SRF - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 01 Feb 2023 05:31:03 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png SRF - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Inklusionsdebatte im SRF: Herr Lanfranchi hat Mühe mit Herrn Stark https://condorcet.ch/2023/01/inklusionsdebatte-im-drs-herr-lafranchi-hat-muehe-mit-herrn-stark/ https://condorcet.ch/2023/01/inklusionsdebatte-im-drs-herr-lafranchi-hat-muehe-mit-herrn-stark/#comments Tue, 31 Jan 2023 17:43:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=13022

Geplant war eine Diskussion zur Integration von Radio DRS im Sendegefäss Forum. Die kontradiktorische Diskussion hätte zwischen unserem Condorcet-Autor Roland Stark, ehemaliger Kleinklassenlehrer in Basel und Mitinitiant der Initiative für die Einführung von Förderklassen, und Professor Andrea Lafranchi stattfinden sollen. Es kam nicht dazu.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission.
Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge: Es funktioniert ganz einfach nicht.

Am 26. Januar fand im Sendegefäss «Forum» von Radio DRS eine Diskussion über die Inklusion, bzw. den Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Inklusionsprojekts in den Schweizer Volksschulen statt.

Geplant war, dass der Mitinitiant der Basler «Förderklasseninitiative» Roland Stark, ehemaliger SP-Parteipräsident und heutiger Condorcet-Autor, mit Professor Andrea Lanfranchi hätte diskutieren sollen. Professor Lafranchi hatte erst kürzlich mit dem Präsidenten der Basler Schulsynode, Herrn Héritier, ein Streitgespräch in der BAZ geführt. Der Condorcet-Blog schaltete dieses Gespräch auf ( https://condorcet.ch/2023/01/streitgespraech-zu-integrativer-schule/).

Es sind bekanntlich zwei Welten, die da jeweils aufeinanderprallen: Einerseits die Hohepriester der progressiven Pädagogik, die nur Möglichkeiten und Chancen sehen, auf  Studien verweisen und einer Wunschprosa nachhängen, in der nicht die Erreichbarkeit der Ziele, sondern die Zustimmung der Öffentlichkeit im Vordergrund steht. In der Regel bleiben sie den Anforderungen des Unterrichts fern, verweisen aber grne darauf, dass sie in einer fernen Zeit auch mal unterrichtet haben.

Professor Andrea Lanfranchi: Mochte nicht mit Herrn Stark diskutieren.

Auf der anderen Seite stehen die Lehrkräfte, die vor allem eine Währung kennen: den praktischen Unterricht und den Lernerfolg ihrer Schüler und die mit dem realen Schüler konfrontiert sind. Wenn die Praktiker das Gefühl haben, ihre interne Kritik werde nicht ernst genommen und es ändere sich nichts, dann entsteht ein Dilemma. Schliesslich sind sie keine Vollzugsbeamten, sondern öffentlich-rechtliche Angestellte. Und das Wort «öffentlich-rechtlich» bedeutet, dass sie nicht nur gegenüber der Anstellungsbehörde loyal sein müssen, sondern auch für ihre Schülerinnen und Schüler eine Verantwortung tragen. Wenn die Lehrpersonen also sehen, dass Dinge aus dem Ruder laufen, Bildungsziele nicht erreicht werden, Klassen kippen, dann ist es ihre Pflicht, darauf unter Umständen auch öffentlich hinzuweisen, oder, wie im Fall Basel, einen politischen Vorstoss zu realisieren.

Herr Lanfranchi  sieht das nicht so. Er lehnte die Einladung von Radio DRS, mit Herrn Stark über die Integration zu diskutieren, ab. Er wolle sich nicht mit Herrn Stark «duellieren».  Eingesprungen ist dafür Frau Elisabeth Moser, Professorin für Integration an der Universität Zürich.

Die Condorcet-Leserinnen und Leser können sich die Sendung hier anhören (Hinweis für unsere deutschen und österreichischen Freunde: Die Diskussion wird in der Mundart geführt).

 

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Der letzte Schrei – Falleri, Fallera https://condorcet.ch/2022/02/der-letzte-schrei-falleri-fallera/ https://condorcet.ch/2022/02/der-letzte-schrei-falleri-fallera/#comments Thu, 10 Feb 2022 10:01:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=10528

Wir freuen uns, seit langem wieder einmal einen Artikel von Roger von Wartburg veröffentlichen zu dürfen.

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Roger Von Wartburg, Sekundarlehrer, Präsident des lvb: Genitiv ins Wasser.

Zwei Fall-Stricke sind mir vor einigen Monaten bei SRF Sport innerhalb kürzester Zeit (ja, das war jetzt gerade ein augenscheinlich vom Aussterben bedrohter Genitiv) aufgefallen.

1. Herr Ruefer-in-der-Wüste radebrechte beim sonntäglichen Länderspiel: “Es wird ihm gedacht.” Die Aussage bezog sich auf die Schweigeminute infolge Roger Vonlanthens – schon wieder Genitivalarm! – Hinschied. Wohlmöglich akronymisiert “SRF” ja nichts anderes als “Sascha Ruefer Fallanalytiker”?

2. Und wenig später stand bei SRF Online zu lesen: “Wir sind uns unseren Stärken bewusst.” Solle der damalige Nati-Trainer Vladimir P. so gesagt haben. Was durchaus nicht ausgeschlossen werden kann, da der Genitiv ja weiss Gott noch viel schwieriger ist für all jene, deren Erstsprache nicht Deutsch war. Aber der Schurnalist müsste es doch korrekt verschriftlichen können, andernfalls er als grammatikalisches Fallobst zu gelten hätte. Fussballerisch indes wäre das Länderspiel im Fall auch besser gewesen ohne Fallstricke, denn die Kicker wussten kaum zu gefallen. Kein einziger Fallrückzieher in 90 Minuten! Wenigstens hat sich kein Fallsüchtiger im Strafraum fallenlassen.

Wenn das so weitergeht, ziehe ich eigenmächtig eine Fallpauschale von den Serafe-Gebühren ab.

Es bleibet dabei: Genitiv ins Wasser, weil es Dativ ist.

