Teaching to the Test - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 10 Jul 2021 17:07:42 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Teaching to the Test - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der schiefe Turm von PISA: eine Podiumsveranstaltung mit Urs Moser und Carl Bossard https://condorcet.ch/2021/07/der-schiefe-turm-von-pisa-eine-podiumsveranstaltung-mit-urs-moser-und-carl-bossard/ https://condorcet.ch/2021/07/der-schiefe-turm-von-pisa-eine-podiumsveranstaltung-mit-urs-moser-und-carl-bossard/#respond Sat, 10 Jul 2021 08:42:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=8841

Nach einer längeren coronabedingten Pause starteten die Ostschweizer Kinderärzte wieder ihre stets hochkarätig besetzte Veranstaltungsreihe zu aktuellen Bildungsthemen. In der ersten Veranstaltung dieses Jahres kreuzten der Bildungsforscher und Statistiker Urs Moser und Condorcet-Autor Carl Bossard die Klingen. Alain Pichard war an diesem Anlass dabei und berichtet für unseren Blog.

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Dr. Jürg Barben, Mitinitiator der Vortragreihe der Ostschweizer Kinderärzte

Es waren einmal mehr illustre Gäste, die Dr. Jürg Barben am Mittwoch, 7. Juli, in der Aula der PH St. Gallen begrüssen durfte. Man konnte gespannt sein, was sich der Empiriker Urs Moser und der Pädagoge Carl Bossard zu sagen hatten. Der Untertitel «Schüler und Lehrer im (Test-)Stress» sei, so Barben, bewusst provokativ gewählt. Und Arno Noger, FDP-Politiker und ehemaliger Gymnasialrektor in St. Gallen, bekräftigte diese These. Schule könne zu Stress führen. Denn der Macht der Tests könne man sich nicht entziehen und keine Schule wolle dabei schlecht abschneiden.

Dr. Urs Moser, Institut für Bildungsevaluation: PISA misst nur, was sich messen lässt.

Urs Moser, Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Bildungsevaluation, war natürlich gefordert, zumal er in der nationalen Projektleitung PISA mitwirkte. Er entwarf mit seinem Team zahlreiche Testverfahren, darunter auch die bekannten Stellwerktests. Vorerst erklärte er den Anwesenden noch einmal in Kürze das Wesen und die Ziele der PISA-Tests. Es handle sich um standardisierte Überprüfungen der Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft. Und jedes Mal würden auch Kontexte und Hintergrundmerkmale der Ergebnisse erforscht. In der Schweiz, so haben diese Untersuchungen ergeben, herrsche trotz des Wohlstands eine grosse soziale Ungleichheit, was sich auch auf die Schulleistungen auswirken würde. Die Tests, von der Wirtschaftsorganisation OECD in Auftrag gegeben, seien auf Vergleichbarkeit ausgerichtet, orientierten sich an Kompetenzen und nicht an nationalen Lehrplänen und erfreuten sich immer grösserer Beliebtheit. Zurzeit nähmen 65 Länder an diesen Tests teil.

PISA als Katalysator

In mehreren Folien präsentierte Moser die Schweizer Ergebnisse der PISA-Tests, darunter die von vielen Bildungsakteuren als schockierend empfundenen unterdurchschnittlichen Fähigkeiten beim Leseverständnis. Noch vor 30 Jahren habe dies niemand richtig gewusst. PISA messe nur, was sich messen liesse. Trotzdem korrelierten gute PISA-Resultate mit dem jeweiligen Wohlstand eines Landes. PISA sei auch ein Katalysator für Reformprojekte gewesen, über deren Sinn oder Unsinn er sich aber ausschwieg. Immerhin stellte er auch fest, dass PISA-Resultate falsch interpretiert oder falsch genutzt würden. Nur ein geringer Anteil der Bildungsinhalte könne überhaupt standardisiert und gemessen werden.

Da die Familien ihre Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit ihrer sozialen Position treffen, löst dies vor allem bei den Gymnasiumsübertritten Stress aus, besonders bei Kindern, die den Anforderungen nicht gewachsen seien.

Urs Moser: Stress ist systemimmanent.

