Bildungspolitik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 27 Mar 2024 09:52:19 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bildungspolitik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die wahren Gründe der Schulmisere in Basel https://condorcet.ch/2024/03/die-wahren-gruende-der-schulmisere-in-basel/ https://condorcet.ch/2024/03/die-wahren-gruende-der-schulmisere-in-basel/#comments Wed, 27 Mar 2024 09:52:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=16286

Die integrative Schule beelendet alle. Die Lehrerschaft erstickt in der Bürokratie und wird angefeindet. Dabei gäbe es Wege aus der Krise. Marcel Rohr, Chefredakteur bei der BAZ, formuliert sie.

The post Die wahren Gründe der Schulmisere in Basel first appeared on Condorcet.

]]>

Luca Urgese und Mustafa Atici wollen Basels neuer Erziehungsdirektor werden. Mit Verve streiten die beiden Politiker im grossen BaZ-Interview über das Basler Bildungswesen. Am 7. April steht der zweite Wahlgang für die beiden Kandidaten an.

Was Mustafa Atici offenbar noch nicht verstanden hat: Die integrative Schule ist längst gescheitert. Überall macht sich Resignation breit – dafür braucht es keine weitere Analyse, wie es der SP-Mann beim Schlagabtausch mit Urgese fordert.

Was es dafür umso dringender braucht: einen nüchternen Blick auf das ganze System, das alle nur noch beelendet. Die integrative Schule ist nur die Spitze des Eisbergs.

Marcel Rohr, Chefredaktor der Basler Zeitung BaZ

Erste Erkenntnis: Man wollte zu schnell zu viel. Selbstverständlich gibt es im Unterricht Möglichkeiten, Kinder mit Defiziten in den Regelklassen zu integrieren. Beim Singen, beim Musizieren, beim Sport oder beim handwerklichen Gestalten – also bei nicht kopflastigen Fächern.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird. Es muss um das Wohl einer Mehrheit gehen, nicht um das einer Minderheit. Für neue Förderklassenmodelle liegen genug Vorschläge auf dem Tisch.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird.

 

Im Mittelpunkt einer neuen Ausrichtung muss die Lehrerschaft stehen. Hier offenbart sich das gleiche Elend wie bei der Polizei oder anderen Service-Public-Jobs: Die Beamten ersticken in der Bürokratie. Ausserdem werden sie immer stärker angefeindet. Die Respektlosigkeit kennt keine Grenzen mehr. Das sind die Zeichen einer rücksichtslosen und egoistischen Gesellschaft.

Weg mit der Bürokratie

Nur wenn die Bürokratie auf ein vernünftiges Mass reduziert wird, können sich die Lehrer wieder ihrem Kernauftrag widmen. Für alle, die es vergessen haben: Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden. Erziehungsberechtigt sind sie dann, wenn Kinder Grenzen überschreiten. Leider haben das viele Eltern vergessen. Sie meinen, mit dem Kind geben sie frühmorgens auch diese Verantwortung an die Schule ab.

Die grössten Feinde der Lehrerschaft sind die Juristen und die Versicherungen. Mit immer strengeren Vorschriften sorgen Letztgenannte dafür, dass sich die Lehrer und Lehrerinnen immer weniger trauen, etwas mit den Kindern zu unternehmen. Wer geht im Sommer noch freiwillig ins Schwimmbad? Das Risiko ist vielen zu gross.

Einer wird der nächste Basler Bildungsdirektor: Mustafa Atici/SP, links; oder Luca Urgese/FDP, rechts (Bilder: Nicole Pont/Pino Covino)

Die Juristen dagegen sind die Krücken der Eltern, um Recht durchzusetzen. Ein falsches Wort im Unterricht, eine zu schlechte Beurteilung im Zeugnis – schon steht der Anwalt im Lehrerzimmer und droht. Das sind unerträgliche Zustände, denen mit aller Kraft entgegengewirkt werden muss. Notfalls per Gesetzesänderung.

Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden.

 

Lehrerinnen als Autoritätspersonen müssen unbedingt wieder gestärkt werden, ohne dass dabei Muster aus der Steinzeit bedient werden, als noch Kopfnüsse verteilt wurden. Tatort Klassenzimmer: Aggressive Schüler, die selbst auf Primarstufe mit den Fäusten auf Ausbilder losgehen, sind im Alltag 2024 keine Seltenheit. Das sind jene Unverschämtheiten, welche die Lehrer desillusionieren und ausbrennen.

Deshalb sind Klassenassistenzen eine sinnvolle Sache. Sie stärken die Führungskraft im Schulzimmer und entlasten die Lehrer. Jedes Kind bekommt – falls gewünscht – mehr Aufmerksamkeit oder kann – falls nötig – mit vereinter Kraft in die Schranken gewiesen werden.

Klassenassistenzen kosten Geld, doch dies darf gerade in Basel-Stadt kein Argument sein. Bildung ist der Schlüssel für eine prosperierende Zukunft und die Basis für eine Humanistenstadt wie Basel, wo Gelehrtheit eine grosse Tradition geniesst. Aber nicht nur begabte Kinder haben ein Recht auf Unterstützung, auch verhaltensauffällige. Im Kanton Aargau beklagen sich viele Experten, dass beispielsweise viel zu wenig finanzielle Ressourcen in die Logopädie fliessen.

Der hohe Ausländeranteil in Basel schafft Probleme

Immer höher wird der Anteil jener Kinder, die zu einer frühen Deutschförderung verpflichtet werden. Es hat nichts mit Rassismus zu tun, wenn man festhält: Der hohe Ausländeranteil in Basel – im Kleinbasel liegt er mittlerweile bei rund 40 Prozent – ist für die gesamte Schule nicht leistungsfördernd.

Es gibt Schulhäuser in Basel, in denen Schweizer Kinder in der Minderheit sind. Allein mit diesem Hintergrund mutet es als Witz an, dass gewisse Kreise immer noch auf Frühfranzösisch oder Frühenglisch pochen. Dieser Murks bringt niemanden weiter, er schadet vor allem jenen jungen Menschen, die schon mit Deutsch ihre liebe Mühe haben.

Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen.

 

Was bei der Migrationspolitik im ganzen westlichen Europa gilt, muss auch für die Region Basel zählen. Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen. Das ist verheerend für unser Bildungssystem.

Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen haben es noch schwieriger in einer Welt, die immer anforderungsreicher wird. Jahrelang waren die Schulnoten das Mass aller Dinge, sie dienten als Wasserwaage zur Einordnung von Leistung. Immer lauter werden nun jene Stimmen, die die Notengebung als unbefriedigend wahrnehmen.

Das Beispiel Luzern

Der Kanton Luzern geht neue Wege. Dort wird ab Sommer 2026 in allen Primarschulen das neue «Rahmenkonzept Beurteilung» umgesetzt, 2027 folgt die Oberstufe. Dann gibt es in allen 19 Schulen der Stadt Luzern keine Prüfungsnoten mehr, stattdessen Kompetenzraster, Lerntagebücher und Feedbackgespräche.

Kinder wollen nicht nur spielen, die meisten wollen sich auch messen.

Es ist zweifelhaft, ob sich dieses Konzept bewährt. Die meisten Kinder wollen sich messen. Sie lieben den Wettkampf, den direkten Vergleich. Es sind eher die Angehörigen, die ihren Nachwuchs nicht diesem Leistungsdruck aussetzen wollen. Sie fürchten die schlechte Note.

Mustafa Atici wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

 

Eine Note ist sehr oft weniger verletzend als eine persönliche Einschätzung des Lehrers, die unterschiedlich ausgelegt werden kann. Mit Noten lernen Kinder, auch mal eine Niederlage einzustecken. Es härtet sie ab auf dem weiteren Weg in die Berufswelt, die mitunter unbarmherzig ist.

Am 7. April wählt Basel seinen neuen Erziehungsdirektor, Mustafa Atici ist der grosse Favorit. Er wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

The post Die wahren Gründe der Schulmisere in Basel first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/03/die-wahren-gruende-der-schulmisere-in-basel/feed/ 3
Wann kommt die Initiative für einen ausgewogenen Regenfall? https://condorcet.ch/2024/01/wann-kommt-die-initiative-fuer-einen-ausgewogenen-regenfall/ https://condorcet.ch/2024/01/wann-kommt-die-initiative-fuer-einen-ausgewogenen-regenfall/#respond Sun, 28 Jan 2024 18:07:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=15792

Der aargauische und der bernische Lehrerinnen- und Lehrerverband lancierten diese Tage eine Verfassungsinitiative, welche eine qualitativ gute Bildung in ihren Kantonen garantieren soll. Alain Pichard erklärt, weshalb er dieser Initiative nicht viel abgewinnen kann.

The post Wann kommt die Initiative für einen ausgewogenen Regenfall? first appeared on Condorcet.

]]>

Am 28. November 2021 wurde die Initiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» von Volk und Ständen mit einem Ja-Anteil von 61% angenommen. Artikel 117b Bundesverfassung verlangt, dass Bund und Kantone die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkennen und fördern. Der Zugang zu einer Pflege von hoher Qualität soll für alle Menschen garantiert sein.

Alain Pichard, GLP-Grossrat im Kanton Bern, Mitglied der Bildungskommission: Das Muster ist immer dasselbe.

Heute nach 3 Jahren herrscht bezüglich der Wirkung dieses politischen Begehrens eine Katerstimmung. Diese Initiative habe nichts gebracht, eine Prognose, die viele Fachleute der Initiative vorausgesagt hatten. Aber wer konnte schon gegen eine qualitativ gesicherte Alterspflege für alle sein?

Ähnlich verhielt es sich mit dem Klimagesetz. Die Eidgenössische Abstimmung über die Totalrevision des CO2-Gesetzes wurde am 13. Juni 2021 mit einer Mehrheit von 51,59 % abgelehnt. Deshalb versuchte man es mit einem Klimagesetz, dessen konkrete und spürbare Umsetzungen aber noch bevorstehen und ebenfalls vor dem Souverän bestehen müssen.

Nun lancierten der bernische Lehrerinnen- und Lehrerverein (Bildung Bern) und der aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverein je eine kantonale Volksinitiative, welche die Sicherung der Bildungsqualität in die Verfassung schreiben will.

Das Muster dabei ist immer dasselbe. Man versucht, einen Missstand – zu wenig Pflegende, zu wenig Lehrkräfte, zu viel CO2 – zu bekämpfen und formuliert daraufhin griffige Forderungen. Die Krux: Auch bei konkreten Gesetzesvorlagen und Budgetforderungen gibt es Debatten, werden Kosten-Nutzen-Analysen erstellt, können sich Geister scheiden. Und wenn dann diese konkreten Massnahmen von der Wirklichkeit umzingelt werden, einen Realitätscheck oder gar ein Referendum durchlaufen müssen und schliesslich an der Urne scheitern, flüchtet man in Wunschprosa und formuliert ein hehres Ziel für die Verfassung.

Kathrin Scholl, Mitglied der Geschäftsleitung des ALV: Es muss was geschehen.

Die Präsidentin des aargauische Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Kathrin Scholl, verweist darauf, dass bis 2031 47’000 neue Lehrpersonen benötigt, derzeit aber nur 34’000 ausgebildet würden. Auf die Frage, was da eine Initiative nützen soll, meinte sie: «Wir wollen Druck auf die Politik ausüben!»

Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.