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Alain Pichard im Kulturplatz – Das vollständige Interview: Der Mensch lernt durch den Menschen https://condorcet.ch/2020/08/alain-pichard-im-kulturplatz-das-vollstaendige-interview-der-mensch-lernt-durch-den-menschen/ https://condorcet.ch/2020/08/alain-pichard-im-kulturplatz-das-vollstaendige-interview-der-mensch-lernt-durch-den-menschen/#comments Sun, 23 Aug 2020 15:03:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=6149

Es gab viele Vorgespräche und grosse Vorbereitungen, bis der SRF-Journalist Richard Herold mit seinem Kameramann einen insgesamt fünfstündigen Arbeitseinsatz am OSZ-Orpund absolvieren konnte. Im Vorfeld beantwortete Condorcet-Autor Alain Pichard schriftlich einige Fragen und gab auch bei den Filmaufnahmen ein 20-minüitges Interview. Heraus kam ein 10-Minutenbeitrag, der die wichtigen Punkte streifte und auf Zuspitzung bedacht war. Dass Alain Pichard die digitalen Medien intensiv nutzt, beweist er nicht nur mit seiner Arbeit an unserem Bildungsblog, sondern auch in seinen ausführlichen Antworten, die er hier unserer LeserInnenschaft vorstellt.

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Bilanz der Corona-Wochen im Lockdown – was hat die Schule gelernt in dieser ausserordentlichen Zeit? Wie erlebten Sie diese Zeit?

Für mich war es eine spannende, intensive und hochinteressante Zeit, in der ich viel gelernt habe. Und die Schule hat getan, was sie konnte. Manchmal besser, manchmal weniger gut. Im Großen und Ganzen ziemlich unaufgeregt und mehrheitlich professionell. Die wichtigste Erkenntnis aus der Corona-Zeit ist eine an sich bekannte: dass Erziehen und Bilden, Schule und Unterricht immer in Beziehungen stattfindet, dass die Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer ganzen Persönlichkeit, mit ihrer Betreuung und den persönlichen Rückmeldungen entscheidend für das Gelingen von Lernprozessen sind. Der Mensch ist des Menschen Lehrer oder Lehrerin. Medien können Vermittlungsprozesse unterstützen und begleiten, vor- oder nachbereiten, aber es braucht immer den Dialog.

Ausserdem bin ich zur Überzeugung gekommen, dass für Phasen des Fernunterrichts mehr, nicht weniger qualifizierte Lehrkräfte gebraucht werden. Die Gruppen müssen kleiner sein, es braucht viel mehr Kleingruppengespräche bis hin zur Einzelbetreuung. Fernunterricht ist personalintensiv und gewiß nicht geeignet, um (Personal-)Kosten zu sparen. Was man aus der Erwachsenenbildung weiß – Fernunterricht gelingt durch klare Ziele, feste organisatorische und zeitliche Strukturen und eine Bindung durch persönliche Betreuung – gilt in noch viel stärkerem Maße für den Fernunterricht mit Kindern.

Und als drittes: Für die Primarschulen ist Fernunterricht eine extreme Belastung und Zumutung für alle Beteiligten und von Grund auf ungeeignet.

Wie erlebten Sie diese Zeit? Was hat gut funktioniert – was nicht so? 

Digitalunterricht ist automatisiertes Lernen

Im Grunde zeigt sich, was auch im Präsenzunterricht gilt: Schülerinnen und Schüler, die sich und ihre Zeit gut organisieren können, kommen bei klaren Aufgabenstellungen und regelmäßigem Feedback halbwegs gut zurecht. Das Soziale fehlt, alles Menschliche, aber wer familiär gut eingebunden ist, übersteht solche Auszeiten ordentlich. Wer mehr Unterstützung und Führung braucht, fällt im Fernunterricht schneller und noch stärker zurück. Fehlt die Unterstützung zu Hause, wird es schnell kritisch.

Unterschiedliche Lerntypen und -geschwindigkeiten hat man in jeder Klasse, jeder Unterricht ist binnendifferenziert, das Zwischenschalten von Lernmedien und digitaler Kommunikation wirkt im Prinzip nur als Verstärker bekannter Phänomene.

Technisch vermittelte Hilfe ist immer distanziert, unpersönlich, weniger ganzheitlich, weil niemand körperlich präsent ist. Körperliche Präsenz ist aber elementar, um direkt aufeinander reagieren zu können.

Was gar nicht funktioniert, ist die tatsächliche Interaktion, bei der man jemandem über die Schulter und ins Gesicht schaut, auf einem Übungsblatt etwas vorrechnet oder zeichnet oder kurz gesagt: die direkte und ganz persönliche Ansprache und Hilfestellung am Sitzplatz. Technisch vermittelte Hilfe ist immer distanziert, unpersönlich, weniger ganzheitlich, weil niemand körperlich präsent ist. Körperliche Präsenz ist aber elementar, um direkt aufeinander reagieren zu können.

Was sind für Sie die wichtigsten Learnings – was nehmen Sie mit? 

Arbeitsplatz einer Schülerin während der Fernschulung

Die wichtigste Erkenntnis ist, dass auch eine gute technische Ausstattung wie an den meisten Schweizer Schulen nur ein Hilfsmittel in Pandemie-Zeiten sein kann, manches erleichtert, etwa den Dokumentenaustausch, aber dass Lernprozesse immer ein persönliches Gegenüber brauchen. Die Anfangseuphorie des „Schule vom Sofa aus“ verebbt schnell. Eine Videokonferenz nach der anderen führt fast automatisch zum Abschalten, nicht nur der Kamera. Auch Diskussionen in Kleingruppen wirken zunehmend steril, da Kamera und Mikrofon nur akustische und visuelle Signale übertragen, aber kein echtes Miteinander ermöglichen. Alles bleibt zweidimensional und technisch vermittelt.

Zum Denken-Lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir aber ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text „Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Anderes formuliert: Schulen sind nur als Präsenzschulen echte Schulen. Alles andere sind Hilfskonstruktionen für den Notfall.

