Schulbeginn - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 04 Jul 2023 12:37:41 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Schulbeginn - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Berner Schulen müssen sich neu aufstellen https://condorcet.ch/2023/07/berner-schulen-muessen-sich-neu-aufstellen/ https://condorcet.ch/2023/07/berner-schulen-muessen-sich-neu-aufstellen/#respond Tue, 04 Jul 2023 12:37:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=14432

Wenige Wochen vor dem Schuljahresstart sind im Kanton Bern noch 160 unbefristete Lehrpersonenstellen ausgeschrieben. Das zwingt zum Umdenken. Wir bringen einen Artikel der Tamedia-Journalistin Mirjam Comtesse, der zuerst im BUND erschienen ist.

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Manchmal habe er schlaflose Nächte, sagt Erwin Sommer, Vorsteher des kantonalen Amts für Kindergarten, Volksschule und Beratung. “Der derzeitige Lehrpersonenmangel ist die grösste Herausforderung, die ich in meiner Funktion bisher erlebt habe.” Auf den Schuljahresbeginn im August sind noch immer 160 unbefristete Stellen nicht besetzt.

Mirjam Comtesse, Journalistin bei Tamedia.

Das entspricht zwar ungefähr der Situation im Vorjahr zum selben Zeitpunkt, doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Schon damals setzte man alle Hebel in Bewegung und stellte auch Nicht-Diplomierte ein, damit keine Klasse ohne Lehrperson dasteht. Das Potenzial ist heute also weitgehend ausgeschöpft.

Die Unsicherheit belastet nicht nur den Amtsvorsteher, sondern auch Schulleitungen, Lehrerkollegien, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler. So sagt beispielsweise ein Vater aus der Verwaltungsregion Emmental-Oberaargau: “Mein Sohn wird nach den Sommerferien einer neuen Klasse zugeteilt, bei der noch nicht klar ist, wer sie unterrichten soll.” Er ärgert sich über die spärlichen Informationen dazu. Und sein Sohn sei so beunruhigt, dass er nach vielen Jahren plötzlich wieder im Bett der Eltern schlafen wolle.

Der Kanton versucht mit verschiedenen Massnahmen, Schulen zu helfen. So hat er unter anderem 2020 die Fachstelle Stellenbesetzung gegründet. Sie bringt am Unterrichten Interessierte und nach Lehrpersonen suchende Schulleitungen zusammen. Gleichzeitig finden manche Schulen selbst kreative Antworten. St. Stephan, Lauterbrunnen, Pieterlen und Bümpliz/Höhe machen es vor.

Erwin Sommer, Vorsteher des kantonalen Amts für Kindergarten, Vorschule und Beratung, hat schlaflose Nächte wegen des Lehrpersonenmangels. (Foto: Franziska Rothenbühler)

Altersdurchmischte Klassen

39 Kinder und 2 Lehrerinnen sitzen im Raum der Primarschule St. Stephan im Obersimmental. Es ist kurz vor der Pause – und trotzdem überraschend ruhig. Konzentriert hören die Schülerinnen und Schüler zu, was die Lehrerinnen sagen. Erst als es heisst: “Jetzt könnt ihr in die Pause”, stürmen alle mit Gebrüll los.

Seit einem Jahr unterrichten Martina Kammacher und Leonie Aschwanden die vierte, fünfte und sechste Klasse in St. Stephan im Teamteaching. Sie beide klingen begeistert, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen: “Es ist abwechslungsreicher als vorher und doch auch entspannter, weil wir uns die Verantwortung teilen können”, sagt Leonie Aschwanden. “Statt Polizistinnen sind wir nun eher Lerncoachs”, bestätigt Martina Kammacher. Denn anstatt frontal zu unterrichten, begleiten sie die Schülerinnen und Schüler individuell oder in kleinen Gruppen.

“Wir legten die vierte bis sechste Klasse zusammen und setzten zwei Klassenlehrerinnen ein.”

Tobias König, Schulleiter St. Stephan BE

 

Ursprünglich war diese Lösung kein Wunschszenario, sondern sie wurde aus der Not geboren. Als Schulleiter Tobias König vor einem Jahr erkannte, dass es schwierig werden würde, eine ausgebildete Lehrperson für die sechste Klasse zu finden, überlegte er sich eine Alternative: “Wir legten die vierte bis sechste Klasse zusammen und setzten zwei Klassenlehrerinnen ein.”

