18 % ankreuzten. Nicht gefragt wurde dabei, ob diese “Ermöglichung” von Chancengleichheit für alle etwa durch anderweitige Nachteile erkauft werden solle oder müsse. Eine Abwägung verschiedener konkurrierender Ziele fand nicht statt. Man hätte auch schärfer fragen können, welche Priorität die Chancengleichheit im Kontext anderer Ziele haben solle, denn ob alles miteinander problemlos kompatibel ist, das kann man sehr wohl mit einem Fragezeichen versehen. Da gibt es z.B. die Feststellung “Schule soll die Bildung, das Lehren und das Lernen an Digitalität ausrichten” mit eher geringen Zustimmungswerten. Digitalität = Chancengleichheit?

Ganz besonders scheint den Leitern der Studie der Fächerkanon zu missfallen, denn sie zitieren einen Schulleiter mit den Worten “Die Schule ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Das liegt an dem tradierten System, das schon lange nicht mehr aktuell ist. Der Fächerkanon ist doch der Wahnsinn. Die Lehrer:innen haben die Aufgabe, arbeitsgleich zu unterrichten. Das interessengeleitete und
individualisierte Lernen steht nicht im Vordergrund, sollte es aber.” (Kurzversion Seite 13, Langversion Seite 62)

Und dann bevorzugen 51 % das projektorientierte Lernen als jenen Aspekt, der über den Fächerkanon hinausgehen soll.

David Precht: “Intressengeleitetes, individuelles Lernen.”

Sagte nicht Herr Precht Ähnliches? Wie dieses “interessengeleitete und individualisierte Lernen” mit der allgegenwärtigen Forderung nach der bundesweiten Vergleichbarkeit von Abschlüssen kompatibel sein soll, wird auch nicht angedeutet. In der Kurzversion heißt es dann auch, dass 82 % der Befragten sich für eine Überarbeitung des Fächerkanons aussprechen. In der Langversion gab es vier mögliche Antworten auf die Frage “Braucht es einen veränderten Fächerkanon?”, und zwar sagten 47 % “Ja, es braucht ein anderes Zusammendenken von Fächern”, 24 % sagten “Ja, es braucht einen fächerübergreifenden Unterricht”, und nur 11 % meinten “Ja, es braucht neue Fächer”. Und dann bevorzugen 51 % das projektorientierte Lernen als jenen Aspekt, der über den Fächerkanon hinausgehen soll. So besonders originell ist das nicht. Gibt es nicht längst Projektwochen an den Schulen?

Seitenhiebe auf das traditionelle Bildungsverständnis
So ganz nebenbei gibt es Seitenhiebe auf das, was als “traditionelle Bildung” angesehen und wohl mit dem Philologenverband in Verbindung gebracht wird: “Alle müssen sich durch Latein quälen, dabei haben sie vielleicht ganz andere Interessen und Fähigkeiten. Ich wünsche mir, dass der Fokus des Gymnasiums noch mehr auf das gerichtet ist, was auf die Berufswelt vorbereitet. Die Schüler:innen müssen wissen, wofür es wichtig ist, bestimmte Dinge zu lernen, z.B. Mathe für das Ingenieurwesen.” (Langversion Seite 47)

Na hoffentlich erhöht “Mathe für die Berufswelt” dann künftig die Zahl der Ingenieure. Kurioserweise erinnert das an die Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts, als an Gymnasien tatsächlich noch Latein und Griechisch Pflicht waren und sehr wichtig genommen wurden. Als Kontrastprogramm gründete man dann die Realgymnasien, in denen es eher um Dinge wie “Mathe für das Ingenieurwesen” oder Naturwissenschaften ging.

Spötter könnten jetzt ähnlich formulieren: “Alle müssen sich in der 9. Klasse durch Berufspraktika quälen, obwohl sie vielleicht doch nach dem Abitur studieren wollen.”

Aber heute noch zu behaupten, “alle müssen sich durch Latein quälen”, ist doch nun wirklich Unsinn. Lateinunterricht ist eine freiwillige Option geworden und kann entweder als 1., als 2. oder auch als 3. Fremdsprache gewählt oder eben ganz gemieden werden. Auch einige Gesamtschulen bieten Latein an. In einschlägigen Studiengängen muss das Latinum auch nicht mehr vor Studienbeginn nachgewiesen werden, es genügt, wenn es während des Studiums erworben wird und bis zum Beginn des Masterstudiums vorliegt. Selbst Latein kann man heute studieren, ohne ein Latinum aus der Schule mitzubringen, was auch wieder eine Kuriosität ist.