Immerhin wird der Grüne Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer – ein vehementer Unterstützer der Initiative –  konkreter: In einem Beitrag auf LinkedIn formuliert er den ganzen Katalog der Begehrlichkeiten der Personalverbände, ohne Priorisierung und Reflexion:

  • Gute Infrastruktur inklusive Mittel für Digitalisierung
  • Teamteaching im Zyklus 1 und bei schwierigen Klassenzusammensetzungen
  • Stärkung des Frühbereichs und der Kindertagesstätten
  • Niederschwellige Angebote von Fachstellen für Kinder und Jugendliche
  • Zeitliche Ausstattung der Klassenlehrpersonen aller Stufen
  • Unterstützung bei der Zusammenarbeit von Eltern
  • Aufstockung der Pensen von Schulleitungen für ihre mit hoher Verantwortung verbundenen Führungsaufgaben
  • konkurrenzfähige Löhne
  • Schlanke, effiziente Abläufe in der Administration
  • Kantonale Unterstützung der Gemeinden für Schulsekretariate
  • Verpflichtung zur Ausbildung für Lehrpersonen ohne Lehrdiplom
  • Unterstützung für qualifizierte Quereinststeiger:innen
  • Eine der Qualität der Bildung direkt dienendes Weiterbildungsangebot
  • Vorausschauende Partizipative Planung von geeigneten Schulgebäuden
Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer: Mehr …

Abgesehen davon, dass dieser grandiose Wunschzettel die im Kanton Bern vorhandene Schuldenbremse pulverisieren würde, müssen sich die Lautsprecher dieser Forderungen auch die Frage der Wirksamkeit stellen. Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.

Der Verdacht liegt nahe, dass die Verbände den Druck, der auf ihnen selbst lastet, abmildern wollen. Regierungsnah und politisch weitgehend impotent, will man eine gewisse Mitverantwortung für das gegenwärtige Malaise nicht wahrhaben. Denn der Lehrkräftemangel hat auch mit den Reformen der letzten Jahre zu tun: «Teamteaching, kleinere Schulklassen, Lektionenausweitung durch Lehrplan 21, Frühfranzösisch, Frühenglisch, Kompetenzorientierung, Digitalisierung, Bewertung der überfachlichen Kompetenzen, Kreuzchenorgie in Zeugnissen, die Pflicht, über jedes Elterngespräch ein Protokoll zu führen, unausgegorene Inklusionsprojekte, Sitzungsmarathons, Weiterbildungsdokumentationen, die ständige Bevormundung seitens der Behörden, die den freien Gestaltungsraum einengen, Konzeptionitis auf allen Stufen… usw.  All diese Massnahmen haben unsere Gewerkschaftskollegen in den Berufsorganisationen teilweise frenetisch unterstützt.

Mehr Geld? In kaum einem Bereich unseres Staatshaushalts stiegen die Ausgaben wie in der Bildung. Erfolg: Sagenhafte 25% der Schülerinnen und Schüler können nach neun Schuljahren keinen einfachen Text entschlüsseln. Mehr Lehrkräfte? Bitte sehr, wer will das nicht? Aber wo sollen die herkommen? Frau Scholl meint: «Unsere Mitglieder haben in unseren Umfragen mehrfach gesagt, dass endlich etwas passieren muss.» Ja bitte sehr, aber was? Und da wären wir wieder bei der Pflegeinitiative oder dem Klimagesetz. Mit solchen Volksbegehren rennt man mit martialisch-nebulösen Rammböcken offene Türen ein. Ein Mitglied der kantonalen Bildungskommission in Bern meinte ironisch: «Wann kommt die Verfassungsinitiative, welche ausgewogene Niederschläge fordert? Genannt will er natürlich nicht werden, denn wer kann schon gegen eine gesicherte Bildungsqualität sein?

 

The post Wann kommt die Initiative für einen ausgewogenen Regenfall? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/01/wann-kommt-die-initiative-fuer-einen-ausgewogenen-regenfall/feed/ 0
Politischer Architekt des Sozialstaates mit grossen Verdiensten für den Bildungsstandort Schweiz https://condorcet.ch/2024/01/politischer-architekt-des-sozialstaates-mit-grossen-verdiensten-fuer-den-bildungsstandort-schweiz/ https://condorcet.ch/2024/01/politischer-architekt-des-sozialstaates-mit-grossen-verdiensten-fuer-den-bildungsstandort-schweiz/#respond Sat, 13 Jan 2024 13:05:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=15674

Vor fünfzig Jahren, am 5. Dezember 1973, hat sich Hans Peter Tschudi nach vierzehn sehr erfolgreichen Jahren im Bundesrat von der Vereinigten Bundesversammlung verabschiedet. Gewählt worden war der Basler Regierungsrat und Ständerat als «wilder» Kandidat am 17. Dezember 1959. Der 46-jährige Basler Sozialdemokrat setzte neue Massstäbe. Der Professor für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht erhielt mit dem Departement des Innern (EDI) eine Schlüsselstellung in der Landesregierung. Worüber man aber weniger weiss, ist die Tatsache, dass Tschudi auch in der Bildung starke Spuren hinterliess. Der Historiker Charles Stirnimann hat dem ersten Basler Bundesrat in einem Beitrag der bz eine Würdigung erwiesen. Wir veröffentlichen hier eine gekürzte Version, welche den Bildungspolitiker Tschudi und seinen bemerkenswerten Werdegang in den Mittelpunkt rückt.

The post Politischer Architekt des Sozialstaates mit grossen Verdiensten für den Bildungsstandort Schweiz first appeared on Condorcet.

]]>
Charles Strinimann, 1954 geboren, ehem. Buchhändler, Historiker: Unter Tschudi erlebte die Bildungspolitik eine gute Zeit.

Die Bundesratswahlen 1959

Ende des Jahres 1959 waren infolge der Demission der Bundesräte Philipp Etter, Thomas Holenstein, Giuseppe Lepori und Hans Streuli vier Vakanzen in der Landesregierung eingetreten, ein in der Geschichte des modernen Bundesstaates sehr seltenes Ereignis. Mit Hans Peter Tschudi und seinem Parteigenossen Willy Spühler werden am 17. Dezember 1959 erstmals zwei Sozialdemokraten in die Landesregierung gewählt. Seit dem Rücktritt Max Webers (1953) waren die Sozialdemokraten nicht mehr im Bundesrat vertreten. Die Katholisch-Christlichsoziale Volkspartei propagierte durch ihren Generalsekretär Martin Rosenberg die Bildung einer Allparteienregierung, in der die vier grossen Parteien gemäss ihrer Wähleranteile repräsentiert würden. Die «Zauberformel» 2:2:2:1 sah die Verteilung der Sitze unter die Regierungsparteien des Freisinns, der Christlichdemokraten, der Sozialdemokraten und der Schweizerischen Volkspartei (damals BGB) entsprechend ihrer Wählerstärke vor. Damit wollten die Christdemokraten die mehr als 100-jährige Vorherrschaft des Freisinns auf Bundesebene endgültig brechen. Auch die Sozialdemokratische Partei (SPS) war nicht mehr bereit, sich wie 1943 bis 1953 mit einer Einervertretung (durch die Bundesräte Ernst Nobs und Max Weber) im Bundesrat zu bescheiden.

Walther Bringolf, 1895-1981, einflussreichster Sozialdemokrat des 19. Jh.

Die Geburtsstunde der «Zauberformel»

Die Bildung dieser neuen Konkordanzregierung verlief allerdings turbulent. Die SP nominierte an ihrer Fraktionssitzung den Zürcher Ständerat Willy Spühler und ihren Parteipräsidenten, Nationalrat Walther Bringolf. Der Basler Ständerat Hans Peter Tschudi erhielt nur die drei Stimmen der Basler Nationalräte Fritz Brechbühl, Ernst Herzog und Edmund Wyss.

Im Vorfeld des Wahltags hätten gemäss Tschudi SP-Fraktionspräsident Matthias Eggenberger aus St. Gallen und der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Nationalrat Robert Bratschi aus Bern, ihm gegenüber erklärt, dass sie aufgrund der Stimmung im Parlament am Erfolg Bringolfs zweifelten. Damit die SP in jedem Fall die zwei in Aussicht stehenden Sitze erstmals gewinne, solle er gegebenenfalls eine Wahl annehmen. Wenn er bereits im ersten Wahlgang Stimmen erhielte – was sie erwarteten –, dürfe er in einer persönlichen Erklärung die Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung auffordern, ihre Stimmen den offiziellen Kandidaten der SPS zu geben. Doch dürfe er unter keinen Umständen sagen, dass er eine Wahl nicht annehmen würde.

Im ersten Wahlgang erzielte der Freisinnige Hans Schaffner, der spätere Bundesrat, am meisten Stimmen (Schaffner 84, Tschudi 73, Bringolf 66). Damit drohte die Wahl eines dritten Freisinnigen zulasten des zweiten SP-Sitzes. Infolgedessen wechselten im zweiten Wahlgang zahlreiche Mitglieder der SP-Fraktion zu Tschudi, der nun das Spitzenresultat erzielte (Tschudi 107, Schaffner 91 und Bringolf 34), ohne das absolute Mehr zu erreichen. Nun erklärte Bringolf seinen Verzicht auf die Kandidatur, damit die SPS zwei Bundesratssitze erhalte. Im dritten Wahlgang wurde Tschudi mit 125 Stimmen gegen 97, die auf Hans Schaffner entfielen, gewählt. Damit war die «Zauberformel» (je 2 FDP, CVP; SP und 1 SVP) geboren.

SP-Doyen Helmut Hubacher bestätigt, dass Walther Bringolf der erste und einzige Politstar seiner politischen Anfangszeit, in Radio, Fernsehen und Presse gewesen sei. Seine Brillanz sei wohl für die Wahl in den Bundesrat eher hinderlich gewesen.

Die Nichtwahl Bringolfs sieht Tschudi in seinen Memoiren nicht in dessen früherer Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei, sondern im offen zur Schau getragenen Ehrgeiz des Schaffhauser Stadtpräsidenten sowie dessen autoritärem Führungsstil, der für die Zusammenarbeit in einer Kollegialbehörde wenig geeignet gewesen sei. SP-Doyen Helmut Hubacher bestätigt, dass Walther Bringolf der erste und einzige Politstar seiner politischen Anfangszeit, in Radio, Fernsehen und Presse gewesen sei. Seine Brillanz sei wohl für die Wahl in den Bundesrat eher hinderlich gewesen.

Hans-Peter Tschudi, 2013 – 2002: Innert kurzer Zeit eine markante Persönlichkeit im Bundesrat.

Die Tätigkeit als Bundesrat

Der Bundespräsident für das Jahr 1960, Aussenminister Max Petitpierre, hat Tschudi die Leitung des Departements des Innern (EDI) mit der Begründung empfohlen, dass dieser als Hochschullehrer bestens geeignet sei, die Förderung von Bildung und Forschung entschieden zu forcieren. Denn diese wichtige nationale Aufgabe sei bisher von den Bundesbehörden vernachlässigt worden, sodass die Schweiz im internationalen Vergleich in Rückstand gekommen sei. Während seiner 14-jährigen Amtszeit hat Tschudi dieses wichtige und vielfältige Departement geleitet – eine Schlüsselstellung. Neben der erwähnten Bildung und Forschung gehörten zum weitverzweigten Departement aber auch Sozialpolitik (AHV), Kulturpolitik, Gesundheitswesen sowie der Ausbau der Infrastruktur. Strassenbau sowie Bildung und Forschung sind heute nicht mehr dem EDI zugeordnet.

Gesellschaft und Wirtschaft hatten sich in den 1950er-Jahren stark entwickelt. Unter Tschudis Vorgänger, dem Katholisch-Konservativen Philipp Etter, Vorsteher des EDI von 1934 bis 1959, hatte der Staat nicht mitgehalten: Die Infrastrukturen waren rückständig, die Sozialwerke schwach. Die schweizerische Politik hatte ungenügend auf den Wandel der Gesellschaft und das Wirtschaftswachstum reagiert und wichtige Probleme aufgeschoben. Das Departement des Innern entwickelte sich zum bedeutsamsten Zweig der Bundesverwaltung, der rund 40 Prozent der Bundesaufgaben umfasste. In den 14 Amtsjahren Tschudis wuchsen die Budgetzahlen von 320 Millionen auf 2,6 Milliarden Franken, was real einer Vervierfachung entsprach.

