standardisierte Tests - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 12 Jul 2021 13:51:57 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png standardisierte Tests - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Kann es Brücken geben? https://condorcet.ch/2021/07/kann-es-bruecken-geben/ https://condorcet.ch/2021/07/kann-es-bruecken-geben/#respond Mon, 12 Jul 2021 13:11:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=8930

Codorcet-Autor Felix Schmutz nimmt die Frage von Alain Pichard (siehe Kommentar "Wo sind die Brücken?" 11.7.21) auf und konkretisiert sie, ohne sich allerdings allzu grosse Illusionen zu machen.

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Felix Schmutz, Baselland

Alain Pichard vermisste an der St. Galler Podiumsverantstaltung «Der schiefe Turm von PISA» den Brückenschlag zwischen der Leistungsevaluation gemäss PISA und dem ganzheitlichen Bildungsideal, das Carl Bossard vertritt. Ist ein Kompromiss überhaupt möglich? Gibt es Elemente in den beiden Positionen, die sich zu einer Synthese fügen lassen? Könnte die eine Position auf Elemente verzichten, um der andern entgegenzukommen? Jedenfalls wäre das eine Möglichkeit des Brückenschlags. Um darauf antworten zu können, ist ein Blick auf die Voraussetzungen der Positionen Moser und Bossard nötig. Zentral ist bei beiden Kontrahenten das Bildungsverständnis und der Geltungsanspruch ihrer Thesen.

Moser räumt zwar ein, dass die PISA-Erhebungen nur das pädagogisch

Dr. Urs Moser, Institut für Bildungsevaluation: Nie gegen den Missbrauch gewehrt?

Messbare untersuchen, um es in den schulischen Ländervergleich einzubeziehen. Damit scheint er die Bedeutung der Evaluationen zu relativieren. Doch erweist sich diese Konzession als Scheinrückzieher. Denn Moser hat sich nie dagegen gewehrt, dass die Resultate der PISA-Messungen als verbindliche Bildungsstandards der Schulabgehenden gewichtet wurden. Auch wenn er selbst vielleicht die Resultate relativiert, lässt er zu, dass für die Bildungspolitik und die Pädagogischen Hochschulen die PISA-relevanten Prüfungsaufgaben definieren, was Bildung sei. Und dass, wer diese Aufgaben löst, den gesellschaftlichen Bildungsstandard erfüllt.

Bildung ist für PISA ein abgestuftes Fähigkeitsraster, das aus gelösten oder nicht gelösten Aufgabenserien konstituiert wird.

Die entscheidende Voraussetzung dieser These ist der kompetenzbestimmte Bildungsbegriff, wonach Lernende Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Lösen definierter Aufgaben erwerben sollen. Bildung ist demnach ein modulartig strukturiertes Gebäude, dessen Elemente einzeln eingesetzt und abgerufen werden können. Denn nur eine solch baukastenartige Struktur lässt überhaupt zu, dass von punktuellen Aufgabenlösungen auf individuelle Abstufungen der Bildung geschlossen werden kann. Bildung ist für PISA ein abgestuftes Fähigkeitsraster, das aus gelösten oder nicht gelösten Aufgabenserien konstituiert wird.

Woher nehmen sich die PISA-Verantwortlichen eigentlich das Recht heraus zu entscheiden, welche Aufgabe welchen Schwierigkeitsgrad darstellen soll?

Auf welche objektive Grundlage stützen sie sich ab?

Bleibt die Frage, woher sich die PISA-Verantwortlichen eigentlich das Recht herausnehmen zu entscheiden, welche Aufgabe welchen Schwierigkeitsgrad darstellen soll. Auf welche objektive Grundlage stützen sie sich ab? Die wenigen an die Öffentlichkeit gedrungenen Aufgabenbatterien von PISA wie auch andere vom IBE (Mosers Institut für Bildungsevaluation) durchgeführte Tests lassen jedenfalls erhebliche Zweifel aufkommen, ob die Prüfungen nach fachlich sauberen Kriterien in Flächentests geeicht wurden. Es gibt starke Bedenken, ob die Tests wirklich valide und reliabel sind, denn jede statistische Erhebung im Schulbereich hängt schliesslich von sinnvoll konzipierten Testfragen ab.1  

Hemdsärmlig konzipierte Tests

Ob zu Recht oder nicht, das IBE masst sich die Definitionshoheit darüber an, wie der Bildungsstand der Schülerschaft zu beurteilen sei. Seit Jahren kritisieren Lehrkräfte die oft hemdsärmlig konzipierten Tests, die schulpraktischen und didaktischen Kriterien nicht standhalten.2  Der vermeintlich objektive, da messbare Bildungsstand könnte sich leicht als Scheinwahrheit entpuppen. Die Aufgabenserien des IBE «Mindsteps», die zur Testvorbereitung angeboten werden, spielen dabei die Rolle einer digital vermittelten Scheindidaktik, deren Aussagekraft und Wert nicht den abgegebenen Versprechungen entspricht, sondern hauptsächlich ein «Teaching to the Test» darstellt, indem die Lernenden auf die immer gleichen Aufgabenformate getrimmt werden, das echte Verständnis der Sache jedoch nebensächlich bleibt .3

Das ist ein Lernen, das nicht baukastenartig funktioniert, mit abzuhakenden Einzelkomponenten.

Carl Bossards Bildungsbegriff ist ein ganzheitliches Konzept.

Carl Bossards Bildungsbegriff ist ein ganzheitliches Konzept, das Lernen als Begegnung mit Wissensgegenständen, als Verstehens- und Aneignungsprozess mit dem Ziel der eigenständigen Anwendung des Gelernten versteht und bei dem die Beziehung zur Lehrperson Katalysatorwirkung entfaltet.

In dieser Konzeption scheint Bildung viel diffuser als in der kompetenzbasierten Auffassung. Das ist ein Lernen, das nicht baukastenartig funktioniert, mit abzuhakenden Einzelkomponenten. Es ist ein schrittweises Herantasten, ein Vor- und Zurückschreiten, ein Assoziieren, ein Auf-der-Stelle-Treten, manchmal ein heureka-artiges Begreifen, ein holistisch ausgerichtetes geistiges Wachsen, immer begleitet und gestützt von einer den Prozess anstossenden Lehrperson. Es ähnelt der Vorstellung von einem verschlungenen Pfad, der mit den komplexen Vorgängen des lernenden Gehirns besser übereinstimmt als der in Kompetenzmodule zerlegte Baukasten.

Lesen, Schreiben, Rechnen, sachkundliches und kulturelles Allgemeinwissen: Erst auf der Basis solcher Grundlagen kann weiteres Wissen und Können modulartig, z.B. in der Berufsausbildung oder in der Erwachsenenbildung, erworben werden.

Entscheidend ist dabei, dass es sich bei den Inhalten um die initiale Grundbildung in kulturellen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt: Lesen, Schreiben, Rechnen, sachkundliches und kulturelles Allgemeinwissen: Erst auf der Basis solcher Grundlagen kann weiteres Wissen und Können modulartig, z.B. in der Berufsausbildung oder in der Erwachsenenbildung, erworben werden.

Welche Fähigkeiten wurden erworben? Welche Ziele wurden erreicht? Wie lässt sich der Erfolg messen?

Die Schwachstelle dieses Bildungskonzeptes ist die Minderrepräsentation des Resultats der Bemühungen. Was wurde gelernt? Welche Fähigkeiten wurden erworben? Welche Ziele wurden erreicht? Wie lässt sich der Erfolg messen? Bei dieser Form von Bildung führt eine Lerneinheit nicht zu abgezirkelten Kompetenzen, sondern zu einem Bündel von Kompetenzen, die je nach individuellen Gegebenheiten abgerufen und weiterentwickelt werden können. Es ist zukunftsoffen ausgerichtet im Gegensatz zum Kompetenzlernen, das auf abgeschlossene Einzellösungen zielt.

Es ist durchaus möglich, dass PISA-Aufgabenformate, wenn sie denn fachlich sinnvoll aufgebaut sind, mit Bossards lernbasiertem Konzept ebenso gut oder besser bewältigt werden können als mit dem kompetenzbasierten Bildungsbegriff. Allerdings drängen sich mit dem lernbasierten Konzept freiere und kreativere Aufgabenformate auf, die statistisch weniger gut zu fassen sind. Die oft benützten Multiple Choice-Formate bei PISA können Testkandidaten durch ihre Erbsenzählerei und kleinliche Verwirrstrategie allerdings auch ablenken, sodass nicht mehr Sachkenntnisse für die Beantwortung entscheidend sind, sondern Lösungsstrategien zur Bewältigung der Auswahlangebote.

Wie könnte der Brückenschlag gelingen?

Wie also könnte ein Brückenschlag zwischen den beiden Bildungskonzepten allenfalls gelingen?

