Staatsschule - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 27 Mar 2022 12:50:05 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Staatsschule - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Herr Cramer will die Staatsschule https://condorcet.ch/2022/03/herr-cramer-will-die-staatsschule/ https://condorcet.ch/2022/03/herr-cramer-will-die-staatsschule/#comments Sun, 27 Mar 2022 12:50:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=10729

Der Brief des Erziehungsdepartements der Stadt Basel an die Lehrkräfte wurde vom Condorcet-Blog öffentlich gemacht (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/). Die Basler Schulbehörden streben den politischen Umbau der Schule an: Weg von der öffentlich-rechtlichen Schule hin zu einer Staatsschule, mit Hierarchien, Bossen und Untergebenen. Condorcet-Autor Alain Pichard zeigt, dass dies kein Einzelfall ist.

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Alain Pichard, pens. Lehrer Sekundarstufe 1, Publizist, Mitglied der GLP: Der Staat tut sich damit keinen Gefallen.

Im Jahre 2003 versuchten die Behörden, den Verfasser dieses Beitrags, unter Kontrolle zu bringen. Aufgrund eines Artikels über die neue Schülerbeurteilung (SCHÜBE) im Kanton Bern zitierte mich die kantonale Bildungsdirektion in deren Schaltzentrale. Die magistrale Herrlichkeit trat mit Inspektorat, Amtsvorsteher, Abteilungsleitern und Schulkommissionspräsidenten in stattlicher Präsenz auf. Es sollte mir klar gemacht werden, dass es für Angestellte des Staates eine Loyalitätspflicht gäbe. Ich sicherte mir derweil die Unterstützung des damaligen VPOD-Sekretärs (ich war Mitglied der VPOD-Lehrergruppe), der mich an das Treffen begleitete.

Das Gespräch fand in einer höflichen Atmosphäre statt und mündete in eine ausgesprochen interessante Diskussion: Was darf ein Lehrer in der Öffentlichkeit sagen, und was nicht?

Erstaunlicherweise wurde von den bernischen Bildungsmagistraten nie bestritten, dass sich ein Lehrer auch politisch betätigen und äussern kann. Die Frage war: Wie weit darf die Kritik gehen, wenn es sich um schulpolitische und demokratisch ausgearbeitete Vorgaben handelte. Hier gingen die Meinungen auseinander.

Die konkrete Diskussion blieb in ihrem Ansatz stecken und zeitigte keinerlei Folgen. Daran schuld war mein Mitstreiter und heutiger Condorcet-Autor Andreas Aebi. Er lancierte eine grosse Umfrage zu der Beurteilungsreform unter den bernischen Lehrkräften. Das gewaltige Unterfangen fand ohne Unterstützung

Res Aebi. Sekundarlehrer in Langnau, brachte die “Schübe” fast im Alleingang zu Fall.

des Lehrervereins statt, welche die Reform im Vorfeld unterstützt hatte. Das Ergebnis war desaströs. Eine überwältigende Mehrheit der bernischen Lehrkräfte lehnte die Beurteilungsreform ab. Das Projekt wurde zurückgezogen und vereinfacht.

Zwei Jahre später machte sich der hier Schreibende einen gewissen Namen, weil er, als prononciert linker Lehrer auf die Schwierigkeiten im Umgang mit der Migration hingewiesen hatte, die sich den Schulen in der Stadt Biel stellten. Es ging ihm dabei nicht um die Stigmatierung der fremdsprachigen Schüler sondern um deren Bildungserfolg. Irgendwann wurde es den Behörden zu dumm. Der damalige sozialdemokratische Bildungsdirektor der Stadt Biel liess ein Kommunikationskonzept ausarbeiten, sein Amtsvorsteher schickte es an die Schuleinheiten und der sozialdemokratische Schulleiter legte seinem «geschätzten Mitarbeiter» schliesslich eine spezifisch verfasste Kommunikationsvereinbarung vor, die der heutige Condorcet-Autor zu unterschreiben hatte.

Kommunikationsvereinbarung: Alain Pichard vermeidet es fortan, die Schule mit verzerrten und einseitigen Berichten in ein schlechtes Licht zu stellen.

Neben einigen Selbstverständlichkeiten (keine Verbreitung von Internas), verlangten die Behörden, dass alle Anlässe, Interviews und Statements vorher mit der Schulleitung abgesprochen und genehmigt werden müssten. Dann folgte ein hübscher Satz: «Alain Pichard vermeidet es fortan, die Schule mit verzerrten und einseitigen Berichten in ein schlechtes Licht zu stellen.»

Schlagzeile im Bieler Tagblatt: Alain Pichard geht im Streit.

Meine Antwort war die Kündigung. 2010 verliess ich meine geliebte Brennpunktschule in Biel und trat eine Stelle in der Agglomerationsgemeinde Orpund an, wo ich bis zu meiner Pensionierung im Sommer 2021 tätig war.

In dieser Gemeinde konnte ich fortan mein bildungspolitisches Engagement ohne irgendwelche Repressionsandrohungen fortsetzen.

Bei all den Druckversuchen gilt es festzuhalten, dass die Behörden nie die Keule «arbeitsrechtliche Konsequenzen» ausgepackt hatten. Diese Terminologie entstand im Zuge des Umbaus unserer Volksschule anfangs der 2000er-Jahre. Die Schaltzentralen in der Bildungspolitik bemächtigten sich nach und nach der Schule. Zunächst wurden die lokalen Schulkommissionen, bzw. Schulpflegen zurückgestutzt. Es entstand die aus der Betriebswirtschaft entnommene Dualität von operationellen und strategischen Entscheidungen. Dann wurden die geleiteten Schulen eingeführt. Fortan standen den Schuleinheiten sogenannte Betriebsleiter vor, denen auch personale Kompetenzen übertragen wurden. Stundenplangestaltungen, Anstellungen oder auch Freistellungen waren jetzt Sache der Schulleitungen. An gewissen Orten gab es sogenannte «Zwischenschulleiter». Das heisst, dass einzelne Schuleinheiten mit dortigen Schulleitern zu einem Verbund zusammengefasst wurden, deren Führung man dann einer zentralen Schulleitung übertrug.

