Schülerleistungen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 01 May 2024 07:14:48 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Schülerleistungen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Stefan: “Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig” https://condorcet.ch/2024/05/stefan-der-leistungsdruck-an-der-schule-ist-riesig/ https://condorcet.ch/2024/05/stefan-der-leistungsdruck-an-der-schule-ist-riesig/#respond Wed, 01 May 2024 07:14:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=16625

Wie erleben Schülerinnen und Schüler in Deutschland ihren Schulalltag? FAZ-Redakteurin Franziska Pröll hat die Wahrnehmung von dreien aus unterschiedlichen Landesteilen und Altersklassen protokolliert. Ihr Leiden scheint grösser als ihre Freude. Neben Schilderungen über die Auswirkungen von Lehrer- und Zeitmangel, Leistungsdruck, Rassismus oder Überforderung gibt es aber auch Lichtblicke.

The post Stefan: “Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig” first appeared on Condorcet.

]]>

Den Lehrermangel spüre ich an meiner Schule jeden Tag. Morgens öffne ich auf dem Handy unseren Vertretungsplan. Zurzeit bin ich meistens frustriert, weil ich sehe: Von acht Stunden, die mein Stundenplan vorsieht, finden nur zwei bis drei statt.

Gastautorin Franziska Pröll, Redakteurin bei der FAZ

Lehrkräfte, die krank sind, stellen uns Aufgaben in einer Cloud bereit. Wir sollen sie dort abrufen und bearbeiten. Doch das funktioniert nicht: Die Lernaufträge sind meist nicht so ausführlich, dass man sich 90 Minuten damit beschäftigen kann. Viele Schülerinnen und Schüler nutzen Künstliche Intelligenz, um sie zu bearbeiten. In Physik ist eine Aufgabe damit innerhalb von fünf Minuten erledigt, bei einer Übersetzung in Latein geht es ähnlich schnell. Und die meisten Schüler wissen: Die Lehrerin wird es sich sowieso nicht angucken, wenn sie zurück ist. Lernaufträge fühlen sich für uns an wie Beschäftigungstherapie.

Es gibt noch etwas, was mich daran ärgert: Das Ministerium stellt ein System bereit, in das die Schulleitung einträgt, wie viele Stunden vertreten werden und wie viele ausfallen. Lernaufträge können aber nur als Vertretungsstunde erfasst werden, also als Unterricht durch einen Vertretungslehrer – obwohl sie kein Unterricht sind, sondern selbständige Lernzeit. Das Ministerium kriegt also gar nicht mit, wie die Lage an Schulen ist.

Stefan Tarnow, 18 Jahre, geht in die 11. Klasse eines Gymnasiums im ­brandenburgischen Lübben.

Noch ein Jahr, dann mache ich Abitur. Ich spüre großen Druck bei uns Schülern und bei den Lehrern. Sie haben den Anspruch, uns gut vorzubereiten. Sie wissen, dass die Prüfungen nicht angepasst werden, wenn Unterricht ausgefallen ist. Sie müssen es irgendwie schaffen, uns den Stoff in kurzer Zeit zu vermitteln. Viele meiner Mitschüler haben Angst, es nicht zu schaffen.

Wenn Unterricht stattfindet, fühlt er sich so sich an, als würden wir durch alle Themen galoppieren, ohne uns wirklich mit ihnen zu befassen. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Zeit hätten. Mehr Zeit, um Inhalte wirklich zu verstehen, und mehr Zeit, um Rücksicht zu nehmen auf diejenigen, die länger brauchen. Ein Teil von ihnen versucht, durch Nachhilfe aufzuholen, was er oder sie nicht versteht. Aber nicht jeder kann sich Nachhilfeunterricht leisten. Das ist ungerecht. Aber es passt ins Bild, das PISA und andere Studien offenlegen: Deutschland hat eines der ungerechtesten Bildungssysteme der Welt.

Ein Teil meiner Mitschüler hat gar nichts anderes mehr im Kopf außer Schule. Sie kommen nach Hause, machen Hausaufgaben und üben, üben, üben. Dann gehen sie schlafen. Freizeit haben sie nicht. Die Zahl der Depressionen unter Schülerinnen und Schülern geht aktuell durch die Decke. Ich würde schätzen, dass die Hälfte der Leute in meiner Klasse psychische Probleme hat. Auch soziale Ängste haben deutlich zugenommen, was sich bei Vorträgen äußert. Viele haben Hemmungen zu sprechen.

Ich habe mir Hilfe in einer Klinik gesucht und eine Therapie gemacht. Jetzt geht es mir besser, und ich kann wieder viel freier, viel lebendiger sprechen.

 

Mir ging es selbst so. Nach der Corona-Zeit wurde ich auf einmal sehr zurückhaltend bei Vorträgen. Ich hatte eine Hemmung, aus mir rauszukommen. Die Fröhlichkeit, die eigentlich immer da war, war plötzlich weg. Es kam mir vor, als ob ein grauer Schleier über mir liegt.

An der Schule hilft in solchen Fällen leider niemand. Schulpsychologen kommen nur in Notfällen dorthin. In Brandenburg gibt es einen Schulpsychologen pro Landkreis, er sitzt in der Beratungsstelle in der Kreisstadt. Der Landkreis, in dem meine Schule liegt, ist 100 Kilometer lang. Man muss also weit fahren, um zum Schulpsychologen zu kommen. Ich habe mir Hilfe in einer Klinik gesucht und eine Therapie gemacht. Jetzt geht es mir besser, und ich kann wieder viel freier, viel lebendiger sprechen.

Auch wenn mich vieles an der Schule stört – es gibt auch etwas, was mich zufrieden macht: dass es Strukturen für Schüler gibt, um sich zu beteiligen. Ich engagiere mich im Schülerrat meiner Schule und bin auch Landesschülersprecher in Brandenburg. Mein Eindruck ist, dass Politiker zunehmend versuchen, uns zu fragen, was man besser machen kann.

 

Hannah: Solche Vergleiche geben mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Was ich an meiner Schule besonders mag, ist die Vielfalt. In meiner Klasse sind 28 Leute. Bei 25 von ihnen kommt mindestens ein Elternteil aus einem anderen Land – aus Tunesien, Italien, Griechenland oder der Türkei. Im Unterricht sprechen wir oft über unsere Kulturen und Religionen. Das finde ich cool.

Es gibt Momente, in denen ich die Schule nicht mag. Einer meiner Mitschüler hat sich vor Kurzem im Kunstunterricht mit schwarzer Farbe einen Hitlerbart aufgemalt. Ein anderer hat die Hand zum Hitlergruß gehoben. Ich höre in der Schule auch öfter Witze über Juden. Das war schon vor dem 7. Oktober 2023 so. Ich bin Jüdin, und wenn so etwas passiert, fühle ich mich unsicher. Ich glaube nicht, dass Antisemitismus immer als solcher gemeint ist. Die meisten denken, sie machen einen Witz – und verstehen nicht, dass sowas kein Witz ist.

Hannah, 13 Jahre, geht in die 8. Klasse einer Realschule in Süddeutschland.

Mein Ethiklehrer hat vor Kurzem unsere Ordner kontrolliert und gesehen, dass ein paar Schüler durchgestrichene Israelflaggen auf Arbeitsblätter gemalt hatten. Manche schrieben dazu “existiert nicht”. Er hat die Arbeitsblätter dann mit der digitalen Tafel an die Wand projiziert und mit der Klasse besprochen, warum er so etwas nicht akzeptiert. Ich glaube, es gab auch ein Gespräch mit den Schülern und ihren Eltern. Seine Reaktion fand ich sehr gut. In Chemie lief es anders: Als ein Hakenkreuz auf einem Kittel war, hat die Lehrerin gesagt: “Ja, egal, nicht so wichtig.”

Wir wollten einen “Safe Space” schaffen für diejenigen, die anders sind als die meisten.

 

Nicht nur für Antisemitismus, auch für andere Themen wünsche ich mir mehr Raum: Rassismus ist an unserer Schule ein ständiger Begleiter. Viele Schüler benutzen das N-Wort, es gehört für sie einfach zum Sprachgebrauch dazu. Ich finde das nicht okay.

Zum Glück gibt es Leute, die so denken wie ich. Mit einer Freundin habe ich eine Gruppe gegründet. Wir wollten einen “Safe Space” schaffen für diejenigen, die anders sind als die meisten. Manche in der Gruppe erleben Rassismus, eine Person ist nonbinär, ins­gesamt sind wir 18 Leute. Wir treffen uns zum Reden oder gehen zusammen zu ­Fridays-for-Future- oder Anti-AfD-Demos.

Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig. Wenn wir eine Arbeit zurückbekommen, entsteht ständig so ein Konkurrenzding. Wenn ich zum Beispiel eine 3,7 habe, sagt die Person neben mir: “Ich habe ’ne 2,1.” Und der Lehrer sagt: “Die beste Note der Klasse war ’ne 1. Und die schlechteste Note war eine 4.” Solche Vergleiche geben mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

 

Jonathan Marte Frias wünscht sich mehr Vertrauen in die Schüler

Freunden und Mitschülern geht es oft schlecht, manche verletzen sich selbst. Wenn sie davon erzählen, frage ich mich: Was kann ich tun, um zu helfen? Darüber würde ich gerne im Unterricht sprechen. Und ich finde, es bräuchte eine Vertrauensperson an der Schule. Wir haben zwar eine Schul­sozialarbeiterin, aber sie muss alles, was ein bisschen schlimmer ist, an Lehrer, Schulleitung und Eltern weitergeben. Viele scheuen sich, zu ihr zu gehen.

Manchmal denke ich: Die Welt läuft weiter, aber die Schule bleibt gleich. Im Unterricht sitzen wir 45 Minuten lang am Platz, hören zu und lösen Aufgaben. Das ist nicht nur eintönig, es passt auch nicht mehr in die heutige Zeit. Es gibt so viele Technologien, die wir nutzen könnten. Oder wir könnten rausgehen in den Wald. Mit meinem früheren Englischlehrer haben wir das ein paar Mal gemacht. Jeder hat sein Buch mitgenommen, wir sind herumspaziert und haben Vokabeln gelernt. So konnte ich mir die Wörter viel besser merken. Das war cool.

Jonathan Marte Frias, 17 Jahre, geht in die 10. Klasse einer ­Sekundarschule im Rheinland.

Trotz Stress und Druck bin ich froh, dass es die Schule gibt. Hier habe ich eine Struktur. Es gibt “richtig” und “falsch”. Jemand sagt mir, was ich machen soll. Wenn ich in die Zukunft schaue, habe ich Angst, diese Struktur zu verlieren.

Ich habe Glück mit meiner Schule, die Lehrer unterstützen uns sehr. Gleichzeitig finde ich, die Schule sollte mehr Vertrauen in uns Schüler haben. Ich gehe in die zehnte Klasse. Vielen in meiner Klassenstufe ist bewusst, dass wir nicht für die Schule lernen, sondern für uns selbst. Dass es um unsere Zukunft geht. Trotzdem gibt es im Alltag viele Regeln, die ich als zu streng oder unnötig empfinde. Zum Beispiel dürfen wir das Schulgelände nicht verlassen. Klar, die Lehrer haben die Aufsichtspflicht und müssen auf uns achtgeben. Aber ich denke, man kann damit auch anders umgehen und uns einfach mal machen lassen. Nur wer Vertrauen bekommt, kann auch Verantwortung übernehmen.

Wie gehe ich mit Lebensmitteln um? Wie ernähre ich mich gesund? Praktische Fächer kommen aus meiner Sicht in der Schule viel zu kurz.

 

Ein anderes Beispiel sind Lernpläne: In Deutsch, Mathe und Englisch bekommen wir für jedes neue Thema Aufgaben, die wir in einer bestimmten Zeit – zum Beispiel in einem Quartal – bearbeiten müssen. Dafür bekommen wir eine oder zwei Stunden Zeit, also das sieht der Stundenplan so vor. Ich finde, man könnte den Schülern auch sagen: Den Lernplan macht ihr zu Hause, er ist eure Verantwortung. Die Zeit, die dadurch frei würde, könnte man ganz anders nutzen. Anstatt still vor sich hin zu arbeiten, könnte man in dieser Zeit guten und wichtigen Unterricht machen.

Hauswirtschaft, zum Beispiel, halte ich für ein wichtiges Fach. Darin unterrichtet werden aber nur die Zehner und nur ein Halbjahr lang. Dieser Zeitraum ist zu kurz, um all die Dinge zu lernen, die nach der Schule wichtig sind: Wie gehe ich mit Lebensmitteln um? Wie ernähre ich mich gesund? Praktische Fächer kommen aus meiner Sicht in der Schule viel zu kurz.

The post Stefan: “Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig” first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/05/stefan-der-leistungsdruck-an-der-schule-ist-riesig/feed/ 0
„Das holen die Kinder nie wieder auf“ https://condorcet.ch/2022/11/das-holen-die-kinder-nie-wieder-auf/ https://condorcet.ch/2022/11/das-holen-die-kinder-nie-wieder-auf/#comments Fri, 11 Nov 2022 20:46:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=12259

Olaf Köller ist einer der Promotoren der Kompetenzorientierung. Er wurde in diesem Blog wegen seiner Haltung auch kritisiert. In diesem Interview weist er aber schonunglsos auf die sinkenden Leistungen der deutschen Grundschulschüler hin. Die Frage ist allerdings, wie viel die von ihm unterstützten Bildungsreformen zu dieser fatalen Entwicklung beigetragen haben.

The post „Das holen die Kinder nie wieder auf“ first appeared on Condorcet.

]]>
Sabine Menkens, Politik-Redakteurin der WELT.

Ob Lesen, Schreiben oder Rechnen: Nichts weniger als eine „Katastrophe“ stellt Bildungsforscher Olaf Köller im Schulsystem fest – die auch mit einer stark veränderten Schülerschaft zu tun habe. Das Bildungssystem habe sich auf das Niveau von Pisa 2000 zurückentwickelt.

WELT: Der IQB-Bildungstrend ruft derzeit eine ähnliche Schockwelle hervor wie vor gut 20 Jahren Pisa. Ein Fünftel der Kinder erreicht nicht einmal den Mindeststandard in Lesen oder Mathematik, der Trend zeigt immer weiter abwärts. Wie bewerten Sie das, Herr Köller?

Olaf Köller: Die Entwicklung ist in der Tat dramatisch. Wir haben in den letzten zehn Jahren einen solchen Rückschritt im Bildungssystem erlebt, dass wir im Grunde wieder auf dem Niveau von Pisa 2000 angekommen sind. Wir haben große Gruppen von Risikokindern, die weder lesen noch schreiben noch rechnen können. Und das lässt sich nicht allein mit der Pandemie erklären. Der Trend war schon zuvor rückläufig.

Olaf Köller ist Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Das unabhängige Gremium aus Bildungsforschern berät die Bundesländer bei der Weiterentwicklung des Bildungswesens.

WELT: Welche Gründe sind aus Ihrer Sicht ausschlaggebend dafür?

Köller: Die Schülerschaft hat sich stark verändert. Wir haben eine deutliche Zunahme der Schüler mit Migrationshintergrund, darunter auch viele Flüchtlinge. Und dem System ist es in den letzten zehn Jahren offensichtlich nicht gelungen, darauf mit den entsprechenden Förderprogrammen zu antworten. Vor allem die in erster Generation eingewanderten Kinder sind weit abgehängt. Und auch die Leistungsstarken erreichen nicht mehr das Niveau wie vor zehn Jahren.

Neben den volkswirtschaftlichen Folgen hat es vor allem Folgen für den Ausbildungsmarkt.

WELT: Bildungsökonomen haben vorgerechnet, dass Lernrückstände in dem Ausmaß, wie wir sie jetzt beobachten, zu echten Einbußen beim Lebenseinkommen des Einzelnen und dem Wirtschaftswachstum insgesamt führen. Welche Folgen hat das für den Standort Deutschland?

Viele kommen nicht mehr in die Ausbildung.

Köller: Neben den volkswirtschaftlichen Folgen hat es vor allem Folgen für den Ausbildungsmarkt. Wir beobachten schon seit Langem, dass wir viele junge Leute nicht in die Ausbildung bekommen. Sie verfügen über so geringe schulische Kompetenzen, dass die Betriebe sie nicht einstellen können. Und der Wohlfahrtsstaat muss dann für ihre Alimentierung aufkommen.

WELT: Sie sehen also eine echte Katastrophe auf uns zukommen…

Köller: Vor allem eine Katastrophe, die in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch nicht den Platz einnimmt, den sie verdient. In den multiplen Krisen, in denen wir stecken, geht die Bildungskrise leider unter. Dabei führt die Entwicklung dazu, dass wir noch Jahrzehnte erhebliche Probleme haben werden.

WELT: Wie hätte man denn sinnvollerweise rechtzeitig gegensteuern müssen?

Köller: Wir wissen ja um die Risikogruppen. Das sind häufig Kinder mit Migrationshintergrund, die die deutsche Sprache nicht ausreichend lernen, oder auch deutsche Kinder, die sozial und kulturell besonders benachteiligt sind. Wir wissen auch, in welchen Kitas und Schulen diese Kinder sich sammeln. Man hätte frühzeitig mit Förderprogrammen an den Start gehen können, die man auf diese Schulen und Kitas konzentriert.

Wir wissen ja um die Risikogruppen. Das sind häufig Kinder mit Migrationshintergrund, die die deutsche Sprache nicht ausreichend lernen, oder auch deutsche Kinder, die sozial und kulturell besonders benachteiligt sind.