  1. Moser muss mit der Einschränkung, dass Bildung nicht nur auf Messbares reduziert werden kann, endlich ernst machen, indem er davon abrückt, seine (zufälligen und anfechtbaren) Aufgabenserien als Bildungsstandard zu verallgemeinern. Stattdessen gibt er präzise an, welche Teilaspekte er geprüft hat und legt offen, welche Aufgaben er verwendet hat, damit seine Resultate überprüfbar sind. Er beschränkt seine Aussagen auf das, was er tatsächlich gemessen hat, und verallgemeinert die Resultate nicht mehr.
  2. Moser muss anerkennen, dass Lernen ein ganzheitlicher, im Beziehungsrahmen stattfindender Prozess ist, der zwar didaktisch schrittweise gesteuert wird, aber im Gehirn der Lernenden komplizierter abläuft, als der Modulbaukasten seiner Aufgabenbatterien suggeriert, insbesondere im Volksschulalter der Lernenden.
  3. Bossard anerkennt, dass schulisches Lernen auch überprüfbare Resultate zeitigen muss. Lehrpersonen formulieren dafür geeignete Ziele und schlagen Moser Aufgaben vor bzw. beraten Moser bei der Formulierung der Aufgaben. Es müssen erfahrene Lehrpersonen sein, die täglich mit Jugendlichen der Alters- und Leistungsstufen praktisch arbeiten und welche die interpretationsbedürftige, abstrakte Sprache des Lehrplans 21 aufschlüsseln können. Fachhochschuldozenten und Universitätsvertreter haben dabei nichts verloren, sie werden allenfalls konsiliarisch beigezogen.
  4. Da die Vermittlung von Grundlagen auch zukunftsgerichtete, nicht messbare Lernprozesse in Gang setzt, liegt es nahe, Testresultate beim Abgehen von der Schule rückwirkend durch die Erfolgsbilanz der späteren Berufs- oder Gymnasialbildung ergänzend in Betracht zu ziehen. Der tatsächliche Wert der Schulbildung zeigt sich oft erst in Potenzialen, die zwar in der Schule aufgebaut wurden, messtechnisch jedoch bei Schulabgehenden nicht feststellbar sind. Dies ist die Erfahrung vieler Ehemaliger, die ihre Schulzeit im Rückblick bilanzieren. Obwohl nicht messbar, können Studien- und Berufsabschlüsse auch ein Indikator von Schulqualität sein. Das IBE müsste die Testresultate von PISA in einer Langzeitstudie mit der späteren Erfolgsbilanz der Testierten verknüpfen und entsprechend revidieren.
Weiterhin den Gesslerhut grüssen?

Die genannten Vorschläge liessen sich bei schweizinternen Tests sicher verwirklichen, bei PISA hingegen gelten OECD-Vorgaben, die den Brückenschlag kaum zulassen. Man ist versucht, bei PISA die «fremden Vögte» zu bemühen, die uns ihr Bildungskonzept aufzwingen und in deren Sold das IBE steht. Wo ist der Tell, der dem OECD-Gessler Einhalt gebietet?

 

1 Dazu die Kritik an der ÜGK des IBE in: Dr Antoine Fischbach & Dr Sonja Ugen, ÜGK/COFO Mathematics 2016 Audit Report, Commissioned by EDK/CDIP Upon the Request of KOSTA HarmoS, Luxembourg, 23 February 2018:

“Crucially … these descriptors … lack proper empirical validation” (S. 25)

“Item development can be substantially improved and is currently the weakest link in the ÜGK/COFO operation” (S. 26)

2 Philipp Loretz Checks im Realitätscheck – Problemanalyse des LVB nach 5 Jahren Erfahrung in: lvb inform  Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins BasellandSchuljahr 20/21, Nummer 04 Juni 2021 S. 18ff.

3 Felix Schmutz, Kompetenzen, Standards: Alles klar? Condorcet-Blog, 12. Juni 2019

 

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Checks im Realitätscheck – Problemanalyse des LVB nach 5 Jahren Erfahrung https://condorcet.ch/2021/07/checks-im-realitaetscheck-problemanalyse-des-lvb-nach-5-jahren-erfahrung/ https://condorcet.ch/2021/07/checks-im-realitaetscheck-problemanalyse-des-lvb-nach-5-jahren-erfahrung/#respond Sat, 10 Jul 2021 14:33:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=8859

Grassierendes Teaching to the test, anhaltende IT-Pannen, mangelnde Transparenz, fragwürdige Datenerhebung, praxisferne Korrektoren/-innen und fehlerbehaftete Profilabgleiche: Wie aussagekräftig sind standardisierte Leistungschecks des Instituts für Bildungsevaluation (IBE) der Universität Zürich wirklich? Der Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland (LVB) hat das IBE um eine Stellungnahme gebeten.

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2021).

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Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Vorstandsmitglied des lvb: Viele offene Fragen

Seit mittlerweile 5 Jahren werden an den Primar- und Sekundarschulen des Bildungsraums Nordwestschweiz flächendeckend standardisierte Leistungschecks durchgeführt. Für die Umsetzung verantwortlich ist das Institut für Bildungsevaluation (IBE) der Universität Zürich. Aufgrund der vielfältigen Kritik nach der ersten Durchführung interviewte der LVB bereits 2017 IBE-Geschäftsleiter Urs Moser [1] . Auch als Folge des Insistierens seitens LVB erfährt die Thematik aktuell neue Dynamik. Das Baselbieter Amt für Volksschulen (AVS) hat sich an Urs Moser gewandt zwecks Austausch über Rückmeldungen aus der Berufspraxis. Ein erster Diskussionstermin unter Beteiligung von Lehrpersonen- und Schulleitungsvertretungen wurde vereinbart. Der LVB hat in diesem Kontext die folgenden Anliegen und Forderungen eingereicht:

Teaching to the test

Eine vom IBE 2021 veröffentlichte Grafik zur Nutzung von «Mindsteps» im Kanton Basel-Landschaft nach Schulstufen zeigt, dass die Anzahl «Mindsteps»-Aufgabenserien pro Tag unmittelbar vor der Durchführung der Checks insbesondere auf Stufe Sek I massiv in die Höhe schnellen.

  • Der LVB beobachtet diese Entwicklung mit Sorge und möchte wissen, wie das IBE gedenkt, dieser Form des Teachings to the test entgegenzuwirken.

Mindsteps

Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass sich der Einsatz von «Mindsteps» über die Jahre vergleichsweise rasch abnützt. Schülerinnen und Schüler beschreiben die Aufgabenserien als monoton. Auf Stufe Sek I dürfte das Instrument primär zur Vorbereitung auf die Checks und weniger als Förderinstrument eingesetzt werden (s. oben erwähnte Grafik).

  • Der LVB möchte wissen, warum das Check-Vorbereitungsinstrument «Mindsteps» weiter ausgebaut und beworben wird – dem grassierenden Teaching to the test zum Trotz.

IT-Pannen

Seit Einführung der Checks reisst die technische Pannenserie bei den Durchführungen nicht ab. Schülerinnen und Schüler, welche die Checks motiviert angegangen haben, reagieren frustriert: Das Einzige, was während der Checks laufe, sei die Zeit – so ein Vorwurf von Lernenden.

  • Der LVB möchte wissen, ab wann mit einem reibungslos funktionierenden System gerechnet werden kann. Aus Sicht der Betroffenen stellt sich die Frage, ob die Testresultate die tatsächliche Leistung widerspiegeln – und nicht etwa die Leistung eines fehlerhaften IT-Systems.
Unklare Kompetenzstufen

Zuordnung der Kompetenzstufen

Laut IBE werden die kompetenzorientierten Aufgaben resp. deren Zuteilung zu den zahlreichen Kompetenzstufen von Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern der PH FHNW ausgearbeitet resp. vorgenommen. Lehrpersonen kritisieren, von aussen sei nicht ersichtlich, aufgrund welcher Kriterien die Zuordnung der zahlreichen Kompetenzstufen vorgenommen werde.

  • Der LVB bittet um Klärung anhand konkreter Beispiele aus allen Fachbereichen. Ferner möchte der LVB wissen, ob bei der Erweiterung und Pflege des kompetenzorientierten Aufgabenuniversums auch Praktikerinnen und Praktiker miteinbezogen werden.

Computer Adaptive Tests

Laut IBE lösen die Lernenden individuell unterschiedliche Aufgaben. Rückmeldungen aus der Praxis monieren, dass die Aufgabeninhalte (insbesondere in den Bereichen Lesen und Hören in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch) für ganze Klassen identisch gewesen seien. Einzig die Reihenfolge der Aufgaben sei unterschiedlich gewesen.

  • Der LVB bittet das IBE um Klärung.

Gemäss IBE soll sich der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben dem Leistungspotenzial des einzelnen Schülers resp. der einzelnen Schülerin anpassen. Rückmeldungen aus der Praxis lassen bezüglich Wirkungsweise und Zweckmässigkeit Zweifel aufkommen.

  • Der LVB bittet das IBE, die Funktionsweise der adaptiven Aufgaben anhand konkreter Beispiele aus allen Fachbereichen zu erläutern. Ist es beispielsweise möglich, dass Lernende im Fach Mathematik zu anspruchsvollen (Joker-)Aufgaben vorstossen können, auch wenn sie relativ einfache Aufgaben nicht lösen konnten?
Dr. Urs Moser, Leiter des Instituts für Bildungsevaluation: Berechtigte Fragen

Mangelnde inhaltliche Passung

Bereits 2017 wurden mangelnde inhaltliche Passungen kritisiert. Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass es beim Check P5 auch im Schuljahr 20/21 zu mangelnden inhaltlichen Passungen gekommen ist, namentlich im Fach NMG. Wieder wurden Lernenden Fragen zu Themen gestellt, denen sie zum Zeitpunkt der Durchführung des P5 im Unterricht noch nicht begegnet waren.

  • Im Sinne der Fairness und der Validität möchte der LVB wissen, wie das IBE das Problem der mangelnden inhaltlichen Passungen zu beheben gedenkt.

Lehrmittelspezifische Terminologie

Die Morphologie ist ein Teilbereich der Linguistik, der normalerweise in einem Sprachstudium behandelt wird. In den gängigen Wörterbüchern und Fremdsprachengrammatiken wurden und werden die gut verständlichen Begriffe Vorsilbe, Wortstamm und Endung (oder, in Analogie zu den Fremdsprachen, die Termini Präfix und Suffix) verwendet. Mit der Einführung der Checks wurde die Kenntnis des Begriffs Morphem auf einmal vorausgesetzt. Für den LVB ist nicht nachvollziehbar, warum Lernende der Volksschule mit Termini aus der Linguistik der Tertiärstufe bedacht werden.

  • Der LVB ist interessiert zu erfahren, warum Checks und Mindsteps dieser Herangehensweise an die Wortbildung so viel Gewicht beimessen und warum die ausschliesslich im Lehrmittel «Die Sprachstarken» gebräuchliche Terminologie so prominent und ausgiebig eingeübt wird.