(…)

Strassenbauer der Nation

Tschudis Wirken reicht weit über die Sozialversicherungen hinaus. Er ist auch der Strassenbauer der Nation: Die Autobahnen gehörten damals noch zum Innendepartement, und Tschudi setzte den forcierten Ausbau, den das Volk 1958 beschlossen hatte, zügig um. Das Auto galt in jenen Jahren insbesondere auch in der Arbeiterschaft als Symbol des sozialen Aufstiegs. Auch die SP setzte sich energisch für den zügigen Ausbau der Autobahnen ein, die in den sechziger Jahren das Land zu durchschneiden begannen.

Noch vor der Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit für Umweltfragen setzte Tschudi bereits 1971 einen entsprechenden Verfassungszusatz zum Umweltschutz mit überwältigendem Mehr in der Volksabstimmung durch.

Es genügt nicht, die Hochschulen auszubauen und zu fördern. Um den erforderlichen akademischen Nachwuchs zu gewinnen, sollten möglichst alle fähigen Jugendlichen studieren können. Neben wissenschafts- und wirtschaftspolitischen Erwägungen sprechen auch wesentliche soziale Gründe für die Förderung des Nachwuchses. Eine der schwersten sozialen Ungerechtigkeiten liegt nämlich darin, dass Kinder aus wenig bemittelten Familien nicht den ihren Fähigkeiten und ihren Charaktereigenschaften entsprechenden Beruf wählen können. Dieser Missstand kann wenigstens teilweise durch eine grosszügige Stipendienordnung beseitigt werden.

Der «Sputnikschock» als Treiber der Bildungsoffensive

Wie die Sozialpolitik (AHV, IV) und der Nationalstrassenbau erlebte unter Bundesrat Hans Peter Tschudi auch die Bildungspolitik eine gute Zeit. Aufgrund der politischen Grosswetterlage und verschiedener eidgenössischer Expertenberichte begann der Bund in der Ära Tschudi eine aktive und innovationsfreudige Wissenschafts- und Hochschulpolitik zu betreiben. Dem kräftigen Ausbau des 1952 neu geschaffenen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung folgte ein modernes ETH-Gesetz. Im Frühjahr 1965 entstand als oberstes Beratungsorgan des Bundesrates für alle Fragen der Forschungs- und Hochschulpolitik der Schweizerische Wissenschaftsrat, dessen erster Präsident der Basler Ordinarius Max Imboden wurde. Das Bundesgesetz über die Hochschulförderung vom 28. Juni 1968 bildet einen Markstein in der Hochschulpolitik, es schuf die rechtliche Grundlage für eine aktive nationale Wissenschaftspolitik. Die Ausarbeitung eines Stipendienartikels in der Bundesverfassung mündete in die erfolgreiche Volksabstimmung vom Dezember 1963 (481‘812 Ja gegen 131‘647 Nein mit allen Standesstimmen angenommen). Auffällig war dabei Tschudis Bemühen, neben der politisch unbestrittenen bildungsökonomischen Argumentation auch das Postulat einer grösseren Chancengerechtigkeit ins Spiel zu bringen: «Es genügt nicht, die Hochschulen auszubauen und zu fördern. Um den erforderlichen akademischen Nachwuchs zu gewinnen, sollten möglichst alle fähigen Jugendlichen studieren können. Neben wissenschafts- und wirtschaftspolitischen Erwägungen sprechen auch wesentliche soziale Gründe für die Förderung des Nachwuchses. Eine der schwersten sozialen Ungerechtigkeiten liegt nämlich darin, dass Kinder aus wenig bemittelten Familien nicht den ihren Fähigkeiten und ihren Charaktereigenschaften entsprechenden Beruf wählen können. Dieser Missstand kann wenigstens teilweise durch eine grosszügige Stipendienordnung beseitigt werden.»

Herkunft und Bildungsweg

Tschudi, geboren am 22. Oktober 1913, glaubt sich als Kleinkind am ersten Domizil der Familie in einem Mietshaus an der Burgfelderstrasse, nahe der Elsässergrenze, noch an das dumpfe Grollen der deutsch-französischen Artillerieduelle gegen Ende des Ersten Weltkrieges zu erinnern. Auch die häufigen Leichenzüge durch die Burgfelderstrasse zum Kannenfeld-Gottesacker als Folge der Grippeepidemie im Herbst 1918 seien ihm in Erinnerung geblieben.

Sekundarschule Drei Rosen in Basel: Vorwiegend von Kindern ungelernter Arbeiter der aufstrebenden Chemieindustrie besucht.

Vater Robert Tschudi, Absolvent des Lehrerseminars Kreuzlingen, unterrichtete seit 1910 an der Sekundarschule Drei Rosen im proletarischen Horburgquartier. Irma Nufer, ebenfalls Lehrerin an derselben Schule, und Robert heirateten 1912. Diese Schule in Kleinbasel wurde damals vorwiegend von Kindern ungelernter Arbeiter der aufstrebenden Chemieindustrie besucht. Die meisten Familien lebten an der Armutsgrenze oder sogar darunter. Robert Tschudi, religiöser Sozialist, war während der gesamten Zwischenkriegszeit als SP-Grossrat politisch aktiv. Allerdings, bemerkt Tschudi, sei seinem Vater die «fundamentalistisch-pazifistische Tendenz» fremd geblieben, denn als «Glarner und seiner eidgenössischen Gesinnung» treu, habe er sich klar zur Landesverteidigung bekannt. Ausserdem habe er auch die in der Basler Sozialdemokratie stark verbreitete Germanophilie abgelehnt. Seine Frau, aus freisinnigem Hause stammend, habe ihn auch politisch immer unterstützt. Hans Peter und sein jüngerer Bruder Felix (geb. 1917) seien in einem religiösen und sozialpolitisch engagierten Elternhaus wohlbehütet aufgewachsen. Nach der Primarschule im Spalenschulhaus verbracht Hans Peter seine Gymnasialjahre im Humanistischen Gymnasium, zeitweise als Klassenprimus, am Münsterplatz, Hochburg der Altbasler Oberschicht (Daig). Nach der Matura 1932 absolvierte Tschudi ein Rechtsstudium in Basel und Paris.

Fritz Hauser, 1884 – 1941, Sohn eines “Schneidergesellen”, SP-Bildungsdirektor 1919-1941. Für Tschudi ein Vorbild.

Beruflicher und politischer Werdegang

Seit April 1935 wird der Kanton Basel-Stadt nach einem heftigen Wahlkampf von einer mehrheitlich sozialdemokratischen Exekutive regiert. Das SP-Regierungsquartett bestehend aus Erziehungsdirektor Fritz Hauser, dem Wirtschafts- und Sozialdirektor Gustav Wenk sowie den 1935 neu gewählten Fritz Ebi (Bau) und Fritz Brechbühl (Polizei) dominiert trotz Krise das politische Leben der Vorkriegsjahre. Tschudi bezeichnet Hauser (Regierungsrat 1918–1941; Nationalrat 1919–1941) nicht nur als politischen und geistigen Kopf der Basler Sozialdemokratie, sondern charakterisiert ihn auch als dominierende Figur in der Basler Regierung seit den frühen Zwanzigerjahren. Ausserdem würdigt er die «pragmatischen Realisatoren» Fritz Hauser und Gustav Wenk explizit als seine politischen Vorbilder.

«In meiner Jugend war die politische Situation überschattet durch zwei fürchterliche Weltkriege, durch schwere Wirtschaftskrisen und durch die Bedrohung unserer Freiheit durch das nationalsozialistische Deutschland. Das totalitäre und terroristische System in Russland hat sogar bis 1989 gedauert. Mehr als 70 Jahre mussten wir Sozialdemokraten warten, bis diese abscheuliche Fehlentwicklung der Arbeiterbewegung beseitigt worden ist.»

Sein Studium in Basel schloss er 1936 als Dr. iur. ab. Schon mit 25 Jahren wird Tschudi auch dank seinem politischen Mentor Regierungsrat Gustav Wenk 1938 Vorsteher des Gewerbeinspektorats.

Erste parlamentarische Erfahrung sammelt Tschudi als Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion des Basler Grossen Rat von 1944 bis 1953. Von 1953 gehört er als Nachfolger von Gustav Wenk der Basler Regierung als Vorsteher des Departements des Innern an. 1956 wird er als Nachfolger von Gustav Wenk zum Ständerat gewählt.

Das kinderlose Ehepaar Tschudi lebte äusserst bescheiden, schon fast asketisch. Laut SP-Doyen Helmut Hubacher reichte bei ihnen eine Flasche Wein fürs ganze Jahr.

Kein «roter Patriarch»

Hans Peter Tschudi, mit Jahrgang 1913, führte eine moderne auf Gleichberechtigung basierende Ehe mit einer Frau, die als akademische Lehrerin erfolgreich arbeitete. Das kinderlose Ehepaar Tschudi lebte äusserst bescheiden, schon fast asketisch. Laut SP-Doyen Helmut Hubacher reichte bei ihnen eine Flasche Wein fürs ganze Jahr. Die Ehefrau Irma Tschudin-Steiner (1912–2003) erhielt im Wintersemester 1950/51 als erste Frau die Habilitation an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel. Nach der Wahl ihres Ehemannes zum Bundesrat wurde sie zunächst als PD an die Universität Bern berufen und lehrte dort 1969–1982 als a.o. Professorin für pharmazeutische Spezialgebiete an der medizinischen Fakultät. Ihre Forschungsschwerpunkte betrafen etwa die missbräuliche Verwendung von Medikamenten oder die Arzneimittelinteraktionen. 2003 stiftete sie den Irma-Tschudi-Preis, der alle zwei Jahre für die beste von einer Frau geschriebenen pharmazeutischen Dissertation an der Universität Basel vergeben wird.

«Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung bejahe ich vorbehaltlos die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratischen Partei im Bund und in den Kantonen.»

Lilian Uchtenhagen, 1928 – 2016, erste Bundesratskandidatin.

SP-Austritt aus dem Bundesrat?

Liliane Uchtenhagen hiess die erste Frau, die für den Bundesrat kandidierte. Die SPS schlägt sie 1983 als Nachfolgerin für den im Amt verstorbenen Solothurner Willi Ritschard vor. Dem bürgerlichen Lager war die Kandidatin aber nicht genehm. Deshalb entschied sich die Bundesversammlung für den Sprengkandidaten Otto Stich, Solothurner Nationalrat aus Dornach. Stich wird bereits im ersten Wahlgang gewählt. In der SPS ist Feuer im Dach. Die Parteileitung unter dem Präsidium von Nationalrat Helmut Hubacher propagierte wegen des Scheiterns der offiziellen SP-Kandidatin den Austritt aus dem Bundesrat. Ausnahmsweise geht nun alt Bundesrat Hans Peter Tschudin am entscheidenden Parteitag 1984 in Bern auf die Barrikaden: «Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung bejahe ich vorbehaltlos die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratischen Partei im Bund und in den Kantonen.» Die Ablehnung der Regierungsverantwortung habe sektiererischen Charakter und passe nicht zu einer grossen Volkspartei. Nicht zuletzt aufgrund der Intervention von Tschudi entscheidet der Parteitag deutlich zu Gunsten des Verbleibs in der Regierung. Der knorrige und eigenwillige Otto Stich (Bundesrat 1984–1995) machte anschliessend dann gute Figur als Finanzminister, nicht immer zum Vergnügen derjenigen Kreise, die ihn lanciert hatten.

Vom Roten Basel zum Sozialstaat Schweiz

Am 5. Dezember 1973 verabschiedete sich Tschudi vor der Vereinigten Bundesversammlung mit folgenden Worten: «Mein Bestreben ging dahin, den mir möglichen Beitrag zur Hebung der sozialen Gerechtigkeit, vor allem für die Betagten und Invaliden, zum Ausbau der Bildungseinrichtungen für unsere Jugend und zur Verbesserung der Umweltbedingungen für die Bevölkerung zu leisten.»