WELT: Was halten Sie von dem „Startchancen“-Programm zur Förderung von 4000 Brennpunktschulen, das die Bundesregierung auflegen will?

Köller: Die Idee finde ich nicht schlecht. Es ist aber wichtig, frühzeitig die genauen Ziele festzulegen. Denn nur weil das Schulgebäude saniert ist, lernen die Kinder nicht automatisch besser Deutsch und Mathe. Wir brauchen hier eine klare Ex-ante-Evaluation, was erreicht werden soll und wie die Mittel sinnvoll eingesetzt werden.

WELT: Grundschullehrer beklagen, dass vielen Kindern schon bei der Einschulung wichtige Fähigkeiten fehlten – von der Sprache über mathematische Vorkenntnisse bis zur Feinmotorik. Legen wir zu wenig Wert auf frühkindliche Bildung?

Köller: Wir haben immer noch in zu wenigen Einrichtungen das Bewusstsein, dass die Kita neben dem Betreuungs- und Erziehungsauftrag auch einen Bildungsauftrag hat. Das bedeutet, vor allem für benachteiligte Kinder gezielte Förderangebote zu machen. Sie liegen gegenüber privilegierten Kindern in der Entwicklung schon bei der Einschulung um bis zu zwei Jahre zurück. Das holen sie nie wieder auf.

WELT: Der IQB-Schock hat jetzt dazu geführt, dass sogar über die Einführung einer Kita-Pflicht gesprochen wird. Sind Sie dafür?

Uns fehlt das Bewusstsein, wie wichtig die Kitas sind.

Köller: Teilweise gibt es Ähnliches schon. In Berlin etwa müssen Kinder, die bei der Sprachstandserhebung auffällig werden, in die Sprachförderung, etwa in einer Kita. Die Pflicht ist aber das eine, die Umsetzung das andere. Laut Statistik kommt nur ein Drittel der Kinder mit negativer Diagnose auch in den Förderangeboten an. Wenn man solche Dinge einführt, muss man aber auch sicherstellen, dass sie eingehalten werden – notfalls mit Bußgeldern. Es mangelt an der Durchsetzungskraft. Aber natürlich auch an qualifiziertem Personal.

WELT: Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz, der Sie vorsitzen, beschäftigt sich damit, wie Unterricht in der Grundschule aussehen muss, um alle Kinder bestmöglich zu fördern und fordern. Nämlich wie?

Köller: Wir werden Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres unser Gutachten dazu vorstellen. Den Viertklässlern, über die wir jetzt reden, mangelt es ja an ganz basalen Kompetenzen. Dazu gehören zum Beispiel das flüssige Lesen und das Verständnis für den Satzzusammenhang. Mit diesen Kindern muss man erst mal üben, die Wörter, die sie sehen, zu dekodieren. Erst wenn sie flüssig lesen können, ist ein normaler Unterricht überhaupt möglich. Genauso in der Mathematik: Hier geht es um ganz basale Rechenfertigkeiten und ein Zahlenverständnis, Dinge, die man eigentlich in den ersten beiden Klassen lernt. Das muss man gezielt mit ihnen üben.

WELT: Wird an unseren Schulen insgesamt zu wenig Wert auf Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen gelegt?

Köller: Wir akzeptieren noch zu wenig, dass man sich in solchen Fällen nicht mehr an den Lehrplänen orientieren kann. Diese Kinder brauchen zusätzliche Angebote, um aus der Misere rauszukommen. Es reicht nicht aus, sie nur im Regelunterricht zu unterstützen.

WELT: Hat die Grundschule als Gemeinschaftsschule für alle noch Bestand? Oder braucht es schon am Anfang mehr Differenzierung nach Leistungsstand?

Bei der Schuldzuweisung an der Misere sind es oft die Kinder, die Eltern oder die Umstände. Es wird zu selten gefragt, was in den Kollegien selbst getan werden kann. Immer nur zu sagen: „Wir würden ja gern, aber es geht nicht“ ist zu wenig.

Köller: Wir werden die Grundschule in ihrem Grundgefüge nicht ändern. Aber man braucht auf jeden Fall kluge Ideen der Binnendifferenzierung. Mit zunehmenden Ganztagsangeboten brauchen wir in jedem Fall passende Angebote sowohl für die leistungsschwachen als auch für die leistungsstarken Schüler, um allen Kindern gerecht zu werden.

WELT: Welche Rolle spielt die Lehrerpersönlichkeit?

Köller: Natürlich spielt Professionalität eine Rolle. Vor allem aber muss ein Kollegium insgesamt bereit sein, an der Weiterentwicklung des eigenen Handelns zu arbeiten. Bei der Schuldzuweisung an der Misere sind es oft die Kinder, die Eltern oder die Umstände. Es wird zu selten gefragt, was in den Kollegien selbst getan werden kann. Immer nur zu sagen: „Wir würden ja gern, aber es geht nicht“ ist zu wenig.

WELT: Was muss sich an der Lehrerausbildung ändern, damit die geeignetsten Menschen Lehrer werden?

Köller: Beim derzeitigen Lehrermangel brauchen wir über Zulassungsbeschränkungen an Unis gar nicht nachzudenken. Aber wir haben bei der Qualität der Ausbildung noch durchaus Luft nach oben. Die Studenten werden viel zu wenig auf den Umgang mit der extremen Heterogenität der Schülerschaft vorbereitet. Wir gehen immer noch von einer Schule aus, wie sie vielleicht vor 30 oder 40 Jahren existiert hat. Auch Fortbildungen finden oft nicht strategisch statt. Es ist letztlich den Interessen und Hobbys der Lehrkräfte überlassen, welche Fortbildungen sie besuchen.

WELT: Ist den Kultusministern bewusst, wie hoch der Handlungsdruck ist?

Köller: Das Bewusstsein ist da. Aber es gibt angesichts der vielen Krisen natürlich einen enormen Verteilungskampf um die Ressourcen. Meine Befürchtung ist, dass die Bildung den Kürzeren zieht. Das wäre allerdings ein fataler Fehler. Die Bildungskrise hat immense Langfristfolgen auch finanzieller Natur. Jeder Euro, den wir hier nicht investieren, fehlt uns in den nächsten 20 Jahren um ein Vielfaches beim Bruttoinlandsprodukt.

The post „Das holen die Kinder nie wieder auf“ first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/11/das-holen-die-kinder-nie-wieder-auf/feed/ 4
Note «ungenügend»: Das bürgerliche Versagen in der Bildungspolitik https://condorcet.ch/2022/10/note-ungenuegend-das-buergerliche-versagen-in-der-bildungspolitik/ https://condorcet.ch/2022/10/note-ungenuegend-das-buergerliche-versagen-in-der-bildungspolitik/#comments Wed, 05 Oct 2022 20:08:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=11836

Die FDP fordert massive Verbesserungen an den Schulen. Und will damit wettmachen, was unter ihr – und der Schwesterpartei LDP – im Desaster geendet hat. Ob das gelingt? Daran darf man zweifeln. Ein Beitrag von Sebastian Briellmann in der BAZ.

The post Note «ungenügend»: Das bürgerliche Versagen in der Bildungspolitik first appeared on Condorcet.

]]>
Sebastian Briellmann, Autor der Basler Zeitung

Hoppla, jetzt aber.

Mitte September hat die Grossratsfraktion der Basler FDP sechs Vorstösse eingereicht, gleichzeitig und zum selben Thema: Bildung. Es ist dies, wenn man so will, die parlamentarische Fortsetzung eines zuvor präsentierten Papiers, das, prägnant zusammengefasst, aussagt: Die Basler Schule ist schlecht. Und: Wir kümmern uns nun darum.

Die Freisinnigen haben in ihrem neuen Grundsatzprogramm ja festgelegt, dass Bildung eines von vier grossen Themen ist, die man prägen möchte. Das Dossier ist Teil einer – in wirtschaftsliberaler Sprache gehaltenen – innerparteilichen Restrukturierung.

Gefordert werden: Rankings der Sekundarschulen, Mindestpensen, mehr Einführungsklassen, Weiterbildungsgutscheine für Lehrabgänger, mehr Deutsch-Frühförderung und Ausbildungsanpassungen auf Primarstufe für Lehrer (auch via Berufsbildung anstatt nur mittels Studium).

«Populismus»

Damit möchte die Partei nach Jahren des Niedergangs – endlich, endlich – wieder Akzente setzen.

Man kann, wenn man gutmütig sein will, sagen: Das ist gelungen. Aber vielleicht nicht so, wie sich das die FDP ersehnt hat. In der «Basler Zeitung» ist einer der Vorschläge – Rankings – bereits ordentlich zerzupft worden; die Freiwillige Schulsynode Basel hält solche Vergleiche für «problematisch», und die SP-Grossrätin Franziska Roth, Präsidentin der Bildungskommission im Grossen Rat, bezeichnet die Idee als «völlig daneben».