Bewertungskriterien im Bereich Schreiben in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch

Das IBE nimmt für sich in Anspruch, die Daten nach streng wissenschaftlichen Kriterien zu erheben. Aufgrund der folgenden Beobachtungen hat der LVB erhebliche Zweifel an der Genauigkeit der Datenerhebung einerseits und der Aussagekraft der Testresultate andererseits.

Nur ein Korrektor resp. eine Korrektorin pro Text

Die Beurteilungsbögen im Bereich Deutsch Schreiben zeigen, dass die Schülertexte jeweils einer ganzen Klasse von lediglich einem Korrektor resp. einer Korrektorin beurteilt werden. Zum Vergleich: Bei den früheren basellandschaftlichen Orientierungsarbeiten wurde jeder Text von drei Lehrpersonen individuell bewertet.

Laut IBE komme es punkto Bewertungsstrenge zu Unterschieden. Der unzureichenden Ausnivellierung begegne das IBE mit einem Bonussystem. Von strengen Korrektoren/-innen beurteilte Texte erhielten Bonuspunkte, die im Messmodell berücksichtigt würden.

Auf Nachfrage erklärte das IBE, dass zwecks Abgleich zwar sporadisch Texte von mehreren Korrektoren/-innen beurteilt würden. Dies geschehe aber lediglich einmal wöchentlich. Trotz Absolvieren eines Trainings zwecks Aneignung des Bewertungsmassstabes komme es punkto Bewertungsstrenge zu Unterschieden. Der unzureichenden Ausnivellierung begegne das IBE mit einem speziellen Bonussystem. Von strengen Korrektoren/-innen beurteilte Texte erhielten Bonuspunkte, die im Messmodell nachträglich berücksichtigt würden.

  • Im Sinne der Fairness, Transparenz und der versprochenen Wissenschaftlichkeit bittet der LVB das IBE um eine Stellungnahme.

Keine Praxiserfahrung der Korrektoren/-innen

Auf Nachfrage erklärte das IBE, dass es sich bei den Korrektoren/-innen um Personen in fortgeschrittenem resp. mit abgeschlossenen Germanistikstudium handle; Personen also, die sich jahrelang intensiv mit literarischen Texten auf höchstem Niveau auseinandergesetzt haben, jedoch über keinerlei Praxiserfahrung im Umgang mit von Kindern und Jugendlichen verfassten Texten verfügen.

Der LVB möchte wissen, …

  • warum bei der Beurteilung der Texte von Schülern/-innen keine Praxislehrkräfte eingesetzt werden;
  • wie viele Texte ein(e) Korrektor/ -in pro Check beurteilt;
  • wie viel Zeit pro Text dem Korrektor/der Korrektorin zur Verfügung steht
  • und zu welchem Stundenansatz Korrektoren/-innen entschädigt werden.

Das IBE nimmt für sich Anspruch, dass mit den gewonnenen Daten Lernverläufe anstelle einmaliger Erhebungen dargestellt werden könnten.

Lernverläufe versus Momentaufnahmen

Das IBE nimmt für sich Anspruch, dass mit den gewonnenen Daten Lernverläufe anstelle einmaliger Erhebungen dargestellt werden könnten. Primar- und Sekundarlehrpersonen beurteilen über mehrere Jahre ungleich mehr Texte derselben Schülerinnen und Schüler als die Korrektoren/-innen des IBE. Aus Sicht des LVB verhält es sich deshalb gerade umgekehrt: Es sind die Primar- und Sekundarlehrpersonen, welche die Lernverläufe ihrer Schülerschaft überblicken. Das IBE hingegen ist lediglich in der Lage, Momentaufnahmen zu beurteilen. Dass sich ein Text eines jugendlichen Sekundarschülers von demjenigen einer kindlichen Primarschülerin hinsichtlich Wortschatz, Stilistik und Inhalt unterscheidet, ist in den meisten Fällen eine Selbstverständlichkeit. Die Aussage, das IBE könne Lernverläufe beurteilen, greift auch vor diesem Hintergrund nicht.

  • Der LVB bittet das IBE um eine Stellungnahme.

Das IBE nimmt für sich in Anspruch, Texte von Schülern/-innen aufgrund wissenschaftlicher Kriterien zu beurteilen. Nach Einschätzung des IBE würden sich Lehrpersonen beim Beurteilen von Schülertexten vorwiegend auf das Zählen von Fehlern konzentrieren.

Fragwürdige Aussagekraft der Bewertung der Schreibkompetenzen

Das IBE nimmt für sich in Anspruch, Texte von Schülern/-innen aufgrund wissenschaftlicher Kriterien zu beurteilen. Nach Einschätzung des IBE würden sich Lehrpersonen beim Beurteilen von Schülertexten vorwiegend auf das Zählen von Fehlern konzentrieren.

Mangelnde Differenzierung

Der LVB machte die Probe aufs Exempel und beurteilte 12 Schülertexte aus dem Check S2 Deutsch Schreiben. Danach verglich er die eigenen Einschätzungen mit den von IBE-Korrektoren/innen ausgefüllten Kriterienraster zur Beurteilung der Schreibkompetenzen. Es zeigte sich, dass das 15 starke Kriterienraster des IBE nicht dazu in der Lage ist, zwischen überaus gelungenen und geradewegs missratenen Texten zu differenzieren. Der Unterschied manifestiert sich lediglich bei ganz wenigen unterschiedlich gesetzten Kreuzchen.

  • Der LVB bittet das IBE um eine Stellungnahme.

Der LVB möchte vom IBE wissen, inwiefern das höchst subjektive Kriterium «inhaltliches Wagnis» mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren ist.

Fragwürdige Kriterien

Ein Kriterium, mit dem das IBE die Schreibkompetenz wissenschaftlich erhebt, lautet «Inhaltliches Wagnis». Der Korrektor/Die Korrektorin muss also beurteilen, ob der Schüler/die Schülerin «wenig», «etwas», «viel» resp. «sehr viel» wagt. Was ist konkret damit gemeint? Eine waghalsige Argumentation? Eine gelungene Schilderung? Eine Passage, die an der eigentlichen inhaltlichen Zielvorgabe vorbeischrammt?

  • Der LVB möchte vom IBE wissen, inwiefern das höchst subjektive Kriterium «inhaltliches Wagnis» mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren ist.

Von Korrektoren/-innen zu verlangen, drei unterschiedliche Kriterien als Ganzes zu beurteilen, ist aus Sicht des LVB ein unmögliches Unterfangen. Die Punktevergabe wird mit solch schwammigen Vermischungen willkürlich.

Vermischung unterschiedlicher Subkriterien

Ein weiteres Kriterium lautet «Sprachliches Wagnis – Kreativität und Ästhetik». Nun stehen diese drei Punkte für gänzlich unterschiedliche Phänomene. Eine sprachlich gewagte Formulierung ist keineswegs per se kreativ oder ästhetisch. Eine kreative Formulierung kann sprachlich gänzlich unspektakulär sein. Dass Kreativität und Ästhetik keine Synonyme sind, weiss jede(r) Kunstmuseumbesucher/-in. Von Korrektoren/-innen zu verlangen, drei unterschiedliche Kriterien als Ganzes zu beurteilen, ist aus Sicht des LVB ein unmögliches Unterfangen. Die Punktevergabe wird mit solch schwammigen Vermischungen willkürlich.

  • Der LVB möchte vom IBE wissen, inwiefern die Vermengung höchst unterschiedlicher Subkriterien zu einem einzigen Beurteilungskriterium mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren ist.

Unklare Gewichtung

Die Beurteilungskriterien bestehen aus den folgenden vier Teilbereichen:

  1. Inhalt: Auftragserfüllung und Aussagekraft
  2. Textaufbau und Textzusammenhang
  3. Sprachrichtigkeit
  4. Sprachangemessenheit, Schreibstil und Ästhetik

Aus dem Beurteilungsraster geht nicht hervor, wie die einzelnen Kriterien gewichtet werden. Es ist auch nicht ersichtlich, in welchem Masse die Textmenge ihren Niederschlag in der Beurteilung findet. Texte, die sich über drei Seiten ausdehnen, werden gleichermassen «durchgekreuzelt» wie Texte, die knapp eine Seite füllen.

  • Der LVB bittet das IBE um eine Stellungnahme.

Fehlerbehaftete Profilabgleiche

Laut IBE beruht das dem Profilabgleich zugrunde liegende Konzept auf anerkannten psychologischen Theorien, welche die Passung zwischen Fähigkeiten und Anforderungen als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Entwicklung ansehen. Der Abgleich zwischen den Check-Ergebnissen und den Anforderungsprofilen sei in den letzten vier Jahren systematisch analysiert und angepasst worden.

Laut Rückmeldungen von Vertretungen aus der Wirtschaft stimmen diverse Profilabgleiche 2021 jedoch immer noch nicht. Gemäss Check müssten etwa angehende Medizinische Praxis- assistenten/-innen über sehr viel mehr Mathematikkenntnisse verfügen, als in der Realität tatsächlich erforderlich seien. Wirtschaftsvertreter/-innen zeigen sich über die falschen Profilabgleiche verärgert. Das von dem IBE gewählte Verfahren sei unglaubwürdig. Zudem seien die Checkresultate für die KMUs nach wie vor schwer lesbar. Die auf der sogenannten Item-response-theory basierenden Resultate seien für die KMUs auch 2021 kaum zu interpretieren.

  • Der LVB möchte vom IBE wissen, warum manche Profilabgleiche auch nach 5 Jahren Erfahrung mit den Checks von den realen Anforderungen stark abweichen. Ferner möchte der LVB wissen, wie das IBE die Lesbarkeit der Checkresultate für Lehrpersonen, Lernende und KMUs verbessern will.