Und für die Schülerinnen und Schüler wage ich zu behaupten: Viele von ihnen haben entdeckt, dass man auch zu Hause für die Schule arbeiten kann. Sie haben Arbeitsplätze eingerichtet und lange Zeit an Aufträgen gearbeitet. Das ist sicher ein positiver Aspekt.

Und für die Schülerinnen und Schüler wage ich zu behaupten: Viele von ihnen haben entdeckt, dass man auch zu Hause für die Schule arbeiten kann. Sie haben Arbeitsplätze eingerichtet und lange Zeit an Aufträgen gearbeitet. Das ist sicher ein positiver Aspekt.

Eine Studie besagt, dass ein Drittel der Schüler besser, ein Drittel gleich gut und ein Drittel während der Fernschulung weniger gelernt hätten. Wie stehen Sie dazu? 

Eine umfassende Studie der OECD aus dem Jahre 2012 zeigt ernüchternde Resultate

Ich staune immer wieder, wie schnell solche Studien auf den Markt kommen und wie unkritisch sie von den Journalisten kolportiert werden. Bei solchen Studien gilt doch immer nachzufragen: Was heisst „mehr gelernt“? Handelt es sich um eine Befragung oder eine Output-Auswertung?  Für welche Schüler gilt dies? Oder besser: Wer hat an dieser Umfrage teilgenommen? Gab es Kontrollgruppen? Wer hat die Studie in Auftrag gegeben? und so weiter. Ich kann Ihnen aber eine OECD-Studie empfehlen, in der alle Methoden transparent sind. Die Daten wurden 2012 erhoben und 2015 veröffentlicht. Diese Studie wurde von der FAZ als „zweiter PISA-Schock“ kommentiert, weil sie ergab, dass Schülerinnen und Schüler, die intensiv mit den digitalen Medien lernten, wesentlich schlechtere Ergebnisse erreichten als ihre Kontrollgruppe.

Inwiefern hat sich Ihre Position gegenüber digitalen Mitteln verändert? 

Digitale Medien sind seit über 30 Jahren in Schulen im Einsatz, es wurde vieles ausprobiert und jetzt in der Covid-19-Zeit vieles aus dem Berufsleben und der Erwachsenenbildung übernommen. Dabei hat sich ganz klar gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler weder Erwachsene noch Arbeitnehmer sind – und es ja auch (noch) nicht werden sollen, solange man Bildungseinrichtungen als solche begreift – und nicht nur als Zurichte-Anstalten für den Beruf.

Es gibt durchaus Gebiete und Themen, in denen digitale Medien dem klassischen Unterricht überlegen sind. Darauf sollte man zurückzugreifen oder in die konstruktive Medienproduktion einsteigen (Videos produzieren, PP herstellen, webbasierte Produkte kreieren). Zum Wörtchen-Lernen, Wortarten-Üben, Umrechnungen-Üben oder Texte-Verfassen sind die digitalen Tools echt nutzbringend. Aber das wussten wir schon vor dem Homeschooling.

Das heißt, dass digitale Medien, die im Kern nichts anderes sind als Automatisierungstechniken, gezielt eingesetzt werden, dagegen alle Automatisierungstendenzen beim Lernen und Prüfen vermieden werden sollen: ein Widerspruch schlechthin.

Bezüglich Pädagogik und Didaktik sind aber viele Angebote in den Lernportalen trotz ihrer zum Teil beeindruckenden Technik ausserordentlich bieder, wenn nicht sogar reaktionär.

Es gibt durchaus Gebiete und Themen, in denen digitale Medien dem klassischen Unterricht überlegen sind. Darauf sollte man zurückzugreifen oder in die konstruktive Medienproduktion einsteigen (Videos produzieren, PP herstellen, webbasierte Produkte kreieren). Zum Wörtchen-Lernen, Wortarten-Üben, Umrechnungen-Üben oder Texte-Verfassen sind die digitalen Tools echt nutzbringend. Aber das wussten wir schon vor dem Homeschooling. Bezüglich Pädagogik und Didaktik sind aber viele Angebote in den Lernportalen trotz ihrer zum Teil beeindruckenden Technik ausserordentlich bieder, wenn nicht sogar reaktionär. Pädagogische Konzepte für den Einsatz von – analogen wie digitalen – Medien im Unterricht haben immer den Menschen und seine Lernprozesse im Blick, nicht Mess- und Prüfbarkeit.

Grundsätzlich sehen Sie die Rolle des Pädagogen in Gefahr – nur noch „Coach”, „Controller” – können Sie das etwas näher ausführen.

Die Frage ist auch hier: Welche Aufgabe hat ein Pädagoge, eine Pädagogin? Die traditionelle Antwort: Junge Menschen zur Freiheit zu führen, das geht nur über Lernen und Verstehen. Das wiederum geht nur über Beziehung und Dialog. Das funktioniert nur im Miteinander.

Ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft besser damit fährt, die Unterrichtsprozesse nicht an Algorithmen zu delegieren.

Was technisch abgebildet werden kann, ist nur das Auswendiglernen von Repetitionswissen, das dann auch automatisiert abgeprüft werden kann. Der ehemalige Leiter des MIT, Rafael Reif, formulierte im NZZ-Interview (2015): „Die Ausbildung bei uns besteht aus drei Komponenten. Erstens: das Lernen von bestehendem Wissen. Zweitens: das Verbessern von bestehendem Wissen. Drittens: die Anwendung des Wissens, um etwas Neues zu schaffen. Den letzten Punkt nennt man Innovation. Digitales Lernen können wir nur für den ersten Teil nutzen.

Online-Aufträge – verkappte Arbeitsblattitis

Aber wir gewinnen damit mehr Zeit für die beiden anderen Komponenten.“ Punkt Zwei ist das Arbeiten im Seminar oder im Klassenzimmer. Auch hier stellt sich wieder die Frage: Welche Aufgabe, welche Funktion hat Schule? Wer sich nur als Lernbegleiter oder Lerncoach begreift, sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche an ihre Lernstationen gehen und dort ihr Pensum abarbeiten, greift nur ein, wenn etwas nicht funktioniert. Die Metapher dazu ist: Produktion von Wissen wie in einer Fabrik Waren produziert werden; der Nürnberger Trichter in digitaler Version. So funktioniert vielleicht das Bulimie-Lernen, aber daraus werden weder Verstehen noch Persönlichkeitsentwicklung. Fazit: Ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft besser damit fährt, die Unterrichtsprozesse nicht an Algorithmen zu delegieren.

