Vermessungsindustrie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 31 Dec 2020 12:59:21 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Vermessungsindustrie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 „Der Begriff Lernbegleiter ist für mich das Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung.“ https://condorcet.ch/2020/12/der-begriff-lernbegleiter-ist-fuer-mich-das-synonym-fuer-paedagogische-arbeitsverweigerung/ https://condorcet.ch/2020/12/der-begriff-lernbegleiter-ist-fuer-mich-das-synonym-fuer-paedagogische-arbeitsverweigerung/#respond Wed, 30 Dec 2020 12:25:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=7366

Im Interview mit dem Magazin "Realist" äussert sich der promovierte Pädagoge und Medienexperte Prof. Dr. phil. Ralf Lankau zum Thema "Digitale Transformation von Schule?" Für ihn ist der Einsatz von Medientechnik kein Qualitätsmerkmal von gutem Unterricht, er warnt gar vor den übersteigerten Versprechungen digitaler Zukunftsvisionen, hinter denen sich Interessen verbergen, die in der Schule definitiv nichts zu suchen haben. Ralf Merkle, Landesgeschäftsführer des Realschullehrerverbands Baden-Württemberg RLV, hat das hier gekürzt wiedergegebene Gespräch geführt, das wir hier mit freundlicher Genehmigung von Ralf Lankau veröffentlichen.

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Ralf Lankau, GBW, Professor HS Offenburg

REALIST: Herr Professor Lankau halten Sie Asimovs Zukunftsvision, die er in seiner Erzählung “Die Schule” schildert, wirklich für realistisch?

LANKAU: Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Pädagogisch ist diese Form der automatisierten Beschulung und das kleinteilige Testen von Lernleistung keine Option. Lernen ist an sich ein individueller und sozialer Prozess, wir lernen im Dialog und in Beziehung, wir brauchen ein Gegenüber. Margies Lernmaschine erlaubt nur eine Form von Drill und führt allenfalls zu Lernbulimie. Aber es gibt IT-Unternehmen, die solche Techniken bereits an Schülerinnen und Schülern ausprobieren. Ein Beispiel ist Facebook mit “Summit Learning”. Das Versprechen: Eltern kaufen einen Laptop, die Schule stellt die Räume und Sozialcoaches als Aufsicht, Facebook übernimmt das Unterrichten übers Netz. Es ist komplett gescheitert. Die Eltern haben ihre Kinder reihenweise ab- und auf kostenpflichtige Privatschulen umgemeldet, weil den Kindern der Sozialkontakt fehlte und sie am Laptop körperlich und psychisch regelrecht verkümmerten.

REALIST: Welche Anzeichen der Verwirklichung dieser “digitalen Zukunftsvision von Schule” sehen Sie schon heute?

Isaac Asimov: Automatisierte Beschulung

LANKAU: Digitale Zukunftsvision von einer Schule werden seit über 30 Jahren für jede neue Gerätegeneration und mit den immer gleichen Argumenten formuliert: Rechner und Software seien modern, innovativ, lernförderlich und motivierend. Wissenschaftlich belegt ist davon nichts, im Gegenteil. (…) Lernen soll messbar werden und möglichst vorhersagbare Ergebnisse “produzieren”. Die Konzepte kommen aus der Konsumgüterindustrie und werden auf soziale Einrichtungen übertragen. Die Begriffe sind Prozesssteuerung und -optimierung, Effizienz und Kostenreduktion. De facto ist es Automatisierung. Digitaltechnik ist nur die technische Infrastruktur. Im Kontext Schule wird daraus die “Produktion von Humankapital mit validierten Kompetenzen” (Humankapitaltheorie).

Im Grunde sind es uralte Hoffnungen: dass man alles berechnen und mit Hilfe der passenden Methoden, Medien und Techniken kontrollieren und steuern kann.

Die Theorien und Modelle im Kontext Schule sind empirische Bildungsforschung und datengestützte Schulentwicklung. Dafür braucht man immer mehr Daten, dafür werden von Psychologen immer neue Methoden entwickelt und an Schülerinnen und Schülern getestet, die per Learning Analytics ausgewertet werden. Im Grunde sind es uralte Hoffnungen: dass man alles berechnen und mit Hilfe der passenden Methoden, Medien und Techniken kontrollieren und steuern kann. Das Problem: Bei technischen Abläufen funktioniert es, nur sind Menschen zum Glück keine Maschinen, sondern Individuen. Damit kommt es zum Gegensatz Humanität versus Digitalität.

REALIST: Eine Digitalisierung, wie von Ihnen eben beschrieben, würde also letztlich zu einer “inhumanen Schule” führen?

Realist, das Magazin des Realschullehrerverband von Baden-Württemberg

LANKAU: Ja, wenn man Empirikern, Psychologen und Systemanbietern die Regie überlässt. Empiriker arbeiten mit Daten, wie jede Wissenschaft. Aber zur Auswertung gehören bei Empirikern wie Psychologen Statistik und Mustererkennung. Sobald man anfängt, Lernleistungen zu vermessen, muss man Prozesse und Ergebnisse standardisieren. Wir beobachten schon länger, dass immer mehr Tests in die Schulen kommen für nationale und internationale Rankings, PISA etwa. Diese Rankings sind aber nicht sehr aussagekräftig, weil sie weltweit normiert sind und die nationalen Bildungssysteme nicht berücksichtigen. In vielen asiatischen Schulen etwa ist es eine Ehre teilzunehmen, man vertritt die Schule und das Land und beschämt die Nation mit schlechten Ergebnissen. Bei uns ist die Teilnahme eher lästig. Oder in den USA: Amerikanische Jugendliche schnitten im Mathe-Test schlecht ab, letztes Drittel. Eine Forschergruppe hat ihnen daraufhin für jede richtig gelöste Mathematikaufgabe einen Dollar versprochen. Die gleiche Gruppe hat, ohne eine Stunde Mathe mehr, vergleichbar schwere Aufgaben so gut gelöst, dass sie im Mittelfeld gelandet wäre. Der Unterschied: Das Anreizsystem hat gestimmt. Noch wichtiger aber ist: Bildung ist nicht messbar ist. Wir verkürzen durch das ganze Testen Schule und Unterricht auf Messbares. Das bedient zwar die Testindustrie, sorgt aber nicht unbedingt für Verstehen bei Schülerinnen und Schülern. (…)

REALIST: Trotzdem wiederholen ja viele Bildungspolitiker und zahlreiche in der Öffentlichkeit sehr präsente Stiftungsvertreter von Firmen immer wieder gebetsmühlenartig, dass die Digitalisierung den Unterricht besser mache und auch für mehr “Bildungsgerechtigkeit” sorge. Stimmt das also nicht? Die “Corona-Krise” hat doch gezeigt, dass viele Schulen technisch auf Fernunterricht nur schlecht vorbereitet sind. Brauchen wir nicht gerade deshalb einen dramatischen Digitalisierungsschub für alle?

Keine Medientechnik und kein Medium macht Unterricht per se besser oder gerechter.

Eine umfassende Studie der OECD aus dem Jahre 2012 zeigt ernüchternde Resultate

LANKAU: Keine Medientechnik und kein Medium macht Unterricht per se besser oder gerechter. Die OECD-Studie zu Resilienz belegt, dass der Einsatz von Computern die soziale Schere sogar aufgehen lässt, weil Kinder und Jugendliche auch in der Schule wieder vor einem Bildschirm sitzen und sich abgeschoben fühlen. Gerade Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten brauchen ein direktes Gegenüber, eine Lehrpersönlichkeit, die ihnen zugewandt ist. Lernen ist Interaktion, auf der Basis von Vertrauen. (…)

REALIST: Und die Medien?