Dann wandte sich Moser dem insinuierten Stress zu und meinte, Stress löse PISA vor allem bei den Bildungspolitikern aus, die durch mangelhafte Resultate in einen Rechtfertigungsdruck kämen. Die PISA-Tests lösten hingegen bei den Schülerinnen und Schüler kaum Stress aus, sie seien ja auch folgenlos. Ansonsten, so Moser, sei Stress in der Schule systemimmanent. In den Schulen werde stets getestet, es werde über Zugänge und Karrieren entschieden und Fremdsprachenlernen ohne Tests sei prinzipiell ja gar nicht möglich. Da die Familien ihre Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit ihrer sozialen Position träfen, löse dies vor allem bei den Gymnasiumsübertritten Stress aus, besonders bei Kindern, die den Anforderungen nicht gewachsen seien. Allerdings sei der Graben zwischen öffentlicher Wahrnehmung und seriösen Untersuchungen markant. Die Healt Behaviour-Studie (2018) zeige, dass sich drei Viertel der Jugendlichen während ihrer Schulzeit kaum oder nur wenig gestresst fühlten. Im Übrigen sei auch ein Grossteil der Eltern trotz aller medialen Erregungsausschläge mit der Schule recht zufrieden. Süffisant kommentierte Moser auch die empirisch belegte Tatsache der unterschiedlichen Gymnasiumsquoten in der Schweiz. «Wenn Sie Ihr Kind unbedingt an das Gymnasium schicken wollen, und das möglichst stressfrei, dann sollten Sie nach Genf zügeln (Gymnasialquote 34,5%), dies im Gegensatz zur Innerschweiz (12,5%).» Und –  ganz Empiriker – diese unterschiedlichen Gymnasialquoten verhielten sich umgekehrt proportional zu den PISA-Leistungen. Dort schneide die Stadt Genf regelmässig ganz schwach ab.

Die Lehrer sollten neben ihren eigenen Tests einmal im Jahr – als eine Art «Justierung» – auch einen national abgestimmten und standardisierten Test machen.

Die Lehrer sollten neben ihren eigenen Tests einmal im Jahr – als eine Art «Justierung» – auch einen national abgestimmten und standardisierten Test machen. Das helfe, die Leistungen der Lernenden besser einzuschätzen. Zum Lehrplan meinte Urs Moser, dass er ja auf den Unterricht kaum Auswirkungen habe. Die meisten Lehrkräfte unterrichteten wie vorher.

Carl Bossard: Kalte PISA-Logik verdrängt die pädagogischen Mikroprozesse.

Mit Carl Bossard, Condorcet-Autor und Gründungsrektor der PH-Zug, trat nun ein entschiedener Kritiker des übertriebenen und standardisierten Testens an das Mikrophon. Die kalte Logik von PISA, so Bossard, gefährde die Beziehungsebene und die pädagogischen Mikroprozesse wie beispielsweise das Aufbauen mit dem Verstehen, das Konsolidieren mit dem Festigen und das Anwenden des Gelernten. Das verstärkte Testen verändere den Unterricht, reduziere ihn auf Standards und führe zu einer Verarmung im pädagogischen Dreieck mit den Mikroprozessen des Lernens. Bildung habe mit Würde zu tun und vor allem mit Beziehung. Dazu zitierte er den Autor Albert Camus, in dessen autobiografischem Werk «Der erste Mensch»  M. Bernard, Camus’ Lehrer, den Begriff der Bildung geradezu verkörperte. Ein Mann, der seinen Beruf liebte und dessen Schüler «Gegenstand höchster Achtung» gewesen seien.

Die Sprache verrät den Geist: Bildung wird so «McDonaldisiert» (Prof. Theo Wehner), die Lehrpersonen werden zu «Vollzugsbeamten und die Schüler zu Vollzogenen»

PISA und die dahinterstehende Ideologie lenkten den Blick der Bildung auf die Makroprozesse der Organisation. Es sei viel von Qualitätsmanagement und Digitalisierung die Rede, von Management und Benchmarking, weg von der Input- und hin zur Output-Steuerung. Schulen müssten, so die Doktrin, effizient und effektiv werden. Damit würden Abläufe trivialisiert und standardisiert. Die Sprache verrate den Geist: Bildung werde so «McDonaldisiert» (Prof. Theo Wehner), die Lehrpersonen würden zu «Vollzugsbeamten und die Schüler zu Vollzogenen», wie der sensible Lehrerpoet Peter Bichsel vor Kurzem festgestellt habe. Bossard zitierte aus dem Schreiben eines jungen Lehrers, der beklagte, dass er die ganze Zeit beurteilen müsse. Die Kinder würden ständig in Kompetenzraster gezwängt, der Unterrichtsinhalt sei zu einem unzusammenhängenden Sammelsurium verkommen, es fehle die Musse, der Aufbau.