Es kann aber doch auch durchaus ein Vorteil sein, wenn man es mit der Lehrperson einfach nicht kann?

Schlechte Lehrer sind eine Zumutung

Keine Frage: Schlechte Lehrer sind eine Zumutung. Aber schlechte Lehrkräfte machen auch keinen guten Fernunterricht. In den letzten Jahren ist viel geschehen, damit sich Schülerinnen und Schüler sowie Eltern auch wehren können. Ihre Frage suggeriert, dass neutrale Algorithmen den Unterricht übernehmen können und damit die Qualitätsunterschiede vermieden werden. Wie langweilig wäre Schule, wenn alle Lehrkräfte gleich wären? Manchmal sind auch die, an denen wir uns reiben, besonders wichtig für die eigene Entwicklung. Außerdem: Wir lernen auch von den Lehrkräften, mit denen wir gar nicht zurechtkommen, sehr viel – und sei es nur, wie man mit Menschen auskommt, mit denen man an sich nicht auskommt, aber auskommen muss. Das haben wir in der Familie, in der Klassen oder Nachbarschaft, in der Gemeinde oder am Arbeitsplatz. Wir müssen lernen, mit ganz unterschiedlichen Menschen und Charakteren und selbst mit halben Psychopathen auszukommen, weil es diese überall gibt. Die digitalen Medien sind sicher kein Ausweg.

Für mich ist klar: Wir haben während der Zeit des Homeschoolings Dinge gemacht, die in Bezug auf den Datenschutz illegal sind. Wenn man das alles in Zukunft machen will, soll man die Gesetze ändern. Sie einfach administrativ auszuhöhlen ist eines Rechtsstaats unwürdig.

Datenschutz ist ja auch immer ein Thema im digitalen Unterricht – wo sehen Sie die grössten Probleme? 

Vieles ist absolut illegal

Die größten Probleme sind:

  1. die US-Monopolstrukturen, weil US-Unternehmen auf Anfrage amerikanischer Behörden alle Daten herausgeben müssen (US Cloud Act). US-Recht bricht EU-Recht und jede kantonale Datenbestimmung; es gibt keinen Datenschutz mit US-Unternehmen;
  2. die völlige Intransparenz der Datensammlung und -auswertung, obwohl die Nutzer durch die zurückgespielten Antworten in ihrem Verhalten gesteuert werden;
  3. das lebenslange Speichern der Daten und damit die fehlende Option des Vergessens; gerade für Schülerinnen und Schüler ist es eminent wichtig, dass sie sich, z.B. nach einem Scheitern, „neu erfinden können“ und sie z.B. nach einem Schulwechsel nicht schon vorab durch ein Profil identifiziert werden, sondern sich als Person in neue Sozialstrukturen einfinden können;
  4. die ganzen unterschwelligen Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten, die mit den ganzen Psychotechniken der Benutzerführung (affective Computing, persuasive Technologies usw.) eingesetzt werden. Für diese Systeme ist man keine Person, sondern nur ein zu optimierender Datensatz, der für ein extern vorgegebenes Ziel optimiert wird (Teilziele sind z.B. möglichst lange Bildschirmzeiten, um Werbung schalten zu können, Maximierung des Konsumverhaltens usw.).

Für mich ist klar: Wir haben während der Zeit des Homeschoolings Dinge gemacht, die in Bezug auf den Datenschutz illegal sind. Wenn man das alles in Zukunft machen will, soll man die Gesetze ändern. Sie einfach administrativ auszuhöhlen, ist eines Rechtsstaats unwürdig.

Mit vielen digitalen Anwendungen sind weitgehende Formen der Überwachung möglich – nutzen Sie diese? 

Nein, was für eine Haltung steckt denn hinter dieser Frage? Die Basis für die pädagogische Arbeit ist Vertrauen. Man kann kein Vertrauen entwickeln, keine vertrauensvolle Beziehung und keine Bindung aufbauen, wenn man Lehren und Lernen über Kontrollsysteme organisiert. Man muss sich entscheiden: Arbeitet man als Pädagoge oder als Aufseher?

In den USA werden die öffentlichen Kindergärten und Schulen immer stärker digitalisiert, während die privaten die Computer aus den Klassenzimmern verbannen und Kinder für viel Geld den „Luxus der menschlichen Interaktion“ erleben dürfen, wie der Unterricht durch echte Menschen dort heißt.

Mit den Digitaltechniken ist ohne Probleme ein Benthamsches Panoptikum zu realisieren, die kleinteilige, vollständige Überwachung aller Aktivitäten aller Nutzerinnen und Nutzer. Die Instrumente dafür sind das Speichern in Big Data-Datenbanken und die algorithmisch gesteuerte Auswertung der Persönlichkeiten samt Leistungsfähigkeit, Stärken und Schwächen, eine vollständige psychometrische Vermessung usw. Das ist technisch alles machbar. Das ist die Grundlage für die sogenannte „datengestützte Schulentwicklung“ Der Begriff dafür ist Learning Analytics und bedeutet: digital gesteuerter Unterricht. Wollen wir das? Wer will das? Auch für die eigenen Kinder? (In den USA werden die öffentlichen Kindergärten und Schulen immer stärker digitalisiert, während die privaten die Computer aus den Klassenzimmern verbannen und Kinder für viel Geld den „Luxus der menschlichen Interaktion“ erleben dürfen, wie der Unterricht durch echte Menschen dort heißt; so jedenfalls die NYT).

Sind Sie nie versucht, da etwas mehr rauszuholen? 