Die Kehrseite der Medaille waren natürlich der Abbau an Mitbestimmung, eine Topdown-Politik und die konkrete Jobdrohung seitens der vorgesetzten Behörde.

Diese Hierarchisierung hatte durchaus plausible Gründe. Die Schulführung wurde professionalisiert, Entscheidungen schneller gefällt, die Schulen entwickelten eigene Profile. Die Kehrseite der Medaille waren natürlich der Abbau an Mitbestimmung, eine Topdown-Politik und die konkrete Jobdrohung seitens der vorgesetzten Behörde. Flankiert wurde diese Ausrichtung mit der ebenfalls aus der Wirtschaftswelt entnommenen Methode des Change Managements. Der Sozialdemokrat Markus Mendelin entwarf ein vielbeachtetes Change Management-Papier für den Kanton Thurgau, in welchem konkret verfeinerte Methoden zugunsten eines umbaufördernden Mentalitätswandels aufgezeigt wurden. Notabene wurde dieses Papier als Leitfaden für die Schulleitungen angepriesen.

 

Herr Cramer verliert seine Unschuld
Conradin Cramer, Bildungsdirektor der Stadt Basel: Wie konnte er dies zulassen?

In der Stadt Basel scheint man sich nicht mit solchen psychologischen «Mätzchen» aufhalten zu wollen. Die linke Stadt am Rheinknie packt schon seit einigen Jahren die Keule der Repression gegen alle kritischen Lehrkräfte aus. Der neue Amtsvorsteher der Stadt, Urs Bucher, hat nun in einem Brief (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/) klar ausgedrückt, wie sich das Basler Erziehungsdepartment das Regieren vorstellt. Den Lehrkräften ist jede öffentliche Kritik an Bildungsentscheiden untersagt.

Dabei werden munter unbestrittene Kommunikationsregeln vermischt. Mittlerweile dürfte es jeder Lehrperson klar sein, wer gegenüber der Öffentlichkeit im Fall eines Drogendelikts oder eines sexuellen Übergriffs in der Schule kommuniziert. Brisant ist vielmehr, dass auch Widerspruch an bildungspolitischen Entscheiden nun nicht mehr medial zum Ausdruck gebracht werden dürfen. In unserer Redaktion gab es schon mehrere Erzählungen, wie das Basler Erziehungsdepartement mit allzu kritischen Lehrkräften umgegangen ist. Veröffentlichen durften wir sie nie, aus Angst vor Repressionsmassnahmen.

Philipp Loretz, Sekundarlehrer, Vorstandsmitglied des lvb, Mitglied der Condorcet-Redaktion und Mitglied des Bildungsrats: Die grosse Ausnahme

Staatshörige Verbände

«Habt doch Vertrauen in unsere Behörden», rief mir vor einigen Jahren ein Lehrer anlässlich einer Podiumsdiskussion zu, als ich mich gegen den Lehrplan 21 äusserte. Der Mann war ein Vorstandsmitglied des thurgauischen Lehrervereins. In diesem symptomatischen Statement drückt sich auch die landesweite Haltung unserer Lehrer«gewerkschaften» aus. Sie sind mittlerweile Mitglieder einer Allianz aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft, deren Ziele darin bestehen, das Schulsystem zu steuern und möglichst gut alimentierte Staatsaufträge zu erhalten. Mitunter kann auch die Einladung zu einem Mittagessen mit einem Erziehungsdirektor ein Anreiz sein, die behördliche Reformpolitik mitzutragen. Eine grosse Ausnahme in diesem Feld der kollektiven Vereinnahmung – man muss es immer wieder betonen – stellt der LVB im Kanton Baselland dar. Die Führungsgremien dieses Lehrerverbandes brechen immer wieder aus der Neusprech-Reformitis aus und erzielen damit bemerkenswerte Erfolge wie zum Beispiel die Einführung der Lehrmittelfreiheit.

Öffentlich-rechtliche Schule gegen Staatsschule

In diversen Diskussionen mit Politikern und Lehrkräften der Stadt Basel ist zu vernehmen, dass der Vorsteher des Basler Erziehungsdepartements, Conradin Cramer, sich bewusst sei, dass die Bildungspolitik seiner Stadt zu lang und zu einseitig von der sozialdemokratisch dominierten Verwaltung bestimmt wurde und Änderungen ihre Zeit bräuchten. Die Tatsache aber, dass der verantwortliche Bildungschef dieser Stadt, ein bekennender Liberaler, seinen Amtsleiter (Urs Bucher) einen solchen Brief (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/) schreiben lässt, bietet kaum mehr Interpretationen zu. Conradin Cramer will eine zentral geleitete Staatsschule, in der die Lehrkräfte zu Vollzugsbeamten degradiert werden wollen. Damit wird das „Öffentlichkeitsprinzip“ in Frage gestellt. Man will aus der öffentlich-rechtlichen Schule eine Staatsschule machen.

Die öffentlich-rechtlich angestellte Lehrperson ist zwar gegenüber seinem Arbeitgeber zu einer gewissen Loyalität verpflichtet, aber sie ist es auch gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern und deren Eltern.

Die öffentlich-rechtliche Anstellung schützt die Lehrperson zwar nicht mehr so ultimativ wie in Zeiten des Beamtenstatus und erlaubt auch Kündigungen. Trotzdem muss ein klar definiertes Prozedere bei jeder Entlassung eingehalten werden, wobei jeder Schritt rekursfähig ist.

Die öffentlich-rechtliche Anstellung der Lehrperson beinhaltet aber noch eine weitere, genauso wichtige Dimension. Die öffentlich-rechtlich angestellte Lehrperson ist zwar gegenüber seinem Arbeitgeber zu einer gewissen Loyalität verpflichtet, aber sie ist es auch gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Wenn sie also zu der Überzeugung kommt, dass die eine oder andere Reform den Bildungszielen seiner «Schutzbefohlenen» zuwiderläuft, gerät sie in ein Dilemma.

Eine Top-down-Mentalität mag vielleicht in einer Kühlschrankproduktionsstätte angesagt sein, im Bildungswesen hat der Ausschluss der Basis und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit teilweise verheerende Tendenzen.

