Bildungsforschung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 26 Jan 2024 20:06:35 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bildungsforschung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Warum es an Grundschulen bald einen grossen Lehrer-Überschuss geben könnte https://condorcet.ch/2024/01/warum-es-an-grundschulen-bald-einen-grossen-lehrer-ueberschuss-geben-koennte/ https://condorcet.ch/2024/01/warum-es-an-grundschulen-bald-einen-grossen-lehrer-ueberschuss-geben-koennte/#comments Fri, 26 Jan 2024 20:06:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=15781

Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass in den kommenden Jahren deutlich mehr Grundschullehrer zur Verfügung stehen werden, als von der Politik berechnet. Die Forscher sehen darin eine "seltene Gelegenheit", eine zentrale Weichenstellung vorzunehmen. Sabine Menkens, Journalistin der Welt, kommentiert eine überraschende Studie der Bertelsmann-Stiftung.

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Es kommt derzeit selten vor, dass Bildungsforscher auch einmal etwas Gutes zu berichten haben. Die schlechten Schulleistungen bei gleichzeitig enormem Lehrkräftemangel bieten dafür wenig Gründe – aber: Nach einer neuen Studie der Bildungsforscher Klaus Klemm und Dirk Zorn für die Bertelsmann-Stiftung könnte der Lehrkräftemangel zumindest in der Grundschule schon bald behoben sein.

Sabine Menkens, Gastautorin und WELT-Journalistin

Entwickeln sich die Geburten weiter auf dem Niveau von 2022 sowie 2023 und beginnen weiterhin so viele Abiturienten ein Lehramtsstudium wie derzeit, könnte es schon ab dem kommenden Schuljahr erstmals einen leichten Überschuss an Grundschullehrkräften geben – der zum Ende des Jahrzehnts immer grösser wird.

Nach den Berechnungen von Klemm und Zorn dürften von 2023 bis 2035 insgesamt rund 96’250 fertig ausgebildete Lehrkräfte fürs Grundschullehramt zur Verfügung stehen. Der Bedarf an neuen Einstellungen im selben Zeitraum werde jedoch voraussichtlich nur etwas mehr als 50’000 Personen umfassen. Bis zum Jahr 2035 würden also zusammengenommen 45’800 Grundschullehrer mehr bereitstehen, als erforderlich wären, um den Unterricht abzudecken. Das sind deutlich mehr, als die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrer im vergangenen Monat veröffentlichten Prognose ermittelt hat. Sie geht den Forschern zufolge nur von einem Gesamtüberschuss von 6300 Absolventen aus.

Trendwende in der demografischen Entwicklung

Ihre Berechnungen stützen die Forscher auf eine Trendwende in der demografischen Entwicklung: Während 2021 in Deutschland noch 795’500 Kinder geboren wurden, waren es 2022 nur noch 738’800 und 2023 hochgerechnet nur noch 689’300. Diese Geburtendelle hatten die Kultusminister in ihrer Prognose noch nicht berücksichtigt. “Wir haben uns bei unseren Berechnungen auf die Prognose der Kultusminister gestützt und diese an die sinkenden Geburtenziffern in 2022 und 2023 angepasst und fortgeschrieben. Dadurch kommen wir zu einem deutlich größeren Überschuss an Grundschullehrkräften, als von der KMK errechnet”, sagt Bertelsmann-Bildungsexperte Dirk Zorn.

Die Prognosen der Kultusministerkonferenz zu Schülerzahlen und Lehrkräfteentwicklung hätten sich gegenüber der Vergangenheit zwar deutlich verbessert, so Zorn. Derzeit dauere der Prozess, bis sich veränderte Geburtenzahlen auch in einer angepassten Schülerprognose niederschlügen, aber noch deutlich zu lange. Allerdings könne es natürlich auch in Zukunft Unwägbarkeiten geben, etwa durch verstärkte Zuwanderung, so Zorn. “Wir stützen uns dabei auf die Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes.”

“Es besteht die seltene Gelegenheit, die Schulen mit den grössten Bedarfen personell deutlich besser auszustatten.”

Bildungsforscher Dirk Zorn

 

Laut den Berechnungen wird der Bedarf an Grundschullehrkräften im Jahr 2025 mit mehr als 213’000 seinen Höchststand erreichen und dann bis 2035 auf rund 180’000 abnehmen. Der Bedarf an Neueinstellungen wird demnach vor allem in den Jahren 2029 bis 2032 stark sinken, danach allerdings wieder etwas ansteigen, da mehr Lehrkräfte in den Ruhestand eintreten.

Ausgebildetes Personal wird es dann aber in ausreichender Zahl geben, wie die Prognosen darlegen. Denn offensichtlich waren die Bemühungen erfolgreich, wieder mehr Abiturienten für den Beruf des Grundschullehrers zu begeistern und auch die Studienplätze entsprechend aufzustocken. Wurden 2015 in den ersten beiden Semestern des Hauptstudiums im Primarstufenstudiengang nur 6005 Studenten gezählt, waren es 2021 schon 9255 und 2022 bereits 9947.

“An Gymnasien eher eine Überversorgung”

Zorn sieht den sich anbahnenden Lehrkräfteüberschuss an Grundschulen als Chance. “Ich hoffe, dass politisch die Gelegenheit wahrgenommen wird, gezielt in die pädagogische Qualität zu investieren – vor allem bei Schulen in herausfordernder Lage.” So könnten die zusätzlichen Lehrkräfte etwa das ab dem Schuljahr 2024/2025 geplante Startchancen-Programm verstärken, mit dem 4000 Schulen mit einem besonders hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler gefördert werden sollen. “Es besteht die seltene Gelegenheit, die Schulen mit den grössten Bedarfen personell deutlich besser auszustatten.”

Zudem könnten die zusätzlichen Lehrkräfte auch für Förderangebote im Rahmen des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz eingesetzt werden, der ab dem Schuljahr 2026/27 sukzessive in Kraft tritt, oder auch zur Verstärkung in den fünften und sechsten Klassen.

Denn in anderen Schulformen ist der Lehrermangel enorm. “Derzeit betrifft der Lehrkräftemangel an den weiterführenden Schulen vor allen Dingen die nicht-gymnasialen Schulen, während es an den Gymnasien eher eine Überversorgung gibt”, sagt Zorn.

“In Jahren, in denen Lehrkräftemangel besteht, beginnen junge Leute ein Lehramtsstudium, in der Hoffnung, dass dieser Mangel auch nach Abschluss ihres Studiums noch existiert – dabei riskieren sie, Teil eines Überangebots zu werden.”

Zitat aus der Bertelsmann-Studie

 

Die Forscher mahnen deshalb an, die Bedarfsplanung noch sehr viel akkurater zu gestalten als in der Vergangenheit: Durch sehr zeitnahe Beobachtung der Geburtenentwicklung, eine darauf abgestimmte Planung möglichst flexibler Ausbildungskapazitäten und die Bereitschaft, Phasen des personellen Überangebots für pädagogische Verbesserungen zu nutzen, anstatt ausgebildete Lehrkräfte in die Arbeitslosigkeit zu schicken.

Eines der weltweit längsten Lehramtsstudien

Abschreckende Beispiele gibt es dafür aus der Vergangenheit genügend. Auf dem Lehrkräftemarkt ist der “Schweinezyklus” genannte Wechsel zwischen Mangel und Überfluss besonders ausgeprägt – auch wegen der langen Ausbildungszeit, die mit Studium und Referendariat sieben Jahre beträgt. “In Jahren, in denen Lehrkräftemangel besteht, beginnen junge Leute ein Lehramtsstudium, in der Hoffnung, dass dieser Mangel auch nach Abschluss ihres Studiums noch existiert – dabei riskieren sie, Teil eines Überangebots zu werden”, heisst es dazu in der Studie. Umgekehrt wählten in Jahren, in denen ein Überangebot von Lehrkräften bestehe, deutlich weniger Studienberechtigte ein Lehramtsstudium – aus Furcht davor, nach dem Abschluss arbeitslos zu werden.

“Der Zyklus aus Überschuss und Mangel bei Lehrkräften ist in Deutschland auch deshalb so ausgeprägt, weil wir eines der längsten und zudem das am stärksten nach Schulformen differenzierte Lehramtsstudium weltweit haben”, so Bertelsmann-Experte Zorn. “Das erschwert es, akkurat zu steuern und flexibel zu reagieren.”

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Loblied aufs Mittelmass https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/ https://condorcet.ch/2023/12/loblied-aufs-mittelmass/#respond Tue, 19 Dec 2023 10:29:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15535

Schweizer Schülerinnen und Schüler liegen über dem internationalen Durchschnitt, im Lesen allerdings nur ganz knapp. Ein Viertel versteht einen alltäglichen Text nicht. Das sagt die PISA-Studie. Von der Bildungspolitik hätte man eine Ursachenanalyse erwartet. Doch sie redet die Resultate schön und gibt ihnen das Prädikat «gut» bis «sehr gut». Die Politik betone das Relativierende, sagt Condorcet-Autor Carl Bossard, und negiere das Unerfreuliche, den Trend nach unten in den Kulturtechniken.

