Reformpolitik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 02 Apr 2024 18:56:26 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Reformpolitik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der Erfahrungsschatz der Praxis wird negiert https://condorcet.ch/2024/04/16375/ https://condorcet.ch/2024/04/16375/#comments Tue, 02 Apr 2024 18:10:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=16375

Der Kommentar des BAZ-Chefredakteurs Marcel Rohr stiess in unserer Leserschaft auf grosses Interesse. Auch die Condorcet-Autorin Christine Staehelin reagierte auf die scharfe Analyse, empfand sie allerdings als zu oberflächlich. Für Condorcet-Autor Felix Hoffmann ist das Versagen des Basler Schulsystems allerdings ein Absturz mit Ansage.: Zu viel Ideologie, zu wenig Sachverstand und das Beiseiteschieben der Lehrkräfteexpertise.

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Die gemiedene Expertise der Profis

Dass die Lehrkräfte mittlerweile verstummt sind, ist absolut richtig, es geht allerdings darüber hinaus. Lehrpersonen wurden eben auch aktiv mundtot gemacht. Insbesondere im linken Basel wurde ihnen unter dem ehemaligen Leiter für Volksschulen, Dieter Baur, untersagt, sich öffentlich reformkritisch verlautbaren zu lassen. Erboste man sich als Lehrkraft dennoch, die eigene Meinung zu publizieren, wurde man zitiert und abgemahnt. – Der Kommunismus mit seiner autoritären Gleichschaltung lässt grüssen. Wer aber soll denn besser geeignet sein, den Schulbetrieb zu beurteilen, als erfahrene und bewährte Lehrkräfte, die täglich ihre Arbeit darin verrichten und die negativen Auswirkungen von Reformen unmittelbar erleben? Doch ausgerechnet die Expertise solcher Lehrpersonen scheut die Bildungspolitik wie der Teufel das Weihwasser. Sie will den Lead, die Deutungshoheit. In der Bildungspolitik agiert oft nicht, wer dafür qualifiziert ist, sondern wer bestimmen will.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie.

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Keine Expertise der Lehrpersonen erwünscht.

Die Entmenschlichung des Schulbetriebs

Wie Stähelin sehr richtig bemerkt, ist «das pädagogische Tun in seinem Kern eine personale Angelegenheit…» Dies zeigt sich auch im sogenannten pädagogischen Dreieck zwischen  Thema, Lehrenden und Lernenden. Mit andern Worten steht neben der Wissens- und Kompetenzvermittlung letztlich der Mensch im Mittelpunkt des Schulbetriebs. Dieser geriet allerdings vor rund dreissig Jahren[1] aus dem Fokus der Bildungspolitik, und zwar nicht nur die Lehrenden, sondern auch die Lernenden.

So stützte man sich bei Passepartout nicht auf die für alle Lernenden, ob gross oder klein, wichtigen Prinzipien beim Fremdsprachenerwerb[2], sondern auf eine Ideologie, die letzten Endes auf einem unsäglich dümmlichen Irrtum beruhte.[3] Bei der Kompetenzorientierung orientierte man sich an den Bedürfnissen der Wirtschaft. Bei der Digitalisierung liegt die Rentabilität von Firmen wie Apple, Microsoft und Google im Vordergrund. Und beim Frühfranzösisch berief man sich u.a. auf behauptete Erkenntnisse aus der Gehirnforschung, statt sich an der die Lernenden umgebenden Realität zu orientieren: Zu viele fremdländische SchülerInnen sind mit drei Fremdsprachen heillos überfordert. Zu viele Lehrkräfte auf der Primarstufe sind nicht ausreichend für den Französischunterricht qualifiziert, zumal sie ferner auch noch mit den schlechten Passepartout-Lehrmitteln unterrichten. Die Klassen sind wegen der Integration bzw. Inklusion über die Massen heterogen, sodass stets mehr SchülerInnen immer weniger lernen.

Also auch bei dieser Reform standen die Belange der Lernenden nicht im Zentrum.

Selbst bei der so menschlich anmutenden Integration/Inklusion geht es nur vordergründig um das Wohl der Kinder und Jugendlichen. In Tat und Wahrheit dreht es sich auch hier um eine Ideologie, sprich der weltfremden ideologisch behaupteten Gleichheit der Menschen, was nichts anderes bedeutet als Gleichmacherei. Diese ist getarnt durch euphemistische Begrifflichkeiten wie Chancengleichheit, die sich klangheimlich zur nicht minder realitätsfernen Chancengerechtigkeit wandelte. Wie bei Passepartout liegt auch hier letzten Endes ein Irrtum zugrunde: Wenn man die Lernenden nur alle in den gleichen Topf wirft, haben sie alle die gleichen Chancen. Dies unter völliger Ausblendung der real existierenden Individualität der SchülerInnen.

Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Die durch die Ideologie der Integration/Inklusion verursachten Probleme treten insbesondere in Basel überdeutlich zutage, ein gewichtiger Grund für den Lehrkräftemangel und den dortigen schulischen Leistungsabfall. Man darf gespannt sein, ob der neue Basler Erziehungsdirektor in spe, der Linke Mustafa Atici, bereit sein wird, über seinen ideologischen Schatten zu springen, um Förderklassen einzuführen. Dies wäre ausnahmsweise keine Reform, sondern eine längst fällige Korrektur.

Das unsägliche Reformprojekt des  VSLCH

Christine Staehelin bringt es äusserst treffend auf den Punkt: «Es braucht nun keine weiteren Reformen und Massnahmen, um die Schule zu verbessern, sondern die Abkehr von der Idee, dass diese etwas dazu beitragen könnten.» Die vom Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz, (VSLCH) propagierte Abschaffung der Noten und der Selektion – einer weiteren Reform also, die alles auf den Kopf stellen will – könnte in der Folge zu keinem dümmeren Moment kommen. Abgesehen davon, würden die Interessen der Lernenden auch hier einmal mehr unberücksichtigt bleiben. Denn diese wollen Noten, da sie ihnen eine unkomplizierte, leicht verständliche und verlässliche Orientierung zum eigenen Leistungsstand  bieten. Und was die Abschaffung der Selektion betrifft, wurde uns anhand der selektionsbefreiten Basler Orientierungsschule (OS) ein Lehrstück geboten: Schon kurz nach deren Gründung wurde die Selektion durchs Hintertürchen wieder eingeführt über die sogenannten Emos-Klassen[4]. Dies, da die extreme Heterogenität der Regelklassen seitens der Lehrerschaft nicht mehr zu händeln war. Jener Schritt stellte sich jedoch als unzureichende Kosmetik heraus. Denn die OS war grundsätzlich ein integratives Fehlkonstrukt, insbesondere wegen der fehlenden Selektion und der fehlenden Noten. Abgesehen von deren PromotorInnen wollte sie niemand in Basel, weder die Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft- noch die Wirtschaft. Nach einer Gesichtswahrungsfrist von etwa 12 Jahren, war sie folglich Geschichte.

Es stellt sich die Frage, in wessen Namen der VSLCH hier eigentlich agiert, im Namen des gesamten Verbands? Oder ist es vielleicht ein eigenmächtiges Projekt der Verbandsspitze um das der Mercator Stiftung nahestehende Geschäftsleitungsmitglied, Jörg Berger? «Das Wort “Mercator” stammt aus dem Lateinischen und bedeutet “Kaufmann” oder “Händler”…Insgesamt bezeichnet “Mercator” also eine Person, die sich mit Handel und Kommerz beschäftigt.»[5] Nomen est Omen! Der Schulbetrieb als Handelsplatz neoliberaler Geschäftsmodelle getarnt im Tarnkappenbegriff der «Reform».

Anstelle von weiteren unsäglichen Reformen brauchen wir einerseits eine Rechenschaftsplicht für ReformerInnen und andererseits die Abschaffung der Gesichtswahrungsfrist. Wären diese beiden Forderungen bereits erfüllt, gäbe es heute u.a. keine Kompetenzorientierung, kein Frühfranzösisch, keine gesundheitsschädigende schulische Digitalisierung in der heutigen Form und keine aus dem Ruder gelaufene Integration/Inklusion.

“Selbst das Wort Schule, das von griechisch scholé (Rast, Ruhe, Muße) herkommt, kann als Widerspruch angesehen werden.” Unbekannt[6]

[1] Als der damalige Zürcher Bildungsdirektor, Ernst Buschor, anfing, die Volksschule nach marktwirtschaftlichen Prinzipien umzugestalten.

[2] Vom Einfachen zum Schwierigen, klar strukturierter Aufbau, systematisches Üben und Repetieren, Lernziele auf Grundlage klar definierter Stoffinhalte, altersgerechte/r Wortschatz bzw. Themen und Texte usw.