LANKAU: Ein Kollege erklärt wunderbar an der Tafel, die andere Kollegin mit Hilfe von Tablet und Beamer oder umgekehrt. Wir setzen seit über 30 Jahren PCs, Laptops und heute Tablets ein, das ist kein Qualitätsmerkmal, eher im Gegenteil. Wer glaubt, die technische Ausstattung von Schulen sei ein Garant für gelingenden Unterricht irrt oder verfolgt eine eigene, meist kommerzielle Agenda. Man sollte es den Lehrkräften überlassen, welche Medien sie im Unterricht einsetzen.

 

Dass die Schulen auf Fernunterricht nicht vorbereitet waren, ist richtig. Das mussten sie auch nicht sein, weil Schulen in Deutschland normalerweise Präsenzschulen sind – und bleiben müssen. (…)

In Deutschland gibt es z.B. eine gemeinnützige Stiftung, die in Studien die Digitalisierung fordert und mit ihrem nicht gemeinnützigen Unternehmen gleichen Namens den Bildungsmarkt bedient.

REALIST: Wem nützt also die Digitalisierung, die von diesen Digitalisierungsbefürwortern propagiert wird?

LANKAU: In Amerika gibt es einen simplen Spruch dafür: Follow the money. Bei uns heißt er: Cui bono? Wem nützt es? Bei den von der IT-Wirtschaft vertretenen Konzepten wie etwa Tablet-Klassen profitieren eindeutig die Anbieter von Hard- und Software und entsprechenden Dienstleistungen. Versprochen wird eine IT-Infrastruktur aus einer Hand (Apple, Google, Microsoft u.a.). Die großen Vertreter der Global Education Industries (GEI) und der EdTEch-Startups (Education Technologies) bereiten sich ihre Märkte. Für diese Anbieter sind alle Bildungseinrichtungen Märkte, die wie andere Märkte beworben und bespielt werden. In Deutschland gibt es z.B. eine gemeinnützige Stiftung, die in Studien die Digitalisierung fordert und mit ihrem nicht gemeinnützigen Unternehmen gleichen Namens den Bildungsmarkt bedient. Es ist ein Milliardenmarkt. (…)

Es sind Manager, die Bildung als Produkt vermarkten

REALIST: Sie sprachen gerade von einer “gemeinnützigen Stiftung”, die vehement die Digitalisierung fordert und gleichzeitig mit ihrem Unternehmen den Bildungsmarkt bedient. Ich denke mal, dass Sie damit die “Bertelsmann-Stiftung” meinen. Bei meinen Recherchen zum Thema bin ich auf der Seite der Bertelsmann AG im Bereich “Strategie Wachstumsplattformen” auf einen Satz gestoßen, der mich nachhaltig irritiert hat. Da stand “Gleichzeitig sorgt die Digitalisierung dafür, dass Bildung auch online in guter Qualität ausgeliefert werden kann”. Ist Bildung für diese Unternehmen eine Pizza, die auf Bestellung geliefert werden kann?

LANKAU: Ja, es sind Manager, die “Bildung” als Produkt vermarkten wie eine Pizza oder wie eine Dienstleistung, etwa einen Streamingdienst. Man bezahlt für Kurse und bekommt Zertifikate. Das ist der Deal. Die Gütersloher versprechen unter dem Label Bertelsmann Education Group, das “Lernen im 21. Jahrhundert”. Schwerpunkte sind derzeit Hochschulen und E-Learning-Angebote wie Relias sowie Beteiligungen an HotChalk und Udacity. Dazu kommen Dienstleistungen in der Weiterbildung. Der aktuelle Umsatz liegt bei 333 Mio. Euro, aber der internationale Bildungsmarkt ist, auch ohne Covid-19, einer der dynamischsten expandierenden Märkte.

REALIST: Ein bekannter Verfechter der, ich nenne es jetzt vereinfacht mal “Automatisierung der Schule” aus der Schweiz hat vor kurzem gefordert, dass sich Lehrerinnen und Lehrer nicht um Datenschutz zu kümmern haben. Schließlich würde er als Lehrer auch nicht, bevor er seine Schule betritt, die Erdbebensicherheit des Schulgebäudes überprüfen. Können wir es uns so einfach machen?

Philippe Wampfler: Lehrer sollten sich nicht um Datenschutz kümmern.
Photo: Florian Bachmann

LANKAU: Nein. Schweizer Freunde haben mir den Beitrag[i] geschickt und ich bin entsetzt. Das Erschreckende ist, dass dieser Lehrer sich vehement für Digitaltechnik in Schulen einsetzt, aber jede Form von kritischem Diskurs verweigert. Ich habe dazu eine Replik geschrieben: “Digital-Apostel in Vogel-Strauß-Manier oder: Sprechverbote über den Einsatz von Digitaltechnik und Datenschutz in Schulen sind keine Lösung”[ii] und auch einen längeren Beitrag[iii]. Denn was bei der Argumentation dieses Digitalisten prototypisch zu beobachten ist, ist die Delegation der Verantwortung an vermeintliche “Experten”.

(…) Immanuel Kant schrieb 1784 in seinem Text “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”: “Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.” Verdrießliche Geschäfte sollen andere machen? Eine meiner Thesen zur Digitalisierung ist: Digitaltechnik, wie sie derzeit aus dem Silicon Valley kommt, ist Technik der Gegenaufklärung. Menschen werden daran gewöhnt zu tun, was Maschinen ihnen sagen. Das ist Erziehung zur Unmündigkeit und widerspricht dem Bildungsauftrag von Schulen.

REALIST: Wir vom Realschullehrerverband wehren uns seit Jahren vehement gegen den Begriff “Lernbegleiter”, der vor allem an Gemeinschaftsschulen für Lehrkräfte verwendet wird. Gerne werden wir dafür als “Ewig-Gestrige” bezeichnet. Wie sehen Sie die Verwendung des Begriffes “Lernbegleiter”? Nur eine modernere Bezeichnung oder steckt aus Ihrer Sicht mehr dahinter?

Der Bergiff ist für mich ein Synomym für Arbeitsverweigerung

LANKAU: Der Begriff Lernbegleiter ist für mich das Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung. Wir sind als Pädagogen keine Begleiter, sondern ganz entscheidende Akteure. Wir strukturieren und gestalten den Unterricht, lehren und unterstützen individuell. Wir sind aufgrund unseres Studiums und der Lebens- wie zunehmender Lehrerfahrung in der Lage, binnendifferenziert zu fördern, und sind vor allem als Lehrpersönlichkeit Ansprechpartner und Vorbild. (…)

Die ewig Morgigen

Der Vorwurf, “ewig Gestriger” zu sein, ist lachhaft. Der Mensch lernt heute nicht anders als vor 100 oder 1000 Jahren. Biologische Veränderungen der Physis, Psyche oder Kognition ändern sich nicht in den Rhythmen technischer Innovationen. Wir können den Spieß aber gerne umdrehen: Egal, welche Technik auf den Markt kommt, werden sich immer Vertreter in den Kollegien finden, die deren Einsatz umgehend im Unterricht fordern. Der Schweizer Pädagoge Carl Bossard nennt solche Technikfetischisten die „ewig Morgigen“. Alles wird sofort im Unterricht eingesetzt. Wenn dann etwas nicht funktioniert, kommt sogleich ein „es funktioniert noch nicht, weil … die Lehrer/innen die Technik noch nicht richtig einsetzen würden, die Schüler/innen den Umgang erst lernen müssten, die Systeme noch nicht richtig konfiguriert seien, die Programme erst noch optimiert werden müssten etc.pp. Dabei kommt es im Unterricht auf anderes an als Technik: auf das Miteinander.