Und auch die Lehrer empfinden die Pläne, nun ja, bisher nur als semi-witzig. Interessenvertreter – Schulsynode und Starke Schule beider Basel – sparen bei «Prime News» nicht mit Kritik: Mindestpensen sind unflexibel, schwächen die Frauen, fördern den Berufsausstieg. Und bei einer eingeführten Berufsbildung für Primarlehrer fürchtet man nichts weniger als die Abwertung des Lehrerberufs.

Kurz: Die FDP hätte sich doch besser vor der Veröffentlichung bei ihnen gemeldet.

Hoppla, jetzt aber.

Die bürgerlichen Mitstreiter – wenn man das überhaupt noch so nennen kann – haben ebenso wenig Freude an den freisinnigen Denkanstössen. Christoph Eymann, ehemaliger Erziehungsdirektor der LDP, wirft der Schwesterpartei in seiner BaZ-Kolumne sogar «Populismus» und eine «Beleidigung» der Lehrer vor. Der FDP-Vizepräsident reagiert wiederum mit einer vorwurfsvollen Replik.

Hoppla, jetzt aber.

«Katastrophales Zeugnis»

Das mag alles etwas kleingeistig wirken, ist doch noch kein Vorstoss behandelt worden – und mit Ideen könnte man sich ja zuerst einmal auseinandersetzen. Gerade im Fall von Basel-Stadt müsste eigentlich jeder Vorschlag willkommen sein, wenn man an die schulische Tristesse im Stadtkanton denkt.

Konkret an den ersten nationalen Schulvergleich von vor drei Jahren, als die Basler Schüler sowohl in Deutsch als auch in Mathematik versagt haben. Die «Neue Zürcher Zeitung», nicht für übertriebene Zuspitzung bekannt, hat damals schonungslos getitelt: «Katastrophales Zeugnis für die Basler Schulen».

Dabei darf man nicht vergessen: Ein basel-städtischer Schüler kostet laut einer Erhebung (2019) des Bundesamts für Statistik mit fast 20’00 Franken fast doppelt so viel wie einer aus dem Wallis oder aus Freiburg, die natürlich auch noch viel besser abschneiden: Basel-Stadt war bei den letzten Vergleichstests abgeschlagen Letzter, Freiburg in allen Fächern auf dem Podest.

Personalaufwand pro Schüler/in in der obligatorischen Schule nach Schulkanton 2019

Die Realität sieht, sehr schonend formuliert, auch weiterhin nicht verheissungsvoll aus: Stolze 41 Prozent der Kinder müssen ab drei Jahren an staatlichen Förderprogrammen teilnehmen und Deutsch lernen – und besuchen deswegen mindestens zwei Halbtage pro Woche in einer Spielgruppe oder einer Kindertagesstätte eine «frühe Deutschförderung». In Zukunft dürfte dieser Wert noch steigen.

Sicher, es wird versucht, mit grossem Aufwand (und viel Geld natürlich), die Startbedingungen für möglichst alle Kinder zu verbessern. Aber es wirkt bestenfalls wie Pflästerlipolitik, realistischer: wie Makulatur.

Das kaschiert man mit wachsweichem Umgang mit den Schülern: ja nicht zu streng, lieber eine gute Entschuldigung finden. Heute gibts keine Ungenügenden mehr, sondern eine Lektion mehr in einer Lernoase. Spürsch-mi-fühlsch-mi-Groove (auch wenn der Erziehungsdirektor dies vehement bestreitet).

«Zu schlecht für Lehre»

Die Folgen sind gravierend: Die Gymnasialquote ist mit 33 Prozent noch immer viel zu hoch. Und gleich noch eine andere Schreckenszahl: Nur 21 Prozent aller Basler Schulabgänger beginnen nach der obligatorischen Schulzeit eine Lehre. Kurz: Das Niveau der Schulen nivelliert sich seit Jahren nach unten. Die Folgeschäden trägt die Universität, an der die Basler Maturanden die höchsten Abbruchquoten produzieren.

Und weil viele Schüler, die wunderbare Lehrlinge wären, zu Unrecht am Gymi hocken, fehlen der Wirtschaft gute Nachwuchskräfte. Die BaZ hat bereits vor drei Jahren getitelt: «Kritik an Schulen: Viele Basler zu schlecht für Lehre». Lehrmeister und Wirtschaftsverbände grummeln schon lange wegen fehlender Qualität. Die Betriebe suchen ihre Mitarbeiter stattdessen in anderen Kantonen.

Kann es das wirklich sein?

Und wenn dann eine Partei kommt, die endlich mal wieder ein paar Vorschläge bringt: Dann wird sie von allen Seiten kritisiert?

Nun, das hat durchaus seine Gründe. Die FDP ist (zusammen mit der LDP) Teil eines Blocks, der seit über 70 Jahren für die Bildungspolitik die Verantwortung trägt. Also länger, als die Queen regiert hat. Und die Freisinnigen haben alle Reformkatastrophen nicht unbegeistert mitgetragen: Integrative Schule, Frühfranzösisch, Kompetenzorientierung …

Der bekannteste Lehrer der Schweiz, Alain Pichard, lange in Basel aktiv, hat auf seinem «Condorcet»-Blog mit scharfer Klinge das bildungspolitische Versagen seziert: «Die Hüst-und-hott-Reformen der verschiedenen Schulinstitutionen, die kafkaesken Auswüchse der Schülerbeurteilungen (überfachliche Kompetenzen in mehrseitigen Fragebögen), die ultimative Umsetzung des Integrationsartikels, die exorbitanten Ausgaben für Luxusbauten, die Investitionen in den administrativen Überbau, die Schaffung vieler Plan- und Beratungsstellen und die Explosion der Anzahl von Speziallehrerinnen: alles auf Entscheide des Bildungsdepartements der letzten Jahre zurückzuführen.»

Da ist es schon erstaunlich, dass sich Freisinnige und Liberale nun gegenseitig angreifen. Sieben Dekaden in der Verantwortung: War da was?

Das ist in etwa so verständlich wie das FDP-Wahlplakat im Jahr 2000: «Das Beste am Basler Schulsystem sind die Ferien.» Da hatte man beim Freisinn nach wenigen Monaten ohne Erziehungsdepartement wohl bereits vergessen, dass man es zuvor mehr als 30 Jahre lang am Stück unter sich gehabt hatte …

Foto: Plakatsammlung der SFG Basel

Das Problem ist ein altbekanntes: bloss keinen Widerstand. Die Lehrerlobby, die Elternlobby, die Reformlobby? Niemandem soll auf den Schlips getreten werden, es könnte ja Unruhe entstehen, Widerspruch geben, auch Streit. Und wer will denn das, wenn man es sich so bequem eingerichtet hat in den bildungspolitischen Elfenbeintürmen? Also gibt es gut klingende Reformen, wohlmeinende Versprechen – während in der Realität die Schulen qualitativ verlottern …

Schwesternstreit

Deswegen muss man konstatieren: Es ist eine gute Idee der FDP, dass sie, ziemlich aufwendig umstrukturiert, nun auch alte Gewissheiten hinter sich lassen will. Aber man wünscht sich dann von Vorschlägen schon mehr Konsequenz und Fortschritt – und nicht nur einen politischen Schwesternstreit, ausgetragen via «Basler Zeitung».

Man kommt nicht umhin: Die beiden bürgerlichen Parteien übernehmen keine Verantwortung, sie wehren sich nicht wirklich gegen das Desaster. Und wenn jemand, wie FDP-Präsident Johannes Barth, das Schulproblem zwar erkennt: Dann fabriziert man trotzdem bloss ein Bildungsprogramm auf mediokrem Niveau.

Mehr geht offenbar nicht.

Man wünschte sich deswegen auch mal bildungspolitische Inputs von anderen Parteien. Und? Nun ja: dröhnendes Schweigen. Die SVP hat peinlicherweise noch nie konkretes Interesse an diesem Bereich gezeigt (und beschränkt sich auf stumpfe Schlagworte), die akademisch geprägten Grünen wissen kaum mehr, dass es ausser der Universität noch andere Bildungswege gibt – und die SP, einst die Bildungspartei und eigentlich dem Erbe von Grössen wie Fritz Hauser verpflichtet? Man weiss es gar nicht so genau. Am ehesten scheint sie besorgt darüber, dass korrekt gegendert wird.

    «Die SP-Seilschaften haben sich längst aus den Schulhäusern verabschiedet, sich in die Planungs-Forschungs-Entwicklungs-Evaluations-und-Weiterbildungs-Etage hinaufgeschoben und von der Realität abgekoppelt.»