 

[1] «Checks im Kreuzfeuer der Kritik. Urs Moser stellt sich den Fragen des LVB», lvb.inform 2016/17-04

https://www.lvb.ch/docs/magazin/2020-2021/04_Juni-2021/18_Checks-im-Realitatscheck_lvb-inform_20-21-04.pdf

 

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Der schiefe Turm von PISA: eine Podiumsveranstaltung mit Urs Moser und Carl Bossard https://condorcet.ch/2021/07/der-schiefe-turm-von-pisa-eine-podiumsveranstaltung-mit-urs-moser-und-carl-bossard/ https://condorcet.ch/2021/07/der-schiefe-turm-von-pisa-eine-podiumsveranstaltung-mit-urs-moser-und-carl-bossard/#respond Sat, 10 Jul 2021 08:42:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=8841

Nach einer längeren coronabedingten Pause starteten die Ostschweizer Kinderärzte wieder ihre stets hochkarätig besetzte Veranstaltungsreihe zu aktuellen Bildungsthemen. In der ersten Veranstaltung dieses Jahres kreuzten der Bildungsforscher und Statistiker Urs Moser und Condorcet-Autor Carl Bossard die Klingen. Alain Pichard war an diesem Anlass dabei und berichtet für unseren Blog.

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Dr. Jürg Barben, Mitinitiator der Vortragreihe der Ostschweizer Kinderärzte

Es waren einmal mehr illustre Gäste, die Dr. Jürg Barben am Mittwoch, 7. Juli, in der Aula der PH St. Gallen begrüssen durfte. Man konnte gespannt sein, was sich der Empiriker Urs Moser und der Pädagoge Carl Bossard zu sagen hatten. Der Untertitel «Schüler und Lehrer im (Test-)Stress» sei, so Barben, bewusst provokativ gewählt. Und Arno Noger, FDP-Politiker und ehemaliger Gymnasialrektor in St. Gallen, bekräftigte diese These. Schule könne zu Stress führen. Denn der Macht der Tests könne man sich nicht entziehen und keine Schule wolle dabei schlecht abschneiden.

Dr. Urs Moser, Institut für Bildungsevaluation: PISA misst nur, was sich messen lässt.

Urs Moser, Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Bildungsevaluation, war natürlich gefordert, zumal er in der nationalen Projektleitung PISA mitwirkte. Er entwarf mit seinem Team zahlreiche Testverfahren, darunter auch die bekannten Stellwerktests. Vorerst erklärte er den Anwesenden noch einmal in Kürze das Wesen und die Ziele der PISA-Tests. Es handle sich um standardisierte Überprüfungen der Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft. Und jedes Mal würden auch Kontexte und Hintergrundmerkmale der Ergebnisse erforscht. In der Schweiz, so haben diese Untersuchungen ergeben, herrsche trotz des Wohlstands eine grosse soziale Ungleichheit, was sich auch auf die Schulleistungen auswirken würde. Die Tests, von der Wirtschaftsorganisation OECD in Auftrag gegeben, seien auf Vergleichbarkeit ausgerichtet, orientierten sich an Kompetenzen und nicht an nationalen Lehrplänen und erfreuten sich immer grösserer Beliebtheit. Zurzeit nähmen 65 Länder an diesen Tests teil.

PISA als Katalysator

In mehreren Folien präsentierte Moser die Schweizer Ergebnisse der PISA-Tests, darunter die von vielen Bildungsakteuren als schockierend empfundenen unterdurchschnittlichen Fähigkeiten beim Leseverständnis. Noch vor 30 Jahren habe dies niemand richtig gewusst. PISA messe nur, was sich messen liesse. Trotzdem korrelierten gute PISA-Resultate mit dem jeweiligen Wohlstand eines Landes. PISA sei auch ein Katalysator für Reformprojekte gewesen, über deren Sinn oder Unsinn er sich aber ausschwieg. Immerhin stellte er auch fest, dass PISA-Resultate falsch interpretiert oder falsch genutzt würden. Nur ein geringer Anteil der Bildungsinhalte könne überhaupt standardisiert und gemessen werden.

Da die Familien ihre Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit ihrer sozialen Position treffen, löst dies vor allem bei den Gymnasiumsübertritten Stress aus, besonders bei Kindern, die den Anforderungen nicht gewachsen seien.

Urs Moser: Stress ist systemimmanent.

Dann wandte sich Moser dem insinuierten Stress zu und meinte, Stress löse PISA vor allem bei den Bildungspolitikern aus, die durch mangelhafte Resultate in einen Rechtfertigungsdruck kämen. Die PISA-Tests lösten hingegen bei den Schülerinnen und Schüler kaum Stress aus, sie seien ja auch folgenlos. Ansonsten, so Moser, sei Stress in der Schule systemimmanent. In den Schulen werde stets getestet, es werde über Zugänge und Karrieren entschieden und Fremdsprachenlernen ohne Tests sei prinzipiell ja gar nicht möglich. Da die Familien ihre Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit ihrer sozialen Position träfen, löse dies vor allem bei den Gymnasiumsübertritten Stress aus, besonders bei Kindern, die den Anforderungen nicht gewachsen seien. Allerdings sei der Graben zwischen öffentlicher Wahrnehmung und seriösen Untersuchungen markant. Die Healt Behaviour-Studie (2018) zeige, dass sich drei Viertel der Jugendlichen während ihrer Schulzeit kaum oder nur wenig gestresst fühlten. Im Übrigen sei auch ein Grossteil der Eltern trotz aller medialen Erregungsausschläge mit der Schule recht zufrieden. Süffisant kommentierte Moser auch die empirisch belegte Tatsache der unterschiedlichen Gymnasiumsquoten in der Schweiz. «Wenn Sie Ihr Kind unbedingt an das Gymnasium schicken wollen, und das möglichst stressfrei, dann sollten Sie nach Genf zügeln (Gymnasialquote 34,5%), dies im Gegensatz zur Innerschweiz (12,5%).» Und –  ganz Empiriker – diese unterschiedlichen Gymnasialquoten verhielten sich umgekehrt proportional zu den PISA-Leistungen. Dort schneide die Stadt Genf regelmässig ganz schwach ab.

Die Lehrer sollten neben ihren eigenen Tests einmal im Jahr – als eine Art «Justierung» – auch einen national abgestimmten und standardisierten Test machen.

Die Lehrer sollten neben ihren eigenen Tests einmal im Jahr – als eine Art «Justierung» – auch einen national abgestimmten und standardisierten Test machen. Das helfe, die Leistungen der Lernenden besser einzuschätzen. Zum Lehrplan meinte Urs Moser, dass er ja auf den Unterricht kaum Auswirkungen habe. Die meisten Lehrkräfte unterrichteten wie vorher.

Carl Bossard: Kalte PISA-Logik verdrängt die pädagogischen Mikroprozesse.

Mit Carl Bossard, Condorcet-Autor und Gründungsrektor der PH-Zug, trat nun ein entschiedener Kritiker des übertriebenen und standardisierten Testens an das Mikrophon. Die kalte Logik von PISA, so Bossard, gefährde die Beziehungsebene und die pädagogischen Mikroprozesse wie beispielsweise das Aufbauen mit dem Verstehen, das Konsolidieren mit dem Festigen und das Anwenden des Gelernten. Das verstärkte Testen verändere den Unterricht, reduziere ihn auf Standards und führe zu einer Verarmung im pädagogischen Dreieck mit den Mikroprozessen des Lernens. Bildung habe mit Würde zu tun und vor allem mit Beziehung. Dazu zitierte er den Autor Albert Camus, in dessen autobiografischem Werk «Der erste Mensch»  M. Bernard, Camus’ Lehrer, den Begriff der Bildung geradezu verkörperte. Ein Mann, der seinen Beruf liebte und dessen Schüler «Gegenstand höchster Achtung» gewesen seien.

Die Sprache verrät den Geist: Bildung wird so «McDonaldisiert» (Prof. Theo Wehner), die Lehrpersonen werden zu «Vollzugsbeamten und die Schüler zu Vollzogenen»

PISA und die dahinterstehende Ideologie lenkten den Blick der Bildung auf die Makroprozesse der Organisation. Es sei viel von Qualitätsmanagement und Digitalisierung die Rede, von Management und Benchmarking, weg von der Input- und hin zur Output-Steuerung. Schulen müssten, so die Doktrin, effizient und effektiv werden. Damit würden Abläufe trivialisiert und standardisiert. Die Sprache verrate den Geist: Bildung werde so «McDonaldisiert» (Prof. Theo Wehner), die Lehrpersonen würden zu «Vollzugsbeamten und die Schüler zu Vollzogenen», wie der sensible Lehrerpoet Peter Bichsel vor Kurzem festgestellt habe. Bossard zitierte aus dem Schreiben eines jungen Lehrers, der beklagte, dass er die ganze Zeit beurteilen müsse. Die Kinder würden ständig in Kompetenzraster gezwängt, der Unterrichtsinhalt sei zu einem unzusammenhängenden Sammelsurium verkommen, es fehle die Musse, der Aufbau.

Bossard liess durchblicken, dass er keineswegs gegen Evaluation und Überprüfungen sei. Sie gehörten zu den Bildungsprozessen. Aber mit der zunehmenden Testmanie, die sich nicht nur durch PISA ausdrücke, sondern sich auch in den zahlreichen Kompetenzrastern, Sprachstandserhebungen und Beobachtungsbögen manifestieren, gehe der Blick auf das Ganze verloren. Bossard beobachtet eine Art Dekonstruktion des Ganzen. Mit Entsetzen blicke er auf die umfangreichen Beobachtungsbögen in den Kindergärten, welche die Kinder schon früh vermessen wollten: auf Buchstaben und ganze Sätze, auf Zahlen. Eltern bekämen Panik; das generiere den berühmten elterlichen Förderungswahn. PISA und die Leistungsmessungen hätten die Lernleistungen der Kinder aber nachweislich nicht verbessert. Er verwies darum auf den bekannten Bildungsphilosophen Gert Biesta, der eindringlich gefragt hat: «Messen wir tatsächlich das, was wir wertschätzen, oder messen wir nur das, was leicht messbar ist, und bewerten dann das, was wir messen können?»