REALIST: Wie sieht für Sie eine sinnvolle, den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schülern gerecht werdende Digitalisierung der Schule aus? Welchen Weg sollten Schulen einschlagen? Und gibt es Grenzen dabei, die nicht überschritten werden sollten?

Schule muss die Ambivalenz vermitteln

LANKAU: Digitaltechnik ist, wie jede Technik, ambivalent. Auf der einen Seite faszinierend, auf der anderen ein potentielles Überwachungs- und Kontrollsystem. (…) Das Ziel von Schulen muss sein, diese Ambivalenz des Digitalen und die Unterscheidungskriterien zu vermitteln, um zwischen sinnvollen und nur kommerziellen Angeboten zu differenzieren. Denn als Werkzeug und Instrument können Digitaltechniken sehr hilfreich sein, aber Technik darf den Menschen nicht beherrschen oder (etwa unterbewusst) manipulieren.

“Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.” Einstein

Daher ist die zweite Aufgabe die Dekonstruktion der ganzen Heilslehren der Digitaltechnik bis zum Transhumanismus, d.i. die unhaltbare Behauptung, man könne das menschliche Bewusstsein technisch transformieren und ins Netz laden und damit (wieder einmal) unsterblich werden.  (… W)as Algorithmen, also Handlungsanweisungen für Rechner, machen, ist im Kern Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit lassen sich viele (technische) Aufgaben lösen, aber wie Einstein gesagt haben soll: “Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.” Was sich nicht berechnen (und standardisieren) lässt, ist das Soziale, das Humane und das Individuelle. Wir müssen wieder lernen zu unterscheiden, bei was Technik uns helfen kann und wo der Mensch als Mensch gefragt ist.

REALIST: Welche Rolle sollen dabei künftig die Lehrkräfte einnehmen?

Die Lehrerin oder der Lehrer ist der Gegenpol

LANKAU: Lehrerinnen und Lehrer sind in einer zunehmend technisierten, digitalisierten und in Pandemie-Zeiten auch in der Schule virtualisierten Welt ein wichtiger und notwendiger Anker und Gegenpol. Sie sind als Lehrpersönlichkeit eine zentrale Bezugspersonen und im Idealfall Vorbild. Gerade junge Menschen sind den ganzen Optionen und Versuchungen der virtuellen Welten ohne ausreichendes Reflexionsvermögen ausgesetzt. Daher müssen Lehrende in allen (Hoch)Schulformen ihren Schülerinnen und Schülern oder Studierenden Methoden und ein Instrumentarium vermitteln, damit sie selbst qualifiziert analysieren und entscheiden können, was sie von all den neuen Techniken, Medien und Geräten brauchen – und was nicht. Nur, weil etwas auf dem Markt ist, muss ich es nicht konsumieren. Noch wichtiger ist zu vermitteln, dass das echte Leben nicht im digitalen Raum oder an Display und Touchscreens stattfindet, sondern notwendig in der realen Welt, in Gemeinschaft mit realen anderen. Für das Miteinander braucht man gemeinsame Zeit und Vertrauen, vielleicht das Schlüsselwort der Pädagogik. „Nichts kann den Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ (Paul Claudel)

REALIST: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Lankau!

 

Prof. Dr. Lankau unterrichtet seit 1985 als promovierter Pädagoge mit analogen und seit 1987 mit digitalen Medien und Techniken, davon 20 Jahre als Fernlehrer. Seit 2002 hat er an der Hochschule Offenburg eine Professur für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie inne.

 

 

[i] Philippe Wampfler: Lehrer sollten nicht mehr über Datenschutz sprechen. In: https://schulesocialmedia.com/2020/09/25/lehrkraefte-sollten-nicht-mehr-ueber-datenschutz-sprechen/

[ii] https://condorcet.ch/2020/10/digital-apostel-in-vogel-strauss-manier-oder-sprechverbote-ueber-den-einsatz-von-digitaltechnik-und-datenschutz-in-schulen-sind-keine-loesung/

[iii] https://fu-tur-iii.de/2020/10/23/digital-apostel-in-vogel-strauss-manier-2/

 

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Aufruf zur Besinnung: Humane Bildung statt Metrik und Technik https://condorcet.ch/2020/07/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik/ https://condorcet.ch/2020/07/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik/#respond Sat, 11 Jul 2020 08:56:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=5684

Ralf Lankau und Matthias Burchardt sind auf unserem Bildungsblog keine Unbekannten. Die GBW-Mitstreiter gelten als fundierte Kritiker der Digitalisierung unseres Bildungssystems. Und sie argumentieren - was sie von vielen Informatikfans unterscheidet - in der Debatte der Digitalisierung faktensicher und gut dokumentiert. Ihr Aufruf wird auch in der Schweiz auf grosses Interesse stossen.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Fakultät Medien, Hochschule Offenburg
AR Dr. Matthias Burchardt, Universität zu Köln

Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurden im gesamten Bundesgebiet Schulschließungen und Fernbeschulung veranlasst. In der Folge intensivierten sich die Forderungen nach der unverzüglichen digitalen Transformation von Schule und Unterricht. Beschlossen wurden die Aufrüstung der Schulen (Server, WLAN), Fortbildungen und Endgeräte für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie der Auf- und Ausbau von Schulclouds, mehr Onlinedienste und digitale Tools für den Unterricht. Es geht also nur um Technik?

Wovon nicht geredet wird

Außen vor bleiben Themen wie die entstehende Infrastrukturen für netzbasierten Online-Unterricht (Fern- statt Präsenzunterricht auch ohne Covid-19) samt Folgekosten oder die Auswirkungen für den Unterricht. Ausgespart wird die zwingend notwendige Diskussion über das sich ändernde Menschenbild, den „heimlichen Lehrplan“, der mit der digitalen Beschulung einher geht, wenn Kinder und Jugendliche alleine an Lernstationen ihre Wochenpläne am Rechner abarbeiten.

Das ist das Gegenteil von dem, was Pädagogik bedeutet: Persönlichkeitsbildung im Erwerb von Wissen, Können und Wertorientierung.

Automatisierung, Digitalisierung, Steuerung und Kontrolle von Prozessen: So hat die amerikanische Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff bereits 1988 die Prinzipien der Informationstechnik benannt. Daraus haben sich Strukturen entwickelt, die sie Überwachungskapitalismus nennt (Zuboff 2018) und die man, beim Einsatz dieser Techniken in Schulen, Überwachungspädagogik (M. Burchardt) nennen muss. Das ist das Gegenteil von dem, was Pädagogik bedeutet: Persönlichkeitsbildung im Erwerb von Wissen, Können und Wertorientierung.

Aus dem Unterrichten als „Verstehen lehren und lernen“ (A. Gruschka) als wechselseitige Beziehung zwischen realen Personen wird durch Lernmanagementsoftware ein zunehmend automatisiertes Beschulen und Testen.

„Alles muss messbar sein“. Metrik wird zum Universalschlüssel.

Aus dem Unterrichten als „Verstehen lehren und lernen“ (A. Gruschka) als wechselseitige Beziehung zwischen realen Personen wird durch Lernmanagementsoftware ein zunehmend automatisiertes Beschulen und Testen. Aus dem pädagogischen Prozess der Erziehung und Emanzipation wird durch digitale Endgeräte und Parameter der Daten-Ökonomie ein System der Metrik (Messen und Bewerten). Die Basis sind personenbezogene Daten. Die Begriffe dafür sind datengestützte Schulentwicklung, Learning Analytics und empirische Bildungsforschung. Statistik, Diagnostik und Prognostik statt Pädagogik. Statt der Schule als einem sozialen Ort der Gemeinschaft entsteht eine Einrichtung zur fremdgesteuerten Selbstoptimierung nach algorithmischen Vorgaben. Statt der Entwicklung von Persönlichkeit, Mündigkeit, Gemeinsinn und Eigenverantwortung lernen Kinder, sich systemkonform zu verhalten.