Wenn also beispielsweise eine Lehrerin Mühe damit bekundet, ihre Schüler mit Zahlen zu benoten und es deshalb nicht macht, ist das selbstverständlich ein Kündigungsgrund. Wenn diese Lehrerin allerdings gegenüber Eltern, Behörden und Öffentlichkeit einen Artikel beschreibt, dass sie das Prinzip «Notengebung» untauglich findet, muss dies erlaubt sein. Genau hier ist ja der Unterschied zwischen einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis und einer öffentlich-rechtlichen Anstellung.

Mein Loyalität wurde arg strapaziert.

Ich kam selber in ein schwieriges Dilemma, als mir das neue Lehrmittel «Passepartout» aufoktroyiert wurde. Nach einem halben Jahr erkannte ich, dass die Schülerinnen mit diesem Unsinn kein Französisch lernen würden. Ich wich auf andere Lehrmittel aus. Meinem Schulleiter und auch den Eltern erklärte ich diesen Schritt. Beide waren sie einverstanden und ich gestaltete meinen Französischunterricht wieder mit einem strukturellen Aufbau. Bei einem anderen Schulleiter wären auf mich schwierige Diskussionen zugekommen. Nach einem Jahr liess ich mich durch die Schulleitung vom Französischunterricht entbinden. Pikant: Sieben Jahre später unterrichte ich -als pensionierter Lehrer – wieder Französisch, weil zurzeit vor allem Französischlehrkräfte fehlen. An der Schule wird das «Clin d’Oeil» nicht mehr verwendet.

Das zeigt auch, dass die Diskussion mit und der Einbezug der Basis in bildungspolitische Entscheide unabdingbar ist. Eine Top-down-Mentalität mag vielleicht in einer Kührschrankproduktionsstätte angesagt sein, im Bildungswesen hat der Ausschluss der Basis und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit teilweise verheerende Tendenzen. So hätte die Politik sich den 30 Millionen teuren Passepartout-Irrweg vielleicht ersparen können.

Wohin eine zentral gelenkte Staatsschule führen kann, die ihren an der Basis arbeitenden Lehrkräften keine Meinungsäusserung zubilligt, zeigen auch die Resultate der Vergleichsteste aller Art. Die Stadt belegt trotz rekordhoher Ausgaben in allen Vergleichen weit abgeschlagen den beschämenden letzten Platz. Kommentar von Conradi Cramer: Wir haben die besten Lehrer der Schweiz! Was er damit wohl meinte? Ihre Fachkompetenz oder Ihre Geduld?

 

 

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Volksschule ohne Demokratie? https://condorcet.ch/2020/05/volksschule-ohne-demokratie-copy/ https://condorcet.ch/2020/05/volksschule-ohne-demokratie-copy/#respond Fri, 22 May 2020 20:13:03 +0000 https://condorcet.ch/2020/05/volksschule-ohne-demokratie-copy/

Warum braucht die Demokratie die Volksschule und die Volksschule die Demokratie? Welche Folgen hat es, wenn die Volksschule als Unternehmen den Investor aus dem Aufsichtsrat verdrängt? Peter Aerbersold zeigt, wo wir heute stehen. Sein Fazit: Der Mensch kann die Zukunft nur so denken, wie er die Vergangenheit verstanden hat.

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Die Schweiz war eine Schulhochburg.

Die Schweiz war bereits um 1800 eine eigentliche «Schulhochburg» und vielen anderen Staaten weit voraus. Gemäss der Stapfer-Enquête von 1799 besuchten fast alle Kinder die Schule. Die neuen freiheitlich-demokratischen Staatsverfassungen in der Regenerationszeit (1832-1839) begründeten in den Kantonen die eigentliche Volksschule, wie das Beispiel des Kantons Zürich zeigt:

Volksschule vom Volk für das Volk

Den Startschuss für die Zürcher Volksschule gab die vom

Philipp Albert Stapfer 1766 – 1840, Bildungsminister der Helvetischen Republik

Volk angenommene liberale Staatverfassung von 1831 mit dem Artikel 20: Sorge für Vervollkommnung des Jugendunterrichts ist Pflicht des Volkes und seiner Stellvertreter. Der Staat wird die niedern und höhern Schul- und Bildungsanstalten nach Kräften pflegen und unterstützen.“ Auf dieser Grundlage entstand das Unterrichtsgesetz von 1832, das der Schule eine eminente staatspolitische Bedeutung zuschrieb: Sie hatte von jetzt an selbständig urteilende, verantwortungsbewusste Staatsbürger heranzubilden. Die Volksbildung wurde als wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren eines demokratischen Staatswesens erachtet, damit es nicht der Pöbelherrschaft und dann der Oligarchie verfalle.

Schule im Volk verankert

Die Volksschule hatte zwei entscheidende tragende Säulen: Erstens wurde sie als Stätte gesehen, welche die Kinder beider Geschlechter aller sozialen Schichten, aller Bekenntnisse und Begabungsstufen zur gemeinschaftlichen Erziehung vereinigt.  Zweitens war sie im Volk verankert, indem die Sorgepflicht und das Sorgerecht dem Volk (Schulgemeinde) übertragen wurde (Volkswahl der Lehrer und Schulbehörden, Laienaufsicht, Verantwortung für die Bereitstellung, Einrichtung und Unterhalt der Schulhäuser). Das Unterrichtsgesetz von 1859 war ein mustergültiges Gesetzeswerk. Es wurde erst 2002 durch das neue Bildungsgesetz abgelöst, um das Schulwesen der Globalisierung anpassen zu können.

Die Schulpflicht half die Fabrikarbeit durch Kinder zurückdämmen.