Albert Camus in “Der erste Mensch”: “Ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.”

Wirkung entstünde aus dem gemeinsamen Nachdenken. Schulleitung und Lehrkräfte entwickeln gemeinsame Kriterien zur Unterrichtsqualität. Die Schulleitung müsse ihre Lehrkräfte vor bürokratischen Übergriffen schützen und sich weigern, unsinnige Vorgaben ausführen zu lassen. Im Mittelpunkt jeder Schule stünde die Frage: «Was ist uns für unsere Kinder und Jugendlichen pädagogisch gemeinsam wichtig?» Bossard schloss mit Albert Camus, der nach der Verleihung des Nobelpreises seinem Lehrer geschrieben hat: «Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie mir, dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.»

Der Abend endete in der obligaten Fragerunde an die Referenten, die immer wieder dazu benutzt wurde, noch eigene Co-Referate oder längere Stellungnahmen zu formulieren.

Alain Pichard

 

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Bidens gebrochenes Versprechen: Schulen müssen die standardisierten Tests in diesem Frühjahr durchführen https://condorcet.ch/2021/02/bidens-erstes-gebrochenes-versprechen-schulen-muessen-die-standardisierte-tests-in-diesem-fruehjahr-durchfuehren/ https://condorcet.ch/2021/02/bidens-erstes-gebrochenes-versprechen-schulen-muessen-die-standardisierte-tests-in-diesem-fruehjahr-durchfuehren/#respond Wed, 24 Feb 2021 11:58:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=7826

Die US-amerikanische Pädagogin Diane Ravitch engagierte sich stark für die Präsidentschaft von Joe Biden. Nun musste sie eine erste Enttäuschung hinnehmen. Joe Biden hält an den Tests fest und möchte sie sogar im Jahr der Pandemie starten. Unverständlich sei das, findet Diane Ravitch und erklärt uns noch einmal die Testkultur in ihrem Land.

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Joe Biden versprach bei einem öffentlichen Bildungsforum in Pittsburgh im Wahlkampf unmissverständlich, dass er das Bundesmandat für standardisierte Tests beenden würde. Denisha Jones, Anwältin, Lehrerausbilderin, Vorstandsmitglied von Defending the Early Years und Network for Public Education, fragte den Kandidaten Biden, ob er standardisierte Tests abschaffen würde. Sehen Sie hier seine Antwort.

 

Nun krebst der frischgewählte Präsident in dieser zentralen Frage zurück. Die Tests würden wie geplant stattfinden. Dies ist eine große Enttäuschung, nicht nur, weil er damit sein Versprechen gebrochen hat, sondern auch, weil er diese standardisierten Tests inmitten einer Pandemie verfügt, die den Zugang zu Bildung noch ungleicher gemacht hat.

Die Ergebnisse beinhalten lediglich eine Punktzahl, die Aufschluss darüber gibt, wo die Schüler im Vergleich zueinander und im Vergleich zu den Schülern im ganzen Land und in der Nation rangieren.

Eine kleine Zusammenfassung für die europäischen Freunde

Für die europäischen Freunde (eingefügt Redaktion) hier noch einmal in Kürze, wie die Testverfahren ablaufen: Die Tests werden jährlich im März und Anfang April durchgeführt. Die Lehrer dürfen die Fragen nicht sehen. Die Testergebnisse werden im August oder September an die Schulen zurückgegeben. Bis dahin haben die Schüler oft andere Lehrer. Die neuen Lehrer sehen die Ergebnisse ihrer Schüler, aber sie dürfen nicht wissen, welche Fragen die Schüler richtig oder falsch beantwortet haben.

 

Die Lehrer sehen die Fragen nicht. Sie erhalten nur Ranglisten.

So erfahren die Lehrer nicht, wo die Schüler Nachhilfe brauchen oder welche Lektionen überarbeitet werden müssen.

Die Ergebnisse beinhalten lediglich eine Punktzahl, die Aufchluss darüber gibt, wo die Schüler im Vergleich zueinander und im Vergleich zu den Schülern im ganzen Land und in der Nation rangieren. Dies ist für die Lehrer von geringem Wert. Das ist so, als würde man mit Bauchschmerzen zum Arzt gehen. Die Ärztin gibt Ihnen eine Reihe von Tests und sagt, dass sie die Ergebnisse in sechs Monaten haben wird. Wenn die Ergebnisse vorliegen, sagt Ihnen die Ärztin, dass Sie im Vergleich zu anderen mit ähnlichen Schmerzen auf dem 45. Rang liegen, aber sie verschreibt Ihnen keine Medikamente, weil der Test nicht sagt, was Ihre Schmerzen verursacht hat oder wo genau sie liegen.

Solche Tests sind ein Segen für die Testgesellschaft. Für Lehrer und Schüler sind sie wertlos.

Korreliert mit der sozialen Zugehörigkeit

Eines zeigen die standardisierten Testergebnisse aber zuverlässig: Sie korrelieren hoch mit Einkommen und Bildung der Familien. Die Schüler aus wohlhabenden Familien erhalten jeweils die höchste Punktzahl. Diejenigen aus armen Familien erhalten die niedrigsten Werte. Das ist bei jedem standardisierten Test der Fall, egal ob es sich um einen staatlichen, nationalen oder internationalen Test, den SAT oder den ACT handelt. Manchmal erhalten arme Kinder hohe Punktzahlen, und manchmal erhalten Kinder aus wohlhabenden Familien niedrige Punktzahlen, aber das sind Ausreißer. Die standardisierten Tests verleihen den bereits Bevorteilten Privilegien und stigmatisieren diejenigen, die am wenigsten haben. Sie sind nicht und werden auch nie ein Mittel sein, um die Chancengleichheit zu fördern.

Leistungsunterschiede schliessen sich nie.

Darüber hinaus sind standardisierte Tests auf einer Glockenkurve normiert. Es wird immer eine untere und eine obere Hälfte geben. Die Leistungsunterschiede werden sich nie schließen, weil Glockenkurven das nie tun. Das ist ihr Design. Im Gegensatz dazu kann jeder, der volljährig ist, einen Führerschein machen, wenn er die erforderlichen Tests besteht. Der Zugang zu Führerscheinen basiert nicht auf einer Glockenkurve. Wäre dies der Fall, würden etwa 35 bis 40 Prozent der Erwachsenen nie einen Führerschein machen.

Und wer sollte die Tests schreiben? Die Lehrer sollten die Tests schreiben, basierend darauf, was sie im Unterricht vermittelt haben. Sie können sofort Antworten erhalten und wissen genau, was ihre Schüler verstanden haben und was nicht.

Fragen Sie die Lehrkräfte

Wenn Sie ein Elternteil sind, werden Sie nichts aus dem Testergebnis Ihres Kindes lernen. Es interessiert Sie nicht wirklich, wie es im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen in diesem oder einem anderen Bundesland abschneidet. Sie wollen wissen, ob es mit seinen Aufgaben Schritt hält, ob es sich am Unterricht beteiligt, ob es die Aufträge versteht, ob es sich für die Schule zu begeistern vermag oder wie es mit seinen Mitschülern zurechtkommt. Die standardisierten Tests werden keine dieser Fragen beantworten.

Wie aber kann man als Elternteil Antworten auf diese Fragen erhalten? Ganz einfach: Sie gehen zum Lehrer Ihres Kindes

Lehrkräfte sollen die Teste schreiben

Und wer sollte die Tests schreiben? Die Lehrer sollten die Tests schreiben, basierend auf dem, was sie im Unterricht vermittelt haben. Sie können sofort Antworten erhalten und wissen genau, was ihre Schüler verstanden haben und was nicht. Sie können eine Konferenz mit Johnny oder Maria abhalten, um durchzugehen, was sie im Unterricht verpasst haben, und ihnen helfen zu lernen, was sie wissen müssen.

Aber wie werden wir wissen, wie wir als Stadt, als Staat oder als Nation abschneiden? Wie werden wir über die Leistungsunterschiede Bescheid wissen und ob sie größer oder kleiner werden?

Relevante Informationen bereits vorhanden

All diese Informationen sind bereits in den Berichten des National Assessment of Educational Progress (NAEP) verfügbar, und noch viel mehr. Die Ergebnisse sind aufgeschlüsselt nach Bundesland, Geschlecht, Rasse, Behindertenstatus, Armutsstatus, Englischkenntnissen und vielem mehr. Etwa 20 Städte haben sich freiwillig gemeldet, um bewertet zu werden, und sie erhalten die gleichen Informationen.

Keines der Ziele wurde erreicht

Bei der Unterzeichnung von “No Child Left Behind-Akte”. Keines der Ziele erreicht.

Bald stehen die Neugenehmigung des Every Student Succeeds Act an. Es handelt sich dabei um das Nachfolgegesetz von «No Child Left Behind». Da sollten Sie wissen, was diese jährlichen Teste bewirkten. Zunächste einmal: Keine leistungsstarke Nation auf der Welt testet jedes Jahr alle Schüler der Klassen 3 bis 8.Und wir können mit Sicherheit sagen, dass das No Child Left Behind-Programm seinen Zweck, kein Kind zurückzulassen, nicht erfüllt hat.

Wir können auch mit Sicherheit sagen, dass das “Race to the Top”-Programm sein Ziel, die Testergebnisse der Nation “an die Spitze” zu bringen, nicht erreicht hat.

Wir können mit Sicherheit sagen, dass der Every Student Succeeds Act seinen Zweck sicherzustellen, dass jeder Schüler Erfolg hat, ebenfalls nicht erreicht hat.

Es ist an der Zeit umzudenken. Es ist an der Zeit, die schwere Hand der Bundesregulierung zu lockern und sich auf die ursprünglichen Ziele des Elementary and Secondary Education Act von 1965 zu besinnen: Finanzmittel an die bedürftigsten Schüler und Schulen zu verteilen, die professionelle Ausbildung von Lehrern zu unterstützen und die Bürgerrechte der Schüler zu sichern.