Mütter und Väter reagieren positiv

Weil das aber nicht reichte, um alle Lektionen abzudecken, schrieb er zusätzlich eine Stelle für eine Quereinsteigerin oder einen Quereinsteiger aus. “Dank des Hinweises, dass die Person nie allein unterrichten würde, war es einfacher, jemanden zu finden.” Gleichzeitig konnte er so den typischen Problemen vorbeugen, die bei Nicht-Diplomierten drohen: Überforderung, Unruhe in der Klasse, Belastung der erfahreneren Kolleginnen und Kollegen, weil sie aushelfen müssen.

Bei den Müttern und Vätern kommt das Konzept gut an. Sie zeigten sich bei einer Elternbefragung diesen Frühling mit der Schule insgesamt sehr zufrieden und gaben ihr 3,9 von 4 möglichen Punkten. Auch die Kinder wirken fröhlich und engagiert. Ein Mädchen sagt beim Besuch in St. Stephan stolz: “Ich bin in der Vierten und kann manchmal den Sechstklässlern Aufgaben erklären.”

Individualisiertes Lernen in gemischten Gruppen wie in St. Stephan ist ein typisches Konzept von sogenannten Mosaik-Schulen. Amtsvorsteher Erwin Sommer nennt Mosaik-Schulen denn auch explizit als Möglichkeit, dem Fachkräftemangel zu begegnen. Das ist nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt eine Option: Im Schulkreis Breitenrain-Lorraine sowie im Schulhaus Munzinger in Bern wird schon seit längerem in alters- und niveaudurchmischten Klassen unterrichtet.

Ungewöhnliche Personalsuche

Einen ganz anderen, aber nicht weniger innovativen Weg hat die Schule Lauterbrunnental eingeschlagen. In einer Randregion gelegen und mit verteilten Standorten in Lauterbrunnen sowie den beiden autofreien Dörfern Mürren und Wengen, verlangt sie Lehrpersonen einiges an Flexibilität ab. Deshalb ist die Suche nach genügend Personal seit Jahren ein Thema.

Eine der ersten Massnahmen war es, örtliche Spielgruppenleiterinnen als künftige Lehrerinnen zu rekrutieren. Sie können sich nun auf Gemeindekosten weiterbilden, sodass sie später auf der Basisstufe unterrichten dürfen – die Basisstufe verbindet den Kindergarten und die ersten beiden Schuljahre. “Dies hat das Problem deutlich entschärft”, sagt Schulleiter Rolf Possel. Derzeit seien drei ehemalige Spielgruppenleiterinnen als Lehrerinnen angestellt.

Schulleiter Rolf Possel sucht auch in Deutschland nach geeigneten Lehrpersonen. (Foto: Christian Pfander)

Zudem beschäftigt die Schule neu einen Biologen ohne pädagogische Ausbildung, im nächsten Schuljahr kommt ein Physiker dazu. “Wir haben sie explizit ermutigt, bei uns zu arbeiten”, sagt Rolf Possel. Beide verfügen über das nötige Fachwissen. Mentorate und Unterstützung von ihren Kolleginnen und Kollegen sollen ihnen ermöglichen, auch die pädagogischen Herausforderungen zu bewältigen.

Gleichzeitig hat die Schule Lauterbrunnental gezielt in den deutschsprachigen Nachbarländern nach Personal gesucht. “Dort hat es Leute mit Potenzial, denen aber die Ausbildung fehlt und die deshalb in ihrer Heimat nicht unterrichten dürfen”, sagt Rolf Possel. Seine Umtriebigkeit hat sich gelohnt: Für das kommende Schuljahr konnte er alle Stellen besetzen.

Am Schulstandort Bümpliz/Höhe in Bern sucht man ebenfalls auf ungewöhnlichen Wegen nach Fachkräften. Co-Schulleiter Martin Cappis setzte dieses Jahr unter anderem Whatsapp, Facebook und Instagram ein, um die offenen Stellen möglichst breit bekannt zu machen. Er gestaltete auch Inserate mit Fotos vom Schulhaus und liess diese in den pädagogischen Hochschulen aushängen.