Nicht das Messen ist das Ziel

Keine Frage, ich will mich als Lehrer ständig verbessern, aber pädagogisches Arbeiten ist kein wirtschaftlich geprägter  Optimierungsprozess, wie es mit dem „mehr Herausholen“ anklingt, weil man dafür vordefinierte Skalen und Ziele bräuchte wie im Sport. Beim Weitwurf sind 15 Meter mehr als zehn. Wir arbeiten aber mit jungen Menschen, da gibt es dieses „Mehr oder Besser als“ nur bedingt. Das klassische Unterrichten vor dem Siegeszug der empirischen Bildungsforschung hatte denn auch nicht das Messen zum Ziel, sondern das Verstehen und die Persönlichkeitsentwicklung. Das aber lässt sich weder automatisiert prüfen noch generieren, sondern dialogisch erfragen und fördern und entwickeln wie in Platons Akademie.

 

Es gibt das nationale Projekt „Edulog” – Anlauf ab August Zugang/Login zu vereinheitlichen und Schulen/Eltern Last abnehmen. Was halten Sie davon?  

Ich begrüsse alle digitalen Neuerungen, welche die Daten der Schüler respektieren. Und ich bin gespannt, welche Inhalte Edulog anbieten wird. Im Moment wird vor allem von biederen ProMotion-Filmchen „geschwärmt“.

Edulog – ein Versprechen, das eingehalten werden kann?

Das nationale Projekt „Edulog“ ist vermutlich ein typisches IT-Projekt, bei dem ganz am Anfang die Frage steht, wie man alle Aktivitäten der Nutzerinnen und Nutzer personenscharf tracken kann. Ich zitiere exemplarisch aus dem Papier eines Anbieters für Schulsoftware, dass „schulische IT ohne eine Benutzerverwaltung nicht funktionieren kann und damit ohne ein Identity- und Acess-Managment (IAM) keine Fortschritte bei der Digitalisierung im schulischen Bildungsbereich erzielt werden. Eine Vielzahl von relevanten Fragen werden mit einem IAM beantwortet: So kann damit beispielsweise ein altersgerechter Zugang ins schulische WLAN gesteuert, ein auf jede Schülerin, jeden Schüler individueller und zielgenauer Zugang zu Lerninhalten (Zuordnung von Lizenzen, Dokumentation des quantitativen und qualitativen Lernfortschritts, definierte Distributionsmöglichkeiten etc.) geregelt sowie jedwede mit Rollen und Rechten verbundene Freigabe oder der Zugang zu Inhalten, Medien und Internetseiten sichergestellt werden.“ (Univention, Handlungsempfehlungen, S. 7.) Das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in einem IAM und später der Lernmanagementsoftware (LMS) alles zur Person gespeichert ist und wie der Zugang gesteuert werden kann.

Wenn Sie einen IT-Dienstleister damit beauftragen, IT in Schulen zu etablieren, kommt als erstes so ein Tool zur eindeutigen Identifikation heraus. Damit kann man dann alle Aktivitäten an allen Geräten und übergreifend über alle Anwendungen verfolgen und so ein immer genaueres Profil erstellen.

Das ist bequem: Einmal einloggen und alles steht zur Verfügung, was man machen darf und/oder soll. Aber in diesem Profil steht eben auch, wer man ist und was man gemacht hat und machen darf. Aus pädagogischer Sicht sollte man aber immer nur und ausschließlich die (Schüler-)Daten speichern, die zur Nutzung des Systems absolut notwendig sind, ohne Profil- und Leistungsdaten. Das ist ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Und gehört nicht der Respekt vor der Person und den Rechtsgrundlagen einer demokratischen Gemeinschaft zu den Bildungszielen von Schule und Unterricht?

Die technisch affinen „Digitalisierer“ sind oft viel altmodischer als die als altmodisch diffamierten Digitalisierungskritiker.

Was müsste Ihrer Meinung nach in Sachen Digitalisierung jetzt geschehen?

In die Pädagogik investieren

Wir müssen klar zwischen Produktivitätszuwachs (digitale Möglichkeiten) und pädagogischen Zielen unterscheiden. Dort, wo die Schülerinnen und Schüler besser lernen, repetieren und üben können, soll man die digitalen Medien nutzen. Sonst sollte man vor allem in das Verstehen und das Lernen investieren, will heissen: besserer Unterricht, bessere Lehrerinnen und Lehrer, mehr inhaltliche, didaktische Weiterbildung. Ich hatte mich in den sechs Wochen der Fernschulung intensiv in den digitalen Angeboten umgesehen: technisch verlockend, grafisch teilweise eindrucksvoll, aber pädagogische Steinzeit, Frontalunterricht zum Davonlaufen, null Problemstellungen, komplett rezeptorientiert. Innovativ ist das alles nicht. Die technisch affinen „Digitalisierer“ sind oft viel altmodischer als die als altmodisch diffamierten Digitalisierungskritiker.

 

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Die versuchte Wiedergutmachung der Sendung “Kulturplatz” auf SRF in Sachen “Digitalisierter Unterricht” https://condorcet.ch/2020/08/die-versuchte-wiedergutmachung-der-sendung-kulturplatz-auf-srf-in-sachen-digitalisierter-unterricht/ https://condorcet.ch/2020/08/die-versuchte-wiedergutmachung-der-sendung-kulturplatz-auf-srf-in-sachen-digitalisierter-unterricht/#respond Sun, 23 Aug 2020 14:01:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=6145

Was haben die Schulen und die Schülerinnen aus der Corona-Zeit gelernt? Was nehmen sie mit ins neue Schuljahr? Diese Fragen versuchte die Kulturplatz-Sendung vom Mittwoch, den 19. August zu beantworten.

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Viele unserer Leserinnen und Leser mögen sich noch an die Propaganda-Sendung von Kulturplatz aus dem letzten Jahr erinnern. Es handelte sich um eine Ansammlung von Fake-News und völlig einseitiger Jubelrhetorik. Die Condorcet-Redaktion intervenierte (https://condorcet.ch/2020/06/liebe-frau-wannenmacher/), es kam zu einem Gespräch mit den Verantwortlichen und dem Versprechen, sich der Sache noch einmal kritischer anzunehmen. Am Mittwoch, den 18. August war es soweit.

Die Sendung war auf Zuspitzung bedacht und ein 10-minütiger Beitrag ist wenig geeignet, den komplexen Zusammenhängen der Digitalisierungsstrategie gerecht zu werden. Trotzdem, dieses Mal bemühte man sich immerhin um Ausgeglichenheit und sprach im Eiltempo einige wichtige Streitpunkte an.