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Schule und Unterricht seien ein Subsystem der Bildungspolitik; so jedenfalls sieht es der Systemtheoretiker Niklas Luhmann.[1] Steuern müsse die Politik. Seit Jahren aber sind Bildungsexperten und Bildungsreformer am Werk. Sie bestimmen den Kurs, und die Bildungspolitik rudert mit. Verstärkt nach der ersten PISA-Studie von 2000. Hier schlug ihre Stunde. Seither wurde unser Bildungslandschaft radikal reformiert und umstrukturiert.

Carl Bossard: Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Deutlicher Trend nach unten – trotz vieler Reformen

Alles sollte sich ändern. Erhofft und versprochen haben die Reformpromotoren bessere Lernleistungen unserer Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil. Nach einem leichten Anstieg wurden die Ergebnisse nach 2010 im internationalen Vergleich wieder schwächer. Es kam zu einem deutlichen Abwärtstrend in den Kulturtechniken. Seit über zehn Jahren sinken die Leistungen in den geprüften Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften kontinuierlich Und dies, obwohl wir heute zweieinhalb Mal so viel ins Bildungssystem investieren wie 1996, nämlich über 41 Milliarden Franken.[2] Weltweit wohl am meisten.

Signifikanter Anstieg schwacher Leserinnen und Leser

Das «Programme for International Student Assessement» (PISA) untersucht alle drei Jahre, wie gut 15-Jährige am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit alltagsrelevante Aufgaben in Mathematik, im Lesen und in den Naturwissenschaften lösen können. Spitzenreiter sind Jugendliche aus den asiatischen Staaten Singapur, Japan, Taiwan und Südkorea; im europäischen Raum ist es Estland. Für die Studie verantwortlich zeichnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

In der jüngsten Studie 2022 liegen die 15-​jährigen Jugendlichen in der Schweiz zwar über dem OECD-​Durchschnitt. Zufrieden sein darf man einzig mit dem Bereich Naturwissenschaft. Hier wurde der Trend nach unten gestoppt. Sorgen bereitet aber die grösser werdende Zahl lernschwächerer Schülerinnen und Schüler. Statistisch signifikant gestiegen ist der Anteil schwacher Leserinnen und Leser. 25 Prozent der geprüften Jugendlichen können nur ungenügend lesen. Einen alltagsnahen Text können sie zwar entziffern, verstehen ihn aber nicht. In Mathematik erreichen 20 Prozent die Mindestkompetenzen nicht. Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Unterschiedliche Wahrnehmungen für das Gleiche

Die Zahl benachteiligter Schülerinnen und Schüler steigt. Da stimmt doch das Prädikat von «guten» bis «sehr guten» Resultaten nicht. Die positive Einschätzung stammt von der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner; sie präsidiert die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Ob die offizielle Bildungspolitik hier nicht schönredet und sich mit dem noch schwächeren Abschneiden vergleichbarer Länder tröstet? Die Botschaft – PR-mässig orchestriert und professionell inszeniert – hört man wohl, allein es fehlt der Glaube.

Ganz anders reagiert Deutschland. Unser nördliches Nachbarland ist in Mathematik markant zurückgefallen; beim Lesen allerdings liegt es nur wenig hinter der Schweiz. Trotzdem sprechen die Medien von einem «neuen PISA-Debakel»[3] oder vom «Pisa-Schock 2»,[4] gar von einem «Scherbenhaufen».[5] Beim Rückgang der Lesefähigkeit sei es «kein Trost, dass es um sie in Österreich und der Schweiz nicht viel besser [als in Deutschland] bestellt ist», schreibt beispielsweise der FAZ-Feuilleton-Redaktor Jürgen Kaube.[6]

Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion.

Wiederkehr des ewig Gleichen

Auch bei den Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen spricht die deutsche Bildungspolitik Klartext. Sie fordert in der Primarschule ein konsequentes Hinführen auf die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. «Angesichts der veränderten Schülerschaft müssen wir mehr Zeit und Konzentration für das Erlernen der Basiskompetenzen» einsetzen, betont der Hamburger Schulsenator Ties Rabe.[7] Das brauche genügend Zeit zum Üben, fügt er gleich bei. Rabe hat Hamburgs Schulen vorangebracht. Mit seinem Postulat steht er darum nicht allein.

Nach solchen Tönen sucht man bei der Schweizer Bildungspolitik vergebens. Die offizielle Bildungspolitik flüchtet sich in schon Gehörtes und bereits Bekanntes. Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion. Mädchen hätten halt Angst vor der Mathematik, und es bräuchte mehr Fördermassnahmen sprich Geld. Vergessen geht der Blick ins Klassenzimmer und auf den Unterricht. In diesen Kern hinein zoomen die Analysen nicht. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen und den minimierten Übungszeiten, keine Zeile zu den Methoden, kaum ein Hinweis auf die zunehmend schwierigeren Arbeitsbedingungen im pädagogischen Parterre mit der anspruchsvollen Integrationsleistung. Dabei spielen Lehrerinnen und Lehrer und ihr guter, konkreter Unterricht vor Ort die Schlüsselrolle. Unterricht ist ein lokales Geschehen. Das zeigt die Forschung; doch das steht nicht im Fokus der Kommentare.

Sozioökonomische Disparitäten

Chancengleichheit sinkt

Der Zuschnitt der PISA-Studien misst und vergleicht; er zeigt Zahlen und Tendenzen. Die Ursachenanalyse muss vor Ort erfolgen. Im Grunde aber bringt der Befund von 2022 nicht viel Neues. Wir wissen es seit über zehn Jahren: Die Lernleistungen in den Basisfächern sinken. Was dabei bedrückt und vermutlich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Im Gegenteil! Die Zahl der eher schwächeren Schülerinnen und Schüler nimmt zu. Gerade sie leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn den Lehrkräften Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der heutige Unterricht über das Individualisieren stark auf selbstständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Benachteiligung gewisser Kinder

Aus der Forschung wissen wir, wie wirkungsvoll ein gut geführter und strukturierter Unterricht ist – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‚verstehender Zuwendung‘ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Gerade sozial benachteiligte Kinder seien darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Diese Problematik anzugehen, das sollte doch eine der zwingenden Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen 2022 sein. Allerdings müssten viele Bildungsreformer über den eigenen Schatten springen. Gefordert ist die Bildungspolitik. Sie muss handeln und steuern. Die Bildungsforschung weist den Weg.[8]

 

[1] Niklas Luhmann (2002), Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen/oeffentliche-bildungsausgaben.html [abgerufen: 14.12.2023]

[3] Heike Schmoll, Das neue PISA-Debakel, in: FAZ, 06.12.2023, S. 1.

[4] Uwe Ebbinghaus, Pisa-Schock 2, in: FAZ, 06.12.2023, S. 9.;

[5] Thomas Kerstan, Nachhilfe gesucht, in: DIE ZEIT, 07.12.2023, S. 1

[6] Jürgen Kaube, Kompetenz setzt Kenntnis voraus, in: FAZ, 12.12.2023, S. 9.

[7] Heike Schmoll, Das gab es noch nie, in: FAZ, 06.12.2023, S. 5.

[8] Vgl. die neueste Studie mit 130’000 empirischen Daten zum guten Unterricht: John Hattie (2023), Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of Over 2,100 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, New York: Routledge.

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“Lehrerinnen und Lehrer wählen mehr Freizeit statt mehr Arbeit” https://condorcet.ch/2023/08/lehrerinnen-und-lehrer-waehlen-mehr-freizeit-statt-mehr-arbeit/ https://condorcet.ch/2023/08/lehrerinnen-und-lehrer-waehlen-mehr-freizeit-statt-mehr-arbeit/#respond Fri, 18 Aug 2023 20:00:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=14841

Die grossen Belastungen trieben Lehrkräfte in die Flucht, sagen die Lehrerverbände – Bildungsforscher Stefan Wolter sieht die Gründe für den Lehrermangel aber woanders. Er orientiert sich an den Zahlen seiner Forschung und diese ergäben einen klaren Befund, allen Gefühlen aus der Froschperspektive zum Trotz. Wir bringen einen Artikel der Journalistin Nadja Pastega, der in der SonntagsZeitung erschienen ist.

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Es ist inzwischen ein Ritual: Jedes Jahr warnen die Lehrerverbände vor einer Gefährdung der Bildungsqualität. Diese Woche war es der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Schuld am Niedergang der Schulen sei der Lehrermangel. Mit anderen Worten: Schuld sind die Laien, die ohne Lehrerdiplom vor den Klassen stehen, um die Lücken zu füllen – denn genug Lehrpersonen mit Diplom gebe es seit längerem nicht mehr. Stimmt das? Die Antworten von Stefan Wolter, Verfasser des Schweizer Bildungsberichts.