Sie sollten aber zumindest Erfahrung haben im Führen von Kindergruppen wie etwa bei der Pfadi oder einem Sportverein.

In den Ausschreibungen ermutigte er explizit Personen ohne pädagogischen Abschluss, sich zu bewerben. Sie sollten aber zumindest Erfahrung haben im Führen von Kindergruppen wie etwa bei der Pfadi oder einem Sportverein. Nach zahlreichen Gesprächen mit unterschiedlichsten Bewerberinnen und Bewerbern hat es Martin Cappis nun Mitte Juni geschafft: Alle Pensen des Regelunterrichts werden im August mit ausgebildeten Lehrpersonen abgedeckt sein.

Attraktive Anstellungsbedingungen

In Pieterlen im Seeland konnte die Schulleitung nach einigen Schwierigkeiten ebenfalls alle Stellen im Klassenbereich besetzen, allerdings zum Teil mit Quereingestiegenen. Die unmittelbare Nähe zum Kanton Solothurn macht hier die Personalsuche besonders schwierig. Ennet der Kantonsgrenze verdienen erfahrene Lehrpersonen bis zu 1000 Franken mehr im Monat.

Unter dem Titel “Schule neu denken” setzt Pieterlen deshalb auf Innovation und will so zusätzliche Lehrpersonen anziehen. Am Montagabend informierten die Zuständigen die Eltern, wie ihre Vision aussieht.

Im Kindergarten sowie in den ersten beiden Primarschuljahren wird unter anderem eine Ankommenszeit von 10 bis 15 Minuten eingeführt, während der die Schülerinnen und Schüler eintrudeln können. Hinzu kommen für alle Stufen vermehrtes individuelles Lernen sowie Projektarbeiten. Dazu gehört, dass die starren 45-Minuten-Lektionen zugunsten grösserer Lerneinheiten aufgebrochen werden. Und anstatt einzelner Klassenlehrerinnen und -lehrer soll es Teams geben, die gemeinsam eine Klasse führen.

Kreative Ansätze sind bitter nötig. Denn in den kommenden Jahren dürfte sich der Lehrpersonenmangel sogar noch verschärfen.

Bereits im August beginnen verschiedene Klassen mit der Umsetzung, andere folgen später. “Wir wollen keine kurzfristigen Lösungen, sondern uns längerfristig als attraktive Schule aufstellen”, sagt Schulleiter Marc Cavin.

Kreative Ansätze wie in Pieterlen, St. Stephan, Lauterbrunnen und Bümpliz/Höhe sind bitter nötig. Denn in den kommenden Jahren dürfte sich der Lehrpersonenmangel sogar noch verschärfen. Die Gründe sind bekannt: Viele Babyboomer gehen in Pension, die Anzahl Schülerinnen und Schüler nimmt zu, und der Lehrplan 21 hat zu mehr Lektionen geführt.

Volksschulamtsleiter Erwin Sommer rechnet erst ab 2027 mit einer allmählichen Entspannung. Dennoch will er optimistisch bleiben: “Wenn wir den Schülerinnen und Schülern zeigen, dass wir diese Krise gemeinsam bewältigen, dann können wir Kreativität, Widerstandskraft und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.”

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Spielerisch Namen lernen https://condorcet.ch/2020/08/spielerisch-namen-lernen/ https://condorcet.ch/2020/08/spielerisch-namen-lernen/#respond Sun, 16 Aug 2020 06:49:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=6086

Es ist mittlerweile eine pädagogische Binsenwahrheit, dass es der Lehrer-Schülerbeziehung guttut, wenn die entsprechenden Namen sofort gelernt werden. Condorcet-Autor Urs Kalberer zeigt uns mehrere Beispiele, wie sich dies spielerisch bewerkstelligen lässt. Vielleicht auch etwas für den Schulanfang mit einer neuen Klasse?

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Bei Schulbeginn an einer neuen Schulstufe treffen Schüler aus unterschiedlichen Schulhäusern und Klassen aufeinander. Es geht zuerst darum, den Namen auf der Schülerliste die richtigen Köpfe zuzuordnen und schliesslich sollen sich auch die Kinder untereinander möglichst schnell mit ihren Namen ansprechen können. Aus Erfahrung verzichte ich auf Namensschilder, die die Schüler auf ihr Pult stellen, da man sich daran gewöhnt, einfach Namen abzulesen, statt sie sich auch zu merken. Die folgenden vier spielerischen Aktivitäten sollen dazu beitragen, sich die Namen und weitere Merkmale der Schüler schnell zu merken.