    Roland Stark, Mitinitiant der Förderklasseninitiative

Es braucht deshalb mehr Engagement aus der Zivilgesellschaft. Dass das möglich ist, zeigt die zustande gekommene Förderklasseninitiative, deren Annahme das Ende der gescheiterten integrativen Schule bedeutete. Das sollte nur der Anfang sein. Mitinitiant Roland Stark, ehemaliger Basler SP-Präsident und Heilpädagoge, bringt es auf den Punkt, wenn er von einem bürgerlichen Totalausfall in der Bildungspolitik spricht. Und er ist auch tief enttäuscht von seiner eigenen Partei: «Die SP-Seilschaften haben sich längst aus den Schulhäusern verabschiedet, sich in die Planungs-Forschungs-Entwicklungs-Evaluations-und-Weiterbildungs-Etage hinaufgeschoben und von der Realität abgekoppelt.»

Hoppla, jetzt aber.

Dieses Fremdeln mit der Realität: Das hat den Kanton in eine katastrophale Lage gebracht. Die Schule verlottert, ein Ende ist nicht in Sicht. Aber die Beletage nippt weiterhin gemütlich am Schämpis, nachdem man sich wieder einmal selbst für eine Reform gratuliert hat.

Wann wird sich jemand ernsthaft dagegen auflehnen?

The post Note «ungenügend»: Das bürgerliche Versagen in der Bildungspolitik first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/10/note-ungenuegend-das-buergerliche-versagen-in-der-bildungspolitik/feed/ 2
Weil eine bessere Schule möglich ist https://condorcet.ch/2022/09/weil-eine-bessere-schule-moeglich-ist/ https://condorcet.ch/2022/09/weil-eine-bessere-schule-moeglich-ist/#comments Sat, 24 Sep 2022 06:57:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=11688 Für ihren Vorschlag, Schulrankings einzufühen, als Massnahme zur Verbesserung der Schülerleistungen, hat die FDP-Basel-Stadt viel Kritik einstecken müssen. Auch in unserem Blog. FDP-Vizepräsident Elias Schäfer verteidigt nun die Vorschläge seiner Partei für die Verbesserung der Basler Schulen – insbesondere die Forderung nach Transparenz bei den Leistungsniveaus der Schulstandorte.

The post Weil eine bessere Schule möglich ist first appeared on Condorcet.

]]>
FDP-Vizepräsident Elias Schäfer: die Ausbildung zur Primarlehrperson soll in Zukunft auch über eine Berufsbildung möglich sein.

Wir Freisinnigen haben vor vier Wochen Vorschläge präsentiert, um Verbesserungen bei den Basler Schulen herbeizuführen. Diese erreichen leider heute ihre Bildungsziele für zu viele Schülerinnen und Schüler nicht. Die Gründe hierfür sind vielfältig, denn die Schule ist ein komplexes System. Lehrpersonen, Schulleitungen sowie die Bildungsverwaltung und die Politik müssen ihren Beitrag leisten, damit Verbesserungen erreicht werden.

Entsprechend setzten auch die Vorschläge der Freisinnigen an verschiedenen Stellen an. Wir fordern, dass für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen in der Primarschule an allen Schulstandorten Einführungsklassen – die erste Primarschulklasse wird über zwei Schuljahre absolviert – angeboten werden. Wir präsentieren verschiedene Massnahmen zur Frühförderung in der Unterrichtssprache Deutsch, damit auch alle Kinder dem Unterricht folgen können. Wir schlagen vor, dass in Zukunft die Ausbildung zur Primarlehrperson auch über eine Berufsbildung möglich sein soll. So wird der Beruf zugänglicher und der Praxisbezug der Ausbildung gestärkt.

Es handelt sich nicht um eine Revolution des Schulsystems, sondern um Puzzleteile, die helfen können, allen Kindern eine bessere Bildung zu ermöglichen.

Wir regen an, dass Lehrpersonen an der Volksschule wie in Genf im Regelfall keine Kleinpensen mehr erhalten, um die Kontinuität im Unterricht zu erhöhen und dem Lehrermangel vorzubeugen. Wir fordern, dass Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger nach der Berufslehre Weiterbildungsgutscheine erhalten, um die Attraktivität der Berufslehre zu steigern und die Ungleichbehandlung gegenüber der gymnasialen Matur auszugleichen. Und schliesslich erwarten wir, dass Transparenz bezüglich der Leistungsniveaus der verschiedenen Schulstandorte auf der Sekundarstufe geschaffen wird.

All diese Vorschläge zeigen auf, wo im Schulsystem Verbesserungen möglich sind. Es handelt sich nicht um eine Revolution des Schulsystems, sondern um viele kleine Puzzleteile, die zusammen helfen können, allen Kindern eine bessere Bildung zu ermöglichen. Dieses Ziel ist unbestritten, und so fielen auch die Rückmeldungen auf unsere Vorschläge von unterschiedlichen Seiten positiv aus. Wir haben viel Zustimmung erhalten, konnten in zahlreichen Gesprächen Rückfragen klären und berechtigte Kritikpunkte bei der Ausarbeitung von sechs Vorstössen berücksichtigen. Diese wurden nun von unserer Fraktion in der vergangenen Woche im Grossen Rat eingereicht.

Insbesondere die Forderung nach mehr Transparenz gab aber in dieser Zeitung Anlass zu einer verkürzten Wiedergabe, einem platten Kommentar und zuletzt billiger Polemik, die der Sache inhaltlich nicht gerecht werden, dafür aber offenbaren, was in der Diskussion über die Basler Schulen falsch läuft. Inhaltlich wurde die Forderung nach Transparenz bei den Leistungsniveaus der Schulstandorte auf den Wunsch nach einem Ranking der Schulstandorte reduziert, welches dann in einer Wettbewerbslogik zulasten der Kinder und der Lehrpersonen genutzt werden soll. Kinder seien keine Schrauben, weshalb auch kein Vergleich möglich sei.

Leider sind noch einige Akteure einer Festungsmentalität verhaftet, die die dringend notwendigen Verbesserungen der Schulen in Basel-Stadt behindert.

Gerade weil Kinder, aber auch Lehrpersonen und unterschiedliche pädagogische Konzepte keine streng normierten Industrieprodukte sind, bleibt für die Weiterentwicklung und Verbesserung der Schulen nur der Vergleich als Arbeitsmethode: Was funktioniert gut, was funktioniert nicht? Wieso funktioniert es an einer Stelle und an einer anderen nicht? Was sind die Gemeinsamkeiten, und wo sind die Unterschiede? Und zu welchen Ergebnissen führen sie? Alle diese Fragen lassen sich im sozialen System Schule nur über Vergleiche beantworten. Und dass die Ergebnisse dieser Vergleiche öffentlich gemacht werden, ist unabdingbar, um zu erkennen, ob Schulleitungen und Bildungsverwaltung die richtigen Schlüsse ziehen und auch wirklich Massnahmen umsetzen, um eventuelle Ungleichheiten auszugleichen.

Die Tatsache aber, dass diese Forderung nach Transparenz skandalisiert wird, zeigt auf, dass nicht alle in Politik und Verwaltung an einer konstruktiven Debatte zugunsten der Schule interessiert sind. Leider sind noch einige Akteure einer Festungsmentalität verhaftet, die die dringend notwendigen Verbesserungen der Schulen in Basel-Stadt behindert. Wir Freisinnigen sind überzeugt: Auch diese Widerstände können überwunden werden. Wir arbeiten weiter daran, gemeinsam mit Lehrpersonen, Schulleitungen, Parteien und der Verwaltung. Das sind wir allen Kindern im Kanton schuldig.

The post Weil eine bessere Schule möglich ist first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/09/weil-eine-bessere-schule-moeglich-ist/feed/ 2
Die Freisinnigen fordern ein Ranking der Basler Sekundarschulen https://condorcet.ch/2022/08/die-freisinnigen-fordern-ein-ranking-der-basler-sekundarschulen/ https://condorcet.ch/2022/08/die-freisinnigen-fordern-ein-ranking-der-basler-sekundarschulen/#comments Tue, 30 Aug 2022 22:51:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=11281

Basel-Stadt schneidet regelmässig schlecht ab bei den Bildungsvergleichen. Nun will die FDP den Anschluss dank eines umstrittenen Schulvergleichs wiederfinden. Wir schalten hier einen Artikel der Basler Zeitung auf.

The post Die Freisinnigen fordern ein Ranking der Basler Sekundarschulen first appeared on Condorcet.

]]>
Leif Simonson, BAZ-Journalist: Rankings sind beliebt.

Rankings sind in unserer Gesellschaft äusserst beliebt. Wir mögen es, Sachen in eine Reihenfolge zu bringen, sie von Platz 1 bis 10 durchzusortieren – sei es bei der Hotelsuche oder der Wahl des hartnäckigsten Putzmittels.