Gastautorin Nadja Pastega, Journalistin der Sonntagszeitung

Die Bildungsqualität sei gefährdet, weil vor den Klassen Lehrpersonen ohne angemessene Qualifizierung stünden – mit dieser Nachricht suchte der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer diese Woche die Öffentlichkeit. Die Zahlen aus einzelnen Kantonen sind in der Tat eindrücklich: 1000 ‘unqualifizierte’ Lehrerinnen und Lehrer sollen im Kanton Bern derzeit angestellt sein, im Kanton Zürich 500. Dabei müsste man allerdings darauf hinweisen, dass gerade im Kanton Bern sehr viele PH-Studierende darunter sind, die nach einem grösseren Teil ihrer Ausbildung nun parallel zum Rest des Studiums in einer Primarschule unterrichten. Hinzu kommen Quereinsteiger mit einem abgeschlossenen Unistudium, zum Beispiel in Biologie, die dann Naturwissenschaften in einer Sekundarschule unterrichten. Interessant ist hier der Vergleich mit der Berufsbildung, wo Lehrpersonen der Berufskunde immer parallel zur Ausbildung schon unterrichten, ohne dass deswegen die Ausbildungsqualität leidet.

Diese Story, dass die Lehrerinnen und Lehrer davonlaufen, ist statistisch widerlegt

Die Behauptung, die Bildungsqualität der Schulen leide wegen Lehrkräften, die das ordnungsgemässe Lehrerdiplom nicht hätten, stimmt so pauschal sicher nicht. Es wird dann zum Problem, wenn Leute vor eine Schulklasse gestellt werden, die die Schulsprache kaum beherrschen oder im Umgang mit Kindern Mühe haben.

Der Mangel an Personal in den Schulzimmern wird auch immer damit begründet, dass viele ausgebildete Lehrkräfte den Beruf rasch wieder verlassen. Fakt ist, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass in keinem anderen Beruf eine so hohe Jobtreue besteht wie bei den Lehrerinnen und Lehrern. Diese Story, dass die Lehrerinnen und Lehrer davonlaufen, ist statistisch widerlegt.

“Wir müssen heute zwei Lehrpersonen ausbilden, um ein 100-Prozent-Pensum im Klassenzimmer abzudecken.”

Stefan Wolter

Woran liegt der Lehrermangel dann? Halt doch an der Teilzeit. Man muss heute in der Schweiz zwei Lehrpersonen ausbilden, um ein 100-Prozent-Pensum im Klassenzimmer abzudecken. Im Kanton Neuenburg arbeitet beispielsweise jede fünfte Lehrkraft maximal 20 Prozent. Da fragt sich nicht nur, woher die Lehrpersonen kommen sollen, sondern auch, wie man so noch eine Schule organisieren soll. Die Kantone Zürich und Genf haben gezeigt, dass Mindestpensen ein taugliches Mittel sind. Lehrpersonen sind deswegen nicht abgesprungen.

Verständlicherweise kommt bei Personalmangel die Forderung nach höheren Löhnen. Nur, wie in anderen Berufen mit hohen Durchschnittslöhnen, ist zu befürchten, dass wenn die Saläre raufgehen, noch mehr Lehrpersonen Teilzeit arbeiten werden. Bei diesen Löhnen tauschen viele Lehrerinnen und Lehrer mehr Geld gegen mehr Freizeit ein. Oder anders gesagt: Sie wählen bei einer Lohnerhöhung lieber mehr Freizeit statt mehr Arbeit.»

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“Eltern sehen sich nicht in der Verantwortung”: Warum die Schule in Deutschland immer schlechter funktioniert https://condorcet.ch/2023/08/eltern-sehen-sich-nicht-in-der-verantwortung-warum-die-schule-in-deutschland-immer-schlechter-funktioniert/ https://condorcet.ch/2023/08/eltern-sehen-sich-nicht-in-der-verantwortung-warum-die-schule-in-deutschland-immer-schlechter-funktioniert/#respond Thu, 10 Aug 2023 06:03:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=14772

Schüler haben grosse Defizite in den Fächern Deutsch und Mathematik. Sie können sich schwer konzentrieren und sind oft undiszipliniert. Was würde helfen? Susanne Gaschke analysiert in der NZZ die Bildungsprobleme Deutschlands.

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“Ich bin robust”, sagt die Grundschullehrerin aus Berlin, “aber inzwischen gibt es Klassen, bei denen ich nicht mehr weiterweiss. Die Kinder schreien nur noch. Wenn irgendetwas nicht so ist, wie sie wollen, dann schreien sie. Keine Worte oder Sätze. Sie schreien einfach.”

Gastautorin Susanne Gaschke

Wenn sie einzelne – besonders arabisch- oder türkischstämmige – Schüler ermahne, werde ihr von diesen häufig entgegengeschleudert, sie sei eine «Rassistin», sagt die 55-Jährige, die namentlich nicht genannt werden möchte – “von Drittklässlern!”.

Ein Schulleiter aus Nordrhein-Westfalen erzählt, dass zur Abschlussfeier vor den Sommerferien mehrere Väter im Muskelshirt erschienen seien: “Ein Mann telefonierte, während der Chor sang. Eine Mutter ist drei Mal zum Rauchen hinausgelaufen. Mehrere Eltern kamen zu spät. Ich musste meine sechsminütige Rede vier Mal unterbrechen und um Ruhe bitten.”

Künftig werde man auf die Einladungen zur feierlichen Verabschiedung der Absolventen den Satz “Wir bitten um festliche Kleidung” drucken – und einen genauen Ablaufplan, der die Eltern darüber in Kenntnis setze, wie lange jeder einzelne Programmpunkt dauere und sie mithin ohne Zigarette oder Handy auskommen müssten. “Es hilft ja nichts”, sagt der Schulleiter: “Wir können nur mit dem arbeiten, was wir haben.”

Die Disziplinprobleme in ihren Klassen seien oft so massiv, dass sie einigermassen zufrieden sei, wenn sie in einer 45-minütigen Schulstunde auf 20 Minuten effektive Unterrichtszeit komme, sagt die Lehrerin einer Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein: “Dann bin ich gut.”

Seit dem «Pisa-Schock» ist wenig besser geworden

Drei Schularten, drei Bundesländer, sicher kein vollständiges Bild. Lehrer an Gymnasien, gerade im ländlichen Raum, berichten immer noch von motivierten Schülern, engagierten Eltern, heiler Welt. Doch auch sie beschreiben ähnliche Tendenzen wie ihre Kollegen von den stärker herausgeforderten Schularten: die kürzere Aufmerksamkeitsspanne der Jugendlichen; das Fehlen literarischer oder musischer Vorbildung; die unguten Einflüsse von Tiktok oder Instagram auf das Sozialverhalten der Schüler; die hohe Klagebereitschaft mancher Eltern, wenn sie mit der Benotung ihrer Kinder nicht einverstanden seien. Dabei korrigiere man die Noten sowieso schon nach oben, sagen Lehrer: Man könne ja nicht nur Fünfen und Sechsen verteilen.

Die Befunde der empirischen Bildungsforschung passen zu diesen Impressionen. Seit der «Pisa-Schock» des Jahres 2000 den Deutschen die Augen dafür öffnete, dass ihre Schulen im internationalen Vergleich bei weitem nicht so leistungsstark waren, wie es zum Selbstbild des Landes gehörte, ist sehr viel ausprobiert worden: diverse neue Schreiblernmethoden, Leseförderprogramme, längere Unterrichtstage, schnellere Wege zum Abitur, “Schulen ans Netz”.

 

 

Trotzdem verschärfen sich einige zentrale Probleme weiter. Die Lesekompetenz der deutschen Grundschüler, also die unerlässliche Voraussetzung für jeden weiteren schulischen Erfolg, geht seit Jahren zurück, besonders stark seit 2016. Das ist das Ergebnis der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) 2023. Die Studie misst seit 20 Jahren die Lesekompetenzen von Grundschülern in 65 teilnehmenden Staaten. Deutschland liegt derzeit im Mittelfeld, weit hinter den Champions Singapur und Hongkong, aber auch hinter Bulgarien, Polen und England.

 

Die Spitzengruppe der sehr guten Leser hat sich in Deutschland verkleinert. 25 Prozent der deutschen Viertklässler lesen nicht so, dass sie einen kurzen Text verstehen und adäquat wiedergeben könnten. Ebenso wenig beherrschen die Zehnjährigen die korrekte Rechtschreibung – was auch inzwischen überwundenen didaktischen Irrwegen wie der Mode-Methode “Lesen durch Schreiben” geschuldet ist, die gerade schwache Schüler benachteiligte.