Spötter könnten jetzt ähnlich formulieren: “Alle müssen sich in der 9. Klasse durch Berufspraktika quälen, obwohl sie vielleicht doch nach dem Abitur studieren wollen.”

93% wollen mehr Lebenskompetenzen

Aber das praktische Leben zieht sich auch durch diese Schulleitungsstudie. In der Kurzversion heißt es “93 % wünschen sich, dass im Unterricht mehr Lebenskompetenzen vermittelt werden.” Und die werden dann auch alle “digitalisiert” angeboten? Seit 2000 Jahren wird das “Non scholae, sed vitae discimus” (oder auch das Umgekehrte) diskutiert. Jetzt wird das auch noch in Weinerts Kompetenz-Definition gepresst, die bekanntlich als Kompetenz solche Fähigkeiten bezeichnet, die zur Lösung bestimmter Probleme dienen.

Also: Das ganze Leben ist ein einziges Problem, da brauchen wir jetzt zahlreiche Lebenskompetenzen, um es zu bewältigen, und das eigentlich schon von Geburt an, nicht erst in der Schule. Bekanntlich dient ja auch die Kita heute dem Erwerb von Kompetenzen. “Ernährung” und “Gesundheit” wurden ja schon als Schulfächer vorgeschlagen, das “digitalisierte Kochen” wird vielleicht noch zu einem Schlager, und die “Elternkompetenz” ist auch eine Möglichkeit für die 14-Jährigen, sich schon in der Schule auf ihre künftige Rolle als Eltern vorbereiten, um die jetzt immer mehr konstatierten Erziehungslücken im Elternhaus wieder zu vermeiden. Wie die oft postulierte “sexuelle Diversität” dazu passt, das muss dann noch geklärt werden.

“Ich sehe einen zunehmenden Verlust von Erziehungsqualität in den Elternhäusern. Die Schule muss immer mehr kompensieren.” Also: Her mit dem Schulfach “Eltern sein, Kinder erziehen” mit kompetenzorientierten Bildungsplänen dafür, unterstützt durch digitalisierte Apps.

Diese Lücken verschweigt auch diese Studie nicht: “Ich sehe einen  zunehmenden Verlust von Erziehungsqualität in den Elternhäusern. Die Schule muss immer mehr kompensieren.” (Kurzversion Seite 8)  Also: Her mit dem Schulfach “Eltern sein, Kinder erziehen” mit kompetenzorientierten Bildungsplänen dafür, unterstützt durch digitalisierte Apps. So theoretisch-abgehobene Dinge wie Mathematik und Fremdsprachen müssen dann halt gekürzt werden.

Digitalität, Heterogenität, Inklusion, Demokratieerziehung, individualisiertes Lernen, interessegeleitetes Lernen, projektorientiertes Lernen, Einführung innovativer und visionärer Ideen, Lebenskompetenzen, multiprofessionelle Teams, Chancengleichheit, Qualitäts- und Schulentwicklung und vieles mehr.

Fazit: Es ist die Frage, ob das alles nicht doch ein eher populistischer Versuch ist, für die zweifellos bestehenden Probleme einfache Lösungen zu suggerieren, die mit zahlreichen Schlagworten daherkommen und “von oben”, also von der Schulleitung aus durchgesetzt werden sollen:
Digitalität, Heterogenität, Inklusion, Demokratieerziehung, individualisiertes Lernen, interessegeleitetes Lernen, projektorientiertes Lernen, Einführung innovativer und visionärer Ideen, Lebenskompetenzen, multiprofessionelle Teams, Chancengleichheit, Qualitäts- und Schulentwicklung und vieles mehr.

Die Schulleistungstests des sog. “Monitorings” zeigen bislang nicht klar, was sich verbessert hat.