In einem folgenden Beitrag stellt unser Condorcet-Autor Alain Pichard, der in diesem Beitrag prominent als Skeptiker zu Worte kam,  sein vollumfängliches Interview, das er den SRF-urnalisten gab, auf den Blog.

https://www.srf.ch/play/tv/kulturplatz/video/digitale-schule—segen-oder-fluch?id=0fc93633-e021-4bc9-8199-59d0698984da

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Bildungspolitische Plauderstunde beim ECHO der Zeit – Ein Protokoll https://condorcet.ch/2020/04/bildungspolitische-plauderstunde-beim-echo-der-zeit-ein-protokoll/ https://condorcet.ch/2020/04/bildungspolitische-plauderstunde-beim-echo-der-zeit-ein-protokoll/#comments Tue, 14 Apr 2020 10:40:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=4686

Gestern noch Kontrahenten spannen Felix Schmutz und Alain Pichard bei der Analyse des ECHO-Interviews "Chinesen kommen am besten durch die Krise" zusammen. Dabei entlarven die beiden Condorcet-Autoren die Substanzlosigkeit und die völlige Absenz kritischer Nachfragen. Der intelligente, aber keineswegs neutrale Bildungsexperte und PISA-Verantwortliche Andreas Schleicher wird in diesem Interview kaum gefordert und setzt sein "Framing" souverän um. Lesen Sie den Kommentar zu dieser bildungspolitischen Plauderei.

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Selbstporträt

«Echo der Zeit» ist die weltoffene, politische Abendsendung von Radio SRF. Wir vertiefen täglich die wichtigsten Ereignisse im In- und Ausland. Wir bringen globales Geschehen zu Ohren mit Reportagen, Interviews und Analysen – klug und pointiert.

Sehr geehrte Echo-Macherinnen und -macher,

Ihr Kaminfeuergespräch mit Andreas Schleicher im Echo der Zeit hat unsere Herzen erwärmt. Und auch seine fundierte Erklärung, an wem wir uns bezüglich Homeschooling zu orientieren haben, haben wir notiert.
Gestatten Sie uns, Ihnen noch einige Fragen nachzusenden, pointiert und so klug wie möglich.

OECD-Bildungsexperte und oberster PISA-Verantwortlicher Andreas Schleicher: Es hapert bei den Fähigkeiten der Lehrkräfte.

Interview mit Andreas Schleicher zum Fernunterricht während der Corona-Krise

(6. April, Echo der Zeit, Radio SRF 1)

Zur Erinnerung: Die Sendung Kulturplatz Schweiz vom 13. März 2019 (Digitaler Unterricht auf dem Vormarsch) bestach durch Falschinformationen, Weglassungen und Verkürzungen. Sie wurde so zu einem propagandistischen Dokument für den Digitalunterricht. In einem Brief an die Macher kritisierte ich diese Sendung in 7 Punkten und lieferte die entsprechenden Quellen nach. Dies hatte eine Einladung der Redaktion zur Folge, an der auch Professor Ralf Lankau teilnahm. Die zwei Redakteure hörten uns zu und versprachen, das Thema beizeiten gezielt und unter Berücksichtigung unserer Argumente weiterzubearbeiten.

 

Roger Brändlin, Journalist. ECHO der Zeit. Keine kritischen Nachfragen.
Copyright: SRF/Oscar Alessio

Das Interview des Journalisten Brändlin im Echo der Zeit fällt in eine andere Kategorie. Hier geht es um fehlende Substanz, einen vermutlich schlecht vorbereiteten Interviewer und ein falsches Format.

 

In der Folge versuche ich, die Lücken dieses Interviews aufzuzeigen, die offenen Fragen zu stellen und die Widersprüche aufzudecken. Ich beende es mit einem Fazit. (Die Transkription des Interviews erstellte Condorcet-Autor Felix Schmutz)

 

Brändlin, SRF: Wo steht die Schweiz im digitalen Fernunterricht?

Schleicher: Technologisch sind die Schulen in der Schweiz gut ausgestattet. Noch mehr zu tun ist bei den Lehrkräften. Zumindest nach Aussagen der Schulleiter fehlen ihnen noch die technischen und pädagogischen Fähigkeiten, um die Technologie auch wirklich in innovative Unterrichtskonzepte zu integrieren.

Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?

Kommentar Condorcet:

Schleichers Aussage enthält zwei Elemente, über die man gerne mehr erfahren hätte:

  1. Gibt es eine validierte Umfrage unter Schweizer SchulleiterInnen, welche die Apodiktik dieser pauschalisierenden Aussage unterstreichen? (Immerhin lieferte sie den ersten Titel dieses Beitrags).
  2. Was versteht Herr Schleicher unter «Technologie, die es in innovative Unterrichtskonzepte» zu integrieren gelte!
  3. Was sind nach Schleicher «innovative Unterrichtskonzepte»?
  4. Welche Fähigkeiten fehlen den Schweizer Lehrkräften im Digitalen Unterricht (Gebrauch von Zoom, Facetime, WhatsApp, Google Brain – Deep-Learning-Projects, YouTube-Kenntnisse, Videos produzieren?)?
  5. Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?

 

Brändlin: Mit Fernunterricht ist nicht nur die Videokonferenz gemeint?

Schleicher: Es ist auch wichtig, dass die Schüler die Motivation und die Fähigkeiten haben, selbstwirksam zu lernen, eigene Lernprozesse auch zu begleiten, Lernziele selbst zu setzen, über längere Zeiträume unabhängig zu arbeiten, das erfordert eine wirklich neue Pädagogik.

Kommentar Condorcet

Sehr interessant. Was genau heisst «eigene Lernprozesse auch zu begleiten»? Und, welche Lernziele sollen sich Schüler selber setzen? Sollen sie die Menge der Wörtli im Französischunterricht, die sie in einer Unterrichtseinheit lernen sollten, selber bestimmen? Sollen sie selber bestimmen zu lernen, wie die Chemie den Aufbau der Materie erklärt? Dass SchülerInnen eine Motivation haben sollen, selbstwirksam zu lernen, ist ja eine Binsenwahrheit, die wir auch im Normalunterricht einüben wollen. Die Frage ist, kann man Motivation mit E-Learning lernen?