Im Fach Mathematik sind 22 Prozent der Schüler laut Mint-Nachwuchsbarometer 2023 «gefährdet» und verfügen kaum über das nötigste Verständnis für Zahlen und Rechenarten. Gegenüber 2011 ist das fast eine Verdoppelung der Risikogruppe. Obwohl Mädchen generell bei Noten und Schulabschlüssen vor den Jungen landen, sind sie in Mathematik deutlich im Hintertreffen.

Für zukunftsträchtige Branchen verschärft das Desinteresse der jungen Leute den Fachkräftemangel.

Rund 15 Lernwochen liegen sie am Ende der vierten Klasse zurück – das überschattet ihre gesamte schulische Entwicklung. Auch deshalb dürfte das Interesse an Mint-Studienfächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) gesunken sein, es gibt viele Studienabbrecher. Für zukunftsträchtige Branchen verschärft das Desinteresse der jungen Leute den Fachkräftemangel.

Der Lehrerberuf selbst wird trotz guter Bezahlung immer unbeliebter. Die Zahl der Berufsanfänger hat sich sogar beim halbwegs stabilen Gymnasium in den vergangenen zehn Jahren halbiert. Insgesamt fehlten 40’000 Lehrer, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Die Bundesländer als Dienstherren behelfen sich mit Quereinsteigern, die zum Teil nützliche Praxis aus anderen Berufen mitbringen, zum Teil aber auch alles andere sind als pädagogische Naturtalente.

Bundesweit sind 10 Prozent des Lehrpersonals Quereinsteiger, in einzelnen Bundesländern auch mehr. Fachleute kritisieren, dass gerade an den weichenstellenden Grundschulen und an den Gemeinschafts- und Förderschulen besonders viele Quereinsteiger mit pädagogischer Kurzausbildung tätig seien.

Sechs Stunden Deutsch, fünf Stunden Mathematik

An fast jeder zehnten Grundschule fehlt überdies ein Schulleiter. Jeder vierte Grundschulrektor würde laut “Schulleitungsmonitor Deutschland” (2023) der Wübben-Stiftung Bildung gern seinen Posten verlassen. Überbordende bürokratische Anforderungen, schwierige Beziehungen zur Elternschaft und geringe finanzielle Anreize machen die Funktion unattraktiv.

Das bleibt nicht folgenlos, denn die Qualität des Unterrichts hängt ganz wesentlich auch von guten Schulleitungen ab ­– und Unterrichtsqualität ist nach den Erkenntnissen von Bildungsforschern noch entscheidender für den Lernerfolg von Schülern als die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden.

Die Lesekompetenz der deutschen Grundschüler, also die unerlässliche Voraussetzung für jeden weiteren schulischen Erfolg, geht seit Jahren zurück.

Der Faktor Zeit spielt allerdings auch eine wichtige Rolle. In Deutschland wird an Grundschulen laut Iglu-Studie 141 Minuten lesebezogener Unterricht pro Woche erteilt, im EU-Durchschnitt sind es 194 Minuten. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) empfiehlt denn auch für die Zukunft sechs Wochenstunden Deutsch- und fünf Wochenstunden Mathematikunterricht. Das ist sicherlich eine vernünftige Idee – wenn sich denn die Lehrer für dieses Ziel finden.

In anderen Feldern, in denen die Kommission Vorschläge macht, wird deutlich, wie einseitig dieses Gremium mit Theoretikern besetzt ist und wie sehr darin Schulpraktiker fehlen. Einerseits fordert dessen Co-Vorsitzender Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel, die Länder müssten angesichts der Integrationsdefizite vieler Kinder einen verbindlichen Sprachstandstest im Alter von viereinhalb Jahren mit einer verbindlichen vorschulischen Förderung kombinieren.

Kinder können sich nicht selbst an- und ausziehen

Wie man die Teilnahme am Test und vor allem einen verpflichtenden Kita-Besuch politisch durchsetzt, ist andererseits eine völlig offene Frage.

Die bereits zitierte Berliner Grundschullehrerin beschreibt die fehlende Kooperationswilligkeit mancher arabischstämmiger Mütter: “Vor allem verwöhnen sie ihre Söhne viel zu sehr, geben sie natürlich nicht in die Kita, fahren sie bis zum fünften Lebensjahr im Buggy herum, füttern sie mit Süssigkeiten und nehmen ihnen jeden Handgriff ab.”

Die Folge: Manche Erst- und Zweitklässler müsse sie für den Sportunterricht an- und ausziehen, allein seien die Kinder dazu nicht in der Lage. “Und zu hoffen, dass in diesen Familien mal ein Bilderbuch angeschaut oder eine Geschichte vorgelesen wird, ist völlig utopisch.” Häufig seien die Eltern auch für Gespräche über ihre Kinder kaum zu erreichen.

Wenn die Schule die Erziehung für diese migrantischen Milieus vollständig allein übernehmen muss, braucht sie eine ganz andere personelle Ausstattung.

Der Psychologe Ahmad Mansour, ein Fachmann für Integrationsprobleme und kulturelle Differenzen, sagt dazu, in den fraglichen Kulturen werde die Schule komplett als staatliche Aufgabe begriffen: “Die Eltern sehen sich da gar nicht in der Verantwortung.”

Man erreiche diese Klientel am besten, wenn man allgemeinere Veranstaltungen anbiete, zum Beispiel zur gesunden Ernährung oder zur Wahl der richtigen weiterführenden Schule. “Gespräche müssen am Kindeswohl anknüpfen, nicht immer nur an Konflikten.” Das verpflichtende Kita-Jahr sei der einzige Weg, die Kinder schulfähig zu machen.

Wenn aber die Schule die Erziehung für diese migrantischen Milieus vollständig allein übernehmen muss, braucht sie eine ganz andere personelle Ausstattung – und andere Sanktionsmöglichkeiten als etwa den Ausschluss vom Unterricht.

Digitalisierung kann negative Wirkung haben

Das alles könnten der KMK-Berater Köller und seine Mitautoren wissen. Trotzdem lesen sich ihre Empfehlungen zur “Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen” weltfremd: Von “Verabredung und gemeinsamer Implementation von schulischen Regeln, mit dem Ziel der Sicherstellung von Normkohärenz und der Etablierung einer positiven Peerkultur” ist da die Rede. Oder von “Massnahmen zur Förderung der Selbstregulation, des Wohlbefindens und der sozialen Integration” sowie “gezielter Unterstützung positiver Peernetzwerke in Unterricht und Ganztag”. Für Lehrer, die mühsam versuchen, wenigstens 20 Minuten pro Schulstunde wirklich zu unterrichten, muss das wie Hohn klingen.

Beim Thema Digitalisierung schleicht sich ein ähnlich ideologischer Unterton ein. Dabei hat beispielsweise das schwedische Karolinska-Institut jüngst in einer umfangreichen internationalen Meta-Studie dargelegt, dass “digitale Werkzeuge” ausgesprochen negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben, wenn sie im Unterricht zu früh eingesetzt werden. Ausserdem benachteiligen sie gerade Kinder aus bildungsfernen Familien. Trotz solchen Erkenntnissen empfiehlt die KMK-Kommission die Arbeit mit Bildschirmmedien schon in der Kita – und «Informatikinhalte» bereits im Grundschulunterricht. Für das Leben in der “digitalen Welt” sei das erforderlich.

“Es geht dabei eher um ökonomische Interessen und eine gewisse Zeitgeisthörigkeit der Politik”, sagt Karl-Heinz Dammer, Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er hat im Auftrag des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen ein Gutachten erstellt, das sich für die Digitalisierungsstrategien deutscher Kultusminister geradezu vernichtend ausnimmt.

Lesen lernt man mit Büchern

Demnach ist die beste Vorbereitung auf ein Leben in der “digitalen Welt”», gut lesen und schreiben zu können – egal, ob es um Informationsbeschaffung oder um das Programmieren von Apps geht. Das Lesen selbst lernen Kinder offenbar besser analog als digital. Aus zahlreichen Studien der Stiftung Lesen könnte auch in Deutschland bekannt sein, welche zentrale Rolle dabei das Elternhaus spielt.

Kinder, die mit Büchern aufwachsen, denen regelmässig vorgelesen wird und die ihre Eltern selbst zum Vergnügen lesen sehen, haben es viel leichter als Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Wenn aber die Familien mit einem guten Leseklima rar sind, müssen Kita und Schule in dieser Hinsicht deutlich mehr tun.

“Was auch immer man unter der ‘digitalen Welt’ verstehen mag: Die Kompetenzen, um in ihr zu bestehen, erwirbt man zunächst analog.”

Karl-Heinz Dammer, Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg

 

Die Leseforschung hat klare Erkenntnisse dazu, was hilft: Schon in der Kita müssen gemeinsam Bilderbücher betrachtet und es muss vorgelesen werden. Bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache und bei Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen ist intensive Wortschatzarbeit nötig: Jede Handlung – “Wir decken den Tisch, das ist der Teller, das ist der Becher” – muss sprachlich begleitet werden.