Was offenbar fehlt, sind konkrete Vorschläge, WIE das alles erreicht werden kann, und zwar verbunden mit einer tatsächlich feststellbaren Verbesserung gegenüber dem Ist-Zustand. Mit Verschlimmbesserungen ist niemandem gedient, die hatten wir schon reichlich. Die Schulleistungstests des sog. “Monitorings” zeigen bislang nicht klar, was sich verbessert hat. Es geht auf und ab.
WIE der Fächerkanon ggfs. verändert werden soll, dazu wurde nichts Konkretes gesagt. Und die Systemfrage nach der Einführung einer einheitlichen Schule wurde nicht ernsthaft gestellt, obwohl die selbstverständlich als der “weiße Elefant” immer im Raum steht. Nur 20 % der Befragten waren Schulleiter von Gymnasien, die hätte man mit den anderen 80 % niederstimmen können. Das aber geschah nicht. Auf Seite 42 heißt es, dass sich 13 % der Schulleitungen ein längeres gemeinsames Lernen vorstellen können. Mehr nicht?

So kann es uns vielleicht trösten, dass die Probleme so kompliziert und in sich auch so widersprüchlich sind, dass die einfachen Lösungsvorschläge dann doch nicht greifen und dass somit auch der Glaube an die Allmacht der genannten Schlagworte sinken wird. Vielleicht geht es irgendwann auf der Didacta auch wieder um die Kinder als Menschen und weniger um die Digitalität.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Schulpraktiker https://condorcet.ch/2022/05/in-krisenzeiten-schlaegt-die-stunde-der-schulpraktiker/ https://condorcet.ch/2022/05/in-krisenzeiten-schlaegt-die-stunde-der-schulpraktiker/#comments Tue, 03 May 2022 09:58:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=10883

Der dramatische Lehrkräftemangel ist ein schweizweites Problem. Nach dem Artikel von Carl Bossard (Innerschweiz) und Alain Pichard (Biel) nimmt sich auch der ehemalige Bildungsrat Hanspeter Amstutz dieses Themas an. Er sieht die Bildungsverwaltung in der Verantwortung.

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Hanspeter Amstutz:
Beispielloses Versagen

Jahrelang versuchte die Zürcher Bildungsdirektion den chronischen Lehrermangel in der Volksschule kleinzureden. Doch letzte Woche erfolgte eine radikale Kehrtwende. Aufgrund der dramatisch verschlechterten Personalsituation erging ein eigentlicher Hilferuf an alle, die sich pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vorstellen können. Selbst Unausgebildete sollten sich für den Schuldienst zur Verfügung stellen, sofern sie sich die herausfordernde Aufgabe zutrauten. Dieses Versagen vorausschauender Bildungspolitik ist in neuerer Zeit wohl beispiellos.

 Hausgemachte Gründe für den Lehrermangel sind offensichtlich

Die Reaktionen in der Presse auf das konzeptlose Agieren der Bildungsdirektion und die zunehmenden Burnouts in der Lehrerschaft liessen nicht lange auf sich warten. Scharf formulierte Leserbriefe erschienen im Tages-Anzeiger und in der NZZ. Für die Leserbriefschreiber ist die überproportionale Zunahme der Schülerzahlen in den letzten Jahren kein ausreichender Grund, um den grossen Lehrermangel zu erklären. Alle kritisieren zu Recht, dass sich die dramatische Entwicklung längst abgezeichnet hat und für den Lehrermangel eine Reihe hausgemachter Ursachen vorliegen. Sie erwähnen die gestiegene Grundbelastung in den Regelklassen, weil die Kleinklassen abgeschafft wurden. Sie sehen im überladenen Lehrplan, in der Verzettelung auf zu viele Bildungsziele und in der oft praxisfernen Lehrerbildung die stärksten Belastungsfaktoren.

Jahr für Jahr wird die Lehrerschaft vertröstet, dass man das komplexe Fördersystem verbessern und versuchen werde, mehr Heilpädagoginnen einzusetzen. Doch dass dies in Zeiten des Lehrermangels Luftschlösser sind, ist allen klar.

Inkusion: Pragmatische Lösungen gefragt

Die kantonalen Bildungsdirektionen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass es den Verantwortlichen an Entschlossenheit mangelt, bei gewissen Schulprojekten endlich zu einem Abschluss zu kommen. Was wurde nicht schon alles geschrieben über die Integration verhaltensauffälliger Schüler in Regelklassen! Jahr für Jahr wird die Lehrerschaft vertröstet, dass man das komplexe Fördersystem verbessern und versuchen werde, mehr Heilpädagoginnen einzusetzen. Doch dass dies in Zeiten des Lehrermangels Luftschlösser sind, ist allen klar. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen mit aller Deutlichkeit, dass bei einer zu grossen Zahl an verhaltensauffälligen Schülern auch bei grösstem Einsatz der Klassenlehrer die Integration zum Scheitern verurteilt ist. Nötig sind pragmatische Lösungen mit Einbezug von gut geführten Kleinklassen, um die blockierenden Dogmen in der Integrationsfrage endlich überwinden zu können.