Meist beschränken sich die Bestenlisten auf Produkte, die in der freien Marktwirtschaft zu finden sind. Die Basler Freisinnigen, als Partei des Wettbewerbs, gehen nun aber so weit, dass sie die Volksschulen öffentlich bewertet haben wollen. Die Bildung ist ihr neues Steckenpferd.

Kantonalpräsident Johannes Barth eröffnete den FDP-Parteitag am Montagabend in der Basler Kaserne mit einer flammenden Rede über die «schlechte Basler Schule». Sie sei vielleicht «ein Traum von Bildungstechnokraten», aber «ein Albtraum» für den Wirtschaftsstandort Basel. Er verweist auf die schweizweiten Vergleiche, in denen die Basler Schule regelmässig sehr schlecht abschneidet.

Bei einem Vergleich im Jahr 2016 scheiterten 57 Prozent aller basel-städtischen Schüler beim Mathetest. Kein anderer Kanton erzielte einen so schlechten Wert. So gehe es nicht, macht Barth klar. Nach zehn Jahren steht für ihn fest: Die «sogenannte Integrative Schule ist gescheitert. Der Traum, wieder restlos alle Kinder auf Biegen und Brechen in die Regelklassen zu integrieren, ist geplatzt.»

Obendrauf komme noch der Lehrermangel – «ein grosses Problem, das in Basel wie gewohnt kleingeredet wird», so Barth. Die Probleme der Basler Schule löse man nicht, indem man sie «aussitzt, schönredet oder auf den grossen Wurf hofft». Man müsse jetzt handeln. Und genau das hat die Basler FDP vor – mithilfe des Wettbewerbs.

Schäfer gibt Lehrern die Schuld

Neuerdings soll es eine Art Sekundarschulranking geben, an dem sich Eltern orientieren können, bevor sie sich entscheiden, wohin sie ihre Kinder schicken. Die Basler FDP fordert, dass die Ergebnisse der Leistungschecks in der Sekundarstufe für jedes Schulhaus einzeln veröffentlicht wird. Auch zur Performance soll zählen, wie gut die Sekundarschüler anschliessend im Gymnasium oder in der Fachmittelschule performen. Wenn beispielsweise eine Schülerin im Vogesen-Schulhaus stets sehr gute Noten hat und im Gymi plötzlich abfällt, würde sich das auf die Bewertung des Vogesen-Schulhauses negativ auswirken.

Elias Schäfer, Sitz im Vizepräsidium der Basler FDP

Bislang herrsche bei den Leistungsniveaus der Schulstandorte eine «Blackbox» vor, sagt Elias Schäfer, der im Vizepräsidium der Basler FDP sitzt. Er vermutet grosse Unterschiede. Was aber sagen die Leistungschecks der Schüler pro Sek genau aus? Ist es denn nicht so, dass in manchen Schulhäusern signifikant stärkere Schülerinnen und Schüler zu finden sind als in anderen – etwa, weil am einen Ort deutlich mehr Akademikerfamilien zu Hause sind als am anderen?

«Nein», sagt Elias Schäfer. «In der Primarstufe spielt die sozioökonomische Zusammensetzung des Quartiers noch eine Rolle, aber in der Sekundarstufe nicht mehr. Dort müsste sie ungefähr normalverteilt sein, weil man sich nicht mehr für die nächstgelegene Schule, sondern für die mit dem passenden Konzept entscheidet.»

Sollte das stimmen, lautet die zentrale Frage: Woher kommen denn die von Schäfer vermuteten Unterschiede zwischen den Schulstandorten? Liegt es an der Qualität der Lehrer? «Wahrscheinlich schon», sagt Schäfer. «Natürlich hängt das Leistungsniveau der Schulen unter anderem davon ab, wie gut der Lehrkörper ist.» Auch andere Faktoren wie die Sprachkompetenz würden da mit hineinspielen, aber «wir haben es uns in den letzten Jahren ein bisschen einfach gemacht, indem wir immer sagten, wir hätten halt viele fremdsprachige Kinder».

    «Wir produzieren Menschen und keine Schrauben, die nachher zertifiziert werden.»

    Jean-Michel Héritier, Präsident Freiwillige Schulsynode Basel

Jean-Michel Héritier, Präsident Freiwillige Schulsynode Basel

Diametral anders als Schäfer schätzt der oberste Lehrer im Kanton die Situation ein. Jean-Michel Héritier, Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel, sagt: «Ich denke nicht, dass die Qualität der Schulen unterschiedlich ist.» Alle hätten den gleichen Lehrplan. Die Lehrpersonen hätten die gleiche Ausbildung, und die Unterrichtsmodelle seien nicht gross verschieden. Solche Rankings seien «immer problematisch, denn wir produzieren Menschen und keine Schrauben, die nachher zertifiziert werden».

SP-Grossrätin Franziska Roth, Präsidentin der Bildungskommission im Grossen Rat, geht noch weiter und bezeichnet die Idee eines Rankings als «völlig daneben. Wenn wir das machen, sind wir keine Volksschule mehr.»

Ähnlich wie Héritier argumentiert sie, dass Leistungschecks stets Momentaufnahmen seien und vieles nicht berücksichtigen würde – «etwa, ob die Kinder in der Lage sind, sich selbst Informationen zu beschaffen, oder welche sozialen Skills sie mitbringen». Ausserdem dürften die Kinder ihren Sekundarschulstandort bereits heute wählen. «Wenn es nun Rankings gibt, dann wollen alle ins gleiche Schulhaus. Und dann? Soll man dort aufstocken oder anbauen?» An diesem Punkt, antwortet Schäfer, seien «Regierung und Verwaltung in der Pflicht, diese Leistungsunterschiede auszugleichen».

Franziska Roth, SP-Grossrätin und Präsidentin der Bildungskommission im Grossen Rat

 

Nur sechs Wünsche wurden nicht erfüllt

Tatsächlich ist es schon jetzt so, dass die angehenden Sekundarschüler drei Präferenzen angeben können, in welches Schulhaus sie gehen möchten. Der Mediensprecher des Erziehungsdepartements, Simon Thiriet, teilt auf Anfrage mit, dass man dieses Jahr lediglich sechs von insgesamt 1527 Schülerinnen und Schülern keinen der drei Standortwünsche erfüllen konnte. Das entspricht 0,39 Prozent. Was das Erziehungsdepartement von öffentlichen Schulrankings hält, hat es schon früher kundgetan. Journalistische Anfragen zur Einsicht in die späteren Schulerfolge der Sekschulabgänger je nach Quartier tat es bereits vor Jahren mit der Begründung ab, es handle sich um heikle Daten. Das hat sich in der Zwischenzeit nicht geändert. Das zentrale Ziel der Checks sei es, die einzelnen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler – «unabhängig von ihrer Lehrperson, ihrer Klasse und Schule» zu messen, schreibt Simon Thiriet. «Sie sind also ausdrücklich nicht zur Performance-Messung von Schulstandorten vorgesehen, und das möchten wir auch in Zukunft so handhaben.»

The post Die Freisinnigen fordern ein Ranking der Basler Sekundarschulen first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/08/die-freisinnigen-fordern-ein-ranking-der-basler-sekundarschulen/feed/ 2
Die Problemkinder der Generation Z https://condorcet.ch/2022/08/die-problemkinder-der-generation-z/ https://condorcet.ch/2022/08/die-problemkinder-der-generation-z/#respond Tue, 30 Aug 2022 22:46:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=11302

Sind Schulkinder unkontrollierbar geworden? Weil es an aktuellen OECD-Studien zur Lage der Lehrer mangelt, hat die Brüssler Tageszeitung „Le Soir“ zehn Experten befragt: Nicht nur die Schüler seien schwieriger geworden. Eine entscheidende Rolle spielten die Eltern. Ein Bericht von Charlotte Hutin.

The post Die Problemkinder der Generation Z first appeared on Condorcet.

]]>
Charlotte Hutin, Le Soir

„Unerträglich“, „egoistisch“, „gewalttätig“: Sobald die Rede auf Kinder und Jugendliche der Gegenwart kommt, fallen die Urteile oft harsch aus. Sie seien schwieriger als ihre Vorgänger, und das schade auch dem schulischen Klima. Aber entsprechen solche Befunde auch den Tatsachen, oder handelt es sich bei ihnen um die Vorurteile von „alten Säcken“? Objektiv lässt sich das nicht beantworten, weil es für den französischen Teil Belgiens zu wenige Daten gibt. Zwar fand im Mai 2022 eine erste Erhebung zum Klima in den Schulen statt, doch deren Ergebnisse wurden noch nicht ausgewertet.

Unter den teilnehmenden Ländern der TALIS-Studie liegt das belgische Schulsystem auf dem vorletzten Platz vor Frankreich.