Diktate sind notwendig

In der Grundschule muss laut und bisweilen auch im Chor gelesen werden. Verbundene Handschrift und das Abschreiben von Texten fördern die Sprachsouveränität. Diktate sind zur Übung nötig.

Der Stadtstaat Hamburg, der in der günstigen Lage ist, zugleich Schulträger, Schulaufsicht und Kultusbehörde in einem zu sein, hat mit einer intensiven Leseförderung gute Ergebnisse erzielt und ist im bundesweiten Ranking weit nach oben geklettert. Zum dort verwendeten Instrumentenkasten gehören unter anderem sogenannte “Lesebänder” – 20 Minuten an jedem Schultag, in denen, unabhängig vom Fach, laut gelesen wird.

Schulen, die ihre Lage verbessern wollen, greifen jetzt auch in anderen Bundesländern auf das Hamburger Modell zurück. “Das ist der richtige Weg”, sagt Karl-Heinz Dammer: “Was auch immer man unter der ‘digitalen Welt’ verstehen mag: Die Kompetenzen, um in ihr zu bestehen, erwirbt man zunächst analog.”

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Resilient sein – aber gegen was? https://condorcet.ch/2023/05/resilient-sein-aber-gegen-was/ https://condorcet.ch/2023/05/resilient-sein-aber-gegen-was/#comments Sat, 27 May 2023 06:48:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=14115

Es gibt Begriffe, die kommen und gehen. Hell leuchten sie am Wörterhimmel und verglühen bald wieder: flinke Modeparolen mit kurzer Karriere. Neu aufgetaucht ist der Ausdruck der Resilienz – als sprachlicher Reflex auf aktuelle Krisen? Ein Klärungsversuch von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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  1. Resilienz ist in vieler Munde; man hört das Wort bald überall: Unsere Kinder sollten in der Schule resilient werden, und wir Erwachsenen müssen es gegen Fake-News sein. Von jeder Fussballmannschaft wird Resilienz gegen emotionalen Stress aus Rückschlägen verlangt. Selbstverständlich haben auch unsere Schweizer Seen im Wandel des Ökosystems Resilienz zu entwickeln.(I) Ebenso zwingend ist natürlich die finanzielle Resilienz des Staates!(II) “Resilienz wird zur Kernkompetenz”, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ.(III) Und dass es Resilienz-Trainerinnen und eine universitäre Resilienzforschung gibt, überrascht wohl niemanden – dies im “Zeitalter der Resilienz”, wie Jeremy Rifkins Buch von 2022 heisst – mit dem Untertitel “Leben neu denken auf einer wilden Erde”.

Resilienz als seelische Widerstandskraft

Widerstandsfähig werden und innere Stärken entwickeln, sagte man früher; resilient sein heisst das heute. Doch was bedeutet der Begriff konkret? Am leichtesten lässt er sich über die Physik oder über Werkstoffe erklären: Es ist die Fähigkeit von Materialien, nach Verformungen und Deformationen wieder in die ursprüngliche Form zurückzukehren, wie das beispielweise ein Gummi tut. Das lateinische Wort “resilire” heisst so viel wie “abprallen” oder “zurückspringen” in den Ursprungszustand.

Condorcet-Autor Karl Bossard

Übertragen bedeutet Resilienz seelische Widerstandskraft: Es ist die Fähigkeit eines Individuums, Krisen und persönliche Rückschläge so zu bewältigen, dass es daran nicht zerbricht, sondern daraus vielleicht sogar gestärkt hervorgeht – durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen. Es ist eine Art psychischer Robustheit oder der Glaube an die eigene Stärke und daran, dass ich eine bestimmte Situation selber bewältigen und lösen kann. Die Forschung spricht von Selbstwirksamkeit.

Literarische Vorbilder

Wir kennen viele solcher Geschichten und Schicksale von resilienten Menschen; sie haben Schweres erlebt und sind daran doch nicht zerbrochen. Zu ihnen gehört beispielsweise der österreichische Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl (1905-1997). Er überstand vier Konzentrationslager, darunter Auschwitz. Bekannt geworden ist er u.a. durch sein Buch “… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager”. Nicht umsonst schreibt der deutsche Soziologe Heinz Bude vielen Personen, die einen Krieg durchgestanden haben, eine hohe Resilienz zu.(IV) Oder eine “Trotzmacht des Geistes”, wie Frankl diese Widerstandskraft gedeutet hat.

Aus der Literatur kennen wir Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, Erich Kästners Emil oder Oliver Twist bei Charles Dickens. Es sind widerstandsfähige junge Menschen – darum Vorbild vieler Generationen. Auch die meisten Märchen sind Resilienz-Geschichten, so Aschenputtel und die Bremer Stadtmusikanten. Oder die biblische Erzählung von Josef. Seine Brüder verkauften ihn als Sklaven nach Ägypten; dort stieg er am Hof des Pharaos zum Minister auf. Er bewältigte sein bitteres Los.

Beziehung als Motor der individuellen Entwicklung

Was aber macht Menschen widerstandsfähig oder eben resilient? Das interessierte auch die Wissenschaft. In den 1950er-Jahren starteten die US-amerikanische Psychologin Emmy Werner und ihr Team auf einer hawaiianischen Insel eine Langzeitstudie. Während vierzig Jahren untersuchten sie gegen 700 Kinder eines Jahrgangs und begleiteten sie ins Erwachsenenalter. Ein grosser Teil von ihnen hat in der Jugend bittere Sorgen erlebt, etwa einen Elternteil oder eine wichtige Bezugsperson verloren oder auch schwere Krankheiten in der Familie durchgemacht. Rund ein Drittel der Risikokinder führte trotz schlechter Startchancen ein gutes und erfülltes Leben.

Rund ein Drittel der Risikokinder führte trotz schlechter Startchancen ein gutes und erfülltes Leben.

Woran das gelegen hat? Als Kinder hatten diese Erwachsenen feste Bezugspersonen. Das war der entscheidende Faktor. Die stabilen sozialen Kontakte vermittelten ihnen Sicherheit und Vertrauen und förderten ihre Autonomie. Das mussten nicht die Eltern sein; es konnte auch die Lehrerin oder der Trainer im Sportverein sein. Beziehung, so das Fazit der Studie, ist der Motor der individuellen Entwicklung.

Genau das bestätigt auch die heutige Bindungsforschung. Die Qualität der Beziehungen zu primären Bezugsfiguren sei einer der stärksten Prädiktoren für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern, heisst es. “Eine sichere, bindungsartige Beziehung [wirkt] allen bisherigen Erkenntnissen zufolge entwicklungsfördernd.”(V) Wie grundlegend diese Beziehungen im Unterricht sind, zeigt auch John Hatties grosse Analyse: In der guten Lehrer-Schüler-Beziehung liegt einer der stärksten schulischen Wirkfaktoren. Kinder können am Du des pädagogischen Gegenübers, auch an seinem Widerstand wachsen und stark werden – und so Resilienz erfahren.

Für die Schaffung von Resilienz gibt es keine Algorithmen

Ein Imperativ bricht sich Bahn: die forcierte Forderung nach Resilienz. Vielleicht haben die gegenwärtigen Krisen von Corona-Pandemie, Ukrainekrieg und Klimawandel, von Finanzen und Lieferketten das Wort so aktuell werden lassen. Es beinhaltet die Fähigkeit, Schock- und Stressereignissen zu widerstehen und sich in Zeiten des radikalen Wandels durch eigene Veränderung zu behaupten.

Doch für die Schaffung von Resilienz gibt es keine Algorithmen. Selbst der Begriff ist unklar. Nur eines weiss man recht genau: Für die spätere seelische Widerstandkraft sind Bindungen wichtig. Menschliche Entwicklung vollzieht sich ganz wesentlich im Kontext von Beziehungen. Das gilt insbesondere für die frühe und mittlere Kindheit. In diesem Lebenszyklus entwickeln sich Bindungen; die Abhängigkeit von Beziehungen ist hier am grössten. Ihnen ist Sorge zu tragen, wenn Resilienz mehr als ein flinkes Modewort sein will.

 

 

(I) Seen im Wandel. Flyer der Tagung „Vereinigung der kantonalen Fachleute für Gewässerbiologie und -chemie“ vom 14./15.6.2022 in Romanshorn.

(II) Hans-Rudolf Merz/Kaspar Villiger, Die finanzielle Resilienz des Staates zahlt sich aus, in: NZZ, 02,12.2021, S. 18

(III) Horst Wildemann, Resilienz wird zur Kernkompetenz, in: FAZ, 16.05.2022, S. 18

(IV) Elena Witzeck, Warum seid ihr so enttäuscht?, in: FAZ, 24.03.2013.

(V) Henri Julius (2021): Bindungsgeleitete Interventionen. Das CARE-Programm. Msc. unpubl., S. 10.