Bossard liess durchblicken, dass er keineswegs gegen Evaluation und Überprüfungen sei. Sie gehörten zu den Bildungsprozessen. Aber mit der zunehmenden Testmanie, die sich nicht nur durch PISA ausdrücke, sondern sich auch in den zahlreichen Kompetenzrastern, Sprachstandserhebungen und Beobachtungsbögen manifestieren, gehe der Blick auf das Ganze verloren. Bossard beobachtet eine Art Dekonstruktion des Ganzen. Mit Entsetzen blicke er auf die umfangreichen Beobachtungsbögen in den Kindergärten, welche die Kinder schon früh vermessen wollten: auf Buchstaben und ganze Sätze, auf Zahlen. Eltern bekämen Panik; das generiere den berühmten elterlichen Förderungswahn. PISA und die Leistungsmessungen hätten die Lernleistungen der Kinder aber nachweislich nicht verbessert. Er verwies darum auf den bekannten Bildungsphilosophen Gert Biesta, der eindringlich gefragt hat: «Messen wir tatsächlich das, was wir wertschätzen, oder messen wir nur das, was leicht messbar ist, und bewerten dann das, was wir messen können?»

Albert Camus in “Der erste Mensch”: “Ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.”

Wirkung entstünde aus dem gemeinsamen Nachdenken. Schulleitung und Lehrkräfte entwickeln gemeinsame Kriterien zur Unterrichtsqualität. Die Schulleitung müsse ihre Lehrkräfte vor bürokratischen Übergriffen schützen und sich weigern, unsinnige Vorgaben ausführen zu lassen. Im Mittelpunkt jeder Schule stünde die Frage: «Was ist uns für unsere Kinder und Jugendlichen pädagogisch gemeinsam wichtig?» Bossard schloss mit Albert Camus, der nach der Verleihung des Nobelpreises seinem Lehrer geschrieben hat: «Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie mir, dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.»

Der Abend endete in der obligaten Fragerunde an die Referenten, die immer wieder dazu benutzt wurde, noch eigene Co-Referate oder längere Stellungnahmen zu formulieren.

Alain Pichard

 

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2. Teil: Kompetenzen, Standards: Alles klar? https://condorcet.ch/2019/06/2-teil-kompetenzen-standards-alles-klar/ https://condorcet.ch/2019/06/2-teil-kompetenzen-standards-alles-klar/#comments Thu, 20 Jun 2019 06:49:04 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1427

Wir veröffentlichen heute den 2. Teil der Abhandlung von Felix Schmutz. Der Condorcet-Autor belegt darin den angestrebten Umbau unseres Unterrichts. In seiner umfassenden, verständlichen und klar gegliederten Analyse darf dieses Dokument als "document pédagogique" bezeichnet werden, ganz in der Tradition unseres Vorbilds Jean-Marie de Condorcet!

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Die wenigen öffentlich zugänglichen Beispiele zeigen, dass in kompetenzorientierten Lehrgängen oder Testblättern Aufgaben in Form von multiple choice und Zuordnungen dominieren. Detaillierte Anleitungen enthalten oft schon die halbe Lösung der Aufgabe. Die Auswahlantworten müssen genügend klar und unterscheidbar sein, damit eindeutige Lösungen identifiziert werden können. Die Aufgaben sind somit nach einer eigenen Logik gestaltet, ähnlich dem Fernsehquiz Wer wird Millionär? Wer diese Logik durchschaut, kann die richtige Lösung auch allein dank allgemeiner Intelligenz oder dank allgemeinem Vorwissen oder auch dank fachfremden Kompetenzen erraten, wenn er von der Sache nur wenig versteht. Es ist eine Illusion, von der Lösung dieser Aufgaben auf Sachkompetenz schliessen zu wollen.

Die Prüfungsstelle in Luxemburg kritisierte die amateurhaften Aufgabenstellungen

Bei der schweizweiten Überprüfung der Grundkompetenzen von 2016 kritisiert denn auch die Prüfungsstelle in Luxemburg, welche die Anlage, Durchführung und Auswertung des Mathematiktests kritisch analysiert und mit internationalen Standards verglichen hat, die amateurhaften Aufgabenstellungen[1]:

Item development can be substantially improved and is currently the weakest link in the ÜGK/COFO operation.

Sie weist darauf hin, dass die ganze Erhebung von der Qualität der Aufgabenstellungen abhängt. Obwohl die statistische Auswertung untadelig ist, seien die Resultate mit dem Mangel ungeeigneter Aufgaben behaftet und somit in ihrer Aussagekraft zu relativieren.