Erfolgreiche Neuerungen

Die wichtigsten Neuerungen waren die Einführung von Jahresklassen mit klar umschriebenen Lehrzielen und die obligatorische Alltagsschule (Unter- und Mittelstufe) mit 27 Wochenstunden für alle Schüler. Die obligatorische Volksschule erhielt eine klare, überschaubare Ordnung: Die Elementarschule (Unterstufe 1.–3.), die Realschule (Mittelstufe 4.–6.) und die Repetierschule (7.–9. Klasse). Die freiwillige Oberstufe war mit nur 6 Wochenstunden ungenügend ausgebaut und sollte erst mit der Teilrevision des Volksschulgesetzes von 1959 als obligatorische dreiteilige Oberstufe verwirklicht werden. Die Mitarbeit der älteren Kinder wurde vor allem im Sommerhalbjahr auf dem Bauernhof gebraucht. Die Schulpflicht half die Fabrikarbeit durch Kinder zurückdämmen.

Die Realien wurden in die Pflichtfächer aufgenommen und die Lehrmittel obligatorisch. Die Lehrmethoden wurden psychologisch abgestimmt und die soziale und wirtschaftliche Stellung des Lehrers gefördert. Die neue Schule verdankte ihre Erfolge vor allem der Einführung der Jahresklassen (nach Comenius), weil nun der Unterricht gezielt gestaltet werden konnte und der Lerneifer der Schüler viel grösser war als beim früheren individuellen Lehrpensum. Damit wurden die Lernfortschritte der Schüler und der verschiedenen Klassen vergleichbar.

Mitsprache  der  Lehrer

Damit die Schule eine solide Grundlage erhielt, sollten die Lehrer ein ausreichendes Einkommen und Mitsprache in schulischen Belangen erhalten. Letzterem diente die Schaffung von Schulsynoden als markantes Zeichen für die veränderte Stellung der Schule und des neuen Selbstverständnisses der Lehrerschaft. Die Schulsynode sollte ein öffentliches Forum für die Lehrerschaft sein, wo frei über ihre Bedürfnisse gesprochen werden konnte.

Unabhängige Volksaufsicht

Neben den Lehrern, Schulsynoden (Stan­des­ver­tre­tung der Ge­samt­leh­rer­schaft des Kan­tons) und Schulkapiteln wurden auch die Gemeindeschulpflegen aus der Vormundschaft der Kirche entlassen und eigenständig. Die Gemeindeschulpflegen bildeten mit den neugeschaffenen Bezirksschulpflegen und dem Erziehungsrat die Schulbehörden. Die Bezirksschulpflege hatte als Aufsichtsbehörde unter anderem darüber zu wachen, dass die gesetzlichen Erlasse auch ausgeführt wurden.

Lehrplan und Lehrmittel

Thomas Scherr, 1801-1870, Pionier des Zürcher Volksschulwesens und Verfasser zahlreicher Lehrbücher und pädagogischer Schriften.

Aufgrund des Unterrichtsgesetzes wurden die Lehr- oder Unterrichtsgegenstände, die verbindlichen minimalen Unterrichtsziele festgelegt und zweckmässige Lehrmittel erarbeitet. Zum bisher dominierenden Fach Biblische Geschichte kamen Deutsche Sprache (Lesen, Schreiben, Grammatik, Aufsatz), Rechnen und Geometrie, Geschichte, Geographie, Naturkunde, Singen, Zeichnen und Schönschreiben dazu. Bei den Realfächern wurden die Bedürfnisse des damaligen praktischen Lebens (Landwirtschaft, Gewerbe) berücksichtigt.

Für sämtliche Fächer wurden durch einheimische Autoren neue Lehrmittel geschaffen und mit ausführlichen methodischen Anleitungen zur richtigen Verwendung ergänzt. Diese stellten für die damalige Zeit eigentliche Pionierleistungen dar und wurden zum Teil während 50 Jahren verwendet. Wichtiger Verfasser von Lehrmitteln war Thomas Scherr. Die jeweilige Entwicklungsstufe der Kinder wurde stärker als bisher beachtet und zeitgemässe methodische und psychologische Grundsätze wurden einbezogen. Bei der Gestaltung der Lehrmittel achtete man auf eine ausgeprägte Veranschaulichung für die Unterstufe und auf Unterrichtsinhalte aus der nächsten Umgebung des Kindes. Das erste 1833 bei Orell-Füssli erschienene Lesebuch für Elementarschüler von Thomas Scherr (1831 in den neuen Erziehungsrat gewählt) enthielt „Stoff zur Übung im tonrichtigen und wohllautenden Lesen, Aufgaben zu Sprach- und Verstandesübungen, Beispiele zur Anregung und Entwicklung der Gemütsanlagen“. Später wurden hervorragende Lehrmittel auf mathematisch-naturwissenschaftlicher Grundlage vom Küsnachter Seminardirektor Heinrich Wettstein geschaffen. Sein Tafelwerk erhielt internationale Anerkennung, wurde an der Weltausstellung von 1873 in Wien präsentiert, und der Leitfaden wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Lehrerbildung

Der Kern der Reorganisation des Schulwesens war die Lehrerbildung. Noch im Jahr 1832 wurde das Seminar in Küsnacht mit 35 Teilnehmern unter dem ersten Direktor Thomas Scherr eröffnet. 1833 folgte die Eröffnung der Universität Zürich. Erfahrene Lehrer boten an den Lehrerseminaren eine praxisorientierte Ausbildung, um die Junglehrer gründlich auf die Klassenführung vorbereiten zu können. 1874 be­schloss der Er­zie­hungs­rat die Auf­nah­me von Töch­tern ans staat­li­che Leh­rer­se­mi­nar Küs­nacht. 2002 wurden im Kanton Zürich die Pädagogische Hochschule gegründet und elf praxisorientierte Lehrerseminare abgeschafft. Die Lehrerausbildung wurde regelrecht akademisiert. Viele Junglehrer kamen in der Praxis mit der Schulsituation nicht zurecht, wren überfordert und verliessen die Schule.

Chancengleichheit statt Integration

Der Geschäftsbericht der Zürcher Stadtschulpflege von 1893 hatte sich schon damals gegen die „Integration“ ausgesprochen, weil die Klasse (heutige „Regelklasse“) nicht dazu bestimmt war, schwache Schüler in ein Getto abzuschieben, da man ihnen gezielt helfen wollte:

„So lässt man solche armen Kinder in ihrer Klasse sitzen, ohne sich weiter zu bekümmern, was aus ihnen wird. Sucht der Lehrer sie nachzubringen, so werden sie übermüdet. Das Lernen verleidet ihnen, ihre Jugendfreude wird durch das Gefühl verkümmert, bei allem guten Willen doch immer die letzten, die ungeschickten, die oft getadelten zu sein. Vom Wunsche beseelt, auch solchen Kindern soweit als möglich zu helfen, ist man dann in Deutschland und in neuerer Zeit auch in Basel und St. Gallen dazu gekommen, besondere Klassen für solche Schüler zu eröffnen“.