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Vorbild Finnland? Die Wahrheit über das einst beste Schulsystem der Welt https://condorcet.ch/2023/03/vorbild-finnland-die-wahrheit-ueber-das-einst-beste-schulsystem-der-welt/ https://condorcet.ch/2023/03/vorbild-finnland-die-wahrheit-ueber-das-einst-beste-schulsystem-der-welt/#respond Sun, 12 Mar 2023 13:33:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=13414

Finnische Schulen waren die besten der Welt. Ihre Schüler landeten in internationalen Vergleichen ganz oben. Inzwischen jedoch werden sie seit 20 Jahren kontinuierlich schlechter. Experten erkennen vor allem zwei Gründe – und haben eine Warnung für Deutschland parat. Tobias Kaiser, Journalist der Zeitung "Die Welt", berichtet über einen phänomenalen Abstieg.

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Es gibt Befunde, die können Politiker kaum beschönigen. „Wir sind nicht länger das Land mit der besten Bildung. Unsere jungen Menschen sind nicht mehr die schlausten.“ Mit diesen Worten kommentierte Anita Lehikoinen, Staatssekretärin im finnischen Bildungsministerium, die Befunde einer Studie ihres Ministeriums. Mit dem Eingeständnis hat die Politikerin in ihrem Land eine hitzige nationale Debatte über die Probleme an finnischen Schulen befeuert.

Für deutsche Beobachter kommt die Diskussion überraschend. Hierzulande und anderswo in der Welt gilt das finnische Schulsystem immer noch als eines der besten weltweit, wenn nicht gar als das Beste. Dieser Nimbus rührt von den exzellenten Ergebnissen finnischer Schüler im sogenannten Pisa-Vergleich der OECD.

Vom Pisa-Musterknaben zum gefallenen Engel…

Die erste Veröffentlichung des internationalen Vergleichs Ende 2001 sorgte in Deutschland wegen der mediokren Ergebnisse deutscher Schüler für heftige Diskussionen und in einzelnen Bundesländern zu Reformen. Hierzulande wie anderswo galt Finnland beim Pisa-Vergleich als „Testsieger“. Die Schüler dort erzielten im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Ergebnisse beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Bildungsexperten aus aller Welt pilgerten in den Folgejahren nach Finnland, um vor Ort herauszufinden, warum die finnischen Schulen so erfolgreich sind.

Das Land leiste sich „im hohen Maße eine Vergeudung menschlicher Potenziale“, kritisiert ein renommierter Bildungsforscher

Die Bildungsrendite der Mittelschicht steht auf dem Spiel

Dabei gelten die heimischen Schulen in Finnland selbst trotz allen Stolzes über das globale Renommee inzwischen als Problemfall. „Die Leistungen des finnischen Schulsystems verfallen seit 20 Jahren und der Abstieg hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt“, sagt Jaakko Salo, Leiter des Bereichs Bildungspolitik bei der finnischen Lehrergewerkschaft OAJ. „Das sieht man deutlich in den nationalen Evaluationen, aber auch im internationalen Pisa-Vergleich. Egal ob Lesen, Schreiben oder Mathematik, das Bild ist überall das gleiche.“

Dass Gewerkschafter die Bedingungen an Schulen beklagen, ist erwartbar. Aber internationale Experten bestätigen den Befund. „Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich. Diesen Trend beobachten wir in den internationalen Vergleichsdaten seit einigen Jahren und er betrifft alle Leistungsbereiche“, sagt Andreas Schleicher. Der Bildungsforscher koordiniert die Pisa-Studie, eine exponierte Stellung, die ihm den Beinamen Mister Pisa eingebracht hat.

“Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich.”

Andreas Schleicher, Bildungsforscher

 

Das finnische Schulsystem ist im internationalen Pisa-Vergleich immer noch gut, aber es ist nicht mehr exzellent. Auch das Leistungsbarometer der OECD für Finnland illustriert, dass die einstigen Vorzeige-Schulen mit Problemen kämpfen. Das durchschnittliche Kompetenzniveau in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften sinkt demnach seit der Jahrtausendwende und der Anteil leistungsstarker Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften nahm in den vergangenen zwanzig Jahren stark ab.

Der Anteil leistungsschwacher Schüler steigt dagegen kontinuierlich. Finnische Studien sprechen davon, dass finnische Schüler in den vergangenen Jahrzehnten das Leistungsäquivalent von ein bis zwei Schuljahren verloren haben.

Blick in den Rückspiegel

„Die finnischen Pisa-Ergebnisse, die die ganze Welt beeindruckt haben, waren tatsächlich ein Blick in den Rückspiegel und haben von Anfang an ein falsches Bild vom Zustand des Schulsystems gezeichnet“, sagt Bildungsexperte Salo. „Als die tollen Pisa-Ergebnisse damals direkt nach der Jahrtausendwende veröffentlicht wurden, befand sich das finnische Schulsystem bereits im Abstieg.“

Zur am besten ausgebildeten Altersgruppe zählen laut Studie Finnen, die im Jahr 1978 geboren wurden, Mitte der 1990er-Jahre die Schule abgeschlossen haben und heute 44 oder 45 Jahre alt sind. Nachfolgende Altersgruppen hätten dieses Bildungsniveau nie wieder erreicht, heißt es in der Untersuchung.

Die Ursachen für die Malaise des finnischen Bildungssystems werden unter Experten schon länger diskutiert. „Migration und die dadurch zunehmende Vielfalt der Schülerschaft ist ganz klar ein Grund für den Leistungsabfall des finnischen Schulsystems“, sagt OECD-Koordinator Schleicher.

Experte: Migration hat Schulsystem überrascht

Die nordischen Staaten seien von der Migration nach 2015 noch stärker betroffen gewesen als Deutschland. „Die Flüchtlingsmigration hat das finnische Schulsystem überrascht“, sagt Schleicher. „Es hatte zum einen nicht die nötigen Kapazitäten, zum anderen kamen dazu Sprachprobleme und der andere kulturelle Hintergrund. Das hat Finnland kalt erwischt.“

Diese Entwicklung müsse auch Deutschland ernst nehmen, sagt der Bildungsforscher. Bei der schulischen Integration von Migrantenkindern gilt Deutschland als schlecht aufgestellt. Deutsche Bildungspolitiker könnten von Kanada, Norwegen und anderen Ländern mit guten Erfahrungen lernen, sagt Schleicher.

Er warnt allerdings vor überzogenen Erwartungen. „Schweden war früher mal ein Vorbild, aber dort sind die Schulen von Migranten geradezu überrannt worden und das Bildungssystem kommt nicht mehr mit.“ Vor dieser Herausforderung stehe Deutschland auch. „Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig; ich kenne kein Land, das damit besonders gut umgehen kann“, sagt Schleicher. Lediglich Kanada leiste bei der Bildungsintegration fantastische Arbeit.

“Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig.”

Andreas Schleicher, Bildungsforscher

 

Eine andere Ursache der finnischen Misere liefert Bildungspolitikern weltweit eine weitere Warnung: Eine ambitionierte und überstürzte Reform der finnischen Lehrpläne hat die Lehrer verunsichert und vielfach überfordert. Das Bildungsministerium hat vor einigen Jahren eine radikale Wende vollzogen vom Unterricht mit festen Lehrinhalten hin zum Lernen, das sich an Phänomenen orientiert. Dabei werden nicht mehr einzelne Schulfächer unterrichtet. Stattdessen unterrichten die Lehrer Themenkomplexe, die aus unterschiedlichen Fachrichtungen besprochen werden.

„Auf das an Phänomenen orientierte Lernen war das finnische Schulsystem nicht richtig vorbereitet“, sagt OECD-Experte Schleicher. Inzwischen werde gegengesteuert und die Lehrpläne orientierten sich wieder mehr am traditionellen Lernen.

Die Chancengleichheit in finnischen Klassenzimmern ist zurückgegangen.

Die OECD-Daten zeigen auch, dass die Chancengleichheit im finnischen Schulsystem in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist – ein Befund, der in Finnland besonders schmerzen dürfte. Die Fähigkeit, auch Kinder mit schlechten Bildungsvoraussetzungen so zu fördern, dass sie zu privilegierteren Kindern aufschließen können, galt immer als eine der größten Leistungen der finnischen Schulen. Auch das hat sich geändert.

Ein Grund: Weniger Geld für Bildung. In der finnischen Banken- und Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahre und in den Jahren danach hat die finnische Regierung die Bildungsausgaben stark gekürzt. „Die Bildungsausgaben sind um ein Viertel gefallen und haben nie wieder das vorangegangene Niveau erreicht“, sagt Regierungsberater Aleksi Kalenius.