Das wirkliche Leben funktioniert nicht wie ein Millionärsspiel mit Auswahlantworten.

Das wirkliche Leben funktioniert nicht wie ein Millionärsspiel mit Auswahlantworten. Da muss ein Text in seinem wörtlichen und übertragenen Sinn verstanden werden, er muss an Vorwissen angeknüpft werden können, beim Formulieren muss man automatisch richtig schreiben und nicht nur Wörter oder Buchstaben in Lücken einsetzen können, beim Formulieren in der Fremdsprache müssen Wörter spontan zur Verfügung stehen, sie können nicht nur einfach aus Listen abgekupfert und zugeordnet werden. Echte Sachkompetenz kann nur in offenen Aufgaben getestet werden.

different columns with checkboxes, voting with ball pen by tick

 

In seinem Positionspapier nimmt der LCH-Dachverband Stellung zu standardisierten Tests. Die folgende daraus zitierte Feststellung trifft ebenso gut auch auf entsprechende digitale Kompetenztrainings zu:

Trotz grossen methodischen Fortschritten zeigen Tests aber immer nur Ausschnitte von Potentialen… Weil Tests immer nur das messen, was gemessen werden kann, wird das Postulat einer umfassenden Menschenbildung durch eine breite Grundausbildung massiv eingeschränkt. [2]

Ob sich der LCH noch an seine eigene Positionierung erinnert?

Die Aufgabenpools von mindsteps enthalten inzwischen 25’000 Aufgaben der oben gezeigten Art. Arbeiten Kinder und Jugendliche vorwiegend solche Softwareprogramme ab, entwickeln sie sicher ein gewisses Geschick im Umgang mit den einschlägigen Übungsformaten, so dass sie in ähnlich gestalteten Tests durchaus gut abschneiden können. Damit handelt es sich bei mindsteps aber um nichts anderes als um reines Teaching to the Test. Also genau das, wovor Kritiker seit Langem warnen. Die Testindustrie, die geschäftstüchtig auch Übungsprogramme anbietet, generiert so zwangsläufig erfolgreiche Resultate und legitimiert damit ihre Existenz. Ein sich selbst bestätigendes System der Täuschung entsteht.

Es entsteht ein sich selbst bestätigendes System der Täuschung

Wollte man Lernen mit digitalen Tools anstreben, müssten die Programme von der Sache her konzipiert werden und in Schritten vom Einfachen zum Schwierigen hinführen. Im Gegensatz zu einem Tool wie mindsteps ginge es nicht um Gehirnoptimierung, sondern um sachlogischen Aufbau des Wissens und Könnens. Statt mindsteps müsste es learning steps heissen. Solche Programme gibt es schon lange unter dem Namen «programmierter Unterricht» in mehr oder minder guter Qualität. 

  1. Kompetenzgewinn gleich Lernen?

Ist es aber überhaupt möglich, sachlogisches Step-by-Step-Lernen zu ersetzen durch Kompetenzlernen nach dem Muster des Tools mindsteps?

Es dürfte einleuchten, dass digitale Selbstläufer-Tools wie mindsteps zwar Menschen so weit konditionieren, dass sie Testaufgaben wie die oben besprochenen lösen können, dass sie dadurch aber nicht die anspruchsvollen Fachkompetenzen erlangen können, die im Lehrplan 21 aufgelistet sind. Um fachliches Wissen und Können zu erwerben, bleibt die schrittweise Aufnahme des Stoffes, die personal begleitete Vermittlung und die Lösung von umfassenderen und offeneren Aufgaben unabdingbar. Kompetenz entsteht nicht durch das modulartige Zusammensetzen von Puzzlesteinen des Könnens, sondern umgekehrt, durch ein integrales Verständnis, das auf Einzelphänomene heruntergebrochen werden kann.

Allerdings wird man dem nur zustimmen, wenn man sich an die eigentliche Bedeutung von Kompetenz erinnert. Obwohl häufig zitiert, meint Franz E. Weinerts Definition von Kompetenz nicht das, was im Lehrplan 21 als Ansammlung von Einzelfähigkeiten aufgeführt ist. Weinert versteht unter Kompetenz ein Potenzial zur Problemlösung. Das Potenzial kann nicht in kleine Einzelteile zerlegt werden, es ist ein kognitives Ganzes, das bei einzelnen Aufgaben angezapft wird. Ein solches Potenzial entsteht zwar wohl durch kumulative Lernerfahrungen oder durch einzelne Lernschritte, es ist aber erst als Kompetenz souverän abrufbar mit einer zeitlichen Verzögerung, die für die kognitive Verarbeitung und Speicherung benötigt wird.