  1. Name, Hobby, Bewegung

Die neue Klasse steht im Kreis – am besten ausserhalb des Klassenzimmers. Der Lehrer beginnt und nennt

  1. seinen Vornamen (z.B. Urs)
  2. etwas, was er gerne tut (z.B. Hobby). Achtung: keine Doppelnennungen. Pro Klasse kann nur jemand Fussball spielen oder tanzen. (z.B. Lesen)
  3. und macht dazu noch eine passende Bewegung (hält ein imaginäres Buch in den Händen und liest).

Die ganze Klasse repetiert darauf den Vornamen, die Aktivität und führt die Bewegung aus. Der Lehrer tut gut daran, auf die exakte Ausführung der Bewegung zu achten.

Darauf folgt der erste Schüler, der zuerst Namen, Hobby und Bewegung der vorherigen Person wiederholt, bevor er selbst mit den eigenen Ausführungen startet. Die Klasse wiederholt die Angaben des ersten Schülers. Dann folgt der nächste Schüler, welcher nun zuerst die Angaben des Lehrers und des ersten Schülers wiederholt und dann seine Informationen an die Klasse gibt. Die Klasse wiederholt alle bisherigen Namen mitsamt den zusätzlichen Auskünften. Als Schlusskontrolle kann die Klasse in Paare aufgeteilt werden, die zusammen die Namen aller Schüler überprüfen. Anschliessend geht die Klasse ins Klassenzimmer, wo sich durch die veränderte Abfolge der Schülernamen eine weitere Übungsmöglichkeit ergibt.

Je nach Alter und Klassengrösse variiert die Zahl der zu wiederholenden Angaben. Durch das Wiederholen und die Verknüpfung von Hobby und Bewegung entsteht eine starke Verankerung der neuen Informationen. Ich hatte Klassen, die sich nach drei Jahren noch immer an die Tätigkeit und die Bewegung einzelner Schüler erinnern konnten.

 

  1. Namensketten

Hier handelt es sich um eine Variation der vorherigen Aktivität. Der erste Schüler sagt seinen Namen. Der zweite Schüler sagt den Namen des ersten Schülers und seinen eigenen Namen. Der dritte Schüler sagt die Namen der ersten beiden Schüler und am  Schluss seinen eigenen Namen. Ganz am Schluss ist zur allgemeinen Erheiterung der Lehrer dran, der dann alle Schülernamen sagen muss.

Es empfiehlt sich, dieses Spiel durch ein paar Ergänzungen etwas aufzupeppen.

  1. In der Reihenfolge der Sitzordnung vorzugehen, ist zu berechenbar. Hier hilft z.B. ein Ball. Wer erfolgreich abgeschlossen hat, wirft den Ball zu einem beliebigen Mitschüler, der noch nicht dran war. Dieser ist dann als nächstes dran.
  2. Die Schülernamen werden durch ein Adjektiv mit gleichem Anfangsbuchstaben ergänzt («der lustige Leo», «die süsse Sandra» etc.). Da die Schüler das Adjektiv für sich selbst auswählen, besteht nicht die Gefahr, dass Geschmacklosigkeiten oder Beleidigungen verwendet werden. Die Behaltensleistung steigt durch die Verwendung dieses Adjektivs.
  3. Richtig schwierig wird es, wenn man noch ein Hobby einbaut («Ich bin der lustige Leo und spiele Klavier» bzw. «Ich bin Ludwig und spiele Klavier»).

 

  1. Interview

Klasse in Paare aufteilen, die sich gegenseitig interviewen und danach der Klasse kurz ihren Partner vorstellen.

Variante: Man kann auch das Gesicht des Partners zeichnen und dann die erfragten Informationen ins Gesicht hineinschreiben und das Bild dann im Zimmer aufhängen.