Natürlich hat Tschudi in seinem langen Berufsleben vom Adjunkten des Arbeitsamtes Basel-Stadt bis zum Wohlfahrtsminister der Eidgenossenschaft den grossen Wandel der Gesellschaft und die Wechselhaftigkeit der Zeiten stark gespürt, etwa die Fortschrittsbegeisterung und später die Fortschrittsfeindlichkeit gegenüber Autobahnen oder Kernkraftwerken. Und nicht zuletzt die Einschätzung der eigenen Person in der politischen Öffentlichkeit, die ihn, der unbeirrt mit Zähigkeit und Tempo seinen streng getakteten Reformkurs hielt, bald als rechts-, bald als linksstehend einstuften. Tschudi mahnt, die Eindrücke der Gegenwart kritisch und skeptisch wahrzunehmen und sich vorschneller Prognosen zu enthalten: «In der schweren Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre hat niemand auch nur angedeutet, dass die Arbeitslosigkeit während einer längeren Periode gänzlich verschwinden würde. Umgekehrt hat in der Hochkonjunktur der sechziger Jahre kein Futurologe erwähnt, dass die Arbeitslosigkeit zu einem sehr ernsten Problem werden könnte…» In seinen 1993 erschienen Memoiren nennt er trotzdem zwei Aufgabenkreise, die im 21. Jahrhundert dominieren würden, nämlich der Umweltschutz und die europäische Integration.

Quellen:

Stirnimann, Charles: Baumeister des Roten Basel. Fritz Hauser (1884–1941) in seiner Zeit, Basel 2021.

Gespräch von Charles Stirnimann mit Hans Peter Tschudi vom 5. Juni 1989 (Staatsarchiv BS, PA 1250).

Tschudi, Hans Peter: Im Dienste des Sozialstaates. Politische Erinnerungen, Basel/Berlin

Den ganzen Artikel können Sie hier lesen: https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/01/Tschudi-BZ.pdf

 

 

 

 

The post Politischer Architekt des Sozialstaates mit grossen Verdiensten für den Bildungsstandort Schweiz first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/01/politischer-architekt-des-sozialstaates-mit-grossen-verdiensten-fuer-den-bildungsstandort-schweiz/feed/ 0
Loblied aufs Mittelmass https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/ https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/#respond Tue, 19 Dec 2023 10:29:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15535

Schweizer Schülerinnen und Schüler liegen über dem internationalen Durchschnitt, im Lesen allerdings nur ganz knapp. Ein Viertel versteht einen alltäglichen Text nicht. Das sagt die PISA-Studie. Von der Bildungspolitik hätte man eine Ursachenanalyse erwartet. Doch sie redet die Resultate schön und gibt ihnen das Prädikat «gut» bis «sehr gut». Die Politik betone das Relativierende, sagt Condorcet-Autor Carl Bossard, und negiere das Unerfreuliche, den Trend nach unten in den Kulturtechniken.

The post Loblied aufs Mittelmass first appeared on Condorcet.

]]>

Schule und Unterricht seien ein Subsystem der Bildungspolitik; so jedenfalls sieht es der Systemtheoretiker Niklas Luhmann.[1] Steuern müsse die Politik. Seit Jahren aber sind Bildungsexperten und Bildungsreformer am Werk. Sie bestimmen den Kurs, und die Bildungspolitik rudert mit. Verstärkt nach der ersten PISA-Studie von 2000. Hier schlug ihre Stunde. Seither wurde unser Bildungslandschaft radikal reformiert und umstrukturiert.

Carl Bossard: Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Deutlicher Trend nach unten – trotz vieler Reformen

Alles sollte sich ändern. Erhofft und versprochen haben die Reformpromotoren bessere Lernleistungen unserer Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil. Nach einem leichten Anstieg wurden die Ergebnisse nach 2010 im internationalen Vergleich wieder schwächer. Es kam zu einem deutlichen Abwärtstrend in den Kulturtechniken. Seit über zehn Jahren sinken die Leistungen in den geprüften Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften kontinuierlich Und dies, obwohl wir heute zweieinhalb Mal so viel ins Bildungssystem investieren wie 1996, nämlich über 41 Milliarden Franken.[2] Weltweit wohl am meisten.

Signifikanter Anstieg schwacher Leserinnen und Leser

Das «Programme for International Student Assessement» (PISA) untersucht alle drei Jahre, wie gut 15-Jährige am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit alltagsrelevante Aufgaben in Mathematik, im Lesen und in den Naturwissenschaften lösen können. Spitzenreiter sind Jugendliche aus den asiatischen Staaten Singapur, Japan, Taiwan und Südkorea; im europäischen Raum ist es Estland. Für die Studie verantwortlich zeichnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

In der jüngsten Studie 2022 liegen die 15-​jährigen Jugendlichen in der Schweiz zwar über dem OECD-​Durchschnitt. Zufrieden sein darf man einzig mit dem Bereich Naturwissenschaft. Hier wurde der Trend nach unten gestoppt. Sorgen bereitet aber die grösser werdende Zahl lernschwächerer Schülerinnen und Schüler. Statistisch signifikant gestiegen ist der Anteil schwacher Leserinnen und Leser. 25 Prozent der geprüften Jugendlichen können nur ungenügend lesen. Einen alltagsnahen Text können sie zwar entziffern, verstehen ihn aber nicht. In Mathematik erreichen 20 Prozent die Mindestkompetenzen nicht. Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Unterschiedliche Wahrnehmungen für das Gleiche

Die Zahl benachteiligter Schülerinnen und Schüler steigt. Da stimmt doch das Prädikat von «guten» bis «sehr guten» Resultaten nicht. Die positive Einschätzung stammt von der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner; sie präsidiert die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Ob die offizielle Bildungspolitik hier nicht schönredet und sich mit dem noch schwächeren Abschneiden vergleichbarer Länder tröstet? Die Botschaft – PR-mässig orchestriert und professionell inszeniert – hört man wohl, allein es fehlt der Glaube.

Ganz anders reagiert Deutschland. Unser nördliches Nachbarland ist in Mathematik markant zurückgefallen; beim Lesen allerdings liegt es nur wenig hinter der Schweiz. Trotzdem sprechen die Medien von einem «neuen PISA-Debakel»[3] oder vom «Pisa-Schock 2»,[4] gar von einem «Scherbenhaufen».[5] Beim Rückgang der Lesefähigkeit sei es «kein Trost, dass es um sie in Österreich und der Schweiz nicht viel besser [als in Deutschland] bestellt ist», schreibt beispielsweise der FAZ-Feuilleton-Redaktor Jürgen Kaube.[6]

Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion.

Wiederkehr des ewig Gleichen

Auch bei den Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen spricht die deutsche Bildungspolitik Klartext. Sie fordert in der Primarschule ein konsequentes Hinführen auf die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. «Angesichts der veränderten Schülerschaft müssen wir mehr Zeit und Konzentration für das Erlernen der Basiskompetenzen» einsetzen, betont der Hamburger Schulsenator Ties Rabe.[7] Das brauche genügend Zeit zum Üben, fügt er gleich bei. Rabe hat Hamburgs Schulen vorangebracht. Mit seinem Postulat steht er darum nicht allein.

Nach solchen Tönen sucht man bei der Schweizer Bildungspolitik vergebens. Die offizielle Bildungspolitik flüchtet sich in schon Gehörtes und bereits Bekanntes. Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion. Mädchen hätten halt Angst vor der Mathematik, und es bräuchte mehr Fördermassnahmen sprich Geld. Vergessen geht der Blick ins Klassenzimmer und auf den Unterricht. In diesen Kern hinein zoomen die Analysen nicht. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen und den minimierten Übungszeiten, keine Zeile zu den Methoden, kaum ein Hinweis auf die zunehmend schwierigeren Arbeitsbedingungen im pädagogischen Parterre mit der anspruchsvollen Integrationsleistung. Dabei spielen Lehrerinnen und Lehrer und ihr guter, konkreter Unterricht vor Ort die Schlüsselrolle. Unterricht ist ein lokales Geschehen. Das zeigt die Forschung; doch das steht nicht im Fokus der Kommentare.

Sozioökonomische Disparitäten

Chancengleichheit sinkt

Der Zuschnitt der PISA-Studien misst und vergleicht; er zeigt Zahlen und Tendenzen. Die Ursachenanalyse muss vor Ort erfolgen. Im Grunde aber bringt der Befund von 2022 nicht viel Neues. Wir wissen es seit über zehn Jahren: Die Lernleistungen in den Basisfächern sinken. Was dabei bedrückt und vermutlich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Im Gegenteil! Die Zahl der eher schwächeren Schülerinnen und Schüler nimmt zu. Gerade sie leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn den Lehrkräften Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der heutige Unterricht über das Individualisieren stark auf selbstständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Benachteiligung gewisser Kinder

Aus der Forschung wissen wir, wie wirkungsvoll ein gut geführter und strukturierter Unterricht ist – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‚verstehender Zuwendung‘ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Gerade sozial benachteiligte Kinder seien darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Diese Problematik anzugehen, das sollte doch eine der zwingenden Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen 2022 sein. Allerdings müssten viele Bildungsreformer über den eigenen Schatten springen. Gefordert ist die Bildungspolitik. Sie muss handeln und steuern. Die Bildungsforschung weist den Weg.[8]

 

[1] Niklas Luhmann (2002), Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen/oeffentliche-bildungsausgaben.html [abgerufen: 14.12.2023]

[3] Heike Schmoll, Das neue PISA-Debakel, in: FAZ, 06.12.2023, S. 1.

[4] Uwe Ebbinghaus, Pisa-Schock 2, in: FAZ, 06.12.2023, S. 9.;

[5] Thomas Kerstan, Nachhilfe gesucht, in: DIE ZEIT, 07.12.2023, S. 1

[6] Jürgen Kaube, Kompetenz setzt Kenntnis voraus, in: FAZ, 12.12.2023, S. 9.

[7] Heike Schmoll, Das gab es noch nie, in: FAZ, 06.12.2023, S. 5.

[8] Vgl. die neueste Studie mit 130’000 empirischen Daten zum guten Unterricht: John Hattie (2023), Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of Over 2,100 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, New York: Routledge.

The post Loblied aufs Mittelmass first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/feed/ 0
Wer einen Schatz an Geschichten und Sachwissen hat, liest besser https://condorcet.ch/2023/12/wer-einen-schatz-an-geschichten-und-sachwissen-hat-liest-besser/ https://condorcet.ch/2023/12/wer-einen-schatz-an-geschichten-und-sachwissen-hat-liest-besser/#comments Fri, 15 Dec 2023 05:57:00 +0000 https://condorcet.ch/?p=15498

Vielen Schulabgängern fällt das Lesen bereits einfachster Texte schwer, wie die PISA-Studie wieder einmal aufgezeigt hat. Dass ein Viertel unserer Schuljugend schlechte Karten für das Erlernen einer ganzen Reihe von Berufen hat, ist ein bildungspolitischer Tiefpunkt. Bei den Experten der Schulentwicklung herrscht Ratlosigkeit, weshalb sich die Lesefähigkeiten trotz aller Stützmassnahmen verschlechtert haben. Alles Mögliche und Unmögliche wird jetzt gefordert, um aus dieser Krise herauszukommen. Die Ratlosigkeit ist so gross, dass einige Bildungspolitiker als Heilmittel gar eine personalintensive Doppelbesetzung in allen Regelklassen vorschlagen. Doch Utopien helfen nicht weiter, meint Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz.

The post Wer einen Schatz an Geschichten und Sachwissen hat, liest besser first appeared on Condorcet.