 

Wie kam es zu diesem Missverständnis des Begriffes Kompetenz? Einfache Antwort: Durch eine Verwechslung! Die OECD erteilte der Lernpsychologie den Auftrag, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem sich die Leistungen von Schulen international vergleichen lassen sollten. Die Psychologie wählte ein Verfahren in Analogie zur Messung der Intelligenz. Intelligenz ist die angeborene und im Austausch mit der Umwelt entwickelte kognitive Problemlösefähigkeit, mit deren Vermessung Psychologen seit hundert Jahren operieren. Als Kompetenz bezeichneten sie deshalb nun diejenige Problemlösefähigkeit, die durch schulischen Unterricht entwickelt wird. [3]

Das Messverfahren wurde analog zur Intelligenzmessung in ähnlicher Weise, aber mit Aufgaben aus den Schulfächern Erstsprache, Mathematik und Naturwissenschaften entwickelt und geeicht. Damit sollten objektive Grössen ermittelt werden, mit denen die Leistungen der Schulabgänger erfasst und verglichen werden konnten. Solche zur Leistungsmessung definierten Aufgabenformate, die als Kompetenzen umschrieben wurden, bildeten die Grundlage für die PISA-Erhebungen. Wie bei Intelligenztests wurden aus den Testresultaten Rückschlüsse auf die Kompetenz, auf das in der Schule erworbene Potenzial gezogen.

Nebenbei: Vergleiche zwischen Intelligenz- und Kompetenzmessungen ergaben eine hohe Korrelation. Wer intelligent ist, hat es leichter, im Schulunterricht gute Kompetenzen zu erwerben. Wie Anton Hügli darlegte, baute die Psychologie mit ihren Kompetenzmessungen die Deutungshoheit über menschliche Leistungsfähigkeit aus, die sie schon mit Intelligenztests erlangt hatte.[4]

Aus den zur Leistungserhebung definierten Kompetenzen und den an Aufgaben geeichten Messgrössen wurden plötzlich Lernziele. Das ganze schulische Lernen sollte auf psychologisch definierte Messgrössen ausgerichtet werden, obwohl dies niemals so gedacht war.

Im Zusammenhang mit der PISA-Hysterie sahen sich nun Politik und Pädagogik schuldbewusst genötigt, Vorkehrungen gegen unterdurchschnittliche Resultate zu treffen. Aus den zur Leistungserhebung definierten Kompetenzen und den an Aufgaben geeichten Messgrössen wurden plötzlich Lernziele. Das ganze schulische Lernen sollte auf psychologisch definierte Messgrössen ausgerichtet werden, obwohl dies niemals so gedacht war. Die ursprüngliche Absicht war gewesen, in stichprobenartigen Ausschnitten die Kompetenzen zu eruieren, die sich nach abgeschlossener Volksschule als Kondensat bei Jugendlichen feststellen liessen, und zwar ohne direkte Bezugnahme auf einzelne Elemente des Lehrplans. Niemals aber wollte man Kompetenzen zum Ausgangspunkt des Lernens postulieren. Vielmehr hätte das Lernen mit geeigneten didaktisch-methodischen Massnahmen verbessert werden müssen, damit daraus nachhaltigere Kompetenzen resultierten.

Die schon oben erwähnte luxemburgische Prüfinstanz, die mit dem «Auditing» der Grundkompetenzenerhebung beauftragt war, warnt denn auch explizit vor kommerziellen Kompetenztrainings, die psychologisch-wissenschaftlichen Standards wegen ihrer Laienhaftigkeit nicht genügen.[5]

Zur Erinnerung: Lernen bedeutet, einer Sache begegnen und sich mit ihr auseinandersetzen, Verständnis und Erkenntnis gewinnen, das Verstandene anwenden und üben, das Neue mit früheren Erkenntnissen verbinden. Folge und Resultat dieser Arbeit sind Wissen und Kompetenzen. Mit Kompetenzen beginnen heisst jedoch, das Pferd vom Schwanz her aufzäumen. Man glaubt, den Lernprozess abkürzen zu können, indem man das manchmal mühsame Ringen um Verständnis, das allmähliche Sich-Aneignen und das anstrengende Üben überspringt und direkt auf Anwendung und Kompetenz lossteuert. Das menschliche Gehirn ist jedoch nicht für das ökonomisierte Lernen via Kompetenzinputs geschaffen.