[3] Das von den Passepartout-PromotorInnen proklamierte Sprachbad als Grundlage ihrer Ideologie gibt es nicht mit drei Fremdsprachenlektionen pro Woche. Folglich stürzte die ganze Reform wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

[4] Diese waren nichts anderes als “progymnasiale Klassen” für leistungsstarke deutschsprachige SchülerInnen.

[5] https://www.perplexity.ai/search/Was-bedeutet-das-0_qyP6XqSFi7FdzIaAuCiQ

[6] https://www.gutzitiert.de/zitate_sprueche-schule.html

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Eine gerechte(re) Bildung?! Eine Replik an Jürg Leuenberger https://condorcet.ch/2024/03/eine-gerechtere-bildung-eine-replik-an-juerg-leuenberger/ https://condorcet.ch/2024/03/eine-gerechtere-bildung-eine-replik-an-juerg-leuenberger/#comments Thu, 14 Mar 2024 06:33:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=16189

Condorcet-Autor Felix Hoffmann antwortet Jürg Leuenberger, der von der Schule mehr Bildungsgerechtigkeit fordert. Er kritisiert Leuenbergers Aussagen als zu vage und nennt andere Prioritäten.

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Was ist Gerechtigkeit?

Leuenbergers Text beginnt mit der Frage nach Gerechtigkeit. Hier würde man sich als Leser eine Definition für die Begrifflichkeit erwarten oder zumindest eine Vorstellung davon. Stattdessen werden in verkürzter Fassung die Gedanken eines Wirtschaftswissenschaftlers bzw. einer

Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor:

Rechtswissenschaftlerin wiedergegeben, wonach das Gemeinwesen alles Zumutbare dafür zu tun habe, dass sich eine Person gemäss ihren Fähigkeiten entwickeln und an der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben könne. Diese hehre Zielvorstellung hat allerdings weniger mit Gerechtigkeit zu tun als mit der wünschenswerten Ermächtigung zu einer individuellen Entwicklung einerseits und mit einer Grundbedingung für das Funktionieren demokratischer Staatswesen andererseits. Letztere sind jedoch nicht per se gerecht. Das Konzept der Gerechtigkeit wird beispielsweise arg strapaziert, wenn bei einer Stimmbeteiligung von 30% 16%, also eine Minderheit von etwa 7% der Gesamtbevölkerung, für die grosse Mehrheit einen Kurs vorgibt. Und auch Unrechtsregime wie Russland oder China betreiben ganz gezielt individualisierte Talentförderung mit entsprechenden Glanzleistungen im Sport, wenn man von Doping grosszügig absieht.

Ungerechtigkeiten sind unumgänglich

«Es ist stossend, dass im aktuellen System offenbar eine Ungerechtigkeit innewohnt, ja gepflegt wird, ohne dass sich die Trägerschaft und die Verantwortlichen darum scheren.» Diese Aussage wird an Studien festgemacht. Doch solche bedarf es überhaupt nicht. Ein Blick in die Praxis reicht und man kommt zur gleichen Einsicht. Denn wie sollten sämtliche Ungerechtigkeiten im Schulbetrieb – so viele sind es nicht und es werden in Leuenbergers Text auch keine erwähnt – ausgemerzt werden? Hier arbeiten Menschen mit Menschen, wie sollte es da perfekt zu und her gehen?!? Imperfektion ist u.a. das, was uns Menschen zu dem macht, was wir nun mal sind: Mängelwesen, und zwar in allen Bereichen. Es wird doch wohl niemand glauben, der Schulbetrieb würde gerechter, wenn wir ihn über Reformen auf den Kopf stellen, beispielsweise mittels der Abschaffung von Noten oder der Selektion. Hermann Giesecke meinte in diesem Zusammenhang: «So ziemlich alles, was die moderne Pädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt Kinder aus bildungsfernem Milieu[1] Verantwortlich für Ungerechtigkeiten sind weniger die Strukturen als vielmehr der Mensch, der in deren Rahmen arbeitet. Wollen wir sämtliche Ungerechtigkeiten im Schulbetrieb radikal ausmerzen, müssen wir den Menschen beseitigen.

Und der Ruf nach Kriterienkatalogen anstelle von Noten ist absurd, denn jeder vernünftigen Notengebung liegen Kriterien zugrunde.