Die Folge: Schulen und Gemeinden fehlt Geld für teure individuelle Förderung. „Jetzt haben wir einige Kinder, die aus der Grundschule kommen und weder schreiben, lesen noch rechnen können“, sagt OAJ-Experte Salo. „Das war noch vor 15 Jahren undenkbar.“

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Einfluss der Lehrmittel auf den Schulerfolg – Teil 1 https://condorcet.ch/2020/11/einfluss-der-lehrmittel-auf-den-schulerfolg-teil-1/ https://condorcet.ch/2020/11/einfluss-der-lehrmittel-auf-den-schulerfolg-teil-1/#respond Wed, 04 Nov 2020 15:28:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=6861

Würden bessere Schulbücher helfen, um die schlechten schulischen Leistungen der britischen Schulabgänger in Mathematik zu verbessern? Diese Frage untersuchten Wissenschaftler des National Institute of Economic and Social Research in London mit einer Studie unter dem Titel „Die Grundlagen der Arithmetik legen“, indem sie mit Hilfe von Lehrern und Schulinspektoren in den 1990er Jahren die britischen Primarschulbücher in Mathematik mit denjenigen auf dem Kontinent (Deutschland und Schweiz) verglichen. Der Vergleich führte zu erstaunlichen Resultaten, die heute wieder aktuell sind. Wir veröffentlichen hier den 1. Teil von Peter Aebersolds umfangreicher Recherche. Ein Schelm, wer an heutige Entwicklungen denkt!

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  1. Schülerleistungen und Lehrmittel

Ausgangssituation für die Untersuchung war das tiefe Niveau im britischen Mathematikunterricht. Das schlechte Abschneiden der britischen Kinder war beim International Assessment of Educational Progress (IAEP) in den Jahren 1964, 1981 und 1991 offenkundig geworden Aus diesem Grund konnten im Unterschied zum Kontinent zu wenig genügend ausgebildete und geeignete Schulabgänger für einen technischen Lehrberuf gefunden werden. Schweizer Schüler waren am Ende der Primarschule den britischen um 1 bis 2 Jahre voraus, obschon die britischen Kinder 18 Monate länger beschult worden waren.

«Zählen und Rechnen ist der Grund aller Ordnung im Kopfe.» Johann Heinrich Pestalozzi

Man forderte einen verbesserten Mathematikunterricht: „Zurück zu den Grundlagen“ und „vermehrter Ganzklassenunterricht“ wurden als Mittel zur Hebung der Leistungen in Grossbritannien empfohlen. Aber die Probleme waren zu komplex, um sie mit einzelnen Massnahmen beheben zu können.

Es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.

Es brauchte eine detaillierte Analyse beim Vergleich zwischen dem englischen und kontinentalen Mathematikunterricht, die mit dieser Studie unternommen wurde. Untersucht wurden Lehrmethoden und Klassenraumorganisation, Inhalt und Struktur der Lektionen, die Mathematik im Lehrplan, usw.  So wurde das Ganzklassensetting zum Gegenstand der wissenschaftlicher Untersuchung: Die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrpersonen und Schülern, die Interaktionen der Schüler bei der gemeinsamen Erarbeitung des Lernstoffs und die Grundlagen dieser Lehrmethoden. Das führte bereits zu wesentlichen, aber noch nicht ausreichenden Verbesserungen. Deshalb wurden auch die Lehrmittel Gegenstand der Forschung und es zeigte sich, dass wesentliche Unterschiede im Aufbau und Inhalt, aber auch der Verbindlichkeit von Lehrmitteln in Grossbritannien und dem Kontinent bestanden.

Die Schüler mussten während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent.

Die Rolle der Lehrbücher in Grossbritannien und auf dem Kontinent

Die britischen Lehrbücher brauchten, im Gegensatz zum Kontinent, keine offizielle Genehmigung. Auf dem Kontinent stützte man sich mehr auf die offiziellen Lehrbücher, die sich auf eine bestimmte Altersgruppe ausrichteten und gerade in der Schweiz unter Mitarbeit von erfahrenen Lehrpersonen ausgearbeitet und begutachtet wurden. Britische Lehrer und Pädagogen gingen jedoch davon aus, dass Lehrmittel lediglich die Grundlage lieferten, die jeweils auf die speziellen Bedürfnissen jeder einzelnen Klasse und sogar jedes einzelnen Schülers ausgerichtet werden sollten. Von jeder Schule in England wurde erwartet, dass  sie ihr eigenes Arbeitsprogramm erstellte, in dem die Einzelheiten der Umsetzung des nationalen Lehrplans festgelegt wurden. Kommerzielle Schulbücher wurden als Ideenlieferant für das Arbeitsprogramm verwendet. Von den einzelnen Klassenlehrern wurde erwartet, dass sie ihr eigenes Lehrmaterial aufgrund des Arbeitsprogrammes zusammenstellten. Die Arbeitsprogramme zwischen einzelnen Schulen variierten deshalb viel stärker als auf dem Kontinent und es existierten sehr viele unterschiedliche Lernprogramme. Als wichtiger Faktor erwies sich auch das Zusammenwirken der

In den englischen Schulen wurde vorwiegend mit individualisierenden Lehrmethoden gearbeitet

Lehrmethoden mit diesen Lehrprogrammen. In den englischen Schulen wurde vorwiegend mit individualisierenden Lehrmethoden gearbeitet. Die englischen Lehrer verwendeten die meiste Zeit individuell mit einzelnen Schülern und hatten nur ein paar Minuten Kontakt mit jedem Schülern. Die Schüler mussten deshalb während eines grossen Teils des Unterrichts für sich alleine lernen. Sie waren darum viel mehr von der Qualität ihrer Lehrbücher abhängig als für die Schüler auf dem Kontinent. Gerade deshalb wären klar strukturierte und kleinschrittig und logisch aufgebaute Lehrmittel mit verständlichen Anleitungen sehr wichtig gewesen. Solche fehlten aber, was sich ebenfalls als Grund für das tiefe Niveau im Mathematikunterricht herausstellte.

Im Unterschied dazu waren damals in Deutschland und der Schweiz Do-it-yourself-Lehrmaterial nicht als Hauptbestandteil des Unterrichts erlaubt, sondern man verwendete von der Bildungsbehörden anerkannte Lehrbücher. In beiden Ländern war ein Lehrbuch pro jedes Schuljahr üblich, von dem jeder Schüler ein Exemplar zur persönlichen Verfügung besass. Lehrbücher setzten die Inhalte des Lehrplans unterrichtsbezogen um. In dem Sinne war der Lehrplan für die Lehrer auf dem Kontinent verbindlicher als für die britischen.

Lehrkräfte konnten sich auf den Unterricht konzentrieren

Wenn nötig, machten sie limitierte Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse der Klasse, in dem sie gewisse Übungen ausliessen oder zusätzliches Material verwendeten. Die Lehrer auf dem Kontinent waren so nicht gezwungen, das „Rad neu zu erfinden“, um beinahe von Grund auf erarbeiten zu müssen, was sie unterrichten sollten. Sie konzentrierten ihre Kräfte darauf, wie sie den Unterricht am besten mit Hilfe der Lehrbücher und dem Lehrerhandbuch gestalten konnten. Im Lehrerhandbuch gab es Unterrichtsvorschläge für fast jede Seite des Schülerlehrbuchs, detaillierte Lernziele und einen Jahresplan mit den Schülerbuchseiten, die in jeder Woche abgearbeitet werden sollten.

«Die Mathematik ist eine wunderbare Lehrerin für die Kunst, die Gedanken zu ordnen, Unsinn zu beseitigen und Klarheit zu schaffen.» Jean-Henri Fabre (1823–1915)

Die englischen Lehrer hingegen mussten Empfehlungen des nationalen Lehrplans für „stimulierende“ Aktivitäten und „Untersuchungen“ und die Präsentierung von Mathematik als „Fun-Fach“ nachkommen. Im Gegensatz zum Kontinent ging es nicht in erster Linie darum, mit den Übungen und Aktivitäten im Lehrbuch ein tiefes Verständnis der mathematischen Grundlagen und deren Beherrschung zu ermöglichen.

Im Rahmen dieser Studie besuchte Lehrpersonen aus der Schweiz englische Primarschulen. Für sie waren die Defizite der Mathematiklehrbücher einer der wichtigsten Faktoren für die schlechten Leistungen der englischen Schüler. Verstärkt wurde dieses Problem durch die didaktische Form des Unterrichts, die wiederum stark durch die Lehrmittel beeinflusst waren.

Bildungsforschung

In Deutschland gab es eine lange Tradition detaillierter wissenschaftlicher Forschung über die besten Möglichkeiten, den Unterricht spezifischer mathematischer Grundkonzepte anzugehen und zu strukturieren, wie die Addition und Subtraktion von Zahlen bis 20, die Einführung der Multiplikation usw. Das Forschungsziel war, sicherstellen, dass nicht nur die besten 10-20 Prozent, sondern auch die übrigen 80 Prozent einer Klasse das Lehrplanziel ihres Schuljahres im Wesentlichen beherrschen. Das war genau das Problem in Grossbritannien, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Die Forschung hatte einen starken Einfluss auf die kontinentalen Lehrbücher, wobei die Forscher manchmal auch deren Autoren waren.