Für objektive Befunde muss man sich deswegen auf die TALIS-Studie von 2018 beziehen, eine Erhebung in OECD-Ländern, für die Lehrer und Schüler der ersten Sekundarstufe befragt wurden. Eines ihrer Resultate: In der Französischen Gemeinschaft Belgiens ist es um die Disziplin in den Schulklassen schlechter bestellt als in den beiden anderen Landesteilen. Unter den teilnehmenden Ländern der TALIS-Studie liegt das belgische Schulsystem auf dem vorletzten Platz vor Frankreich.

Während sich in den OECD-Ländern die schulische Disziplin zwischen 2009 und 2018 verbessert hat, lässt sich diese Entwicklung im französischen Teil Belgiens nicht konstatieren: Mehr als anderswo berichten Schüler von Lärm und Unruhe in den Klassen. Dabei liegt die Anzahl der Schüler je Klasse weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder.

Ein zweiter, positiverer Befund der TALIS-Studie: In Belgiens französischsprachigen Regionen erleben Schüler seltener Mobbing als Gleichaltrige in anderen OECD-Ländern. Zwischen 2015 und 2018 wurde sogar ein leichter – wenn auch statistisch nicht signifikanter – Rückgang verzeichnet. Allerdings gibt es solche Vergleichsstudien noch nicht so lange, als dass man über langfristige Entwicklungen Bescheid wüsste. Deswegen bleibt einem nichts anderes übrig, als bei Lehrern und Experten nachzufragen.

Widersprüchliche Meinungen

Deren Meinungen gehen weit auseinander. „Ganz sicher erlauben sich Kinder heute mehr als früher, weil sie kein Nein mehr zu hören bekommen“, meint etwa Christine Toumpsin, Leiterin einer Grundschule. Sie erzählt beispielsweise von einem Schüler, der ein Küchenmesser auf den Pausenhof mitnahm, trotz der Aufforderung seiner Lehrerin, das bleibenzulassen. „Als sie ihn bestrafte, standen sofort die Eltern auf der Matte und beschwerten sich, weil wir es gewagt hatten, das Kind zu maßregeln. Heute geben die Eltern automatisch ihren Kindern recht. Sie akzeptieren es nicht, wenn Lehrer sie bestrafen – als ob uns das Spaß machen würde. Aber auch Kinder müssen lernen, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen“.

Joseph Thonon ist Vorsitzender der CGSP Enseignement. Er unterrichtete rund zwanzig Jahre lang Physik.

Joseph Thonon, Präsident der Lehrergewerkschaft CGSP und zwanzig Jahre lang Physiklehrer: „Im Lauf meiner Lehrerkarriere sind Schüler immer schwieriger geworden. Wenn man unseren Mitgliedern Glauben schenkt, scheint mittlerweile eine gewisse Grenze überschritten.“

„Wenn man sich beispielsweise mit dem Thema Gewalt in der Schule befasst, stellt man fest, dass körperliche Gewalt und Jugendkriminalität abnehmen.“

Benoît Galand, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Louvain

Véronique de Thier ist politische Referentin bei Fapeo, der Elternvereinigung des offiziellen Bildungswesens.

Vivian Collard, Lehrerin für Sprachen an einer Sekundarschule in Louvain-la-Neuve, ist entschieden anderer Meinung. „Die Kinder von heute sind nicht schwieriger als die von vor zehn Jahren. Ich habe letztes Jahr eine Klassenreise betreut und dabei die Schüler als gemeinschaftsbewusst und überhaupt nicht als Egozentriker erlebt. Natürlich sind sie anders als früher. Sie interessieren sich beispielsweise häufiger für ethische und gesellschaftliche Probleme. Mich persönlich fasziniert das, aber manche Kollegen tun sich schwer damit.“

Die „Früher war alles besser“-Fraktion stößt auf entschiedene Gegnerschaft. „Dieses Gerede ist unerträglich“, sagt etwa Véronique de Thier von der Elternvereinigung Fapeo. „Die Jugendlichen von heute sind kreativer und fordernder. Sie sollten für uns Erwachsene eine Inspiration sein“. Und Benoît Galand, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Louvain, meint: „Wenn man sich beispielsweise mit dem Thema Gewalt in der Schule befasst, stellt man fest, dass körperliche Gewalt und Jugendkriminalität abnehmen.“

Eine Debatte, so alt wie die Welt

Über Problemjugendliche wird nicht erst in der Gegenwart diskutiert. „In manchen Familien wird das Kind zum Idol gemacht. Es wird angebetet und seinen kleinsten Taten applaudiert, als wäre es König“, konstatierte etwa der Pariser Grundschulinspektor Charles Charrier 1921 in einem Pädagogikhandbuch: „Manche Eltern geben dem Schüler immer recht und dem Lehrer immer unrecht. Sie ahnen nicht, welche schwere seelische Schäden sie ihren Kindern zufügen, indem sie all ihre Launen dulden.“

Jeder hat das Recht, sich auszudrücken und seine Meinung kundzutun. Auch Schüler haben eine viel höhere Kompetenz als früher, Meinungen zu hinterfragen und zu bestreiten.

Im Zentrum solcher Aussagen steht die Rolle von Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. „Die Schule klagt seit jeher, dass sie bei ihren Bemühungen nicht genügend von den Familien unterstützt wird“, meint Marc Romainville, Professor für Pädagogik an der Universität Namur. „Was die Schüler betrifft: Wir leben nun mal in einem Zeitalter des ausgeprägten Individualismus. Jeder hat das Recht, sich auszudrücken und seine Meinung kundzutun. Auch Schüler haben eine viel höhere Kompetenz als früher, Meinungen zu hinterfragen und zu bestreiten. Für Lehrer macht es das anstrengender. Damit sind aber alle Berufe konfrontiert, die mit Menschen zu tun haben. Der Grund dafür sind die Veränderungen bei der Erziehung“.

Mit dem Aufkommen eines Erziehungsstils, der körperliche Züchtigungen zum Tabu erklärt hat und die Erkenntnisse der Kinderpsychologie beherzigt, hat sich elterliches Verhalten verändert. Die Bedürfnisse des Kindes werden stärker berücksichtigt, es wird als gleichberechtigt und vollwertig angesehen. „Diese wertschätzende Erziehung trifft auf ein Schulsystem, das immer noch sehr oft weder wohlwollend noch positiv ist“, sagt die Elternvertreterin Véronique de Thier. „Selbstverständlich haben Eltern das Recht, das System infrage stellen, wenn sie eine Strafe für pädagogisch falsch halten. Wenn von einem Schüler verlangt wird, denselben Satz zehn Seiten lang rauf und runter zu konjugieren, ist es nachvollziehbar, dass Eltern sich dagegen wehren.“

Marine Houssa, Psychologin und Spezialistin für den Umgang mit Impulsivität in Kindergarten- und Grundschule, hält viel von einer sanften Erziehung – aber auch von manchen Einschränkungen. „Manche Eltern picken sich nur die Aspekte heraus, die ihnen passen. Aber seinem Kind Nein zu sagen und ihm Grenzen zu setzen, bedeutet, ihm ein Geschenk zu machen. Es bedeutet, ihm eine solide, klare Grundlage mitzugeben. Es bedeutet, ihm beizubringen, andere zu respektieren – auch die Lehrer. Kinder brauchen nun einmal einen Rahmen, um sich sicher fühlen zu können.“

Zum Wandel des Erziehungsstils kommt ein veränderter Umgang mit gesellschaftlichen Institutionen und Autoritäten. „Das gilt für Politiker und Chefs, aber auch für die Lehrerschaft“, meint der Erziehungswissenschaftler Benoît Galand: „Wir sind von strikt hierarchischen Beziehungen zu gleichberechtigten Verhältnissen übergegangen, in denen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen. Deswegen kann auch Schule nicht mehr so funktionieren wie früher“.

Muss sich die Schule anpassen?

Im Laufe der Generationen hat sich also die Einstellung der Jugendlichen gegenüber der Institution Schule verändert. Muss sich deswegen die Schule an diese „neuen“ Schüler anpassen? Laut Bestimmungen über die Aufgaben der Pflichtschulbildung in Belgien soll diese „die Persönlichkeitsbildung jedes einzelnen Schülers fördern“ und „alle Schüler darauf vorbereiten, mündige Bürger zu werden, die zur Entwicklung einer demokratischen, solidarischen, pluralistischen und für andere Kulturen offenen Gesellschaft beitragen können“ – das verlangt logischerweise, dass die Schule sich den gesellschaftlichen Entwicklungen anpasst.