Die Stadtschulpflege eröffnete 1891 die erste Spezialklasse für „Schwachbegabte“ mit 17 Kindern im Alter von 8 bis 14 Jahren. Zu den Erfahrungen mit den neuen Kleinklassen heisst es im Geschäftsbericht:

„Gerade der Umstand, dass trotz der vermehrten Hilfsmittel und bei den elementarsten Anforderungen ein grosser Teil der Schüler monatelang individuell behandelt werden muss, um einiges Selbstvertrauen und die unentbehrliche Lernfreudigkeit bei ihnen zu erzielen, dass damit ein erheblicher Fortschritt auch bei den schwächsten  Schülern konstatiert werden kann, wo man beinahe alle Hoffnung auf irgendwelchen Unterichtserfolg aufgeben zu müssen glaubte, ist ein Beweis dafür, dass die Volksschule [mit der Regelklasse] unmöglich allen ihren Insassen völlig gerecht zu werden vermag.“

Homogenität und Promotion

Damit möglichst alle Kinder das Klassenziel erreichen konnten, wurde eine grösstmögliche Homogenität angestrebt. Zur einheitlichen und praktischen Regelung der Beförderung der Schüler in die nächste Klasse hatte man bereits um 1890 die sogenannten Promotionsprüfungen eingeführt. Im Schuljahr 1988/89 mussten 1,4 Prozent aller Primarschüler die vorherige Klasse wiederholen. Im Promotionsreglement vom 30. Mai 1989, Artikel 2, hiess es dazu:

„Für Schüler, welche dem Unterricht nicht zu folgen vermögen, kann am Ende des Schuljahres auf den Antrag des Lehrers die Wiederholung der Klasse angeordnet werden. Ausnahmsweise kann ein Schüler auch während des Schuljahres in die untere Klasse versetzt werden. Vorgängig ist zu prüfen, ob die Schwierigkeiten des Schülers durch Massnahmen im Rahmen des Klassenverbandes oder durch Stütz- und Fördermassnahmen behoben werden können.“

Kann die Volksschule ohne direkte Demokratie überleben?

Volksschule oder …

Seit den 1990er Jahren wurde ohne äussere Not gleichzeitig mit einer Reihe von Schulreformen der Abbau der Demokratie in der Volksschule von oben vorangetrieben. Die Lehrer hatten pädagogische Freiheit ohne Hierarchie, bis der Hausvorstand als „primus inter pares“ ab 1990 sukzessive durch den neuen, nicht mehr vom Volk gewählten Schulleiter abgelöst wurde. 1995 wurde die demokratische Urnenwahl der Lehrer abgeschafft. Der vom Volk gewählten Bezirksschulpflege wurde zuerst die Beurteilung der Lehrpersonen entzogen, 1996 wurde sie halbiert und 2007 abgeschafft. Mit der Umbennung des Erziehungsrates zum Bildungsrat wurde der Schulsynode (2 Lehrer) und dem Kantonsrat (4 Mitglieder) die Wahl der Mitglieder entzogen. Die Ver­an­ke­rung der Schul­syn­ode wurde 1998 aus der Ver­fas­sung des Kan­tons Zü­rich ge­stri­chen. Die bisherige Vollversammlung der Lehrer, die Synodalversammlung, wurde 2004 abgeschafft. Den vom Volk gewählten Schulpflegen wurden mit der Einsetzung der Schulleiter Kompetenzen entzogen. Sie wurden marginalisiert und in einzelnen Kantonen bereits abgeschafft. Die Auflösung der Schulgemeinden, rechtlich eine politische Gemeinde, die Aufgaben der Volksschule wahrnimmt, ist weit fortgeschritten.

… Staatsschule

Der damalige Bildungsdirektor des Kantons Zürich wollte keine schrittweise Umsetzung der Schulreform, sondern ein politisches Gesamtpaket mit 14  Reformvorhaben, vorerst nicht auf Gesetzesebene, sondern mittels unterschiedlicher Schulversuche wie der teilautonomen Volksschule TaV, welche die Installierung einer Schulleitung vorsah.  Mit weiteren neuen TaV-Schulen wurde eine flächendeckende Abdeckung angestrebt. Ein Teil der „Schulentwicklungsforschung“ liess sich mit den Zielen des Globalisierungswerkzeugs „New Public Management NPM“ verbinden, um die Volksschule in ein Unternehmen mit straffer und eingleisiger Hierarchisierung zu verwandeln. Dazu wurde die Schulreform sprachlich näher an die Verwaltungsreform (wif!) gebracht. Die Lehrpersonen und die Bezirksschulpflegen lehnten jedoch das Reformpaket ab. Unter dem Deckmantel angekündigter Sparmassnahmen wollte der Bildungsdirektor die Bezirksschulpflege in Eigenregie halbieren. Das Bundesgericht musste bemüht werden, um den Magistraten vom hohen Sockel zu holen. Das Zürcher Stimmvolk schickte 2002 das neue Volksschulgesetz, mit dem die Reformen gesetzlich sanktioniert werden sollten, bachab.

Die kantonale Hoheit im Bildungswesen wurde durch die nicht demokratisch legitimierte Erziehungsdirektorenkonferenz EDK ausgehebelt. Der Zürcher Regierungsrat bezog die EDK-Empfehlungen in seine Entscheidungsfindung ein und verwies auch auf internationale Forschung und auf Empfehlungen der OECD. Wichtige Reformelemente des Lehrplans 21 wurden mit dem «Projekt Schule 21» von 1995 bis 2003 im Rahmen der Wirkungsorientierten Verwaltungsführung (NPM wif!) in Versuchsschulen im Kanton Zürich eingeführt. Der Lehrplan 21 wurde damit gleichsam vorweggenommen. 1999 wurde damit gerechnet, die Schule 21 in drei bis vier Jahren flächendeckend umsetzen zu können. Der Lehrplan 21 wurde von der extra dafür eingesetzten D-EDK an Parlament und Volk vorbei eingeführt, mit dem de facto die Methoden- und Lehrmittelfreiheit abgeschafft wurde.