Hermann Giecke: 1932 -2021 Erziehungswissenschaftler: Nicht im Interesse der unterprivilegierten Schichten

Wollen wir die Demokratie abschaffen wegen des oben erwähnten Elements der Ungerechtigkeit? Oder sollten wir sie «gerechter» machen, indem wir die Nichtbeteiligung daran unter Strafe stellen? Ist sie dann gerechter? Gewisse Ungerechtigkeiten im Leben lassen sich nicht verhindern, nur ersetzen durch andere. Ein gewisses Element der Ungerechtigkeit bei Noten lässt sich jedenfalls nicht abwenden durch Lernberichte, im Gegenteil. Bei Letzteren ist das Ungerechtigkeitspotential um einiges grösser als bei Noten. Und der Ruf nach Kriterienkatalogen anstelle von Noten ist absurd, denn jeder vernünftigen Notengebung liegen Kriterien zugrunde. Und sollten Lehrkräfte gefordert sein mit einer vernünftigen Notengebung, wären sie mit Lernberichten überfordert. Die Basler Orientierungsschule (OS) ist vor bald zehn Jahren nicht zuletzt daran gescheitert, dass der Lehrkörper mit dem horrenden administrativen Mehraufwand durch Lernberichte völlig überlastet war.

So wichtig und wertvoll die Linke in der Politik an sich ist, so nervtötend ist sie für Lehrkräfte in der Bildungspolitik.

Der ganzen Debatte um Gerechtigkeit im Schulbetrieb liegt der Irrglaube vieler linker Ideologinnen zugrunde, die Gesellschaft liesse sich gerechter gestalten über eine gerechtere Schule. Diese will sie über Reformen auf Grundlage solch illusorischer Konstrukte wie der Chancengerechtigkeit  realisieren. Schule jedoch ist das Abbild der Gesellschaft und nicht umgekehrt. Folglich muss bei der Gesellschaft angesetzt werden. Insofern ist die traditionell linke Zwängerei in der Bildungspolitik eine Kapitulation getreu der Devise: Wenn wir die Gesellschaft schon nicht gerechter machen können, reformieren wir halt die Schule. Und dies tut die Linke denn auch seit Jahrzehnten mit viel Leidenschaft, ideologischer Schwärmerei und grossem Schaden im Schulbetrieb. Wie erfolgreich die Linke sein kann, wenn Sie sich auf das Wesentliche zurückbesinnt, ist nicht zuletzt am Erfolg der 13. AHV-Rente abzulesen. Dank und Gratulation an dieser Stelle. So wichtig und wertvoll die Linke in der Politik an sich ist, so nervtötend ist sie für Lehrkräfte in der Bildungspolitik.

Durch die blosse Erwähnung unterschiedlichster Aspekte in unmittelbarer textlicher Nachbarschaft leidet bedauerlicherweise die Textkohärenz. Dies umso mehr, wenn Fragen aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden.

Selbstdemontage und Unbestimmtheit

Bis hierhin dreht sich Leuenbergers Text um Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit, wenn auch ohne aufzuzeigen, worin denn letztere im Schulbetrieb eigentlich besteht, sowie um den nicht explizit ausgedrückten Wunsch nach Veränderung. Im weiteren Verlauf wird dann allerdings das eigene Anliegen hinterfragt, durch die Hervorhebung der Komplexität der Thematik und die Frage, was denn eigentlich verändert werden müsste. Anschliessend ist die Rede von der Messbarkeit der Bildung und von der Frage, was letztere denn sei. Durch die blosse Erwähnung unterschiedlichster Aspekte in unmittelbarer textlicher Nachbarschaft leidet bedauerlicherweise die Textkohärenz. Dies umso mehr, wenn Fragen aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden.

Reformen stets im top-down-Verfahren durchgedrückt.

Zu einer weiteren Schwächung des eigenen Rufs nach Veränderung kommt es durch die Forderung: «Jede Schule sollte die Möglichkeit haben, sich so zu entwickeln, wie das Kollegium, die Eltern und die Gemeinde das mittragen können.» Insbesondere in ländlichen Regionen ist das Verlangen nach Veränderung traditionell bescheiden. Hier ist die Landwirtschaft prägend, die sich durch eine jahrein jahraus konstante Abfolge von Arbeitsprozessen auszeichnet. Verkürzt und vereinfacht: Es bleibt hier stets alles gleich, worin der ländliche Konservatismus zum Ausdruck kommt. Abgesehen davon, war keine der von Bildungsindustrie, -politik und -administration konzertierten Schulreformen der letzten Jahrzehnte jemals mit Gemeinden, Eltern oder Lehrkräften abgesprochen. Sie wurden und werden stets im top-down-Verfahren durchgedrückt, ohne Testphasen, vorgängige Wirksamkeitsstudien oder Pilotprojekte, und zwar zumeist gegen den Willen der Unterrichtenden. Diese aber ziehen es vor, sich in Ruhe um Ihre SchülerInnen zu kümmern, anstatt laufend neue Strukturen zu implementieren, und sich mit den negativen Konsequenzen ständiger Veränderungen abzuplagen. Mittels permanenter Veränderungen am Laufband kombiniert mit administrativem Mehraufwand fördert man bestimmt nicht Gerechtigkeit, aber ganz sicher den Lehrermangel. In der jeweils behaupteten Alternativlosigkeit von Schulreformen gegen den Willen des Lehrkörpers steckt der Samen des Scheiterns.