„Ich persönlich habe überhaupt nichts dagegen, in meinem Unterricht auch über gesellschaftliche Fragen zu diskutieren. Wenn die Schülerinnen und Schüler das Bedürfnis haben, bestimmte Themen anzusprechen, weil es bei ihnen zu Hause kompliziert ist, bin ich dafür offen“, sagt die Sprachlehrerin Vivian Collard. Was den pädagogischen Aspekt angeht, ist Jean-François Guillaume, Professor für Bildungssoziologie an der Universität Liège, davon überzeugt, dass Schüler Sinn erwarten. „Musterschüler tun alles, was man von ihnen verlangt, selbst wenn es keinen Sinn ergibt. Sie tun es einfach. Andere – und keineswegs die Minderheit – haben große Schwierigkeiten mit sinnlosem Lernen. Und davon wird auch das Klima in den Schulen beeinträchtigt.“

Es sind die Kinder der Mittelschichtsfamilien, die ausrasten

Andere Akteure äußern sich nuancierter. „Sobald es ein gesellschaftliches Problem gibt, wird von der Schule verlangt, dass sie sich darum kümmert – das war beim Dschihadismus und der Pandemie der Fall“, sagt Lehrergewerkschafter Joseph Thonon. „Aber muss sich die Schule wirklich die ganze Zeit an die Bedürfnisse der Gesellschaft anpassen? Ich bin mir da nicht so sicher.“

In der Klasse kann es schwierig sein, die richtige Balance zwischen Strenge und Permissivität zu finden. „Das Beharren auf Autorität funktioniert heute nicht mehr“

Schule soll Kompetenzen vermitteln. Doch was bedeutet das für ihre Aufgabe bei der Erziehung mündiger Bürger? Marie Jaspers, Lehrerin für Förderunterricht an der Sekundarstufe: „Ein Kind muss von seinen Eltern erzogen werden. Die Schule ist dazu da, ihm Wissen zu vermitteln, aber nicht, es zu erziehen. Ich finde es schade, dass heute von den Lehrern auch verlangt wird, die Erziehungsdefizite von Eltern zu beheben.“ Die Grundschuldirektorin Christine Toumpsin konstatiert eine Überforderung von Lehrern. „Derzeit müssen die Schulen die Erziehungsdefizite ausgleichen. Aber das ist schwierig, weil es zu wenige Erzieher gibt. In meiner haben wir einen einzigen für 650 Schüler.“

In der Klasse kann es schwierig sein, die richtige Balance zwischen Strenge und Permissivität zu finden. „Das Beharren auf Autorität funktioniert heute nicht mehr“, sagt der Bildungssoziologe Jean-François Guillaume. „Das bedeutet aber nicht, die Dinge einfach laufen lassen zu können. Eine Lehrkraft muss in der Lage sein, die Einhaltung von Normen anzumahnen und Vorfälle der Schulleitung zu melden.“

Erziehung ist Sache der Eltern.

Der Erziehungswissenschaftler Benoît Galand sagt: „Es ist wichtig einzugreifen, sobald es zu den kleinsten Formen von Aggression kommt. Nicht nur körperliche Gewalt, auch Spott und andere Mikro-Aggressionen wirken sich negativ auf das schulische Klima aus. Man muss schnell reagieren, ohne gleich zu Strafen zu greifen. Klassen, in denen es ständig um Wettbewerb, Vergleiche und das Hervorheben einzelner Schülerinnen und Schüler geht, sind am stärksten für Mobbing anfällig. Abgesehen von sehr schweren Fällen plädiere ich dafür, es immer mit dem Dialog zu versuchen.“ Nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit den Eltern. „In anderen Bildungssystemen werden Eltern als Partner betrachtet, die ins Schulleben eingebunden sind. Unsere Tradition ist eher auf dem französischen Modell der Trennung von Familie und Schule aufgebaut.“

Ließe sich das Schulklima also durch ein entspannteres Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern verbessern? „Die Familien könnten ein Teil der Antwort sein“, meint Benoît Galand. „Man muss sich dabei bloß über die Rollen im Klaren sein. Es ist völlig normal, dass es zwischen Eltern und Schulen zu Reibungen kommt. Gegenseitiger Respekt entsteht durch offenen Dialog. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass es an Ressourcen mangelt, sondern diese Ressourcen zu koordinieren. Die Herausforderung ist es, eine Partnerschaft rund um die Jugendlichen aufzubauen.“

 

Unsere Gesprächspartner:

Christine Toumpsin ist Direktorin des Institut Notre-Dame in Anderlecht (Grundschulen), außerdem Vorsitzende des Collège des directeurs des écoles fondamentales du libre (Kollegium der Direktoren der freien Grundschulen).

Joseph Thonon ist Vorsitzender der CGSP Enseignement. Er unterrichtete rund zwanzig Jahre lang Physik.

Vivian Collard unterrichtet Sprachen für Schüler der 5. und 6. Sekundarstufe am Lycée Martin V in Louvain-la-Neuve.

Véronique de Thier ist politische Referentin bei Fapeo, der Elternvereinigung des offiziellen Bildungswesens.

Benoît Galand ist Professor für Erziehungswissenschaften an der UC Louvain und spezialisiert auf Mobbing in der Schule und Verhaltensschwierigkeiten im Bildungsbereich.

Marc Romainville ist ordentlicher Professor an der U Namur und Leiter der Abteilung für Hochschulpädagogik.

Marine Houssa ist Doktorin der Psychologie und Forschungsbeauftragte an der UC Louvain. Sie ist Gründerin der ASBL Inemo, die sich auf den Umgang mit Emotionen und Impulsivität in Kindergarten- und Grundschulklassen spezialisiert hat.

Etienne Michel leitet das Generalsekretariat für das katholische Bildungswesen (Segec), das die Aufsicht über die Schulen des freien konfessionellen Sektors innehat.

Marie Jaspers ist Doktorin der mathematischen Wissenschaften und ehrenamtliche Arbeitsleiterin an der U Liège. Sie führt ehrenamtlich Fördermaßnahmen für Schüler der Sekundarstufe II in der Region Lüttich durch.

Jean-François Guillaume ist Professor für Bildungssoziologie an der U Liège. Er unterrichtet angehende Lehrer der Sekundarstufe II.

Dieser Artikel ist der WELT entnommen.

The post Die Problemkinder der Generation Z first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/08/die-problemkinder-der-generation-z/feed/ 0
IQB-Vergleichstest: Gravierende Mängel https://condorcet.ch/2022/07/iqb-vergleichstest-gravierende-maengel/ https://condorcet.ch/2022/07/iqb-vergleichstest-gravierende-maengel/#respond Tue, 05 Jul 2022 08:17:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=11024

Das IQB (Institut für Qualitätsentwicklung) bzw. die IQB-Vergleichstests in Deutschland entsprechen unseren ÜGK (Überprüfung der Grundkompetenzen). Erste Auswertungen zum IQB-Bildungstrend 2021, die vor den Sommerferien im Jahr 2021 durchgeführt wurden, zeigen für Deutschland insgesamt ungünstige Entwicklungen in den erreichten Kompetenzen von Viertklässler:innen in den Fächern Deutsch und Mathematik.

The post IQB-Vergleichstest: Gravierende Mängel first appeared on Condorcet.

]]>
Klarer Befund, umstrittene Gründe.

Im Auftrag der Kultusministerkonferenz hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) von April bis August 2021 in einer großen Stichprobe 26.844 Viertklässler aus allen Bundesländern auf ihre Leistungen in Deutsch und Mathematik getestet.

Durch das standardisierte Verfahren erlaubt der IQB-Bildungstrend 2021 direkte Rückschlüsse zu den Vergleichsjahren 2011 und 2016. Das niederschmetternde Ergebnis: Der Anteil der Kinder, die die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz verfehlen, ist sprunghaft angestiegen, die sozialen und zuwanderungsbezogenen Disparitäten haben sich noch weiter verstärkt.

„Im Vergleich zum Jahr 2016 entsprechen die Kompetenzrückgänge etwa einem Drittel eines Schuljahres im Lesen, einem halben Schuljahr im Zuhören sowie jeweils einem Viertel eines Schuljahres in der Orthografie und im Fach Mathematik.“ Zudem habe ein signifikant höherer Anteil der Schüler die Mindeststandards verfehlt. In Mathematik, Lesen und Zuhören erreichte jedes fünfte Kind nicht die Mindeststandards, in Orthografie sogar fast jedes dritte.

Besonders zurückgefallen sind demnach Kinder mit Migrationshintergrund, vor allem aus der ersten Einwanderergeneration. Auch der Zusammenhang zwischen dem Kompetenzniveau der Kinder und dem sozioökonomischen Status ihrer Familien hat in allen Bereichen signifikant zugenommen, heißt es in dem Bericht weiter. Die ohnehin oft fruchtlosen Bemühungen, mehr Chancengerechtigkeit herzustellen, sind also offenbar in der Pandemie vollkommen gescheitert.

Inwieweit dieser niederschmetternde Befund nur auf die Schulschliessungen während der Pandemie zurückzuführen sind, ist derzeit Gegenstand einer heftigen Debatte (vgl. nachfolgenden Artikel: Stellungnahme des Philologenverbands in Rheinland-Pfalz).

The post IQB-Vergleichstest: Gravierende Mängel first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/07/iqb-vergleichstest-gravierende-maengel/feed/ 0