Nicht alles, was zählt, kann man zählen [also messen]. Und nicht alles, was man zählen [also messen] kann, zählt! Albert Einstein

Hier gilt es, sich zu besinnen. Der psychotechnischen Maxime eines William Stern „Es muss sich testen [messen] lassen“ muss ein Zitat von Albert Einstein gegenüberstehen: „Nicht alles, was zählt, kann man zählen [also messen]. Und nicht alles, was man zählen [also messen] kann, zählt!” Anstatt Schule und Unterricht durch digitale Transformation für Metrik und Technik zu optimieren, muss der Fokus wieder auf Individuum, Gemeinschaft und humanen Lernprozessen liegen.

Nur wer unterrichten will und kann, sollte Lehrerin oder Lehrer werden. Lehrkräfte sind weder Lernbegleiter noch Coaches, sondern der menschliche Kontrapunkt für Lernprozesse.

Digitaltechnik kann dabei ein Werkzeug unter vielen sein. Bildung aber ist Beziehung: Der Mensch wird am Menschen zum Menschen. Dazu sind hier einige Prämissen formuliert:

Lernen: Ziel ist die ganzheitliche Bildung
  • Die Aufgabe von Schule und Unterricht wurde hinreichend in wissenschaftlichen, demokratischen und öffentlichen Prozessen diskutiert und von Kultusministerien bzw. Landesregierungen in Schulgesetzen und Bildungsplänen festgelegt. Technische Entwicklungen und Wirtschaftsinteressen drohen demokratische, fachliche und wertorientierte Abwägungen zu unterlaufen.
  • Schulische Bildung im Unterricht gelingt nur im Rahmen mitmenschlicher Beziehungen. In gemeinsamer Auseinandersetzung mit einer Sache erwerben junge Menschen unter pädagogischer Anleitung Kenntnisse, Fertigkeiten, Werthaltungen und Urteilskraft. In diesen Konstellationen vollzieht sich die Persönlichkeitsbildung der Heranwachsenden. Digitalisierung darf diese Grundlagen und das direkte Miteinander nicht ersetzen.
  • Herausragende Schulen weltweit verfügen über Bibliotheken, Kunst-, Musik- und Theaterräume, Sportstätten und Gärten als Kontrapunkt zum Klassenraum. Das Ziel ist die ganzheitliche Bildung junger Menschen anstelle einer utilitaristischen Verkürzung auf Wirtschaftsinteressen.
  • Nur wer unterrichten will und kann, sollte Lehrerin oder Lehrer werden. Lehrkräfte sind weder Lernbegleiter noch Coaches, sondern der menschliche Kontrapunkt für Lernprozesse: Zum Denken lernen brauchen wir ein Gegenüber, schrieb Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen können.
  • Schule befähigt zum Leben in einer digitalisierten Gesellschaft. Sie kompensiert die digitale Verwahrlosung in vielen Elternhäusern durch analoge Angebote und sie thematisiert in je verschiedener Fachperspektive die Phänomene, Theorien und Modelle der Digitaltechnik und ihre kulturellen, sozialen und politischen Auswirkungen. Der Einsatz digitaler Lehrmedien ist möglich, aber nicht notwendig. Medienmündigkeit ist deutlich mehr als Medienbedienkompetenz und gerade nicht auf digitale Formate zu verkürzen.
  • Über den Medien- und Technikeinsatz im Unterricht entscheiden die Lehrkräfte. Autonomie im Einsatz der Mittel ist grundgesetzlich gesichert (Methodenfreiheit). Sie sind qualifiziert, für Unterrichtsgegenstände und Bildungsziele geeignete Methoden und Medien auszuwählen: analog und digital.
  • Analoge wie digitale Medien werden gleichwertig, altersangemessen und je nach Schülerschaft, Fach, Thema und Unterrichtsstil gewählt. Angehende Lehrkräfte sind im Einsatz aller Medien zu schulen bzw. Lehrkräfte im Dienst auf freiwilliger Basis weiterzubilden.
  • Personalisierte Daten sind das Kapital des 21. Jahrhunderts. Damit lässt sich das Verhalten von Menschen prognostizieren, modifizieren (Nudging) und manipulieren (persuasive, d.h. verhaltensändernde Technologien). Bildungseinrichtungen haben Mündigkeit und Selbstverantwortung zum Ziel. Daher gelten bei der Datenhaltung die Parameter Datensparsamkeit, Dezentralisierung, Datenhoheit bei den Nutzern und Löschoption für nicht benötigte Daten. (Vgl. Tim Berners-Lee: „Contract for the Web“.) Bildungseinrichtungen sind kein Teil der Daten-Ökonomie und dürfen nicht den Partikularinteressen der IT-Wirtschaft untergeordnet werden.
  • Datenschutz schützt Grundrechte, nicht Daten. Daher ist die europäische Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) an Schulen einzuhalten. Daten von unter 16-Jährigen werden weder gespeichert noch zu Profilen ausgewertet. Lediglich technisch notwendige Angaben (Nutzername, Passwort, Berechtigungen) sind im System hinterlegt.
  • Öffentliche Schulen setzen nichtkommerzielle Open Source-Software ein, mit der alles technisch und gestalterisch umgesetzt werden kann, was an Rechnern im Unterricht in der Schule gelernt werden soll (aktive Medienproduktion und -reflexion).
  • An öffentlichen Schulen werden nur staatlich geprüfte Lehrmaterialien eingesetzt. Dafür sind die Landesbildungszentren auszubauen, die digitale Bibliotheken bereit stellen und ausbauen. Unterrichtsmaterial aus der Privatwirtschaft ist nur bedingt für medienkritische Projekte einsetzbar (z.B. zum Thema Lobby-Arbeit in Schulen).
  • Öffentliche Schulen benutzen statt WLAN kabelgebundene Netzwerklösungen und Visible Light Communication-Technik (VLC), um die Strahlenbelastung zu minimieren.
  • Das Arbeiten an Bildschirmen kann die Gesundheit gefährden. Daher ist die maximale Arbeitszeit an Displays und Touchscreens altersabhängig gemäß der Empfehlungen der Kinderärzte zu gestalten, die Bildschirmzeiten zu begrenzen (BLIKK- und Pronova-Studien). Es sind ergonomische Arbeitsplätze (externer Bildschirm und Tastatur, einstellbare Tischhöhen, Stühle) einzurichten. Kita und Grundschule bleiben in der pädagogischen Arbeit bildschirmfrei.

Dieser Aufruf dient zur Besinnung und als Anregung für Gespräche über die digitale Transformation von Schule und Unterricht. Sie können den Text gerne weitergeben und in Ihren Kreisen diskutieren.

 

Ansprechpartner

Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.

 

AR Dr. Matthias Burchardt
Universität zu Köln
Humanwissenschaftliche Fakultät
Albertus-Magnus-Platz, 50931 Köln
m.burchardt@uni-koeln.de

futur iii + Bündnis für humane Bildung

 

Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Fakultät Medien
Hochschule Offenburg
Badstr. 24, 77652 Offenburg
ralf.lankau@futur-iii.de

 

 

 

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Fetische des modernen Schulwesens: Im Prädikatenfieber https://condorcet.ch/2019/06/fetische-des-modernen-schulwesens-im-praedikatenfieber/ https://condorcet.ch/2019/06/fetische-des-modernen-schulwesens-im-praedikatenfieber/#respond Mon, 24 Jun 2019 19:32:41 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1469

Condorcet-Autor Philipp Loretz hat wieder einmal zugeschlagen. Analytisch, humorvoll und sprachvirtuos zugleich setzt er sich mit der Beurteilungsmanie an unseren Schulen auseinander. Ein Genuss!