Erfahrene Kolleginnen unterstützen mit Rat und Tat Studierende, die vorzeitig in Vikariaten eingesetzt werden. Bei den Schulleitungen hat man gemerkt, dass gut qualifiziertes und zupackendes Personal weit wichtiger ist als die Lenkung des Bildungsgeschehens durch ausgeklügelte Lernprogramme und zeitraubende Lehrplan-Weiterbildungen.

Gefragt ist Zupackendes Engagement und Besinnung aufs Wesentliche

Um in diesen aufwühlenden Zeiten die Qualität unserer Volksschule zu erhalten, braucht es ein aussergewöhnliches Engagement der Lehrerinnen und Lehrer. Die meisten arbeiten nicht erst seit Corona weit mehr, als dies der kleinkarierte Berufsauftrag vorschreibt. Würde man die Überstunden am Jahresende kompensieren, könnte einige bereits im November in die Ferien gehen. Der Aufruf zur Unterstützung der Schulen verhallt zum Glück nicht ungehört. Manch pensionierter Lehrer übernimmt in seiner ehemaligen Schule eine verwaiste Klasse. Lehrerinnen erhöhen trotz Familienpflichten ihr Pensum oder springen spontan für eine erkrankte Kollegin ein. Erfahrene Kolleginnen unterstützen mit Rat und Tat Studierende, die vorzeitig in Vikariaten eingesetzt werden. Bei den Schulleitungen hat man gemerkt, dass gut qualifiziertes und zupackendes Personal weit wichtiger ist als die Lenkung des Bildungsgeschehens durch ausgeklügelte Lernprogramme und zeitraubende Lehrplan-Weiterbildungen. In der Praxis muss die Spreu vom Weizen geschieden werden, wenn die Schulen die Krise unbeschadet überleben wollen. Schulpraktiker geniessen wieder sehr viel mehr Kredit, und das ist gut so. Jetzt bietet sich die Chance, die Schulen pädagogisch und inhaltlich wieder aufs Wesentliche auszurichten.

Dringend nötig wäre ein schonungsloses Überprüfen umstrittener Reformen und aufwändiger administrativer Massnahmen der letzten Jahre.

Die Bildungspolitik muss endlich ihre Hausaufgaben lösen

Und was tun lautstarke Bildungspolitiker in dieser wichtigen Phase? Einige schweigen, und das ist nicht einmal das Dümmste. Doch ihre Aufgabe wäre es eigentlich, all die Hemmnisse in den Schulen abzubauen, welche das tägliche Unterrichten erschweren. Dringend nötig wäre ein schonungsloses Überprüfen umstrittener Reformen und aufwändiger administrativer Massnahmen der letzten Jahre. Und nicht zuletzt wäre es auch die Aufgabe einer mutigeren Bildungspolitik, den Ursachen des Lehrermangels auf den Grund zu gehen.

KV-Lehre: schwammige Konzepte

Ein Blick auf das Gesamtsystem unseres Bildungsangebots zeigt, dass auch die KV-Schulen in einer turbulenten Phase stecken. Dieser wichtige Zweig des dualen Berufsbildungssystems ringt je länger je mehr um begabte Schülerinnen und Schüler, die zwischen KV-Lehre und Gymnasium schwanken. Doch die Bildungsverantwortlichen sind drauf und dran, die Weichen mit der neuen KV-Reform falsch zu stellen. Statt in Leistungsfächern die Jugendlichen gründlich auszubilden, werden schwammige Konzepte mit Modulen für situatives Verhalten entwickelt. Erfahrene KV-Lehrpersonen sind entsetzt über die unausgegorene Reform. Sie befürchten wohl zu Recht einen massiven Abbau an Schulqualität. Interessant ist, dass die Banken beim neuen Modell ausscheren und weiterhin an einem fächerorientierten Unterricht festhalten.