]]>

Es gilt, die Lesekrise nüchtern zu analysieren und genau zu schauen, was denn schon seit einigen Jahren schiefläuft. Sicher liegt es nicht am Engagement der allermeisten Lehrkräfte. Mit kreativen Methoden versuchen sie, auch den Schwächeren beim Lesen zum Erfolg zu verhelfen. Zu Recht beklagen sich viele, dass die unzähligen Kompetenzziele eines randvollen Bildungsprogramms eine Konzentration aufs Wesentliche erschweren. Das parallele Lernen dreier Sprachen in der Primarschule erweist sich als Hypothek, weil die Zeit fürs Üben in der deutschen Sprache fehlt. Dieses Training lässt sich auch nicht abkürzen, indem man auf eine Mehrsprachendidaktik setzt, die schwächere Kinder heillos überfordert.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Zusammen mit den sprachfördernden Realienfächern (Natur, Mensch, Gesellschaft) muss das Fach Deutsch wieder ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens gestellt werden. Kompetenter Deutschunterricht bietet eine Fülle an Lernmöglichkeiten und verlangt vielfältige methodische Kompetenzen der Lehrpersonen. Dazu gehören tägliches sprachliches Üben, sei es Rechtschreibung, Satzbautraining oder das inhaltliche Erschliessen von Sachtexten. Die Schriftlichkeit muss in Form von Berichten, kurzen Zusammenfassungen und Aufsätzen immer wieder trainiert werden. All das sind unverzichtbare Grundlagen, die nur mit Fleiss erarbeitet werden können.

Eintauchen in neue Lebenswelten schafft starke innere Bilder

Doch gehaltvoller Unterricht braucht “du pain et de la confiture”. Lernen soll auch Freude bereiten und die Schüler sollen den Reichtum unserer Muttersprache erleben. Und guter Deutschunterricht, nicht selten auch in Kombination mit Geschichte oder Naturkunde, bietet viel Anregendes. Spannende Erzählungen der Lehrerin lassen die Herzen der Kinder höherschlagen. Gut recherchierte Geschichten über historische Ereignisse mit anschliessenden Klassendiskussionen ziehen Jugendliche in ihren Bann. Generell beflügelt ein Unterricht mit narrativen Sequenzen ihre Phantasie und weckt literarisches Interesse. Mit dem Eintauchen in neue Lebenswelten werden starke innere Bilder geschaffen, die beim Lesen von Texten wieder wirksam werden.

Bedauerlicherweise wird in der Lehrerbildung zu wenig Zeit eingesetzt, um die Kunst des Erzählens intensiv zu fördern.

Als Gestalterin einer Geschichte kommt jeder Lehrerin eine zentrale Rolle zu. Wie sie sich in der Geschichte in die Rollen der Hauptpersonen versetzt und welche Worte sie wählt, ist für die Kinder sehr prägend. Das sprachliche Vorbild der Lehrerin ist wirksam, indem es den kindlichen Sprachaufbau emotional unterstützt. Bedauerlicherweise wird in der Lehrerbildung zu wenig Zeit eingesetzt, um die Kunst des Erzählens intensiv zu fördern. Offenbar erachtet man es als wichtiger, wertvolle Ausbildungszeit in Abhandlungen über didaktische Modeströmungen zu investieren. Zum Glück schafft es manche Lehrerin, später aus eigener Initiative einen Weg zum erfolgreichen Erzählen zu finden. Umso schöner ist es zu sehen, was anregende Geschichten auslösen können, wenn ganze Schulklassen durch freiwillige Lektüre auf literarische Entdeckungsreisen gehen.

Realienstunden sind eine attraktive Art der Sprachförderung

Leider wird diese Lesefreude durch die stundenlange Bildschirmzeit vieler Kinder oft massiv gestört. Erschöpft von den Kurzfutter-Informationen auf ihren elektronischen Geräten, nimmt die Aufnahmefähigkeit der Kinder für längere Lektüre rasch ab. Diese unerfreuliche Entwicklung ist nicht nur bei Schülern aus der Unterschicht zu beobachten. Die Schule wird nicht darum herumkommen, die Eltern beim Umgang ihrer Kinder mit den digitalen Geräten viel stärker an ihre erzieherische Verantwortung zu erinnern. Sonst läuft die Schule Gefahr, bei der Leseförderung Sisyphusarbeit zu verrichten.

Leicht geht vergessen, dass die attraktivste Art der Sprachförderung häufig in den Realienstunden geschieht. In diesen Lektionen wird ein Stück Welt ins Schulzimmer geholt. Wo ein vom Thema begeisterter Lehrer einen Sachverhalt erklärt, sind die Schüler fasziniert und bereit zu lernen. In solchen Stunden bietet sich die Chance, auch sprachlich verschlossene Buben aus der Reserve zu locken. Auf einmal ist ein präziser Wortschatz nützlich, wenn es darum geht, die Funktion eines Elektromotors den Mitschülern zu erklären. Bei der Bauanleitung für den Motor merken alle, wie wichtige gewisse Schlüsselbegriffe sind.

Die populäre, aber falsche Behauptung, dass der Erwerb von Wissen im Internetzeitalter eine Zeitverschwendung sei, hat in der Pädagogik leider eine unsägliche Verwirrung ausgelöst.

Je anspruchsvoller die Texte sind, desto mehr spielt fachliches Vorwissen eine zentrale Rolle. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass es schwierig ist, einen Text aus einem inhaltlich wenig bekannten Bereich zu entziffern. Jugendliche verstehen einen Bericht über eine Herzoperation viel besser, wenn sie bereits Grundkenntnisse über Bau und Funktion des Herzens haben. Ihr neuronales Netzwerk an gespeicherten Wissenselementen hilft ihnen beim Lesen und ist effizienter als beim Arbeiten mit dauernden Suchanfragen im Internet. Die populäre, aber falsche Behauptung, dass der Erwerb von Wissen im Internetzeitalter eine Zeitverschwendung sei, hat in der Pädagogik leider eine unsägliche Verwirrung ausgelöst.

Schlüsselfunktion für verstehendes und kritisches Lesen

Die Bedeutung eines attraktiven Realienunterrichts für das Allgemeinwissen und den Spracherwerb kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies gilt besonders für den Geschichtsunterricht, wo Grundfragen unserer Gesellschaft zur Sprache kommen und kritisches Denken einen hohen Stellenwert hat. In Zeiten von fake News leistet das Fach einen wertvollen Beitrag an Aufklärung, indem das Spiel der politischen Interessen in verschiedenen Epochen aufgedeckt wird. Lebendiger Geschichtsunterricht bietet die Chance, zweckgerichtetes menschliches Handeln im gesellschaftlichen Rahmen zu erklären. Das Fach schliesst eine Lücke in der Medienkunde und legt den Boden für politisches Verstehen. Es ist deshalb schwer verständlich, dass dieses wichtige Fach aktuell ohne klares inhaltliches Profil und mit reduzierter Lektionenzahl auskommen muss.

Deutsch und die Realienfächer haben eine Schlüsselfunktion für verstehendes und kritisches Lesen. Diese Fächergruppe verdient eine umfassende Aufwertung in der Lehrerbildung und im Rahmen des Lehrplans. Der zentrale Auftrag der Volksschule im Lesen und in der grundlegenden Kulturförderung kann nur erfüllt werden, wenn die Gewichte klar zugunsten des Deutsch- und Realienunterrichts verschoben werden.

The post Wer einen Schatz an Geschichten und Sachwissen hat, liest besser first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/12/wer-einen-schatz-an-geschichten-und-sachwissen-hat-liest-besser/feed/ 1
Die Stunde der “Experten” https://condorcet.ch/2023/12/die-stunde-der-experten/ https://condorcet.ch/2023/12/die-stunde-der-experten/#comments Fri, 08 Dec 2023 07:10:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=15432

Es ist die Stunde der Expertinnen und Experten, die derzeit die Medienwelt mit ihren Ratschlägen überfluten. Condorcet-Autor Felix Schmutz kommentiert einige Aussagen und bringt seine eigene Sicht in seinem Beitrg ein.

The post Die Stunde der “Experten” first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz: Was sollen wir denn noch tun, um die Lesefähigkeit der 25% funktionalen Analphabeten zu verbessern?

Pünktlich zum Nikolaus-Tag schneien uns die PISA-Resultate ins Haus. Beim Nikolaus kommt allerdings zuerst das Sündenregister mit der Rute, zur Versöhnung anschliessend schüttet er den Sack mit den Nüssen, Mandarinen und Süssigkeiten aus.

Besser als der Durchschnitt

Bei PISA ist es umgekehrt: Zuerst die Beruhigungspille («Besser als der Durchschnitt», «Sehr gut in Mathematik und Naturwissenschaften, gut im Lesen»), dann das Lamento («Ein Viertel der 15-Jährigen versteht nicht, was es liest», «insgesamt nehmen die Leistungen ab», «die Mädchen schlecht in Mathe»).

Expertenkommentare

Reflexartig folgen die Kommentare der medial befragten Weisen, die sich etwa so zusammenfassen lassen:

  1. Die soziale Herkunft bestimmt über die Leistung. Vermutung: Die Privilegierten sind besser digitalisiert, wodurch sie Vorteile bei digitalisierten Unterrichtsformen haben. (Andrea Erzinger, BaZ)
  2. Andrea Erzinger, Universität Bern: Mädchen haben Angst vor der Mathematik.

    Mädchen haben Angst vor Mathematik. Warum ihre «Selbstwirksamkeit» schwächelt, ist unklar, da doch so vieles unternommen worden sei, um ihr Interesse an MINT zu wecken. (Andrea Erzinger, BaZ)

  3. Mit der frühen Niveau-Selektion in der Sekundarstufe würden die Aufstiegschancen für Benachteiligte erschwert. Das sei «wissenschaftlich untermauert». (Andrea Erzinger, BaZ)
  4. Der hohe Anteil an Migranten drücke auf den Leistungserfolg.
  5. Die Einstellung von Quereinsteiger-Lehrpersonen ohne genügende Ausbildung wirke sich aus. (Dagmar Rösler, BaZ)
  6. Die Eltern müssten mehr zum Lesen motivieren, die Schule könne nicht alleine für den ausbleibenden Erfolg verantwortlich gemacht werden. (Dagmar Rösler, BaZ)
  7. Lesen spiele keine so grosse Rolle mehr in der modernen Welt, das Audiovisuelle der Medien sei heute wichtiger. (Philipp Wampfler, Radio SRF)

Was Experten verschweigen

Auffällig abwesend im Reigen dieser angebotenen Erklärungen sind drei sehr naheliegende, aber ideologisch inopportune Tatsachen:

  1. Die integrative Schule bringt Unruhe in den Klassenverband, die Unruhe geht auf Kosten der Konzentration und der Lernzeit.
  2. Die Frühfremdsprachen stehlen Übungszeit in der wichtigen Aufbauphase der Lese- und der Rechenfähigkeit und beim Aufbau des Orientierungswissens.
  3. Mit dem Lehrplan 21 wurde Wissen abgewertet, bzw. als Sachkenntnis den Kompetenzen geopfert und der Beliebigkeit überantwortet. Fürs Leseverständnis sind jedoch je nach Text medizinisches, biologisches, historisches, literarisches Grund- und Orientierungswissen unabdingbar. Jugendliche versagen dann nicht wegen des Lesens, sondern wegen der im Text angesprochenen Sachverhalte, mit denen sie nicht vertraut sind.
Philippe Wampfler Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien. Mai 2020: Lesen spielt keine grosse Rolle mehr.

Folgen früherer PISA-Tests

Frage: Haben wir die Punkte 1 – 7 nicht schon bei früheren PISA-Verlautbarungen von den Experten gehört? Haben schwache PISA-Resultate nicht schon vor über 20 Jahren zu Reformbemühungen geführt?