Hinweis: Diese Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2019).

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Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer, BL und Mitglied der Geschäftsleitung des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB
Bild: fabü

Von Schwächen und Stärken

Im sehenswerten Film «About Time» wartet Regisseur Richard Curtis mit einer bemerkenswerten Szene auf: Am Strand von Cornwall wird Mary bei ihrer allerersten Begegnung mit der Familie ihres neuen Freundes mit einer unerwarteten Frage konfrontiert:

«Was sind deine Fehler … ich meine, deine kleinen Schwächen?», möchte ihre künftige Schwiegermutter wissen.

Sichtlich verdutzt sucht Mary nach einer passenden Antwort und sagt dann verlegen: «Also … ähm … ich bin sehr unsicher.»

«Sympathisch.»

«Okay … Ich kann manchmal ziemlich schlechte Laune haben.»

«Unerlässlich! Wie bringt man die Kerle sonst dazu, folgsam zu sein?»

Mary schmunzelt, denkt kurz nach und gesteht: «Und ich hab natürlich … ich hab eine Schwäche für Ihren Sohn.»

«Die hab ich auch.»[1]

Schwäche als Türöffner, Schwäche als Vertrauensbeweis, Schwäche als Stärke. Berührend ehrlich.

Hätte die künftige Schwiegermutter – ihres Zeichens wissenschaftliche Mitarbeiterin im Departement of Education, spezialisiert auf die statistische Verwertbarkeit von Persönlichkeitsprofilen – Marys personale und soziale Kompetenzen mit Hilfe eines standardisierten Prädikatenrasters zu be-urteil-en versucht, wäre der erste Gedankenaustausch zwischen den beiden Frauen wohl in diesem oder ähnlichem Fachjargon geführt worden:

Bild: api

«Was sind deine Stärken?

(Oha, jetzt muss ich zeigen, was ich kann.)
«Ich traue mir viel zu, bin zuversichtlich und mutig.»

«Kannst du dich spontan und offen äussern?»

(Wer A sagt, muss auch B sagen.)
«Selbstverständlich. Meine Auftrittskompetenz perfektioniere ich stetig. Mein Motto: attraktiv, wortgewandt, schlagfertig.»

«Kannst du deine Gefühle kontrollieren, auch wenn du betroffen bist? Direkt gefragt: Verfügst du über eine altergesmässe Frustrationstoleranz?»

(Upps, jetzt geht es ans Eingemachte. Da rühre ich besser mit der grossen Kelle an.)
«Unbeherrschtheit, Wut und Ärger liegen mir fern. Schwierigen Situationen pflege ich stets konstruktiv zu begegnen. In Konfliktsituationen achte ich konsequent darauf, faire Mittel einzusetzen.»

«Kannst du dich an Regeln und Abmachungen halten und so zu einem angenehmen Klima in der Beziehung beitragen?»

(Das hab ich nun davon … Doch es führt kein Weg mehr zurück: Ich setze noch einen obendrauf.)
«Geordnete Bahnen sind der Garant für eine erfolgreiche Partnerschaft.»

«Welche weiteren Talente zeichnen dich aus?»

(Höchste Zeit, dem neurotischen Verhör ein Ende zu bereiten.)
«Ich bin pünktlich, ehrgeizig, pflichtbewusst und zuverlässig. Ich kann gut planen und verfüge über einen ausgeprägten Ordnungssinn. Meine ausgeklügelten Strategien stellen sicher, dass ich das Leben im Griff habe und nicht umgekehrt. Und: Ich lasse meine Neugierde erkennen, indem ich Ihnen nun meinerseits zwei Fragen stelle. Erstens: Aufgrund welcher Prädikate haben Sie Ihren Ehemann ausgesucht? Und zweitens: Mit welchem Recht stellen Sie mir derart übergriffige Fragen?»

Stärke als Angeberei, Stärke als Phrasendreschflegel, Stärke als Schwäche. Abstossend künstlich.

Im Privatleben tabu – an der Volksschule die zielorientierte Norm

Zugegeben: Im Privatleben dürfte es wohl niemandem in den Sinn kommen, auf diese groteske Art und Weise die Zuneigung, geschweige denn das Vertrauen eines potenziellen Freundes, einer potenziellen Schwiegertochter (oder ganz generell seiner Mitmenschen) gewinnen zu wollen. Umgekehrt liesse sich hoffentlich auch kaum jemand derart penetrant über seine Charaktereigenschaften und Haltungen aushorchen, ohne Widerstand zu leisten.

Im Zeitalter von Kompetenzorientierung und Vermessungsindustrie jedoch findet sich die gesamte Schülerschaft mindestens einmal pro Jahr auf einem durchaus vergleichbaren Prüfstand wieder. An den flächendeckend verordneten Elterngesprächen, auf der Höhe der Zeit, neu «Standortbestimmungsgespräche» genannt, sind die Lehrpersonen dazu aufgerufen, die sozialen und personalen Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zu be-urteil-en und zu be-wert-en – und zwar ausgiebig. Mit Hilfe ausladender Kriterienlisten soll nicht nur das Lern- und Arbeitverhalten, sondern auch das Sozialverhalten in Sherlock-Holmes-Manier akribisch unter die Lupe genommen werden.

So erfahren Eltern etwa, ob ihr fünfjähriges Kind im Kindergarten zielorientiert spielen, seine Zeit einteilen und die Welt differenziert wahrnehmen kann. Damit nicht genug: Dem standardisierten Beurteilungsbogen können sie gar entnehmen, ob ihr Kind fähig ist, seine Stärken und Schwächen richtig (sic!) einzuschätzen, es also über eine Kompetenz verfügt, die der angeblichen Unfehlbarkeit des Papstes in nichts nachsteht.

Das ideale Lernwesen erscheint rechtzeitig in einer unterrichtstauglichen körperlichen Verfassung, arbeitet sorgfältig, zuverlässig, diszipliniert, konzentriert, eigenverantwortlich und zielorientiert.

Ein Blick in die verschiedenen Kriterienkataloge der Deutschschweizer Erziehungsdepartemente der letzten Jahre zeigt, wie sich das ideale Lernwesen, nennen wir es scholasticum idealis, nach dem Willen und der Vorstellung der pädagogischen Schreibtischelite zu verhalten und zu präsentieren habe. Die schiere Menge an bis ins Detail definierten Prädikaten, mit denen die Verhaltensmerkmale des schoalisticum idealis auf seitenlangen Kompetenzrastern bewertet wird, verschlägt einem Atem und Sprache gleichermassen:

Das ideale Lernwesen erscheint rechtzeitig in einer unterrichtstauglichen körperlichen Verfassung, arbeitet sorgfältig, zuverlässig, diszipliniert, konzentriert, eigenverantwortlich und zielorientiert.

Es beteiligt sich aktiv am Unterrichtsgeschehen, stellt themenorientierte Fragen, schaut kritisch auf seine Lernwege zurück, setzt die daraus gewonnenen Schlüsse mit Hilfe von fachspezifischen Lernstrategien um und plant die weiteren Arbeitsschritte zielorientiert.

Es beteiligt sich konstruktiv am Dialog, bringt seinem Gegenüber Achtung, Wärme und Toleranz entgegen, vertritt seine Standpunkte verständlich und glaubwürdig, kommuniziert sachlich und zielorientiert.

Des Weiteren lässt es sich nicht unter Druck setzen, kann Verfahren konstruktiver Konfliktbewältigung anwenden, den Konsens suchen und anerkennen, nutzt dazu die von der Schule bereitgestellten Instrumente zur gewaltfreien Konfliktlösung, und dies – Sie ahnen es – zielorientiert.