In angloamerikanischen Schriften wurden generelle Prinzipien abgehandelt, wie ein „gut-strukturiertes Fundament für mathematischen Grundlagen legen“, die „Abhängigkeit der Schüler vom Lehrer verringern“ usw. Vor- und Nachteile verschiedener Ansätze wurden selten diskutiert.

Rechnen mit Rechner oder Fingern

In der hier thematisierten Studie wurden die in englischen, deutschen und Schweizer Primarschulen gebräuchlichen Lehrbücher für Schüler im Alter von ungefähr acht Jahren miteinander verglichen. Der Fokus lag beim Übergang von der Arbeit mit Zahlen bis 20, die von den englischen Erstklässlern mit Fingern oder dem Rechner ausgeführt werden, zur Arbeit mit zweistelligen Zahlen bis 100. Hier wurden die Unterschiede zwischen dem britischen und kontinentalen Unterrichtsansatz besser sichtbar und sie konnten bis zur eigentlichen Einführung der Zahlen bei den Schülern zurückverfolgt werden.

  1. Allgemeine inhaltliche Merkmale englischer und kontinentaler Mathematiklehrbücher

Grösse der Lehrbücher und Anzahl Übungen

Englische Mathematikbücher: umfangreicher, zersplitteter

Auf dem Kontinent erhielt ein Schüler ein Schulbuch pro Fach und Jahr, das den Lernstoff enthielt, der in diesem Jahr gelernt werden musste. Der englische Schüler erhielt zwischen zwei und vier dünne Schul- oder Arbeitsbücher pro Jahr. Die durchschnittliche Seitenzahl der englischen Bücher war ein Drittel grösser (rund 150 gegenüber 110 Seiten). Die Schulbücher auf dem Kontinent waren dichter gedruckt und enthielten rund drei Mal mehr Übungen und Aktivitäten (rund 4500) als die englischen (rund 1500). Der Lehrer auf dem Kontinent hatte eine grössere Auswahl an Übungen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die er an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Schüler anpassen konnte. In England wurde weniger darauf geachtet, dass so viel geübt wurde, bis der Stoff beherrscht wurde. Auf dem Kontinent wurde etwa 3 bis 5 Mal mehr Zeit für Übungen und Festigung des bereits eingeführten Mathematik-Stoffes verwendet als für die Einführung von neuem.

Betonung der Arithmetik

Während die mathematischen Themen in den Schulbüchern in allen drei Ländern ungefähr die gleichen waren, wich die Schwerpunktsetzung in England ab. Für deutsche und Schweizer Mathematikbücher war die Beherrschung der arithmetischen Grundlagen von höchster Wichtigkeit.  Sie forderten von achtjährigen Schülern (bei siebenjährigen bis 20) ein gründliches Erfassen ganzer Zahlen bis 100 (Erarbeitung des Zahlenraums) inklusive ihrer Beziehungen zu einander und den arithmetischen Operationen mit ihnen.

Weniger Zeit für Zahlenarbeit in England

In England waren die fünf Lehrplanziele (Verwendung und Anwendung von Mathematik, Zahl, Algebra, Form und Raum, Umgang mit Daten) vom Lehrer gleich zu gewichten, so dass nur ein Fünftel der Zeit für Zahlenarbeit reserviert war. In den englischen Lehrbüchern und Praxis wurde dafür etwa 50 Prozent der Zeit aufgewendet, während es in den deutschen und Schweizer Lehrbüchern über 80 Prozent waren.  Diese Differenzen zeigten, was bei der Gewichtung im englischen Mathematiklehrplan geändert werden müsste.

Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch. René Descartes (1596–1656)

 

Häufigkeit des Themenwechsels

Ein grösserer Unterschied zwischen den englischen und kontinentalen Lehrbüchern lag in der Reihenfolge der Themen. In englischen Schulbüchern gab es relativ schnelle Wechsel zwischen den Themen, während die kontinentalen grössere zusammenhängende Blöcke zu einem Thema hatten, die in zunehmender Tiefe und Komplexität behandelt wurden, bevor man zum nächsten Thema schritt. In englischen Schulbüchern wechselten die Themen 25 bis 30 Mal pro Jahr, in kontinentalen rund 10 Mal. Ein Thema wurde in den kontinentalen Schulbüchern durchschnittlich auf 12 fortlaufende Seiten behandelt (für Zahlen 16, für Längen und Zeit 5). In englischen Schulbüchern gab es durchschnittlich nur 6 fortlaufende Seiten pro Thema. Schüler auf dem Kontinent hatten damit 6 Mal mehr Übungen zur Verfügung als englische.

Von den einfachen zu den schwierigen Aufgaben

Die stark segmentierte Struktur englischer Schulbücher war mit viel Repetition verbunden, der Fokus lag weniger auf den weiterführenden Schritten oder auf einer gründlichen Festigung des Stoffes. Bereits abgehandelte einfache Grundlagen erschienen immer wieder, während schwierigere Aufgaben, welche ein Verständnis der Grundlagen voraussetzten, oft eingeführt wurden, bevor die Grundlagen beherrscht wurden. In deutschen und Schweizer Schulbüchern wurde ein eingeführtes Thema gründlich gefestigt und es war selbstverständlich, dass danach nur noch limitierte Repetitionen nötig waren. Schwierigere Aufgaben wurden erst eingeführt, wenn man davon ausgehen konnte, dass die grosse Mehrheit der Schüler die einfacheren beherrschten. Die limitierten Repetitionen auf dem Kontinent glichen in keiner Weise den Mehrfachwiederholungen und den unsystematischen Sprüngen zwischen den Themen in den englischen Schulbüchern, bei denen es keinen systematischen Verlauf von den einfachen zu den schwierigeren Aufgaben gab.

  1. Einführung in einen Zahlenbereich

Bei einer der entscheidenden Etappe zur Schaffung der Grundlagen des mathematischen Verständnisses und Kompetenz differierten die kontinentalen und britischen Unterrichtspraktiken in verschiedenen wichtigen Punkten: Das waren der von den kontinentalen Pädagogen entwickelte detailliertere Schritt-für-Schritt Ansatz für das Lernen und Üben, die Verwendung von Standards und abgekürzten Rechnungsmethoden, die Rolle des Übens und der Festigung, die Verwendung von konkretem Material und die Effizienz alternativer Methoden des Auswendiglernens (Kopfrechnen).

In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.

In England wurde der Zahlenraum zwischen 20 und 100 im Alter von sieben Jahren eingeführt, ein Jahr früher als auf dem Kontinent, wo die Schüler auch ein Jahr später mit der Schule begannen. In England wurde viel Wert auf das „Entdecken von Lernmethoden“ gelegt, während die direkte Erfahrung bei der Verwendung von Zahlen beim Rechnen (im Unterschied zum blossen Zählen), um ihr Verständnis von Zahlen und ihrer Beziehungen zu einander zu fördern, keine Priorität hatte.

Konkretisierung (Verständnis, Vorstellung, Begriff) von Zahlen und Stellenwert

Die ungenügende Vorstellung von Zahlen bei britischen Schülern konnte darauf zurückgeführt werden, wie sie mit den Zahlen von 20 bis 100 nach der Einführung vertraut (Festigungsphase) gemacht wurden. Dabei spielte in England das Stellenwert-Konzept (place-value) eine wichtige Rolle. Zum Beispiel wurde die Zahl 52, aus 5 Zehnern und 2 Einern zusammengesetzt.  Auf dem Kontinent wurde 52 als die Zahl 50 plus 2 geübt. Die englischen Schüler zählten die Einer, um die Zehner zu finden während auf dem Kontinent in Zehnern gezählt wurde. Für den englischen Schüler war die Zahl 52 aus 5 und 2 zusammengesetzt, sie rechneten im Kopf nicht mit Mehrfachen von 10, was häufig zu Fehlern und Langsamkeit führte. Auf dem Kontinent verstanden die Schüler 52 als 2 mehr als 50.

Reihenfolge der Zahlen

Im Gegensatz zu England war für die Schulbuchautoren auf dem Kontinent die Ordnung der Zahlen wichtig für die Entwicklung des Verständnisses und der Vorstellung von Zahlen. Englische Schulbücher enthielten keine Übersichtsillustrationen und auch keine visuellen Hilfen (100er Quadrat, Zahlenband) über den neuen Zahlenbereich (1-100). Die Schüler auf dem Kontinent wurden nicht in die grösseren Zahlen eingeführt, bis sie die kleineren Zahlen sicher beherrschten. In englischen Schulbüchern fehlte eine komplette Übersicht über den neuen Zahlenbereich und es hatte kaum Aufgaben zur Einführung und Orientierung.

Quellen:

Helvia Bierhoff: Laying the Foundations of Numeracy: a comparison of primary school textbooks in Britain, Germany and Switzerland. Discussion Paper no. 90, National Institute of Economic and Social Research, London January 1996.

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997.

 

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