Die Bundesregierung sollte keine Tests anordnen oder den Schulen vorschreiben, wie sie sich zu “reformieren” haben, denn der Bundesregierung fehlt das Wissen, das Know-how oder die Erfahrung, um Schulen zu reformieren.

Die amerikanische Bildung wird sich verbessern, wenn die Bundesregierung tut, was sie am besten kann, und hochqualifizierten Lehrern und gut ausgestatteten Schulen erlaubt zu tun, was sie am besten können.

In dieser kritischen Zeit, in der wir über die schrecklichen Folgen der Pandemie hinausblicken, stehen die amerikanischen Schulen vor einem schweren Lehrermangel. Die Bundesregierung kann den Bundesstaaten helfen, die Mittel aufzubringen, um professionelle Gehälter für professionelle Lehrer zu bezahlen. Sie kann helfen, qualitativ hochwertige Vorschulprogramme zu finanzieren. Sie kann die Kosten für Mahlzeiten für Schüler übernehmen und helfen, Krankenschwestern in jeder Schule zu bezahlen.

Die amerikanische Bildung wird sich verbessern, wenn die Bundesregierung tut, was sie am besten kann, und hochqualifizierten Lehrern und gut ausgestatteten Schulen erlaubt zu tun, was sie am besten können.

Diane Ravitch

Der Text ist leicht gekürzt, hier können Sie den Originalbeitrag nachlesen:

Biden Administration’s Broken Promise: Schools Must Give Standardized Tests This Spring

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Die Demokraten am Scheideweg! https://condorcet.ch/2021/01/die-demokraten-am-scheideweg/ https://condorcet.ch/2021/01/die-demokraten-am-scheideweg/#respond Sun, 03 Jan 2021 12:48:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=7431

Seit langem bringt der Condorcet-Blog wieder einmal einen Artikel des mit uns verbundenen Diane Ravitch-Blogs. Peter Greene, der auch schon für uns geschrieben hat, sieht die Demokratische Partei am Scheideweg. «No Child Left Behind» ist gescheitert; «Race to the Top» war ein Fehlschlag; «Common Core» ein Desaster, «Every Student Succeeds» ebenfalls ein Flop. Peter Greene erinnert daran, dass auch die Demokraten einen grossen Anteil an dieser Entwicklung haben, und warnt davor, alles auf Trump zu schieben. Er verlangt von den Demokraten einen radikalen Neuanfang.

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Peter Greene, Lehrer, Autor des Diane Ravitch-Blog: Die Demokraten stimmten immer zu.

Die letzten vier Jahre haben sich die Demokraten eine ziemlich einfache Theorie zurechtgelegt, wenn es um die Bildung geht. Etwas in der Art von «Guter Gott, eine verrückte Dame (Betsy De Vos, Anm. der Redaktion) ist gerade in unseren Porzellanladen gekommen, reitet auf einem Bullen, fuchtelt mit einem

Betsy de Vos, Republikanerin, Bildungsministerin unter Trump: Ein Stier im Porzelanladen.

Flammenwerfer herum und schleppt einen Hai mit einem auf dem Kopf montierten Laserstrahl mit sich herum; wir müssen sie davon abhalten, den Laden zu zerstören.»

Dieses Szenario scheint uns jetzt, Gott sei Dank, nicht mehr zu drohen. Aber ist es mit der Abwahl dieser unseligen Bildungsministerin getan?

Auch Clinton und Obama

Das Problem ist, dass die Umgestaltung des Bildungswesens mit all seinen unsinnigen Reformen seit Jahrzehnten im Gange ist und von allen unterstützt wurde, also auch von Clinton und Obama. Die Grundidee dabei war folgende:

Der Weg, Armut, Rassismus, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und wirtschaftliche Not zu beheben, bestehe darin, einen Haufen Kinder dazu zu bringen, in einem einzigen, eng gefassten standardisierten Test bessere Ergebnisse zu erzielen; die beste Chance, dies zu erreichen, habe man, wenn man praxisfernen Bildungsökonomen die Gelegenheit gebe, damit viel Geld zu verdienen.

Das war natürlich niemals ein guter Plan. Niemals.

Bildung kann soziale Ungleichheit nicht beheben

Zum einen ist die Fähigkeit der Bildung, soziale Ungerechtigkeit zu beheben, begrenzt. Eine bessere Bildung wird den Mindestlohn nicht erhöhen. Sie wird Armut nicht ausrotten. Und wie uns gerade über all die Jahre lang bewusst geworden ist, wird sie die Menschen nicht einmal mit Sicherheit zu besseren Denkern machen oder sie von Rassismus befreien. Bildung wird einigen Menschen helfen, der Teergrube zu entkommen, aber sie wird die Grube selbst nicht reinigen.

Ein solcher Punktezuwachs war immer das Ergebnis der Testvorbereitung und des Trainings der Testteilnehmer, und diese Art der Vorbereitung ging immer auf Kosten der echten Bildung.

Testzentrierte Bildung verbessert gar nichts.

Aber genau genommen ging es ja nie um Bildung. Es ging um einen mittelmäßigen, computergesteuerten Test, der einmal im Jahr Mathe und Lesen abfragt. Und das ist uns allen bewusst: Niemand wird einen besseren Job bekommen, weil er eine hohe Punktzahl im PARCC-Test erreicht hat. Niemand wird jemals ein glücklicheres, gesünderes Leben führen, nur weil er seine Punktzahl im Großen Standardisierten Test um fünfzig Punkte erhöht hat. Ein solcher Punktezuwachs war immer das Ergebnis der Testvorbereitung und des Trainings der Testteilnehmer, und diese Art der Vorbereitung ging immer auf Kosten der echten Bildung. Jetzt, ein paar Jahrzehnte später, ist belegt, dass testzentrierte Bildung weder die Gesellschaft noch die Schulen noch das Leben der jungen Menschen, die das System durchlaufen haben, verbessert hat.

Verhängnisvolle Allianz

Die Demokraten müssen auch um die Tatsache ringen, dass viele der fehlgeleiteten Ideen, die mit dieser Handlungstheorie verbunden sind, auf ökonomistischen Theorien beruhen, was überhaupt nicht zum traditionellen Inhalt der Demokratischen Partei passt.

Bei der Unterzeichnung von “No Child Left Behind-Akte” standen die Demokraten und Republikaner harmonisch beieinander.

Viel zu lange hielt diese verhängnisvolle Allianz mit den radikalen Marktreformern, glaubte man, dass Wahlfreiheit eine Frage der sozialen Gerechtigkeit sei. Gewiss, als Donald Trump gewählt wurde, begannen sich die Demokraten von den Republikanern hinsichtlich ihrer Bildungspolitik abzuwenden. Aber davor hatten sie der Lehrerschaft ihre Unterstützung versagt, sich von den Gewerkschaften abgewandt und sich in der Vordenkerrolle von Gruppen wie «Democrats for Education Reform» (Demokraten für die Bildungsreform) gefallen, einer Gruppe, die von Hedge-Fonds-Typen gegründet wurde, die den Namen “Demokraten” annahmen, weil ihnen dieser gut klingende Name eine Menge Reputation einbrachte. Das war für den gewaltigen Paradigmenwechsel des US-amerikanischen Bildungssystem verantwortlich.

Diese Allianz bildete die perfekte Suppe für die Fütterung eines marktradikalen Gedankenguts. Und sie bewirkte, dass alles, wofür die Demokraten in der öffentlichen Bildung je gestanden hatten, den Bach runterging.

Die Rückkehr zu den Werten dieser Partei wird somit zwei Hindernisse überwinden müssen. Einerseits braucht es Mut zum Eingeständnis, dass das, wofür man in Kumpanei mit den Reformern eingestanden ist, kolossal gescheitert ist. Und das andere ist, nicht der naheliegenden Verlockung zu verfallen, nun alles auf die Ära Trump/De Vos zurückzuführen. Das wäre mehr als fatal.

Eli Broad, Demokrat und Milliardär: Schulprobleme sind Managementprobleme.

Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das Grundproblem dieser katastrophalen Entwicklung darin bestanden hat, die Bildung in die Hände ahnungsloser und praxisferner Technokraten gegeben zu haben. Und diese Ermächtigung ging durchaus von beiden Parteien aus.

War es nicht der Milliardär und Demokrat Eli Broad, der immer wieder betonte, dass das Bildungswesen keine Bildungs-, sondern betriebswirtschaftliche Probleme habe und diese am besten von Management-Profis gelöst werden sollten?

In einigen Regionen wurde Bildung von Republikanern und Demokraten zu einem Immobilienproblem umgedeutet, das am besten von Immobilienprofis gelöst werde. Das ökonomistische Modell forderte, dass die Schulen nicht von einem demokratisch bestimmten Laiengremium in der Aufsichtsbehörde oder von einem Haufen Lehrer geführt werden solle, sondern von visionären CEOs, die die Macht erhalten, einzustellen und zu feuern und die Regeln festzulegen, ohne von Vorschriften oder gar den Gewerkschaften gestört zu werden.

Die Demokraten gingen sogar einen Schritt weiter, indem sie die Vorstellung übernahmen, dass alles, was man brauche, um eine Schule zu leiten, eine betriebswirtschaftliche Vision sei ohne irgendeine Art von Fachwissen.

Demokraten mit neoliberaler Überzeugung stimmen dem immer zu. Und sie gingen sogar einen Schritt weiter, indem sie die Vorstellung übernahmen, dass alles, was man brauche, um eine Schule zu leiten, eine betriebswirtschaftliche Vision sei ohne irgendeine Art von Fachwissen. Die Demokraten unter Obama waren dafür verantwortlich, dass unausgebildete “Best and Brightest Ivy Leaguers” in Klassenzimmer geschickt wurden, die dann als Experten Unterricht und Lehrkräfte beurteilten und dazu auch noch gross abkassierten.