Am Schluss ist der Lehrer oder die Lehrerin dran.
  1. Steh auf, wenn du …

Hier geht es darum, die gelernten Namen zu repetieren. Diese Aktivität lässt sich also gut am folgenden Tag durchführen. Die Schüler sollen sich dabei auf unkomplizierte Weise kennen und respektieren lernen. Der Lehrer richtet sich an die ganze Klasse und sagt: «Steh auf, wenn du…»

  • gerne tanzt
  • viel Musik hörst
  • Computerspiele machst
  • gerne zeichneste
  • ein Instrument spielst
  • Sport treibst in einem Verein
  • mehr als zwei Geschwister hast
  • einen Bibliothekspass hast

Nach jeder Aufforderung zum Aufstehen werden paarweise die Namen der stehenden Schüler repetiert.

 

Urs Kalberer, 11. August 2020

 

 

 

 

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Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/ https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/#respond Sun, 18 Aug 2019 13:44:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=1964 Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet einen Horizont. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen tragen eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Carl Bossard

In der Schweiz starten wie jedes Jahr im Spätsommer rund 120‘000 Lehrpersonen in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Schülerinnen und Schülern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start in ein neues Schuljahr. Jedem Anfang wohnt ja – wie Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ schreibt – ein Zauber inne. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Lernen als Hinausfahren ins Offene

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich vielleicht auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Das ist nicht immer bequem und mit unbekannten Variablen und Risiken verbunden. Das ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren – immer im gleichen Geleise. Nein, Unterrichten heisst etwas wagen und sich auch auf Nebenwege getrauen – aber mit einem Kompass für die richtige Richtung und mit den Koordinaten des gemeinsamen Ziels.

Das Unwägbare und Unberechenbare des Unterrichts

Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und das Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie in der Seefahrt lässt sich nicht alles planen, aber man muss auf die Fahrt, auf die gemeinsame Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein – und die Richtung kennen. Ob man aber immer und mit allen ankommt, das ist letztlich nie ganz sicher. Und doch darf Ankommen kein Zufall bleiben.

In diesem Sinne sind Schulleitung und Lehrpersonen ja nicht verantwortlich für Wind und Wellen, für Sturm und Strömung, für Nacht und Nebel, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord.

Alexander von Humboldt statue outside Humboldt University Berlin, Germany

Verantwortung braucht Freiheit

Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt auch für die Schule. Freiheit sei für die Bildung „die erste und unerlässliche Bedingung“,[1] schrieb der Reformer des preussischen Bildungswesens und Theoretiker der Freiheit, Wilhelm von Humboldt.

 

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen ihre Kinder zur Autonomie führen, zum Vermögen, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen“,[2] wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert hat. Eben: die eigene Freiheit ergreifen.

Viele Kinder werden in der Schule frei

Wo aber werden viele Kinder frei? Nicht zu Hause, nicht in engen sozialen Verhältnissen, sondern in der Weite der Schule – dank einer guten Bildung, dank autonomer Lehrpersonen. Beredtes Beispiel ist Albert Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation und Literaturnobelpreisträger von 1957. Ohne die Schule und ohne seinen Lehrer Louis Germain wäre Camus‘ Freiheit als Aufbruch aus dem harten, armseligen Milieu seiner Familie nicht möglich gewesen.[3]

Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit.

Und darin liegt das Paradoxon: Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit. Das bringt Schulen in Enge und Atemnot. „Schule in Ketten“ resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre.[4] Doch zielgerichtet navigieren und situativ richtig reagieren ruft nach Freiheit.

Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare

Freiheit ist die Freiheit des Handelns. Darin liegt das pädagogische Elixier. Nur schon deshalb muss die Schule – auch und gerade in den Zeiten sozialtechnologischer und ideologischer Steuerungs- und Indoktrinationsphantasien – ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs zielorientierte und kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder. Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare.

Und in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar voraussagbar. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorschriften; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich anspringt, können wir nicht ins Numerische outsourcen oder über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt

Regen voraussagen kann jeder, sagt eine indianische Weisheit; aufbrechen und hinausfahren, das zähle. Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die Wellen wogen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Jahresfahrt die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

 

[1] Wilhelm von Humboldt (2006): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart: Reclam, S. 22.

[2] Immanuel Kant (1999): Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Philosophische Bibliothek, Bd. Nr. 512. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 20.

[3] Albert Camus (1994): Le premier homme. Editions Gallimard, S. 180f.

[4] Walter Meier (2015): Schule in Ketten. Sachroman. Muri b.Bern.

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