Brändlin: Gibt es Länder, die das besser können?

China als Vorbild?

Schleicher: China ist am besten durchgekommen. Da waren nach einem Monat 50 Millionen Kinder online, und dort ist es vor allem gelungen, wirklich auch die sozialen Bedingungen gut zu erhalten zwischen Schülern und Lehrkräften. In China haben natürlich Kräfte wie die künstliche Intelligenz eine ganz andere Bedeutung. In Europa ist Estland sehr weit in der technologischen Ausstattung, Unterrichtskonzepte sind dort sehr stark digitalisiert. Aber insgesamt stehen wir am Anfang.

Chinas Unterrichtskonzepte: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, knallhartes Üben, harte Selektion. Ist das innovativ?

Kommentar Condorcet

Um welche Art sozialer Betreuung handelt es sich in China?

Welchen Unterricht meint Schleicher, wenn er von China spricht? Schleicher ist ein kluger Mann, der viele Bildungssysteme kennt. Er weiss bestimmt, dass in China ein stark lehrerzentrierter Frontalunterricht gepflegt wird. Natürlich lernen die chinesischen SchülerInnen wesentlich früher und auch umfassender an digitalen Geräten. Ist dies bereits «innovativ»? Die darin enthaltenen Unterrichtskonzepte und die Lernprogramme sind bei uns arg in Misskredit geraten. Stichwort: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, härteste Selektion und knallhartes Üben. Was ist hier «innovativ»? Die Tatsache, dass alle Kinder einen Laptop zu Hause haben und Lernprogramme abarbeiten? Und wie machen es die chinesischen Lehrkräfte mit Kindern, die da nicht mithalten? Rufen sie diese an? Reden sie ihnen ins Gewissen? Machen sie ihnen Mut? Zumindest würde ich das unter «die sozialen Bedingungen gut erhalten» verstehen. Oder geschieht dies mittels PUSH-Nachrichten. Der Lehrer schickt ein zu bearbeitendes PDF-Dokument, das nach einer gewissen Zeit sofort verschwindet. Wer es verpasst, hat keine Chance mehr. Auch totale Überwachung ist soziale Betreuung.

Brändlin: Besteht nicht die Gefahr, dass Kinder aus weniger begüterten Familien benachteiligt werden?

Schleicher: Doch, die Schere zwischen Kindern der gut verdienenden Eltern und der ärmeren öffnet sich weiter. Lernen ist ein sozialer Vorgang. Diejenigen, denen die Eltern nicht helfen können, sind im Nachteil.

Brändlin: Wie kann die Schule in der Schweiz dem entgegenwirken?

Schleicher: Die technologische Voraussetzung sind gegeben. Wo es mehr hapert, ist wirklich die Vorbereitung der Lehrkräfte, die Integration in die Pädagogik, da hat die Schweiz noch mehr zu tun.

Kommentar Condorcet

Auch hier: Was meint Schleicher mit dem Satz «die Integration in die Pädagogik»? Welche Pädagogik schwebt ihm vor?

Brändlin: Was muss die Schule tun, um den Kindern trotz Corona möglichst viel Chancengleichheit mitzugeben?

Schleicher: Zunächst geht es darum Online-Plattformen gut zu nutzen, dass einfach die besten Instrumente überall zur Verfügung stehen, die Lehrkräfte zu unterstützen, mehr Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften zu schaffen. Das Thema ist oft, dass Lehrkräfte sehr als Einzelkämpfer arbeiten, die sind jetzt ganz auf sich allein gestellt. Da für mehr Austausch und Zusammenarbeit zu sorgen, wird allen helfen.

Kommentar Condorcet

Online-Plattform für den Deutschunterricht: Toll verpackte Herkömmlichkeit.

Von welchen Online-Plattformen spricht Schleicher? Weiss er, wie viele Schulen Online-Plattformen nutzen? Und wie sieht er es bei den 1. KlässlerInnen? Dort gibt es ja auch Online-Plattformen … Kennt der Journalist diese? Er sollte sie sich doch einmal anschauen und uns anschliessend das Innovative an dieser Pädagogik erklären! Und schliesslich noch der Griff in die Mottenkiste der Lehrervorwurfsskala: die Lehrkräfte als Einzelkämpfer! Herr Schleicher weiss genau, wovon er spricht. Er vermittelt dem Zuhörer das Bild der 60er-70er-Jahre. Er unterschlägt die strukturellen Änderungen in den Schweizer Schulhäusern: Geleitete Schulen, pädagogische Konferenzen, gemeinsame Vorbereitungen während der Ferien, Mitarbeitergespräche usw. Warum? Und wie evident ist die Aussage? Worauf basiert sie?

Brändlin: Das ist mittelfristig gedacht. Manche sagen, man solle das laufende Schuljahr abschreiben. Was halten Sie von der Idee, dass man das ganze Schuljahr wiederholt oder ein Semester anhängt?

Schleicher: Schüler sind resilienter als wir das oft glauben. Ich denke, von dem, was die Schüler auch online lernen, bleibt sehr viel hängen, und ich denke, alles einfach nochmal machen, das wird dann wirklich ein verlorenes Jahr. Die Frage ist, wie lange das jetzt weitergeht. Wenn es bei ein paar Monaten bleibt, ist das zu bewältigen.

Kommentar Condorcet

Ich habe meinen SchülerInnen folgenden Rechenauftrag gegeben. Wie viel Prozent des regulären Unterrichts würden in einer 11-jährigen Schulkarriere in der Volksschule ausfallen, wenn die Schulschliessungen bis Juni dauerten? Es sind knapp 4%!

Brändlin: Was überwiegt bei Ihnen: die Sorge um die Bildung der Schülerschaft oder die Freude über die Fortschritte im digitalen Unterricht?