Ich wäre viel begeisterter von Biden gewesen, wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt im Wahlkampf etwas gesagt hätte wie: “Jungs, wir haben die Bildungspolitik vermasselt.”

Vereinfache ich zu sehr? Mag sein. Aber Sie verstehen meine Skepsis. Die Demokraten kehrten der öffentlichen Bildung und dem Lehrerberuf den Rücken zu. Ein solcher Punktezuwachs war immer das Ergebnis der Testvorbereitung und des Trainings der Testteilnehmer, und diese Art der Vorbereitung ging immer auf Kosten der echten Bildung.Haufen Daten erzeugt, die für alle möglichen Zwecke verwendet werden können (vergessen Sie nie – «No Child Left Behind» wurde als große parteiübergreifende Errungenschaft gefeiert).

Ich wäre viel begeisterter von Biden gewesen, wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt im Wahlkampf etwas gesagt hätte wie: “Jungs, wir haben die Bildungspolitik vermasselt.” Ich nehme an, das ist wohl zu viel verlangt. Aber wenn die Demokraten einen Neubeginn in der Bildungspolitik wagen wollen, müssen sie sich von vielem verabschieden, was sie in den letzten Jahrzehnten mitgetragen haben.

Eine Umkehr setzt das Eingeständnis des Scheiterns voraus.

Sie müssen sich von ihrem grossen Irrtum verabschieden, der auf dem fehlerhaften Fundament der standardisierten Tests aufbaut.

Sie müssen zur Erkenntnis gelangen, dass es doch die Lehrkräfte sind, die die wahren Experten auf dem Gebiet der Bildung sind.

Sie müssen akzeptieren, dass Bildung zwar ein mächtiger Motor sein kann, um gegen die Kräfte der Ungleichheit und Ungerechtigkeit anzugehen, dass aber diese Kräfte auch immer das Umfeld prägen, in dem Schulen arbeiten müssen.

Sie müssen aufhören, auf praxisferne Bildungsbürokraten und deren Adlaten aus dem Finanzsektor und der Wirtschaft zu hören. Erfolg in anderen Bereichen qualifiziert jemanden nicht dazu, Bildungspolitik zu machen. Zwei Jahre lang durch ein Klassenzimmer zu kreuzen macht niemanden zum Bildungsexperten. Jeder, der jemals zum Arzt gegangen ist, ist kein medizinischer Experte, jeder, der jemals an seinem Auto gearbeitet hat, ist kein Mechaniker, und jeder, der jemals zur Schule gegangen ist, ist kein Bildungsexperte. Das heißt nicht, dass all diese Menschen nicht etwas zur Bildungsdiskussion beitragen sollten, im Gegenteil. Aber ihnen eine derartige Machtfülle zu verleihen, war ein fataler Fehler – das gilt auch für all die Konzerne des Silicon Valley, die zurzeit mit Macht in die Schulen drängen und den Unterricht auf Algorithmen umstellen wollen.

Sie müssen begreifen, dass Schulen keine Unternehmen sind.

Sie müssen begreifen, dass Schulen keine Unternehmen sind. Ihre primäre Funktion besteht auch nicht darin, Unternehmen mit nützlichen Arbeitsbienen zu versorgen. Bildung muss die Menschen befähigen, mündig zu werden.

Wenn sie mehrere parallele Bildungssysteme mit Charter-Schulen und Gutscheinen und all den Rest weiterbetreiben wollen, müssen sie endlich für Kostentransparenz sorgen und aufhören, Schulen ungleich zu finanzieren.

Sie müssen akzeptieren, dass privatisierte Schulsysteme nicht viel Neues, Revolutionäres oder bisher Unentdecktes in Sachen Bildung hervorgebracht haben. Aber viele von ihnen haben sich einige clevere neue Wege ausgedacht, um Steuergelder zu verschwenden und sich dann davonzumachen.

Das ist meine Botschaft an die Demokraten: Hören Sie auf die Lehrer. Hören Sie auf die Eltern in der Gemeinde, welche die Schule kennen und auf sie angewiesen ist. Werden Sie wieder eine Kraft für die öffentliche Bildung, und lamentieren Sie nicht zu lange über eine verrückte Frau mit einem Flammenwerfer.

Peter Greene

Übersetzung Alain Pichard

 

 

 

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Zwei Städte mit Bildungsproblemen, zwei Wahlkämpfe ohne Bildungsthemen https://condorcet.ch/2020/09/zwei-staedte-mit-bildungsproblemen-zwei-wahlkaempfe-ohne-bildungsthemen/ https://condorcet.ch/2020/09/zwei-staedte-mit-bildungsproblemen-zwei-wahlkaempfe-ohne-bildungsthemen/#comments Fri, 25 Sep 2020 05:27:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=6466

Unser Condorcet-Autor Alain Pichard ist in Basel aufgewachsen und lebt seit über 40 Jahren in Biel. Condorcet-Autor Roland Stark, gebürtiger Appenzeller, wirkt seit Jahrzehnten in Basel. In beiden Städten finden derzeit Wahlen statt. In beiden Städten gibt es Bildungsprobleme und beide werden links regiert. Roland Stark und Alain Pichard wundern sich über das Schweigen der linken Parteien zu Bildungsthemen.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): In Basel aufgewachsen, seit über 40 Jahren in Biel wohnhaft.
Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Grossratspräsident, Heilpädagoge

Gewaltige Unterschiede

Auf den ersten Blick könnten die Unterschiede nicht frappanter sein. Im Nordwesten eine reiche Chemiemetropole, in der 200’000 Menschen leben, am Jurasüdfuss eine einst stolze und heute verarmte Uhrenstadt mit 55’000 Einwohnern. Die Stadt am Rhein budgetiert sogar dieses Jahr einen Überschuss von 140 Millionen Franken und weiss nicht, was sie mit dem Geld anfangen soll, die Stadt am Bielersee hat mittlerweile 800’000 Fr. Schulden und prognostiziert einen Steuereinbruch von 40 %.

Die Stadt-Basel ist zugleich ein Kanton, während die Stadt Biel eine Gemeinde des grossen Kantons Bern ist.

Die Stadt Basel gibt pro Schülerin und Schüler 20’000 Fr. aus (was zusammen mit dem Stadtkanton Genf einsame Spitze bedeutet), der Kanton Bern, dem die Stadt Biel angehört, bringt es gerade einmal auf 12’000 Fr.

Die Gemeinsamkeiten

Miserable Schulleistungen bei den ÜGK 2019.

Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten, welche die beiden Städte verbinden. Beide werden seit Jahren von einer links-grünen Mehrheit regiert, beide haben sie viele Migrantenkinder einzuschulen und beide sind auf ihre Art Spitzenreiter.

Die Stadt Basel führt seit Jahren die Tabelle der schlechtesten Schulleistungen in allen Checks, Tests und Kontrollen an und die Stadt Biel hält seit Jahren den Spitzenplatz bei den Sozialstatistiken. 11% seiner Einwohner sind von der Fürsorge abhängig, jeder 5. Jugendliche bezieht Unterstützungsleistungen. Beide Städte haben einen markant hohen Anteil von Lernenden in der schwächsten Lesegruppe und diese werden nach neun Schuljahren unsere Schule vermutlich als Illetristen verlassen. In beiden Städten machen nur 30% nach der 9-jährigen Volksschule eine Lehre. In beiden Städten werden Eltern und Schüler mit der verkorksten Mehrsprachendidaktik à la Passepartout gequält und in beiden Städten loben die Bildungsdirektoren ihre Lehrpersonen in höchsten Tönen als die besten im Lande.

Biel: Seit Jahren an der Spitze

In beiden Städten traut man aber den Lehrkräften nicht besonders, vor allem, wenn sie sich an die Öffentlichkeit wenden. In Biel versuchte man es mit einem Kommunikationskonzept (das allerdings inzwischen schubladisiert wurde), in Basel werden unbotmässige Lehrkräfte des Öfteren und unter peinlichem Schweigen der Lehrerorganisationen zitiert und zu demontieren versucht.

In beiden Städten finden derzeit Wahlen statt. In Biel kommenden Sonntag, in Basel im Oktober und in beiden Städten scheinen die oben erwähnten Bildungsprobleme keine Rolle zu spielen, vor allem nicht bei den Parteien des rot-grünen Spektrums. Obgleich in der Öffentlichkeit, vor allem von den betroffenen Eltern, schulische Probleme und bildungspolitische Anliegen häufig kontrovers diskutiert werden, spielen diese Themen im Basler Wahlkampf keine Rolle.

Mit den geleiteten Schulen entstand eine neue Korporalelite, welche den Auftrag hatte, quasi als Scharnier die reibungslose Umsetzung von Reformen zu garantieren. Firmen wie Price Water Cooper entwickelten sogenannte Change Management-Konzepte.

Bildung war einmal ein Kernanliegen der linken Parteien

Linke Lehrer schlossen sich den VPOD-Lehrergruppen an.

Angesichts der Historie überrascht dies. In den 70er Jahren waren Bildungsfragen en vogue. Die SP hatte mehrere Arbeitsgruppen, die sich mit Chancengleichheit, Noten, Selektion und Demokratisierung des Unterrichts beschäftigten. Junge, linke Lehrkräfte organisierten sich nicht mehr in den altehrwürdigen Standesorganisationen, sondern zogen die aufmüpfigen neu gegründeten VPOD-Lehrergruppen oder die POCH-nahe Gewerkschaft Erziehung vor. Markante linke Persönlichkeiten prägten die Bildungsdebatte (Felix Mattmüller in Basel, Arthur Villard in Biel), Initiativen wurden gestartet, Schulsysteme durchlässiger gemacht.