Die Stärkung der Berufsbildung bleibt eine Herausforderung

Vielleicht hilft ein Blick über die Grenzen, um fatale Entwicklungen im Bildungsbereich noch zu verhindern. In einigen deutschen Bundesländern hat die Verwässerung der Anforderungen an den Mittelschulen zu einer Zunahme der Abiturientenquote auf über 50 Prozent und zu einer höchst unerfreulichen Abwertung der Berufsbildung geführt. Universitäre Ausbildungen sind das Ziel, handwerklich-technische Berufe gelten als zweite Wahl. Die Schweizer Bildungspolitik müsste durch die hohe Arbeitslosigkeit in Ländern mit einem zu leichten Zugang zu den Gymnasien und einem tiefen Sozialprestige der Berufslehren gewarnt sein. Besser als eine Erhöhung der Maturitätsquote ist eine Aufwertung der Berufslehren vom KV bis zur Schreinerlehre, denn ohne hervorragend ausgebildete Berufsfachleute kann unsere Wirtschaft ihre starke Stellung nicht behaupten.

Hanspeter Amstutz

Ehemaliger Bildungsrat und Sekundarlehrer

Fehraltorf

 

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Nun hat es uns doch noch einen Buchtipp reingeschneit. Frau Dr. Marianne Wüthrich stellt unseren Leserinnen und Lesern das Buch von Professor Mario Andreotti "Eine Kultur schafft sich ab" vor.

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Dr. Marianne Wüthrich: Lasst sie wieder unterrichten.
Mario Andreotti, Germanist, Kolumnist und Autor: Die Simplifizierung ist bedenklich.

«Eine Kultur schafft sich ab», so der wenig erbauliche Titel, den der Sprach- und Literaturwissenschaftler Mario Andreotti für seine Sammlung von Zeitungskolumnen im St. Galler Tagblatt gewählt hat. Leider, muss man hinzufügen, passt diese Überschrift. Und dennoch ist es für die Zeitungsleserin jedes Mal eine Freude, ja sogar ein Hoffnungsschimmer, wenn sie auf eine der prägnanten Kritiken an unserem Bildungssystem stösst. Denn Zehntausende von Lesern können auf diesem Weg erfahren, was in unseren Schulen schiefläuft, beziehungsweise welche fatale Entwicklung in der EDK und den PHs angebahnt wurde. Der Autor lässt es aber nicht dabei bewenden, sondern zeigt auch auf, wo Korrekturen nötig und möglich sind. Auf aufschreckende Fragen wie «Verkümmert unsere Sprache im Internet?» folgen auch Antworten: «Frühdeutsch ist notwendiger als Frühenglisch», zum fatalen Niedergang des Fachs Geschichte erscheint einige Zeit später der Artikel «Warum Geschichte heute wichtiger denn je ist».

Bild: Verlagshaus Schwellbrunn

Mario Andreotti nennt auch Ross und Reiter, zum Beispiel unter den Titeln «Die verkaufte Bildung: Schule im Sog des Marktes», «Talentförderung: Firmen drängen in die Schule» und er warnt: «Bildung ist mehr als Fitmachen für den Beruf». Die Abkehr von der Methoden- und Lehrfreiheit der Lehrer ist dem Autor – so wie vielen von uns kritischen Beobachtern der unguten Schulreformen – ein besonderer Dorn im Auge: «Verkommt die Schule zur digitalen Diktatur?», «Wie Schulen sanft gesteuert werden». Nicht immer sanft, ist dazu zu bemerken, denn im letzten Text des Buches geht es um die Lehrer, die den Schulen davonlaufen. Besonders wertvoll sind die Kolumnen mit der Bewegung nach vorne: «Was Kinder wirklich brauchen», «Lasst sie wieder unterrichten!» oder die Rückforderung einer humanistischen Bildung anstelle des geschäftigen Tuns isolierter Kinder an ihrem Tablet: «Goethe oder Google: Wer erklärt uns die Welt?»

Die Redaktion des Zürcher Newsletters wünscht Mario Andreotti, den wir auch an einem Vortragsabend der «Starken Volksschule Zürich» als hervorragenden Pädagogen kennen- und schätzen gelernt haben, viele interessierte und engagierte Leserinnen und Leser für seine ansprechende und vielseitige Zusammenschau aus der heutigen Bildungslandschaft.

Marianne Wüthrich

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