Dabei reflektiert es die Wirkung der Sprache, nimmt herabwürdigende verbale Ausdrucksformen nicht passiv hin und achtet seinerseits auf einen respektvollen, wertschätzenden Sprachgebrauch. Es verfügt über eine hohe Empathiefähigkeit, nimmt Rücksicht auf seine Kameradinnen und Kameraden mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, bietet von sich aus Hilfe an und zeigt sich kooperativ.

Schliesslich verfügt das scholasticum idealis über eine situationsadäquate und altersgerechte Frustrationstoleranz, kann sowohl gerechtfertigte als auch ungerechtfertigte Kritik annehmen und die eigene Position hinterfragen.

Quelle: lvb.inform 2018/19-04

Eine Chimäre als Richtschnur?

Angesichts dieser Auflistungen komme ich nicht umhin, den hartnäckig kolportierten Glauben an den Nutzen der omnipräsenten psychometrischen Vermessung unserer Kinder und Jugendlichen in Abrede zu stellen. Hand aufs Herz: Kennen Sie ein Kind, einen Jugendlichen, ja überhaupt irgendeinen Menschen, bei dem all die zuvor genannten sozialen und personalen Kompetenzen – es handelt sich dabei lediglich um einen Bruchteil real existierender Prädikate! – «gut erkennbar» sind beziehungsweise «sehr gut erfüllt» werden?

Könnten Sie sich ein Leben mit einer Partnerin oder einem Partner vorstellen, deren respektive dessen Verhalten auf dem solothurnischen Verhaltensmerkmalformular nicht nur der Norm, sondern sogar der «Grundnorm»[1] entsprechen würde?

Wie würden Sie reagieren, wenn Sie nach einem stressbedingten Arztbesuch gefragt würden, ob Sie ein zielorientiertes Leben führen: sozial kompetent oder asozial gesund?

Faire und objektive Bewertung von Soft Skills?

Soft Skills sind unheimlich schwierig zu bewerten: Sie hängen unter anderem ab vom Alter, der Situation, der Klasse, dem Unterrichtsfach und der Lehrperson. Trotzdem werden an vielen Schulen die Lehrpersonen dazu angehalten, alljährlich unzählige Kreuzchen zu setzen, sogar fachspezifisch. Bei einem Vollpensum auf der Sekundarstufe (9 Kurse, 4 Klassen, vergleichsweise wenige 10 Kriterien, Bewertung in jedem Fach) ergibt das mehr als 8100 Entscheidungen! Wenn jeder Schüler nur «einfach» beurteilt wird (also fachunabhängig), verbleiben noch immer mehr als 900 Entscheidungen.

Nur schon aufgrund der fehlenden Zeit für spezifische Beobachtungen ist es schlicht unmöglich, die personalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler halbwegs «korrekt» (beziehungsweise überhaupt) einzuschätzen.

Nur schon aufgrund der fehlenden Zeit für spezifische Beobachtungen ist es schlicht unmöglich, die personalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler halbwegs «korrekt» (beziehungsweise überhaupt) einzuschätzen. Trotzdem feiern die Kompetenzraster landauf, landab Hochkonjunktur. Entweder weil Schulleitungen diese fragwürdige Art der Beurteilung verordnen oder weil die «Raster-Raserei» halt gerade en vogue ist und man nicht rückwärtsgewandt erscheinen möchte. So oder so: Wir machen uns bei dieser Form der Beurteilung etwas vor und produzieren (un)gewollt zig Fehlurteile, was sich anhand der folgenden Beispiele leicht veranschaulichen lässt:

Aufmerksam zuhören? Wer weiss!

Es gibt Schülerinnen und Schüler, denen innere Aha-Erlebnisse im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbar ins Gesicht geschrieben stehen. Andere hingegen wirken von aussen betrachtet unkonzentriert, ja geradezu abwesend, obwohl sie intensiv mitdenken und das Geschehen genau verfolgen.

Ich kann mich noch lebhaft an meinen Deutschlehrer an der Kanti Solothurn erinnern, der sich, als er mich noch nicht gut kannte, regelmässig darüber wunderte, dass ich seine Fragen im Klassengespräch durchaus «themenspezifisch» beantworten konnte, obwohl er meiner Mimik zu entnehmen geglaubt hatte, ich würde teilnahmslos im Klassenzimmer sitzen.

Als Lehrer erlebe ich selber immer wieder Schülerinnen und Schüler, die mir sagen, sie würden die im Unterricht sprechenden Personen bewusst nicht ansehen, um so den Ausführungen des «körpersprachlosen» Gegenübers besser folgen zu können. Gerade sie tauchen in solchen Momenten besonders tief in das Geschilderte ein, ernten aber beim Prädikat «aufmerksam zuhören» vorschnell die schlechteste Bewertung.

Fallgruben, so weit das Auge reicht

Ist eine Schülerin, die lieber ein dichtes Übungsblatt vervollständigt, statt einem aus ihrer Sicht irrelevanten, da abstrakten Sprachvergleich zwischen Französisch und Vietnamesisch zu lauschen, unaufmerksam? Das kann man auch gänzlich anders sehen und zum Schluss gelangen, dass sie ihre Lernzeit effizient nutzt sowie selbständig und zielorientiert arbeitet.

Ist ein Schüler, der in einer Gruppenarbeit feststellt, dass die Präsentation in der vorgegebenen Zeit nicht zu schaffen wäre, wenn er seine vom Rest der Gruppe stark abweichende Meinung einbringen würde, ein schlechter Teamplayer? Im Gegenteil: Er reagiert situativ und intelligent – ganz im Interesse der Gruppe.

Löst eine Schülerin, die ihrer arroganten Klassenkameradin temperamentvoll die Meinung sagt, den Konflikt auf unfaire Art und Weise? Nein: Sie macht ihrem Ärger Luft, frisst die Emotionen nicht in sich hinein und verschafft sich damit Respekt. Ihre Botschaft: «Ich lasse mir nicht alles bieten, merk dir das!»

Fehlt es einem Schüler, der nicht bereit ist, dem ewig faulen Banknachbarn seine mit viel Aufwand erstellte Mindmap zur Verfügung zu stellen, an Hilfsbereitschaft oder ist er gar egoistisch? Mitnichten! Er lässt sich einfach nicht ausnutzen und teilt dem Kollegen so mit, dass er vom Unterricht profitieren würde, wenn er sich selbst die Mühe machte, aktiv mitzuschreiben.

Bild: Fotolia

Hält sich eine Schülerin, die sich getraut, den moralinverseuchten Monolog ihrer Klassenlehrerin zu unterbrechen, indem sie ihr vor der Klasse ins Wort fällt, nicht an die Gesprächsregeln? Ja, aber ohne ihr Votum würde die Lehrerin womöglich nie erfahren, worum es bei dem Konflikt wirklich geht.

Im Hörspiel «Der Vampir von Sussex» bringt es Sherlock Holmes auf den Punkt: «Mein lieber Ferguson, was man sieht und was das, was man sieht, bedeutet, können zwei sehr verschiedene Dinge sein.»[1]

«Was man sieht und was das, was man sieht, bedeutet, können zwei sehr verschiedene Dinge sein.»

Sherlock Holmes

Bevormundung und Abwertung

Besonders heikel wird es dann, wenn gemeinhin positiv konnotierte Prädikate auf den ersten Blick zwar relativ einfach beurteilbar scheinen, diese für den Lernerfolg aber irrelevant sind oder die Persönlichkeitsmerkmale der Lernenden gar ab-wert-en, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Ordnung halten

Ob ein Schüler seine Hefte regelmässig nachführt und seine Arbeitsblätter passend einordnet, ist schnell zu eruieren. Das Spektrum reicht von «Ordnung ist das halbe Leben» bis hin zu «Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen».