 

Quellen:

Schulamt der Stadt Zürich (Hrsg.): 150 Jahre Zürcher Volksschule. Schule und Elternhaus, Heft 4, Zürich 1982.

Peter Ziegler: Die Volksaufsicht an den Zürcher Schulen von  1830 bis 1993. Herausgeber: Edmond M. Ermertz, Ferdinand F. Hürlimann, 1993

Stephanie Appius, Amanda Nägeli: Zürich: Schulreform als poltisches Gesamtpaket. In: Schulreformen im Mehrebenensystem: Eine mehrdimensionale Analyse von Bildungspolitik. Springer VS, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-16850-6

Alessandro Pelizzari: Die Ökonomisierung des Politischen: new public management und der neoliberale Angriff auf die öffentlichen Dienste. Konstanz 2001, ISBN 3-89669-998-9

Lengwiler, Martin; Rothenbühler, Verena; Ived, Cemile: Schule macht Geschichte: Geschichte der Zürcher Volksschule, 1832-2007. Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, Zürich 2007.

https://de.wikipedia.org/wiki/Ignaz_Thomas_Scherr

https://de.wikipedia.org/wiki/Kantonsschule_K%C3%BCsnacht

 

 

 

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Von diffusen Ängsten und mutiger Klarheit https://condorcet.ch/2019/07/von-diffusen-aengsten-und-mutiger-klarheit/ https://condorcet.ch/2019/07/von-diffusen-aengsten-und-mutiger-klarheit/#respond Sun, 28 Jul 2019 12:35:16 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1721

Dem Gegner diffuse Ängste vorzuwerfen, ist ein altes Muster der Diskursstrategie, wenn die eigenen Argumente nicht überzeugen. In den Auseinandersetzungen um den Lehrplan 21 ist dieser rhetorische Zweihänder oft angewendet worden. Ein Blick zurück und der Vergleich mit der heutigen Situation ist reizvoll. Condorcet-Autor Alain Pichard erinnert sich und dreht den Spiess um!

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Hans Hess, Präsident von Swissmem

Hans Hess, Präsident von Swissmem (Verband für KMU und Grossfirmen der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie) zog im Vorfeld der Lehrplan-Abstimmungen über die Lehrplangegner her: «Insgesamt ist die am Lehrplan 21 geäusserte Kritik schwer fassbar, wenig fundiert und ergibt in der Sache keinen roten Faden.» (18.5.2014) Und René Will, Ressortleiter Bildung von Swissmem, doppelte am 30.11.2016 nach: «Hier werden unbegründete und diffuse Ängste geschürt.»

Assistiert wurden diese Aussagen u. a. von linker Gewerkschaftsseite. Im Magazin VPOD-Bildungspolitik schrieb Thomas Ragni, VPOD- und Denknetz-Mitglied sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter im SECO (Staatssekretariat für Wirtschaft): «Pichard /Kissling drücken an diversen Stellen ihr diffuses Unbehagen aus» und einige Zeilen weiter psychiatrisierte er die Gegner: «Entscheidend ist, dass die Angst selber real ist und sich ein Objekt Freudscher Rationalisierung suchen muss». (VPOD-Bildungspolitik, April 2015, S. 22).

Gestandene Wirtschaftsleute und Altmarxisten vereint

Es ist eine Konstellation, an die man sich mittlerweile gewöhnt hat. Gestandene Wirtschaftsleute und Altmarxisten im bildungsfernen Beamtenstatus loben die Kompetenzorientierung und diffamieren ihre Gegnerschaft mit den Worten: «Diffuse Angst»!

Wer hat hier eigentlich Angst?

Es ist im Vergleich durchaus interessant, die real existierenden Bedingungen der Leute zu beleuchten, welche zur Zielscheibe dieser bewährten Allianz geworden sind und von den eingangs erwähnten Herren mit dem Etikett «diffus» und «ängstlich» belegt werden. Hier ein paar Müsterchen aus den letzten Monaten:

Poster im Lehrerzimmer des OSZ-Orpund
Bild: api

Lehrer P. hängte im Lehrerzimmer seiner Schule in einer bernischen Gemeinde einen Artikel von mir am Wandbrett auf. Meine Kolumne wurde von seinem Schulleiter umgehend entfernt, P. wurde ins Büro zitiert. Es folgte ein dreistündiges Mitarbeitergespräch mit der freundlichen Empfehlung, dass man – wenn man mit dem Gang der Dinge nicht mehr einverstanden sei – ja auch einen anderen Arbeitsort suchen dürfe. Wie entscheidet sich ein 57-jähriger Familienvater, der in der Nachbargemeinde beheimatet ist und dort auch ein Haus erworben hat? In diesem Fall meldete er sich bei mir und drohte seinem Vorgesetzten, den Druckversuch an die Öffentlichkeit zu bringen. Bestraft wurde er mit einer unattraktiven Lektionenzuteilung und einem miserablen Stundenplan. Er unterrichtet heute noch an der Schule, achtet aber darauf, sich professionell nichts zu Schulden kommen zu lassen. Wer hat hier Angst? Lehrer P., der die Entwicklung mit der Kompetenzorientierung mit Sorge betrachtet, oder der Schulleiter, der eine schulinterne Diskussion mit dem Mittel der Repression unterbinden wollte?

Den Lehrkräften der Gemeinde Wigoltingen, die das Projekt «Lernlandschaften» nicht mittragen wollten, wurde unter Androhung personalrechtlicher Konsequenzen untersagt, mit dem Disput an die Öffentlichkeit zu gehen. Trotzdem entschieden sie sich zu einem offenen Brief und brachten den Konflikt an die Öffentlichkeit. Wer hat hier Angst? Die Lehrkräfte, die dem behördlichen Druck standhielten, oder die Schulpflege, die den öffentlichen Diskurs mit einem Redeverbot unterdrücken möchte?