Beispielsweise haben wir wegen PISA den Kompetenzlehrplan 21 eingeführt. Lesekompetenzen wurden in zig Einzelfertigkeiten aufgeschlüsselt und in «Mindsteps» abgearbeitet. Wegen PISA wurden Lesenächte, Lesestunden, Autorenbesuche, Schulbibliotheken, Klassenlektüre gefördert. Medienwirksam wurden solche Aktivitäten jeweils präsentiert.

Investiert wird schon lange in die Frühförderung. Wurde ernsthaft evaluiert, z.B. in Vergleichsstudien, ob diese Frühförderung fürs Lesen in den letzten 15 Jahren irgendetwas gebracht hat? Offenbar ist der Erfolg ausgeblieben, wenn der Anteil der Lese-Unfähigen wieder um 5% gestiegen ist.

Eines ist klar: Auch unter denjenigen, die als Fachexpertinnen und -experten befragt wurden, herrscht letztlich totale Ratlosigkeit. Sie sagen das, was sie schon immer sagten, denn die PISA-Ergebnisse ergeben keine Kausalitäten, sondern nur Korrelationen zwischen Leistungsdaten und Befragungen. Interpretieren kann jeder nach seinen ideologischen Vorlieben. Medienschaffende sollten hier kritischer nachhaken, wenn sie die immer gleichen Weisheiten (siehe oben) zur Antwort erhalten.

Hektisch ergriffene behördliche Massnahmen oder gross angelegte Verbesserungsprojekte zielen deshalb immer ins Unbestimmte, gründen auf der Vermutung, dass man den Grund für die Mängel gefunden habe und die Reformübung Abhilfe schaffen werde. Allerdings sind die Möglichkeiten für Reformen allmählich ausgeschöpft. Was sollen wir denn noch tun, um die Lesefähigkeit der 25% funktionalen Analphabeten zu verbessern?

Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.

Lesen ein Auslaufmodell?

Interessant in diesem Zusammenhang ist Philipp Wampflers Äusserung, dass die konservative Lesefähigkeit heute nicht mehr gebraucht werde, da die Menschen sich mit audiovisuellen Medien behelfen könnten. Dies kontrastiert mit der Feststellung der OECD, dass die von ihr definierte Lesefähigkeit als Minimum für die Bewältigung der Lebensaufgaben gebraucht werde. Wer hat Recht?

Zur Beantwortung dieser Frage genügt schon der gesunde Menschenverstand:

Verstehendes Lesen ist grundsätzlich nicht an ein Medium geknüpft. Die Kompetenzen werden bei jedem Medium, das Text vermittelt, gebraucht.

Text, Bild und Ton verstehend zu verknüpfen, ist jedoch eine zusätzliche Kompetenz, die vom reinen Lesen zu trennen ist. Didaktisch sinnvoll wäre es, mit dem einen zu beginnen und dann erst zum nächsten überzugehen. Wampfler hingegen will – bildlich gesprochen – den Stemmbogen überspringen und gleich zum Wedeln übergehen.

Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben.

Texte entziffern und verstehen sollte vom didaktischen Standpunkt aus gesehen am ehesten zunächst an einem Medium geübt werden, das materiell greifbar und drehbar ist wie ein Blatt Papier oder Buchstaben zum Legen und Verschieben. Einmal am Blatt oder Buch gemeistert, lassen sich die Kompetenzen auf den Bildschirm übertragen.

Die Digitalisierungseuphorie sollte uns deshalb nicht dazu verleiten, grundlegende Fähigkeiten nicht mehr zu vermitteln und zu üben. Sie sind nach wie vor die Basis, selbst wenn das Medium des Buches, der Zeitung, des Lexikons inzwischen vorwiegend in digitaler Form konsumiert wird. Gelernt werden muss analog, so ist nun einmal unser Gehirn eingerichtet.

Was tun?

  1. Dem PISA-Test gegenüber sollte man mit kritischer Distanz gegenübertreten: Wer legitimiert die Prüfungsinstanz festzulegen, welche Punktzahlen Mindestanforderungen bedeuten? Sind die Prüfungsaufgaben sachlich korrekt, valide? Wer kontrolliert die Kontrollierer? Eine unabhängige Überprüfung müsste erfolgen.
  2. In den Schulen sollte mehr Zeit für die basalen Fähigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben, Sachwissen zur Verfügung gestellt werden. Die digitalen Mittel sollten erst in der zweiten Hälfte der Volksschule Einzug halten. Die basalen Fähigkeiten bilden die Grundlage für ein erfolgreiches Hantieren mit Digitalität, nicht umgekehrt.
  3. Schulischer Unterricht bedeutet, dass ausgebildete Lehrpersonen den Lernstoff in geeigneter Weise vermitteln. Diese zivilisatorische Errungenschaft wird heute krass unterschätzt. Zweieinhalb Tausend Jahre Wissen können sich Kinder und Jugendliche nicht selbst beibringen. Sie müssen angeleitet und geführt werden und dürfen beim Lernen nicht nur sich selbst überlassen werden. «Teaching and Learning statt Coaching and Drowning» muss die Devise sein. Die Ausbildungsinstitutionen sind darauf zu verpflichten, die künftigen Lehrkräfte in diesem Sinne vorzubereiten.
  4. Der Kompetenzlehrplan 21 sollte abgelöst werden durch einen Lehrplan, der verbindliche Wissensbestände und ihre Anwendungen enthält. Kompetenzen ergeben sich aus der Beschäftigung mit und dem Lernen an sachlichen Themen.
  5. Die Fremdsprachen sollten frühestens im vierten, spätestens im fünften Schuljahr beginnen, die zweite Fremdsprache frühestens im sechsten, spätestens im siebten Schuljahr. Bei Überforderung ist auf eine zweite Fremdsprache zu verzichten.
  6. In den Klassen der Volksschule soll eine ruhige Arbeitsatmosphäre oberstes Gebot sein. Für Kinder und Jugendliche, die sich nicht einordnen können, müssen sinnvolle Angebote zeitweise oder langfristig zur Verfügung stehen.

Eine Utopie? Es wäre einmal eine Alternative, nachdem wir alles andere erfolglos versucht haben.

 

The post Die Stunde der “Experten” first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/12/die-stunde-der-experten/feed/ 10
Herzlich willkommen in der neuen Klassengesellschaft! https://condorcet.ch/2023/12/herzlich-willkommen-in-der-neuen-klassengesellschaft/ https://condorcet.ch/2023/12/herzlich-willkommen-in-der-neuen-klassengesellschaft/#comments Wed, 06 Dec 2023 09:23:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=15424

Mathias Brodkorb, bekannter SPD-Bildungspolitiker und ehemaliger Kultusminister von Brandenburg, ist ein vehementer Kritiker der Kompetenzorientierung. Er sieht sich duch die ständig sinkenden Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler bei den PISA-Studien bestätigt. Sein Kommentar ist im Cicero erschienen.

The post Herzlich willkommen in der neuen Klassengesellschaft! first appeared on Condorcet.

]]>
Mathias Brodkorb, ehemaliger Kultusminister in Bandenburg SPD, heute Journalist Cicero: Rückkehr in die Klassengesellschaft.
Bild: vom Autor

Eigentlich sollte mit dem deprimierenden Ergebnis der ersten PISA-Studie 2000 das Ruder herumgerissen werden. Mit zahlreichen Schulreformen unter dem Zauberwort „Kompetenzorientierung“ versprach die Politik Besserung. Die gute alte Schule sollte abgewickelt werden.

Möglichst keine zentralen Lernvorgaben mehr, keine verbindlichen Rahmenpläne, kein stumpfes Auswendiglernen. Stattdessen: Freiheit für alle und regelmäßig Leistungsüberprüfungen. Deutschland baut seit 20 Jahren an der Schule der Zukunft. Und nun? Man steht vor einem Scherbenhaufen. Um es kurz und knapp zu sagen: Bei der ersten PISA-Studie war Deutschland Mittelmaß. Auch heute erreicht es noch etwa den OECD-Durchschnitt. Aber es ist schlechter, als es jemals war.

So schlecht waren die Ergebnisse noch nie

Nach einem kurzen Bildungsaufschwung ging es wieder rasant in den Keller. Heute werden die „niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden“, erreicht. Allein der Rückgang in Mathematik und Lesen entspricht gegenüber dem Jahr 2018 einem ganzen Schuljahr.

Deutscher Bildungsverfall

Aber die Leistungen in Mathe, Deutsch und Naturwissenschaften sind nicht nur generell rückläufig. Gleichzeitig wird der Anteil leistungsschwacher Schüler größer und der Anteil leistungsstarker Schüler kleiner. Der Anteil der Schwachen beträgt in Mathematik inzwischen ganze 30 Prozent, der Anteil der Starken hat sich seit 2012 auf 9 Prozent halbiert. Für eine Volkswirtschaft, die auf dem Weltmarkt dauerhaft erfolgreich sein will, ist das nichts anderes als eine Katastrophe.

Bildungsökonom Ludger Wößmann schlägt denn auch Alarm. Allein der Leistungsrückgang in Mathematik verursache „langfristig rund 14 Billionen Euro an entgangener Wirtschaftsleistung bis zum Ende des Jahrhunderts“. Nach dem ersten PISA-Schock brauche es daher einen zweiten. Denn: So schlecht wie heute waren die Ergebnisse noch nie.

Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist explodiert

Dabei gehört gar nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass bei der nächsten Studie alles noch viel schlimmer sein dürfte. Die Gründe für den Bildungsverfall sind vielfältig:

  1. Zunächst wird die Corona-Pandemie auch jenseits eines systemischen Leistungsproblems die schlechten Ergebnisse mitverursacht haben. Aber schon vorher waren die Leistungen in den Sinkflug übergegangen. Corona taugt nicht als Ausrede.
  2. Deutschland leidet bereits seit Jahren unter Lehrermangel, vor allem in den Naturwissenschaften und in Mathematik. Und dieser Mangel wird in diesem Jahrzehnt noch weiter zunehmen und ebenfalls nicht ohne Folgen bleiben.
  3. Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren geradezu explodiert. Ob man es nun wahrhaben will oder nicht: Auch das fordert das Bildungssystem heraus. Das ist nicht nur statistisch gemeint. Ein zu hoher Migrantenanteil an vielen deutschen Schulen belastet die Unterrichtssituation und damit das mögliche Leistungsniveau aller Schüler.
  4. Und schließlich darf man es für wahrscheinlich halten, dass auch die „kompetenzorientierte Wende“ in der Pädagogik vor einem Scherbenhaufen steht. Freilich: Zugegeben wird das von seinen Erfindern selten. Eigentlich nie. Man müsste einen historischen Irrtum eingestehen.

Deutschland steht daher heute vor einer ähnlichen Situation wie im Jahr 1964. Damals warnte Georg Picht in einer Streitschrift vor der nahenden deutschen „Bildungskatastrophe“. Schon damals ging es um die Abwendung eines heraufziehenden Lehrermangels und um die Anschlussfähigkeit Deutschlands an internationale Akademikerquoten. Das Jahr 1964 hatte nur einen entscheidenden Vorteil: Die Boomer waren noch jung und standen nicht kurz vor der Pension oder Rente wie heute. Es gab noch Nachwuchskräfte.

Öffentliche Schulen haben einen immer schlechteren Ruf

Will Deutschland seine Schulen nicht endgültig an die Wand fahren, wird man also das Problem mit dem Lehrermangel ebenso lösen müssen wie die Überforderung der Schulen durch zu viele Migrationslasten. Das hört der deutsche Linke nicht gern, ist aber so.

Am Ende leiden unter all dem ohnehin nur der gewöhnliche Arbeitnehmer und die Arbeiterklasse. Rechtsanwälte, Ärzte, Professoren sowie Abgeordnete wohnen für gewöhnlich nicht in deutschen Plattenbauten. Und sie haben auch das nötige Kleingeld, um ihre Kinder notfalls auf Privatschulen schicken zu können.