Harmos veränderte fast alles

In den 90er Jahren veränderte sich die Stimmung markant. Sinnigerweise ging diese Entwicklung einher mit der massiven Ausweitung der Bildungsausgaben. Es wurden Fachstellen à gogo gegründet, die Lehrerbildung wurde universitär umgebaut, viele neue Lehrerkategorien entstanden (individuelle Förderung, Assistenzlehrer, DaZ-Lehrkräfte), vor allem aber entstanden in den kantonalen Erziehungsdirektionen neue Planungsstellen mit dem Auftrag, Konzepte für ein umfassendes Bildungsmonitoring zu entwickeln. Die OECD-Ideologie der Vergleichbarkeit und des Outputs schlich sich allmählich in den schulischen Alltag. PISA-Tests führten zu aberwitzigen Interpretationen und lösten eine Reformhektik aus, welche die Lehrkräfte vor Ort regelrecht durchrüttelten. Mit den geleiteten Schulen entstand eine neue Korporalelite, welche den Auftrag hatte, quasi als Scharnier die reibungslose Umsetzung von Reformen zu garantieren. Firmen wie Price Water Cooper entwickelten sogenannte Change Management-Konzepte. HarmoS schliesslich brach den einst wilden Reformeifer der linken Parteien vollends. Zahlreiche Lehrkräfte und linke Bildungswissenschaftler wechselten die Seiten, tauschten das harte Geschäft des Unterrichts mit Bürojobs in der Verwaltung. Es entstand die berüchtigte Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft, deren Ziele Kontrolle und Auftragssicherheit waren. Das einstmalige Kernthema Bildung und Erziehung verschwand innerhalb der SP fast vollständig von der Bildfläche.

Schweigen und Ersatzreligion

Katja Christ, GLP, eine Ausnahme.

So erstaunt es nicht, dass gerade in den linken Parteien bezüglich Bildung keine frischen Ideen mehr entstehen, um die real existierenden Probleme zu lösen. Irgendwie macht sich ein Fatalismus breit.

In der Stadt Basel kämpft neben den ehemaligen SP-Präsidenten Daniel Goepfert und Roland Stark einzig noch die grünliberale Katja Christ gegen diese Entwicklungen an und bot etwa dem damaligen Bildungsdirektor Christoph Eymann die Stirn im Kampf gegen das Lehrmittel Passepartout. Sie wurde mit der Wahl in den Nationalrat belohnt, ein Zeichen dafür, dass Bildungsthemen durchaus auf ein Interesse stossen. Denn wenn Eltern das Gefühl haben, dass ihre Kinder in der Schule nichts mehr lernen, werden sie nervös.

In Biel hat man derweil eine bildungspolitische Ersatzreligion gefunden. Alle Parteien setzen sich für den Bilinguismus ein. Man will, dass die Schüler der zweisprachigen Seelandmetropole auch zweisprachig unterrichtet werden. Das führt mitunter zu grotesken Überschneidungen in den Wahlprospekten.

Die Grüne Partei hat neben dem Bilinguismus überhaupt keine Bildungspositionen.

So lässt sich in den FDP- und SP-Traktaten unabhängig voneinander der Satz finden: «Bilinguismus ist die DNA der Stadt Biel».

Bilinguismus als Ideologie

Die Grüne Partei hat neben dem Bilinguismus überhaupt keine Bildungspositionen. Bei der GLP findet man immerhin noch der Satz: «Bildungsinvestitionen müssen direkt im Unterricht ankommen und nicht in neue Fachstellen investiert werden».

 

Lehrmittelfreiheit, Ausstieg aus dem Passepartout-Konzept, Investitionen in das Teamteaching, Rückfahren der Testmanie, Eindämmung der zahlreichen Beratungsstellen und Umschichtung der Geldmittel, Methodenfreiheit usw. Bildungsthemen gäbe es genug.

Der Sündenfall

So wurde in Biel unter einer linken Regierung sogar eine staatliche finanzierte Privatschule im Mittelstandquartier Beaumont eingerichtet, mit Zulassungsbeschränkung, während die Aussen- quartiere die gesamte Wucht der Migration zu schultern haben. Einen krasseren Verrat an den ureigenen Prinzipien linker Bildungspolitik kann man sich kaum mehr vorstellen.

Lehrmittelfreiheit, Ausstieg aus dem Passepartout-Konzept, Investitionen in das Teamteaching, Rückfahren der Testmanie, Eindämmung der zahlreichen Beratungsstellen und Umschichtung der Geldmittel, Methodenfreiheit usw. Bildungsthemen gäbe es genug.

Die Karawane der linken Parteien und ihrer Repräsentanten zieht in neue Gefilde. Klimapolitik, Kampf für das Velo, Verkehrspolitik, Baupolitik, Mieten, Energiepolitik sind die aktuellen «Schlachtfelder».

Basel: Dunkle Wolken trotz unermesslicher Geldquellen.

In der Stadt Basel mit ihren zurzeit unermesslichen Geldquellen kann dies noch einige Zeit gut gehen. Man rekrutiert seine Lehrlinge eben aus den Nachbarkantonen und stellt das Heer der unzureichend ausgebildeten Schulabgänger mit zahlreichen Integrationsschlaufen ruhig.

In Biel hingegen könnte sich diese Politik früher rächen. Dann nämlich, wenn man merkt, dass der Arbeitsmarkt, gute Leser und Mathematiker verlangt und als erste Fremdsprache Englisch als unabdingbar erachtet. Und das Geld für die Ruhigstellung der noch zu intergierenden jungen Menschen ist in Biel ohnehin kaum vorhanden.

In beiden Städten geht es aber um die Chancengerechtigkeit und den essentiell wichtigen Bildungserfolg vieler Kinder aus der unterprivilegierten Schicht, vor allem aus den Migrantenkreisen. Sie ständig zu den Sündenböcken einer verfehlten Bildungspolitik zu machen, ist keine Option. Diese Kinder sind willig, bildungshungrig und entwicklungsfähig. Man darf sie nicht mit billigen Pseudoparolen oder Sonntagspredigten abspeisen.

Alain Pichard und Roland Stark

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Der erste Beitrag aus dem Blog von Diane Ravitch: Der Sinn der öffentlichen Schule https://condorcet.ch/2019/07/der-erste-beitrag-aus-dem-blog-von-diane-ravitch-der-sinn-der-oeffentlichen-schule/ https://condorcet.ch/2019/07/der-erste-beitrag-aus-dem-blog-von-diane-ravitch-der-sinn-der-oeffentlichen-schule/#comments Wed, 24 Jul 2019 14:56:30 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1714

John Merrow ist ein US-amerikanischer Rundfunkjournalist, der in den 70er Jahren über Bildungsfragen berichtete. Er war der Ausbildungskorrespondent für das PBS NewsHour-Programm. In einem Beitrag im «Diane Ravitch's blog» macht er sich Gedanken über den Sinn öffentlicher Schulen. Ein Sinn, der durch vierzig Jahre standardisierter Tests als Maßstab für den Schulerfolg, völlig korrumpiert wurde.

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John Merrow Bild: harvard.edu.com

Was genau ist der öffentliche Zweck der Schule? Warum investieren die Gemeinden in die Bildung all ihrer Jungen, anstatt die Aufgabe der Bildung einfach den Familien zu überlassen? Wir wissen, dass Eltern Kinder aus einer Vielzahl von Gründen zur Schule schicken. Es gibt aber den sogenannten größeren Zweck – eine Art gemeinsames Ziel –, worüber es sich lohnt, nachzudenken.

Lassen Sie mich meine Hypothese bekräftigen: Das öffentliche Bildungssystem in den USA wurde von Menschen korrumpiert, die von Messungen besessen sind,  derart, dass sie die Kinder auf ihre Testergebnisse reduzieren. Seit etwa 40 Jahren erleben wir das nun. Seit 40 Jahren richten sich die meisten Schulreformbemühungen auf Symptome wie niedrige Abschlussraten, niedrige Testergebnisse oder «die Leistungslücken». Aber die Reformen, die alle so grossartig klingen, ja sogar vorübergehend scheinbar zu Verbesserungen führen können, scheitern unweigerlich daran, dass sie die Ursache unserer Bildungsprobleme nicht angehen: ein Verständnis von Bildung, das völlig ökonomisiert ist und die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts nicht erfüllen kann.

Bildungsministerin Betsy DeVos glaubt nicht, dass Schulen einen öffentlichen Zweck haben; ihre Handlungen deuten darauf hin, dass sie denkt, die Bildung eines Kindes liege allein in der Verantwortung der Familie – Ende der Geschichte.

Ich hingegen hoffe immer noch, dass wir uns auch in diesen stark polarisierten Zeiten darauf einigen können, dass der Zweck von Schule darin besteht, amerikanischen Bürgern zu helfen zu wachsen. Betrachten Sie die vier Schlüsselwörter: Hilfe, Wachstum, amerikanisch und Bürger.

«Hilfe»: Schulen werden als Juniorpartner anerkannt. Sie existieren, um zu helfen – nicht um Familien zu ersetzen.

«Wachsen»: Schulbildung ist ein Prozess, er geht manchmal zwei Schritte vorwärts und einen zurück. Es ist vergleichbar mit einem Familienunternehmen, nicht mit einer börsennotierten Aktiengesellschaft, die durch Quartalsberichte lebt und stirbt.

«Amerikanisch»: E pluribus unum. Wir sind Amerikaner – eine Beobachtung, die es heute zu betonen gilt in Zeiten eines Donald Trump, der vermehrt die Karte des Rassismus als vermeintlichen Trumpf ausspielt.

«Bürger»: Diesen Begriff gilt es, wieder mit Leben zu füllen, und es gilt herauszufinden, was wir eigentlich wollen und wie unsere Kinder zu Erwachsenen werden sollen. Sollen sie gute Eltern und Nachbarn werden? Oder nachdenkliche WählerInnen? Oder zuverlässige Mitarbeiter? Selbstbestimmte Individuen – oder was sonst?

John Merrow

Übersetzung aus dem Englischen: Alain Pichard

 

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