Natürlich bestreite ich nicht, dass ein «sinnvolles Ordnungskonzept» – wie es im Fachjargon genannt wird – das Leben in der Schule und zu Hause erleichtern kann. Selbstverständlich kann sich diese per definitionem positiv konnotierte «Eigenschaft» merklich auf die Zufriedenheit oder den Lernerfolg auswirken. Aber eben nicht zwangsläufig.

Provokativ gefragt: Schmeckt Ihnen das Abendessen am Geburtstag Ihres Freundes besser, wenn er beim Prädikat «kann Ordnung halten» mit einem «in hohem Masse erkennbar» punkten könnte? Oder wäre in diesem Setting ein «nicht erkennbar» der Geselligkeit, den lebhaften Diskussionen, der Ambiance oder dem gemütlichen Beisammensein nicht eher zuträglich?

Bild: Fotolia

 

«Ist meine im Werkunterricht gestrickte Kappe weniger schön, nur weil ich zu wenig ins Dossier geschrieben habe?», fragte mich kürzlich mein Sohn. – «Nein.» – «Warum habe ich dann nur eine 5.5 erhalten? Schau mal: Kappe 6, Dossier 5.» – «Weil, ähm, weil der neue Lehrplan von den Lehrpersonen verlangt, auch den Lernweg zu beurteilen.» – «Aha, dann hätte ich für meine Kappe also die gleiche Note bekommen, wenn ich weniger sorgfältig gestrickt und dafür mehr ins Dossier geschrieben hätte?» – «Ja.» – «Welche Kappe würdest du im Laden kaufen: die exakt verarbeitete oder die ungenaue?» – «Die exakte.» – «Eben!»

 

 

«If a cluttered desk is a sign of a cluttered mind, of what, then, is an empty desk a sign?» Albert Einstein Bild: Fotolia

Ich halte es deshalb mit Albert Einstein, dem das folgende Zitat zugeschrieben wird und hoffe, dass die unkorrigierten Klassenarbeiten, das zerlegte Kurzwellenfunkgerät und der zischende Lötkolben, welche bisweilen während der Entstehung dieses Artikels meinen Schreibtisch «zierten», die Qualität meiner Ausführungen nicht zu trüben vermochten: «If a cluttered desk is a sign of a cluttered mind, of what, then, is an empty desk a sign?» (Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist repräsentiert, was sagt dann ein leerer Schreibtisch über den Menschen aus, der ihn benutzt?)

Auftrittskompetenz

In ihrem leidenschaftlichen TED Talk «The power of introverts» zeigt Susan Cain auf, wie schwierig, ja sogar beschämend es für introvertierte Menschen sein kann, sich in einer Kultur zurechtfinden zu müssen, in der soziale, kommunikative und kontaktfreudige Menschen als Mass aller Dinge gelten. Dabei, so Cain, seien es oft gerade stille, zurückhaltende, nach innen gerichtete Menschen, die über aussergewöhnliche Talente und Fähigkeiten verfügten, die sie aber nur entdecken, pflegen und ausschöpfen könnten, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes in Ruhe gelassen werden. Stille und Einsamkeit seien für kontemplative Menschen «die Luft, die sie atmen»[2].

Kooperative Lernformen, verordnete Teamarbeit, Präsentationen oder laute Lernumgebungen hingegen wirken auf introvertierte Menschen bedrohlich, schmälern den Lern- und Arbeitserfolg und beeinträchtigen das Wohlbefinden markant. Wenn Lehrpersonen bei Prädikaten wie «beteiligt sich aktiv am Unterricht», «geht offen auf Neues zu» oder «bringt seine Ideen und Meinungen ein» das Kästchen «nicht erkennbar» ankreuzen, werden sie der Persönlichkeit der Betroffenen – laut Cain handelt es sich dabei um rund ein Drittel der Bevölkerung – nicht gerecht.

In behutsam geführten Gesprächen jenseits bevormundender Kriterienkataloge mag es bisweilen gelingen, den vor sich hinschlummernden extrovertierten Teil in manchen introvertierten Lernenden zu wecken. Dazu braucht es allerdings eine gehörige Portion Menschenkenntnis und Mut, um abschätzen zu können, ob ein leicht «forcierter» Auftritt vor der Menge das eventuell vorhandene extrovertierte Potenzial in einem Schüler zu wecken vermag.

Meine Kindergartenlehrerin ging damals so ein Wagnis ein, indem sie mir in einem Theaterstück kurzerhand die Rolle des Zirkusdirektors zuteilte, die ich zur grossen Verwunderung meiner Eltern mit Bravour meisterte. Dieser «Erfolg», diese angebliche «Stärkung der Persönlichkeit» änderte aber auf Dauer nichts an meinem eher stillen und zurückhaltenden Wesen während der Schulzeit. Das Erwecken meiner extrovertierten Seite verdankte ich vielmehr meiner ersten Freundin. Aus unerfindlichen Gründen liess ich mich von ihr zu einem Tanzkurs überreden. Kein Standortbestimmungsgespräch und kein Kompetenzraster der Welt jedoch hätten es geschafft, meine Passion für die Tanzfläche – ein exponierter Ort par excellence – zu wecken.

Kreative Ideen für den Unterricht oder spontane Einfälle für Artikel im «lvb.inform» fallen mir auch heute noch in der «Einsamkeit» ein: In der Stille des Waldes. Im Büro im Untergeschoss, um zwei Uhr nachts, wenn alle anderen schlafen. Laute Partys, Kennenlernspiele an schulinternen Fortbildungen, verordnetes WIR-Gefühl, die Überhöhung des sogenannten social proof[3] hingegen gehören nach wie vor nicht zu meinen Vorlieben – die pädagogische Kooperation, so sie als Ei des Kolumbus verkauft werden soll, inklusive.

Eigene Wege finden und gehen (lassen)

Im Film «Dead Poets Society» lässt Robin Williams alias Mister Keating ein paar seiner Internatsschüler im Innenhof im Kreis spazieren. Schon nach kurzer Zeit marschieren die Studenten im Gleichschritt, andere schauen zu. Die meisten klatschen im Rhythmus, als Keating den Marschierenden Kommandos erteilt. In der Folge macht der Lehrer die Studenten auf das Phänomen der Konformität aufmerksam: die Schwierigkeit, die eigenen Überzeugungen anderen gegenüber aufrechtzuerhalten: «Die Blicke von einigen hier verraten, dass Sie denken, Sie wären nicht mitmarschiert. Aber dann fragen Sie sich mal, warum Sie mitgeklatscht haben!»[4] Daraufhin stellt er ihnen die ungewöhnliche Aufgabe, nun individuell, auf ihre Art und Weise ein paar Schritte zu tun und ihren eigenen Rhythmus zu finden. Ein einziger Schüler bleibt lässig an einer Mauer angelehnt stehen. «Mister Dalton, wollen Sie nicht mitmachen?» – «Ich mache von meinem Recht Gebrauch, nicht teilzunehmen.» – «Danke, Mister Dalton, Sie bringen es auf den Punkt!»

«Two roads diverged in a wood,
and I, I took the one less traveled by,
and that has made all the difference

Robert Frost

Wir brauchen keine idealen Lernwesen, die den (zufälligen) Launen des Zeitgeists entsprechen, sondern Schülerinnen und Schüler wie Mister Dalton. Und Lehrpersonen wie Mister Keating, der die «überfachlichen Kompetenzen» seiner Schüler nicht mit einem standardisierten Kriterienraster «abfertigt», sondern seine Schützlinge in ihrer jeweiligen Persönlichkeit stärkt und sie dazu ermutigt, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen.