Was Deutschland droht, ist daher im Grunde nichts anderes als die Rückkehr der Klassengesellschaft. Das Szenario ist vorgezeichnet: Wer es sich leisten kann, kauft seine Kinder aus den öffentlichen Schulen raus. In den Plattenbausiedlungen der Städte wird man zwar noch Lehrer finden, aber durch eine völlig unausgeglichene Schülerstruktur wird auch das nicht zu anständigen Lernergebnissen verhelfen.

Für Optimismus gibt es keinen Grund

Auf dem Lande hingegen wird der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund zwar deutlich niedriger sein, aber dafür wird es ganz an qualifizierten Lehrern fehlen. Akademiker zieht es nun einmal eher in die größeren Städte. Das ist auch bei Paukern nicht anders.

Für Optimismus gibt es daher keinen Grund. Die Zukunft wird in der Wiederkehr des 19. Jahrhunderts liegen. Die städtischen Arbeiterkinder werden unterprivilegiert sein wie damals – und die Kinder aus dem ländlichen Raum ebenso.

Eigentlich war die politische Linke einst angetreten, um Arbeiterkindern den Aufstieg zu ermöglichen und den Unterschied an Lebenschancen zwischen Stadt und Land aufzuheben. Groteskerweise dürfte nun eine maßlose Form der Weltoffenheit diese alten Zustände wiederherstellen.

The post Herzlich willkommen in der neuen Klassengesellschaft! first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/12/herzlich-willkommen-in-der-neuen-klassengesellschaft/feed/ 4
Wie moderne und gerechte Schule für alle geht https://condorcet.ch/2023/11/wie-moderne-und-gerechte-schule-fuer-alle-geht/ https://condorcet.ch/2023/11/wie-moderne-und-gerechte-schule-fuer-alle-geht/#comments Sat, 11 Nov 2023 09:19:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=15279

Ein erstaunlicher Beitrag von Andreas Schleicher, Vater der PISA-Studien. Absage an die Bürokratie, eine Ode an die guten Lehrkräfte, überfordernde Lehrpläne. Das Herz der Bildungsidee sei verloren gegangen. Wir reiben uns die Augen und fragen unsere Leserinnen und Leser: Ist hier jemand vom Paulus zum Saulus geworden? Der Bericht von Herrn Schleicher erschien auf der Homepage des ZDF, gefolgt von einem Interview mit dem unermüdlichen Richard David Precht.

The post Wie moderne und gerechte Schule für alle geht first appeared on Condorcet.

]]>

Wir sehen in der heutigen Gesellschaft, dass sich die Menschen wirtschaftlich, kulturell und politisch immer stärker polarisieren und voneinander unterscheiden. Um eine gemeinsame Grundlage für mehr Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen, gibt es nur eine Lösung: gute Bildung. Wir haben viele Instrumente, um Ressourcen umzuverteilen, aber an den Ursachen von Ungleichheit können wir nur durch bessere Bildung arbeiten und deswegen ist dieses Thema so wichtig.

Gastautor Andreas Schleicher, OECD-Bildungsexperte

Die meisten Schülerinnen und Schüler sind heute Konsumenten vorgefertigter Lerninhalte, Lehrkräfte sind zu Dienstleistern, Kinder und Eltern zu Kunden geworden. Das Herz der Bildungsidee ist verloren gegangen. In vielen anderen Ländern werden gleichzeitig alte, verkrustete Lernsysteme radikal verändert.

Lernen aus dem Lockdown: Unsere Schulen sind nicht mehr zeitgemäß! Doch an der Schule der Zukunft wird bereits gearbeitet. Lesch Kosmos zeigt neue Studien zum Lernverhalten und was neue Lernsysteme wirklich brauchen.

Wenn Schüler mitbestimmen, entstehen neue Dynamiken

Ein spannendes Beispiel: Portugals Schulsystem war sehr vertikal ausgerichtet und überaus bürokratisch. Dann hat man beschlossen: Wir machen einen Versuch und geben Schulen einen Euro pro Schüler extra und dieser Euro wird von den Schülern ausgegeben, sie konnten selbst entscheiden, wie sie diese Ressourcen einsetzen.

 

Mit finanziellen Anreizen gewinnt man in Schweden die engagiertesten und erfolgreichsten Lehrkräfte für besonders problembelastete Schulen.

 

Das hat zu einem grundlegenden Mentalitätswandel geführt. Plötzlich waren die Schüler Akteure, nicht mehr Konsumenten, und sie haben dann zum Beispiel auch bei der Schulleitung nachgefragt: Warum leckt hier das Dach? Warum haben einzelne Schüler nicht die Mittel für eine Teilhabe an schulischen Aktivitäten? So kann man Dinge verändern, es ist tatsächlich gar nicht so schwer.

Gute Bildung beginnt mit Ausbildung guter Lehrer

Der Blick nach Finnland zeigt: Alle jungen Menschen, die Lehramt studieren wollen, machen dort einen Zulassungstest. Die Auswahl aber findet erst im zweiten Studienjahr statt, wo die Studierenden sich in der Praxis bewähren und unter Beweis stellen müssen, dass sie erfolgreich mit Kindern und Jugendlichen und mit dem Kollegium zusammenarbeiten können. Von zehn Bewerbungen wird im Schnitt nur eine ausgewählt.

Um dem Lehrermangel entgegenzuwirken soll eine neue Plattform Quereinsteigern den Einstieg in den Schuldienst ermöglichen und erleichtern.

Schweden bezahlt Lehrer individuell

Was wäre, wenn wir Schulen finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen, die sich vorrangig daran bemessen, vor welchen Herausforderungen sie im Einzelnen stehen? Plötzlich würde es interessant, sich in diesen Schulen um die schwierigsten Kinder und Jugendlichen zu kümmern.

Schweden hat das genauso gemacht und dort werden sogar die Lehrkräfte individuell bezahlt. Mit finanziellen Anreizen gewinnt man die engagiertesten und erfolgreichsten Lehrkräfte für besonders problembelastete Schulen.

Schulen brauchen mehr Entscheidungsfreiheit

An deutschen Schulen herrscht oft noch ein falsch verstandener Konformismus, nicht zuletzt durch eine erdrückende Bürokratie, die über das Schulsystem entscheidet. Nur 17 Prozent der Entscheidungen darüber werden in Deutschland in den Schulen selbst getroffen. Daher braucht es mehr Entscheidungsfreiheit. Im Nachbarland Niederlande sind es neun von zehn Entscheidungen, um genau zu sein 93 Prozent.

Ich glaube, wir können vor Ort viel mehr Dinge verändern, als uns das oft bewusst ist. Dieser Glaube an die Bürokratie ist eigentlich schlimmer als die Bürokratie selber.

 

Die meisten Schülerinnen und Schüler sind heute Konsumenten vorgefertigter Lerninhalte, Lehrkräfte sind zu Dienstleistern, Kinder und Eltern zu Kunden geworden. Das Herz der Bildungsidee ist verloren gegangen.

 

Zu wenig Lehrer*innen, zu viele Hausaufgaben, überfordernde Lehrpläne und unmotivierte Schüler*innen – Kritik am Schulsystem gibt’s in Deutschland nicht zu wenig.

Man muss aber auch ehrlich sein, ganz einfach ist ein solcher Wandel nicht. Teilweise sind auch wir als Eltern Teil des Problems. Wir werden sehr schnell nervös, wenn unsere Kinder nicht mehr das lernen, was früher einmal wichtig für uns war oder wenn sie Dinge lernen, die wir nicht verstehen. Und als Politiker gewinnt man meist auch keine Wahlen mit Bildungsreformen, weil es mitunter sehr lange dauern kann, gute Ideen umzusetzen.

Ideen müssen umgesetzt werden – und alle müssen mitmachen

Aber wir haben keine andere Wahl. In der Vergangenheit konnte man sagen: Wir nehmen das Geld der Reichen, geben es den Armen und leben einfach mit den Konsequenzen einer solchen Umverteilung. Das funktioniert heute nicht mehr.

Soziale Beteiligung ist das große Thema unserer Zeit und tatsächlich sind die spannendsten Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie für mich, dass wir das erreichen können, dass wir das Potenzial aller jungen Menschen wirklich einbringen können in dieser Gesellschaft. Was man dafür braucht, ist wirkliches “Leadership”, Menschen, die bereit sind, das Richtige zu tun und sich einzusetzen, auf jeder Ebene des Systems.

Andreas Schleicher ist Bildungsforscher und Direktor für Bildung und Kompetenzen bei der OECD und Erfinder der Pisa-Studien. Die neuesten Ergebnisse der Erhebungen werden im Dezember 2023 veröffentlicht.

 

Andreas Schleicher wurde 1964 in Hamburg geboren. Obwohl er als ungeeignet für das Gymnasium eingestuft wurde, absolvierte er später das Abitur an der Waldorfschule mit einem Notendurchschnitt von 1,0. Anschließend studierte er in Hamburg Physik. Dort hörte er auch Vorlesungen des englischen Erziehungswissenschaftlers Neville Postlethwaite und machte den Master of Science für Mathematik an der Deakin University in Melbourne. Schleicher erhielt neben anderen Auszeichnungen 2003 den Theodor-Heuss-Preis für sein beispielhaftes demokratisches Engagement.

The post Wie moderne und gerechte Schule für alle geht first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/wie-moderne-und-gerechte-schule-fuer-alle-geht/feed/ 3
Ein Visionär, aber kein Praktiker https://condorcet.ch/2023/10/15221/ https://condorcet.ch/2023/10/15221/#comments Sat, 28 Oct 2023 07:05:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=15221

Eigentlich wollte Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz auf den Nachruf von Alain Pichard mit einem Kommentar antworten. Dann wurde es ein ganzer Beitrag. Mit Recht, denn Hanspeter Amstutz hat als Mitglied der Bildungskommission acht Jahre lang mit Ernst Buschor zusammengearbeitet und mit ihm in dessen Wirkungsjahren ab und zu heftig gestritten. Die Anerkennung und der Respekt gegenüber diesem grossen Gestalter strömt allerdings trotz aller Kritik aus jeder seiner Zeilen.

The post Ein Visionär, aber kein Praktiker first appeared on Condorcet.

]]>

Was für ein Nachruf auf einen bildungspolitisch sehr umstrittenen, aber im persönlichen Umgang hochanständigen Menschen! Ich bin Alain Pichard dankbar, dass er Ernst Buschors Lebenswerk etwas anders interpretiert, als seine zahlreichen Gegner dies wohl tun würden.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Ernst Buschor war ein Visionär, aber kein Praktiker.

Acht Jahre lange habe ich eng mit Ernst Buschor zusammengearbeitet. Es ging damals in der Bildungskommission des Zürcher Kantonsrats um das schwergewichtige Volksschulgesetz und die Schaffung der Zürcher Fachhochschulen. Buschor war überzeugt, dass vieles radikal geändert werden müsse, um unser Bildungswesen wettbewerbsfähiger zu machen. Mit seinen Modellvorstellungen aus dem new public management, die er auf die Schule übertragen wollte, beeindruckte und alarmierte er die Lehrerschaft schlagartig. Das Zauberwort von den teilautonomen Schulen löste heftige Diskussionen aus. Die Vorstellung einer Schule mit eigenem Profil und gemeinsamer Schulkultur beflügelte viele, die von einem pädagogischen Feuer beseelt waren.