In der Gemeinde Buttikon kündigten 15 Lehrkräfte, weil sie die von oben verordnete Vision 2025 (die ebenfalls Lernlandschaften vorsieht) nicht mittragen wollen. Auch hier ging ein rüder Rechtsstreit mit Redeverbot voraus. Wer hat in diesem Fall Angst? Die Lehrkräfte, welche sich eine andere Stelle suchen, – und dies im völligen Bewusstsein, fortan den Nimbus des «Neinsagers» im Portefeuille zu wissen – oder die Schulleitung, welche auch hier jeglichen Dialog ablehnte und auf ihre Steuerungskompetenz verwies?

Beurteilungsbogen der Kindergärten in St. Gallen, Seite 9 von insgesamt 12 Seiten

Die 12 Lehrerinnen, die sich in der Stadt Basel gegen die Vermessungsorgie ausgesprochen hatten und dies in einem öffentlichen Schreiben (BAZ) kundtaten, wurden vom Erziehungsdepartement ebenfalls zitiert. Es wurde ihnen klar gemacht, dass sie mit personalrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten, sollte sich dergleichen wiederholen. Wer hat hier Angst? Die Primarlehrerinnen, welche sich weigern wollten, diese fragwürdigen Kompetenzbögen auszufüllen, oder die Behörde, welche von ihren Untergebenen bedingungslose Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber einfordert!

Auffallend ist die völlige Absenz der Personalverbände

Auffällig bei diesen Mosaikteilchen des gegenwärtigen bildungspolitischen Sittenbildes ist die völlige Absenz der jeweiligen Gewerkschaften, deren Aufgabe es ja eigentlich wäre, ihre Mitglieder zu verteidigen. Aber auch aus den Personalverbänden hört man immer mehr den Tenor:  Angestellte einer Bildungsinstitution hätten gegenüber dem Arbeitgeber eine Loyalitätspflicht.

Die famose Vorladung des Erziehungsdirektors

Zum ersten Mal vernahm ich solche Voten im Jahr 2003. Ich war damals neben Res Aebi, dem Langnauer Sekundarlehrer, einer der bekanntesten Lehrkräfte, welche die neue Beurteilung (SCHÜBE) im Kanton Bern bekämpften. Ich tat dies auch in der Öffentlichkeit, was mir eine Vorladung des damaligen Erziehungsdirektors Annoni nach Bern einbrachte.

Die Veröffentlichung dieser Karikatur des Autors brachte das Fass zum Überlaufen

Mein Schulkommissionspräsident, so hörte ich später, hätte mich am liebsten entlassen. Meine damalige Schulleitung befürwortete zwar die neue Beurteilung, wandte sich aber entschieden gegen eine Entlassung. Der Kommissionspräsident war aber an jener Sitzung ebenfalls anwesend. Und so sass ich einer breiten Allianz von Politik, Wissenschaft und Bildungsverwaltung gegenüber (insgesamt 8 Personen). Damals war ich noch VPOD-Mitglied, und so sicherte ich mir die Begleitung von Nico Lutz, der an meiner Seite sass, und mich verteidigen sollte.

Nico Lutz, heute Gewerkschaftssekretär der Unia Bild Unia

Er hatte eine delikate Situation zu lösen, denn der Vorstand der VPOD-Lehrergruppe unterstützte die behördliche Vermessungsorgie ohne vorherige Absprache mit der Basis. Der heutige UNIA-Sekretär löste seine Aufgabe mit Bravour. Ich ging erhobenen Hauptes aus der Auseinandersetzung hervor, zumal eine von Res Aebi organisierte Unterschriftensammlung ein vernichtendes Urteil zeitigte und die ganze Sache noch einmal überarbeitet werden musste. Doch muss ich zugeben, dass ich vor dieser Verhandlung eine schlaflose Nacht hatte. Als Organisator eines Lehrerstreiks und aktiver Gewerkschafter im linken VPOD wäre eine Anstellung in einer anderen Gemeinde kein leichtes Unterfangen gewesen. Für einen dreifachen Familienvater keine einfache Situation.

Staatsschule versus öffentlich-rechtliche Anstellung

15 Jahre nach dieser Auseinandersetzung scheint sich der Loyalitätszwang und damit die Staatsschule durchgesetzt zu haben. Das Anstellungsverhältnis an einer Staatsschule (wie auch an einer Privatschule) verlangt eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber. Doch die öffentlich-rechtliche Anstellung verpflichtet Lehrerinnen und Lehrer gleichzeitig zu einer Loyalität gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Daraus entstehen Dilemmata, früher wie heute. Diesen Grauzonen pädagogischen Wirkens möchte die Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft mit der Implementierung neuer Führungsstrukturen entgegenwirken. Ziele sind mehr Steuerung, mehr Kontrolle und eine leichtere Vollzugsgewalt.

Rinks und lechts – was soll’s?

Dass die Wirtschaftsleute Hess und Will eine solche Hierarchisierung begrüssen, ja diese sogar propagieren, ist nicht weiter erstaunlich, entspricht sie doch dem Selbstverständnis des Unternehmers. Nicht ganz überraschend findet man aber auch Sympathien für solche Zentralkomitee-artige Verfügungsgewalt und Zentralismusbestrebungen bei den Linken.

Und damit wären wir wieder bei unserem eingangs erwähnten rhetorischen Kampfbegriff. Genau die Implementierung dieser Führungsstrukturen war eine jener «diffusen Ängste», welche mich und meine MitstreiterInnen damals umtrieb. Womit wir beim zweiten «Totschlagargument» der Lehrplanbefürworter angelangt wären.

Wer ist hier eigentlich «diffus»?

Dass die Herren Hess und Will unsere Kritik am Lehrplan 21 als konfus empfanden, kann man durchaus nachvollziehen. Ihr Bildungsideal orientiert sich an der Berufsbildung. Klar formulierte Kompetenzen, auf Anwendbarkeit ausgerichtete Bildung, effizient geplant, möglichst standardisiert, outputorientiert, Bildung nach dem Prinzip der Produktion von Kühlschränken in einer modernen Produktionsstätte. Diesen Leuten das Humboldt’sche Bildungsideal entgegenzuhalten, ist natürlich vermessen.