Wir brauchen keine idealen Lernwesen, die den (zufälligen) Launen des Zeitgeists entsprechen, sondern Schülerinnen und Schüler wie Mister Dalton. Und Lehrpersonen wie Mister Keating, der die «überfachlichen Kompetenzen» seiner Schüler nicht mit einem standardisierten Kriterienraster «abfertigt», sondern seine Schützlinge in ihrer jeweiligen Persönlichkeit stärkt und sie dazu ermutigt, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen.

Ich bin sehr dafür, wenn sich Lehrerinnen und Lehrer nicht von an (leeren?) Schreibtischen erdachten Rastern täuschen lassen, zumal die Verfasser der Raster mit hoher Wahrscheinlichkeit beim fiktiven Prädikat «Ich lasse mich rasch für Modeströmungen begeistern» mit einem «in hohem Masse erfüllt» glänzen würden.

Alternativen

Meine Sicht der Dinge ist diese: Ein kurzes Feedback unmittelbar nach einer gelungenen Präsentation unter vier Augen im Gang, eine individuelle Prüfungsbesprechung während einer Stillarbeit, ein spontanes Gespräch auf einer Wanderung, eine ungeplante Diskussion nach dem regulären Unterricht sind jedem standardisierten Raster haushoch überlegen. Man erfährt und teilt Unerwartetes und eben nur vermeintlich Nebensächliches quasi en passant.

Beispiele gefällig? Eine Schülerin erzählt begeistert vom neuen Bühnenstück, welches das Junge Theater Basel demnächst aufführt, und verrät mir, wie sie Schule und ihre anspruchsvolle Schauspielerei unter einen Hut bringt. Einem Schüler, der mich um eine individuelle Prüfungsbesprechung gebeten hat, kann ich ein paar spezifische Tricks aufzeigen. Ich erfahre, wie es um die aktuelle Klassendynamik bestellt ist. Es entsteht eine spannende Diskussion um die Frage, warum denn der Klassenschnitt im Fach Deutsch tiefer liegen könne als in Englisch, schliesslich sei Deutsch doch die Muttersprache. Zwei Schülerinnen schenken mir ihr Vertrauen, indem sie erzählen, dass sie von einem Jungen gehänselt werden, und möchten wissen, was ich von ihrem Plan halte, um dagegen etwas zu tun. Ein Schüler findet es grossartig, dass er seinen Englischlehrer mit seinem britischen Humor regelmässig zum Schmunzeln bringt. Und wieder ein anderer hat die Nase gerade voll und möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Statt von meinen Kolleginnen und Kollegen zu verlangen, meine Schülerinnen und Schüler im Vorfeld eines Elterngesprächs «durchzukreuzeln», bitte ich sie, mir die Lernenden aus ihrer Perspektive zu schildern. An Austauschrunden, via Sprechnachricht etc. erhalte ich so innert Kürze eine Fülle an bedeutsamen Informationen und bin bestens gerüstet für facettenreiche und hoffentlich fruchtbare Gespräche. Das Führen solcher Eltern- oder Standortgepräche nach standardisierten Kriterien aber halte ich für eine Beleidigung der Mündigkeit aller Gesprächteilnehmenden.

Anhand von Situationen, welche das unmittelbare Geschehen betreffen, halte ich die Schülerinnen und Schüler regelmässig – aber dosiert (!) – dazu an, herauszufinden, welche Fähigkeiten und Vorgehensweisen ihnen das Leben an der Sekundarschule erleichtern und welche eher nicht. Mit handfesten und einfachen Fragestellungen finden Schülerinnen und Schüler schnell heraus, was rund läuft und wo es allenfalls klemmt. Habe ich neben der Schule noch Zeit für meine Freunde und mein Hobby? Könnte ich, wenn nötig, noch einen Gang höher schalten? Wie fühle ich mich in der neuen Klasse? Mit welchen Kolleginnen kann ich so lernen, dass es mir persönlich etwas bringt? Was hat mich in letzter Zeit geärgert, worüber habe ich mich gefreut?

Es ist mir dabei ein Anliegen, dass sich die Schülerinnen und Schüler zu ausgewählten Themen auch tatsächlich Gedanken machen. Noch viel wichtiger aber ist für mich, dass sie sich an den Standortgesprächen zu denjenigen Themen äussern, die für sie auch wirklich persönlich relevant sind.

«Mir ist aufgefallen, dass ich bessere Noten schreibe, wenn ich mein Deutschheft regelmässig nachführe. So repetiere ich den Stoff und muss gar nicht mehr viel lernen.» Oder: «Nun gut, mein Lesejournal ist nicht immer vollständig. An den Lektüreprüfungen habe ich aber stets eine 5 oder mehr. Ich profitiere vor allem im Unterricht, das ist spannender und ich habe erst noch mehr Zeit für die Schauspielerei.» Und eine Schülerin, der ich einst mitteilte, dass ihre Hefte zwar wahrhaftige Kunstwerke seien, sie ihre Zeit für die aufwändige Gestaltung doch sicher auch anderweitig einsetzen könnte, sagte mir: «Wissen Sie, ich bin gerne kreativ. Wenn ich ein Heft gestalte, vergesse ich die Zeit, ein tolles Gefühl.» Wer arbeitet denn nun «zielgerichtet», wer erreicht das Lernziel und wer hat recht? Die Antwort ist simpel: alle!

Wir sollten nie aus den Augen verlieren, dass Kinder und Jugendliche mehr (und komplexer) sind als die Summe von Kreuzchen in worthülsenverdächtigen, vorgefertigten Rastern.

Wir sollten nie aus den Augen verlieren, dass Kinder und Jugendliche mehr (und komplexer) sind als die Summe von Kreuzchen in worthülsenverdächtigen, vorgefertigten Rastern. Wenn wir daran nicht glauben würden, hätten wir dann den Lehrberuf ergriffen? Richtigerweise wird die Bedeutung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden immer wieder hervorgehoben. Wie sollten wir diesem Paradigma gerecht werden können, wenn wir die uns Anvertrauten in ein letztendlich banalisierendes Schema pressen? Nein, auf rigide Kästchenpädagogik und aufgeblasene Prädikatenbalkendiagramme können wir getrost verzichten.

Das sieht im Übrigen auch die eingangs erwähnte Schwiegermutter so. Als sie die Türe öffnet und Mary zum ersten Mal erblickt, sagt sie überrascht:

«Mary! Good Lord you’re pretty!»

«Oh no, it’s just … I’ve got a lot of Mascara and lipstick on.»

“Let’s have a look. Ah, yes. Good!

Philipp Loretz

 

[1] «About time», Strandszene, https://www.youtube.com/watch?v=DNXGUn0Yrb8

[1] Verhaltensmerkmale Sekundarstufe I, AVK Solothurn

[1] Sherlock Holmes in «Die Originale – Fall 7: Der Vampir von Sussex» auf Spotify

[2] Susan Cain, TED Talk «The Power of Introverts», https://www.ted.com/talks/susan_cain_the_power_of_introverts

[3] Soziale Bewährtheit: Der Ausdruck «social proof» wurde ursprünglich von Robert Cialdini in seinem 1984 erschienenen Buch «Influence. The Psychology of Persuasion» geprägt (deutsche Ausgabe S. 163 ff.). Die deutschen Buchausgaben verwenden hier die etwas sperrige Übersetzung soziale Bewährtheit: «… die Menge besitzt Beweiskraft. Dieses Prinzip besagt, dass das Verhalten der Menschen weitgehend von dem Verhalten anderer um sie herum geprägt ist, insbesondere vom Verhalten derer, mit denen sie sich identifizieren.» (Martin, Goldstein, Cialdini S. 22), https://vernunftpraxis.de/was-ist-sozialer-beweis/

[4] Der Club der toten Dichter, 1989
https://www.youtube.com/watch?v=REtaUSQ0i1Q
https://www.youtube.com/watch?v=nJ_htuCMCqM

 

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