Leider war der ganze Ansatz der Reformen viel zu technokratisch und allzu strukturgläubig. Pädagogisch fehlte ein durchdachtes Bildungskonzept, da es Bildungspolitik und Erziehungswissenschaften versäumten, sich mit den konkreten Auswirkungen der Reformen im Schulalltag vertieft auseinanderzusetzen. Ja, es brach eine eigentliche Euphorie zugunsten eines völligen Umbaus unserer Volksschule aus. Man kommt nicht darum herum, der damaligen vorherrschenden Politik den Vorwurf zu machen, sich bezüglich der realen Möglichkeiten unserer Schulen völlig verschätzt zu haben. Soziologische und didaktische Schlagwörter beherrschten die Schuldiskussionen. Die kritischen Geister in der Lehrerschaft hatten es in dieser überoptimistischen Aufbruchstimmung schwer, mit sachlichen Einwänden Gehör zu finden. Und in den neu gegründeten Pädagogischen Hochschulen wollten die fortschrittlichen Dozenten beweisen, dass jetzt neue Massstäbe in der Didaktik gelten sollten.

Um das Frühenglisch zu retten, setzte sich Buschor für ein Mehrsprachenkonzept für die Primarschule ein. Dass ihm dieser für die Schule verhängnisvolle Schritt gelang, war weniger Buschors Vorgehen als der Unentschlossenheit der Zürcher Lehrerschaft geschuldet.

Ein anschauliches Beispiel im Rahmen dieser Entwicklung war die Einführung der Mehrsprachendidaktik in der Primarschule. Ernst Buschor wollte ursprünglich Englisch anstelle von Französisch in der Primarschule einführen. Er wusste, dass er damit im Wirtschaftskanton Zürich auf eine breite Zustimmung zählen konnte. Doch er rechnete nicht mit der heftigen Opposition, die ihm aus der Romandie entgegenschlug. Um das Frühenglisch zu retten, setzte sich Buschor für ein Mehrsprachenkonzept für die Primarschule ein. Dass ihm dieser für die Schule verhängnisvolle Schritt gelang, war weniger Buschors Vorgehen als der Unentschlossenheit der Zürcher Lehrerschaft geschuldet. Diese hatte bereits sehr viel ins Frühenglisch investiert. Nach der Drohung des Bundesrats, man werde beim Beharren auf einer Fremdsprache nur das Frühfranzösisch zulassen, befürchteten die meisten Lehrpersonen, auf ein attraktives Fach verzichten zu müssen. Ohne diese entschlossene Gegenwehr war es für die Bildungsdirektion und die Pädagogischen Hochschulen leichter, das unselige Dreisprachenkonzept in der Primarschule durchzusetzen.

Visionäre können Erstarrtes auflösen, aber sie entfalten nur eine positive Wirkung, wenn sie auf den Widerstand reformwilliger Realisten treffen und ihre Ideen mit der Praxis in Übereinstimmung bringen müssen.

Ernst Buschor war ein Visionär, aber kein Praktiker. Er traf auf einen Zeitgeist, der auch in der Pädagogik stark vom internationalen Wettbewerb beeinflusst war und unsere Volksschule vor grosse Herausforderungen stellte. Visionäre können Erstarrtes auflösen, aber sie entfalten nur eine positive Wirkung, wenn sie auf den Widerstand reformwilliger Realisten treffen und ihre Ideen mit der Praxis in Übereinstimmung bringen müssen.

Ernst Buschor setzte sich für Leistungstests ein

Ernst Buschor war überzeugt, dass ihm die pädagogischen Wissenschaften wegweisende Antworten für die Umsetzung seiner Reformpläne geben würden. Er war durch und durch Professor, der sich im Wissenschaftsbetrieb auskannte, aber weniger mit der Tagespolitik und den realen Verhältnissen in der Volksschule vertraut war. Doch ausgerechnet die Erziehungswissenschaften neigten in jenen Jahren zu utopischen Vorstellungen wie dem immersiven Fremdsprachenlernen oder der radikalen Abkehr von der direkten Instruktion im Klassenunterricht. Buschors Ideen mussten nicht durch das Fegefeuer eines harten wissenschaftlichen Diskurses, sie wurden vielmehr freudig begrüsst und mit Pauken und Trompeten ungeprüft in der Praxis eingeführt.

Ernst Buschors freundliches Wesen machte es ihm möglich, Kritik an seinen Reformvorhaben auf sanfte Weise zu parieren. Oft hatte man allerdings den Eindruck, dass der Dialog mit ihm doch recht einseitig war. Im Nachhinein könnte man sagen, dass der Mangel an echter Auseinandersetzung mit pädagogischen Grundfragen und der fehlende politische Widerstand sich letztlich ungünstig auf die allgemeine Schulentwicklung auswirkte. Was jedoch von Ernst Buschors grosser Schaffenskraft bleibt, ist die Realisierung eines durchlässigen Bildungssystems mit Berufsmatur und Fachhochschulen. Es ist das Vermächtnis eines Menschen, dessen Gerechtigkeitssinn über alle Zweifel erhaben war.

The post Ein Visionär, aber kein Praktiker first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/10/15221/feed/ 2
Wenn private Lernstudios boomen https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/ https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/#comments Tue, 26 Sep 2023 08:17:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15029

Die Bildungspolitik will es nicht wahrhaben: Die öffentliche Schule hat sich zu viel zugemutet. Für manche Kinder kommt sie ihrer ureigenen Aufgabe nicht nach; sie wird ihnen schlicht nicht gerecht. Die Folge: Private springen in die Lücke. Das gefährdet die Chancengleichheit, schreibt Condorcet-Autor Carl Bossard.

The post Wenn private Lernstudios boomen first appeared on Condorcet.

]]>

Die Stimmen häufen sich: Lehrerinnen und Lehrer wie Eltern klagen über den aktuellen Zustand der Volksschule. Wie und wo der Schuh drückt – und zwar intensiv –, das zeigte sich bei einem öffentlichen Podium «Lehrerinnen- und Lehrermangel» in Schwyz.[1] Das Interesse war gross und die Debatte intensiv. In der engagierten Diskussion fielen deutliche und klare Voten: zu wenig Zeit für die elementaren Basisfächer Deutsch und Rechnen, kaum mehr Raum zum Üben und Korrigieren, zu viel Unruhe im Schulzimmer als Folge der verstärkten Integration.[2] Dazu kommen zeitraubende Koordinationsaufgaben für die Zusatzkräfte im Unterricht und viel zu viel Bürokratie wegen der vielen Vorgaben und Vorschriften. Ob Schwyz überall ist, lässt sich nicht sagen. Aber eines wurde deutlich: Muss die Schule alles tun, tut sie nichts mehr richtig: Sie entgrenzt sich inhaltlich. Der Basler Bildungsdirektor Conradin Cramer drückt es so aus: «Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.»[3] Und die Menetekel mehren sich.

Carl Bossard,ehem. Direktor der PH-Innerschweiz: Die Schule hat sich zuviel zugemutet.

Boomende private Lerninstitute

Wer als Eltern diesen Risiken ausweichen will, sucht für seine Kinder heute nicht selten einen externen Lerncoach. Aufgabenhilfe und Zusatzunterricht boomen – vor allem in den städtischen Gebieten.[4] Auch in ländlichen Regionen wachsen die Angebote, zeitlich allerdings etwas verzögert. Das Lern- und Coachingcenter «fit4school» beispielsweise bietet schulergänzende Lernunterstützung und Nachhilfe an 27 Orten der Schweiz an. Die Nachfrage ist gross. In der Stadt Bern verdoppelten sich die Anmeldezahlen seit dem Start im April dieses Jahres im Monatstakt.

Warum dieser Boom? Lernforscherinnen und Bildungsfachleute diagnostizieren, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Hier liegt mit ein Grund für diesen exponentiellen Anstieg schulexterner Anbieter. Und noch etwas zeigt sich: Wenn Schülerinnen und Schüler diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Eine Google-Recherche zu den Stichworten «Nachhilfe, Gymi-Vorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein, sonst gäbe es diesen Markt nicht.

Die Chancengleichheit ist gefährdet

Diese Zahlen sind öffentlich: Doch niemand aus der Bildungspolitik und der Bildungsverwaltung hält dagegen. So etwas verwundert und ärgert zugleich. Das verstösst gegen ein elementares Prinzip unserer Gesellschaft: die Chancengleichheit! Hier liegt das Problem. Es ist ein systemisches Problem. Eine solche Situation dürfte es eigentlich gar nicht geben. Die Fakten aber sprechen eine andere Sprache.

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache».

Die Schule hat sich inhaltlich entgrenzt

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache». Viele Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Fürs notwendige Üben und Automatisieren bleibt kaum Zeit. Unfertiges wird so zum Dauerzustand.

Mit andern Worten: Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Das wissen wir aus der Forschung. Das Viele reduziert die systematische Übungszeit. Um etwas ins Langzeitgedächtnis zu bringen und zu automatisieren, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Der Moment des Vergessens beginnt im Moment des Merkens. Wiederholen, Vertiefen und Anwenden sind für einen lernwirksamen Unterricht unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies, kohärentes Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren. Diese Zeit fehlt oft.

Eltern wollen nicht als Bildungsverlierer dastehen

Darum haben viele Eltern das Gefühl: Mein Kind kommt nicht voran. Es wird wohl aktiviert, doch es lernt zu wenig und das Erarbeitete bleibt an der Oberfläche. Abends müssen wir mit Nachhilfe vertiefen. Die Eltern wollen nicht als Verlierer der Bildungsreformen dastehen. Im Gegenteil: Die Kinder sollen die sozioökonomische Position ihrer Herkunft zumindest halten. Statusängste sind in erster Linie Zukunftsängste.[5] Darum erwarten sie für ihr Kind eine solide Schulbildung. Diese Erwartungssicherheit schmilzt.

Das trägt mit zum Boom privater Lerninstitute bei. Gratis sind diese Zusatzkurse und Nachhilfestunden nicht. Eltern greifen zum Teil tief in die Taschen. Doch dieses Zusätzliche können sich nicht alle leisten. Das widerspricht der Idee der gemeinsamen Volksschule und gefährdet die Chancengleichheit nicht nur unter Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter den verschiedenen Familien.

Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit.

Private Bildung als lukratives Geschäftsmodell

Das öffentliche Bildungssystem muss lernleistungsfähig bleiben. Nur das verhindert den leisen Exodus von Kindern in die Privatschule und den weiteren Anstieg schulexterner Lernhilfen. Not tut eine Rückkehr zum Eigentlichen und Wesentlichen, eine Besinnung auf den Kernauftrag der Schule. Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit. Mit genau diesen Attributen aber werben private Anbieter. Und sie stossen bei vielen Eltern auf offene Ohren. Private Bildung wird heute zu einem interessanten Investitionsfeld und darum auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell.

Die Signale ernst nehmen

Bildungspolitik und Bildungsverwaltung stehen in der Pflicht. Lange, allzu lange haben sie über die Sorgen und Nöte der Lehrpersonen im pädagogischen Alltag hinweggesehen. Boomende Lerninstitute sind ein deutliches Warnsignal. Das Portemonnaie darf nicht über die Bildung der Kinder entscheiden. Zu hoffen ist, dass die Bildungskarawane nicht einfach weiterzieht und die Stimmen der Basis negiert. Leidtragende sind die Kinder.

 

[1] «Der Zustand der Volksschule wurde stark kritisiert», in: Bote der Urschweiz, 08.09.2023, S. 8.

[2] Vgl. den aufrüttelnden Bericht: https://www.srf.ch/play/tv/reporter/video/integrative-schule—lehrpersonen-stossen-an-ihre-grenzen?urn=urn:srf:video:5c09dab8-dbfa-4ca4-ad94-23406ab704e4

[3] Sebastian Briellmann, Conradin Cramer zur integrativen Schule: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell», in: Basler Zeitung, 19.09.2023

[4] Mirjam Comtesse, Überforderte Jugendliche. Eltern schicken ihre Kids zum Lerncoach, in: Berner Zeitung, 20.09.2023.

[5] Heinz Bude (2011), Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Carl Hanser Verlag, S. 97.

 

The post Wenn private Lernstudios boomen first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/feed/ 3