Schleicher: Sicherlich die Sorge um die Schülerschaft, denn nicht alle Lehrer sind darauf vorbereitet, nicht alle Schüler haben zu Hause das entsprechende Umfeld, um wirklich selbstwirksam, selbstständig zu lernen, da habe ich sehr grosse Sorge. Anderseits finden grosse Veränderungen in Zeiten tiefgreifender Krisen statt. Vieles, was wir heute entwickeln, dass Schüler einfach mehr Raum bekommen, innovativ zu lernen, dass Lehrkräfte mehr Verantwortung für die Gestaltung von innovativen Unterrichtskonzepten haben und übernehmen. Ich hoffe, davon wird einiges hängen bleiben. Das schlimmste Szenario ist, dass alles nach der Krise wieder so ist wie vor der Krise.

Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten.

Kommentar Condorcet

Das ist interessant! Am schlimmsten wäre es, wenn die Schule wieder so wäre, wie sie vor der Corona-Krise war. Ja, wie war sie denn vor der Corona-Krise? Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten. Vermutlich ist der digitale Unterricht gemeint. Und wiederum muss der Staunende sich angesichts solcher Rhetorik fragen: Was ist ein digitaler Unterricht? Ist da die Verwendung der digitalen Geräte als Tool gemeint oder ist es die Übergabe eines Unterrichts der direkten Instruktion durch die Lehrkraft an Softwarepakete von Google, die Verwaltung eines G Suite for Education-Kontos für jede Schülerin und jeden Schüler, die Beschulung unserer Kinder durch von Konzernen vorgefertigte Unterrichtsprogramme mit allen datentechnischen Problemen? Man erhält keine Antwort!

Brändlin: Könnte das sein?

Bei den Schülern bin ich optimistisch. Wer einmal gemerkt hat, dass man selbstständig lernen kann, dass man nicht nur einem Lehrer zuhören muss, man sich die Lehrkräfte aussuchen kann, mit denen man digital arbeitet, wenn man in ein virtuelles Laboratorium geht, anstelle irgendwo in der Schule zuzuhören. Wer das einmal mitgemacht hat, der wird später ein anspruchsvollerer Schüler sein, der auch auf die Lehrer zugeht und sagt, wie man am besten selber lernt. Die Schüler werden das einfordern, hoffe ich.

Kommentar Condorcet

Innovative Tools oder fragwürdige Datensammlung?

Das sind ja grosse Ankündigungen. Man kann selbständig lernen, die Lehrkräfte aussuchen und das in einem virtuellen Laboratorium. Wie funktioniert ein solches «virtuelles Laboratorium»? Kann man sich das auch aussuchen? Und welche Lerninhalte werden dort vermittelt? Welche Unterrichtsprogramme kommen zum Zuge? Google? Google brain speichert aber auch Geräte- und Hardwareinformationen, Geräteerkennungen und Betriebssystemversionen, IP-Adressen und Standortinformationen, setzt akivitätsprotokollierende Cookies ein, nutzt Sensoren der Geräte und deren Daten. Ist das ein Problem? Herr Schleicher weiss natürlich, wovon er redet. Weiss es aber der fragende Journalist?

Soll dieser Beitrag von Echo der Zeit informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht propagieren oder einfach nur werben?

Fazit Condorcet:

Alain Pichard
Das Format taugt nichts.

Um was für eine Art von Beitrag handelt es sich? Soll er informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht der Dinge propagieren oder einfach nur werben? Welche Frames (Wissensrahmen) kommen hier vor? Welche Rolle spielen die so aufgerufenen Frames für die Schlussfolgerungen der Zuhörerschaft? Welche Mechanismen können identifiziert werden, die darauf abzielen, Bewusstseinszustände von Lesern zu verändern? Wie immunisieren sich die Aussagen gegen Widerlegung oder Widerstand?

Ich möchte dem fragenden Journalisten nicht zu nahe treten. Aber dieses Interview ist kein erkundender Dialog, es ist ein Kamingespräch, eine Thesenplattform. Der Journalist wird sagen, das Format lasse nicht mehr zu. Das mag stimmen. Warum führt er es dann so durch? Das Echo der Zeit rühmt sich, sorgfältig recherchierte Hintergrundberichte zu liefern, seriöse Informationen zusammenzustellen und faktenbasiert zu kommentieren.

Gespräche mit «Experten» können dabei ein Element sein. Herr Schleicher ist zweifellos ein Experte. Er weiss viel mehr, als er geäussert hat, und er hätte bei entsprechenden Nachfragen auch nachgeliefert. Er ist aber auch ein Vertreter einer Bildungspolitik, die eine Agenda verfolgt. Er ist kein neutraler Bildungsforscher. Auch das hätte ein seriös arbeitender Journalist feststellen müssen. Und Herr Schleicher weiss bestens mit dem gewählten Format

Herr Schleicher ist kein neutraler Bildungsforscher. Er ist ein intelligenter Vertreter einer Bildungspolititk, die eine Agenda verfolgt, die wir skeptisch beurteilen (müssen).

umzugehen. Er setzt souverän auf die Frames, benützt die Innovationsrhetorik, ohne diese zu präzisieren. Herr Brändlin verfällt in die Rolle des Stichwortgebers. Eine ketzerische Zwischenfrage: Hätte es sich um einen AFD-Bildungssprecher oder einen Trump-Sympathisanten gehandelt, wäre dann die Befragung auch so devot geblieben?

Für einen intelligenten Mann wie Schleicher stellt diese Form des Interviews eine Unterforderung dar. Für uns kritisch denkende Bildungsinteressierte ist es nutzlos. Für die Mehrheit der Zuhörerschaft vermutlich durchaus prägend,  ja propagandistisch.

Am Schluss noch der Treppenwitz der Titeländerung

Und am Schluss noch ein Treppenwitz der ganzen Geschichte: Auf Hinweis unseres Codorcet-Autors Carl Bossard wurde der pauschalisierende und von vielen als diffamierend empfundene Titel der Sendung «Fehlende digitale Fähigkeiten bei Schweizer Lehrkräften» zu «Chinesische Schulen kommen am besten durch die Krise». Wieder eine Behauptung von Andreas Schleicher; empirische Daten legt er keine vor. Und was heisst «am besten»? Ich jedenfalls weiss es: Am besten hört man sich solche Sendungen einfach nicht an.

 

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