Dessen ungeachtet wurden für den Lehrplan 21 mit bemerkenswertem Bienenfleiss Tausende von Kompetenzformulierungen erfunden. Man schuf künstlich Abstufungen, die – streng genommen – einfach Lernschritte darstellen. Ihre Aufwertung zu Potenzialen wirkt unsinnig, da ein Potenzial eine übergeordnete Grösse ist, vergleichbar mit elektrischem Strom, mit dem viele kleine und grosse Geräte betrieben werden können. Es gibt keinen Telefonstrom, Weckerstrom, Waschmaschinenstrom, Heizungssteuerungsstrom, etc. Was hier sofort als Unsinn erkennbar ist, wird im Lehrplan 21 in absurder Weise auf die Spitze getrieben. Ausserdem müssen zur Lösung einer Aufgabe meist mehrere verschiedene fachliche und überfachliche Kompetenzen abgerufen werden. Diese quasi wie unter Laborbedingungen zu isolieren, bleibt Illusion.

 

  1. Fazit und Ausblick

Obige Überlegungen sollten aufzeigen,

– dass outputorientiertes Kompetenzlernen eine Abkehr von dem in den Verfassungen definierten Bildungsauftrag darstellt: Anstatt den Fokus zunächst auf die Entwicklung der persönlichen Anlagen der Kinder und Jugendlichen zu lenken, werden diese von Anfang an auf praktisch verwertbare Anwendungen konditioniert,

– dass ein auf Kompetenzen ausgerichtetes Lernen die schrittweise Aneignung, Vertiefung und Anwendung eines Stoffes unter Anleitung einer Lehrperson aufgibt und durch ein digital gesteuertes auf Gehirnoptimierung getrimmtes Abarbeiten von Einzelelementen ersetzt, was mit nachhaltigem Lernen nicht vereinbar ist,

– dass die Messungen der Kompetenzen unscharf bleiben, weil die Testanlage oft keine genügend klar abgegrenzten Bedingungen schafft, so dass tatsächliche Aussagen über «fachliche Kompetenz» letztlich ungewiss bleiben,

– dass die Faszination des Testens, Messens, statistischen Auswertens und Normierens auch in den Augen einer unabhängigen Prüfinstanz auf Kosten fundierter Fachkenntnis geht und die Tester als fachliche Banausen erscheinen lässt,

– dass der Begriff Kompetenz in Analogie zur Intelligenz kognitive Potenziale umschreibt, die von der Psychologie definiert wurden, um das Können der Schulabgänger zu messen, dass er aber nicht dafür geschaffen wurde, Unterrichtsziele zu beschreiben oder als Lehrplanmatrix zu dienen,

– dass Output-Orientierung bedeutet, dass das, was erst als Resultat des Lernprozesses greifbar werden kann, zum Ausgangspunkt des Lernens gemacht werden soll, um den Lernvorgang abzukürzen bzw. ökonomisch effizienter zu gestalten.

Es bleibt abzuwarten, wie Schule und Politik mit den Folgen des kompetenzorientierten Unterrichts umgehen werden, wenn sich herausstellen sollte, dass das Projekt nicht das bringt, was man davon erwartet hat. Inzwischen wird jedoch eine Generation von Kindern und Jugendlichen als Versuchskaninchen einem umfassenden Experiment mit sehr unsicherem Ausgang ausgesetzt. Hysterische Betriebsamkeit mit Tests und Korrekturmassnahmen belasten das Schulwesen, anstatt es zu verbessern.

 

Allschwil, Mai 2019

[1] ÜGK/COFO Mathematics 2016 Audit Report, Dr Antoine Fischbach & Dr Sonja Ugen, Luxembourg, 23 February 2018, Seite 23

[2] https://www.lch.ch/fileadmin/files/documents/Positionspapiere/170821_PositionspapierStandardisierteLeistungsmessungenTests.pdf

[3] Karl Schweizer, Leistung und Leistungsdiagnostik, 3. Kapitel: Kompetenz und Kompetenzdiagnostik (E. Klieme), S. 127ff.

(4) Anton Hügli, Was ist Kompetenz? Begriffsgeschichtliche Perspektiven eines pädagogischen Schlagworts, lvb.inform 2016/2017-03

[5] Over the last decade, a number of commercial assessment players conquered the parts of the Swiss education landscape that were not yet claimed by official stakeholders. It is the auditors’ understanding that these players—or at least some of them—flooded the market with tempting products of questionable scientific validity.

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