Ob allerdings die im Lehrplan enthaltenen Kompetenzziele immer den Wunsch nach Verständlichkeit und Klarheit erfüllen, darf bezweifelt werden. So hat auch das Kompetenzziel im Fach Musik: «… kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren …»  durchaus ein gewisses «Diffusitätspotential».

Beat Kissling und die Autoren in der lehrplankritischen Broschüre «Einspruch» können natürlich nicht für alle Lehrplangegner die Hand ins Feuer legen. Aber ihre Kritik an der Vermessung, am Ansinnen, mit den überfachlichen Kompetenzen Gesinnung zu erzeugen, ihre  Befürchtung, dass die Idee des selbstgesteuerten Lernens grossflächig in die Schulen unseres Landes implementiert werden soll (notabene mit fatalen Konsequenzen für die Kinder der unterprivilegierten Schichten), die Warnungen vor der neuen Top-down-Steuerungsphilosophie, vor dem Abzweigen beträchtlicher Summen im Bildungsbereich für den Überbau, vor der Einschränkung der Methoden- und Lehrfreiheit und die Behauptung, dass Bildung zu Ausbildung werden soll, sind eigentlich klar formuliert. Man muss sie nicht teilen, aber unverständlich oder diffus waren und sind diese Befürchtungen nicht.

Interessant war vielmehr, dass die Lehrplangegner, allen voran der Pädagogikprofessor Roland Reichenbach, immer wieder eine Prüfung für all die Behauptungen unserer Reformeiferer anmahnten. Das ist das Gegenteil von diffus, es ist nachvollziehbar.

Diffus sind hingegen viele der ausgeklügelten Kompetenzraster, diffus ist die neue Mehrsprachendidaktik, diffus die Begründung für das Frühfranzösisch, diffus sind die vielen personalen Kompetenzen im Kindergarten.

Diffus ist das bildungspolitische Standing der Linken

Richtig diffus wird es allerdings, wenn wir die linken intellektuellen Purzelbäume und Verrenkungen der vergangenen Jahre betrachten. Schrieb die SP in ihrer Bildungsoffensive 2007 noch: «Die SP-Schweiz fordert schweizweit verbindlich definierte Bildungsstandards. Mittels standardisierter Tests sollen transparente und messbare Leistungsziele und darauf aufbauend Zertifikate vergeben werden»! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Die SP forderte damals nichts weniger als standardisierte Tests, welche sogar über Zugänge zu Bildungswegen entscheiden können (oder was um Gottes Willen bedeuten Zertifikate denn sonst?).

Heute, elf Jahre später, fordert der VPOD in seinem Bildungsmagazin (Nr. 207, Juli 2018, S. 29): «An der Schule wollen wir keine Leistungschecks.» (Beatrice Messerli, Grossrätin Basta).

Unsere Warnung vor einer Ökonomisierung der Schule bezeichnete eingangs zitierter Thomas Ragni noch als «Phantomschmerz der Linken» (VPOD-Bildungspolitik, 196, 2016, S. 20-22).

Zwei Jahre später schreibt Genosse Ragni: «Der selektive Erfolg des Mainstreams der Bildungsökonomik erklärt sich aus den strukturellen Investitions- und Finanzierungszwängen im Bildungsbereich, denen kapitalistische Gesellschaften unterworfen sind. Ihre Basisannahmen reflektieren entsprechend die Erfolgsbedingungen der Kreislauf- und Akkumulationsprozesse im Kapitalismus. Ausgangspunkt muss auf Investitionsseite die Mainstream-Theorie des ‹Humankapitals› sein, die Wissen und Können als ein in den Individuen verkörpertes Asset behandelt.» (VPOD-Bildungspolitik Nr. 207. 2018 S.20)

Abgesehen von diesem reichlich abgehobenen neumarxistischen Slang, den junge Lehrkräfte heute kaum noch verstehen, ist schwer nachzuvollziehen, weshalb führende Mitglieder des VPOD sich heute so leichtfertig ins Boot der Wirtschaft setzen, wenn es um die aktuellen Schulreformen geht. Wenn diffus heisst: unklar, konturlos, verschwommen (Duden), dann kann man den Begriff heute durchaus als Beschreibung linker Bildungspositionen anwenden.

Die Wirklichkeit ist viel profaner

Wahrscheinlich ist die Wirklichkeit viel profaner. Es sind damals wie heute zwei Welten, die da aufeinanderprallen. Hier eine bildungsbürokratische Wunschprosafabrik, die von Potentialen und Chancen spricht, die unbegrenzte Möglichkeiten sieht, welche ohne Belastungsfolgen thematisiert werden. Dort die Praktiker, welche gelernt haben, Rhetorik und Praxis zu unterscheiden. Und in der Tat sind auch Ängste im Spiel. Hüben wie drüben. Sorge um die Entwicklung der Schule und auch Angst vor der Veränderung auf der einen, Angst vor dem Gesichts- und Auftragsverlust auf der anderen Seite. Mut kann man nur haben, wenn man die Angst überwindet. Das zeigen uns die Lehrkräfte in Basel, Wigoltingen oder Buttikon. Das zeigt uns auch Diane Ravitsch mit Ihrem Buch «Reign of Error» mit der eindrücklichen Selbstkritik «Ich bekenne, ich habe mich geirrt»!

Wir haben eigentlich keine Wahl. Wir haben Angst und müssen mutig sein (Hans Dieter Hüsch). Die Schule hat Kämpfer nötig heute mehr denn je. Es ist wichtig, all diese Reformruinen, die uns eine ausser Rand und Band geratene Bildungsbürokratie in die Gegend stellt, gar nicht erst entstehen zu lassen, statt hinterher über sie zu weinen. Es braucht mehr Leute vom Format eines Herrn P. oder der Wigoltinger Lehrkräfte, denn Mut ist in dieser Anpassungsgesellschaft eine Tugend von grosser Sprengkraft geworden.

 

 

 

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