Was soll denn das bitte sein, eine neue Grammatik der Schule? Tschopp bemüht hier eine für ReformideologInnen typische Floskel ohne jeglichen definierten Inhalt.

Im nächsten Abschnitt werden exakte Zahlen zur Anzahl unterschiedlichster Schulstufen genannt. Nur bei der Behauptung, wonach «viele» Schulen «sich mit dem herkömmlichen System zuweilen schwertun» fehlen solche. Ein Schelm, wer hier Böses denkt. Auch bei der unreflektierten Widergabe von Rahel Tschopps Forderung nach einer «neuen Grammatik der Schule» bleibt alles im Vagen. Was soll denn das bitte sein, eine neue Grammatik der Schule? Tschopp bemüht hier eine für ReformideologInnen typische Floskel ohne jeglichen definierten Inhalt. Es verhält sich hier wie beim Sex: Frivolity sells. Weitere Floskeln finden sich beispielsweise hier.[2]

John Hattie: Es kommt nicht auf Strukturen an

Spätestens seit Hattie wissen wir, worauf es in der Schule ankommt: nicht auf Strukturen, nicht auf Reformen, nicht auf unterschiedliche Schultypen, nicht auf unterschiedliche Bewertungssysteme und auch nicht auf die Höhe der Bildungsausgaben – die Schweiz hat mitunter die höchsten und produziert dennoch immer mehr SchulabgängerInnen, die des Lesens kaum mächtig sind.[3] «Der entscheidende Faktor für schulischen Bildungserfolg ist in den Haltungen von Lehrpersonen zu sehen.»[4] Diese Haltungen verbessern sich ganz bestimmt nicht, wenn man Lehrkräften ständig neue unbedarfte Reformen und mehr administrative Aufgaben aufs Auge drückt. Was der Reformindustrie an Hatties Befund stört: Es lässt sich mit den Haltungen von Lehrpersonen schlecht Geld verdienen.

Die Ablehnung der Verkommerzialierung der Schule ist allerdings nicht gleichzusetzen mit Verschlossenheit Neuem gegenüber. So wäre es beispielsweise absolut zu befürworten, wenn PolitikerInnen oder andere PromotorInnen zur Rechenschaft gezogen werden könnten, wenn ihre Schulreformen kostenintensiv und zum Schaden der Lernenden scheitern, wenn keine Reformen ohne vorgängige Wirksamkeitsstudien oder Pilotprojekte durchgesetzt werden dürften, wenn Reformen nach einer Anfangsphase evaluiert und bei schlechtem Ergebnis gestoppt würden usw. Das alles wären dringende Erneuerungen und recht eigentlich Selbstverständlichkeiten. Warum werden sie in der Bildungspolitik nicht umgesetzt? Weil Mammon das Nachsehen hätte und PolitikerInnen das Gesicht verlieren könnten.

Später im Text wird, zusammengefasst, der dominante Einfluss der Wirtschaft auf die Schule beklagt und dass die Lehrerschaft beim Entwurf von Reformen kaum je Partizipationsmöglichkeiten hat: Schulen «…reagieren immer nur und haben kaum Gelegenheit zur aktiven Mitgestaltung.» Dennoch wird insbesondere nach den beiden umfangreichen Reformprojekten der nationalen Umstellung auf Kompetenzen und der Digitalisierung bereits die nächsten Veränderungen befürwortet. Dies obwohl, keine der zuvor genannten Mammutreformen den Versprechungen gerecht wird, die uns bei deren Lancierung gemacht wurden, und obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass die Lehrpersonen bei den nächsten Reformen eine stärkere Mitbestimmung haben werden.

Schlusswort

Wenn einem der Schulbetrieb Unbehagen bereitet, ist der reflexartige Ruf nach irgendwelchen Veränderungen, ohne sie beim Namen zu nennen, der falsche Weg. Zunächst müssen die echten Schwachstellen erkannt und benannt werden. Solche bestehen bestimmt nicht in der Notengebung oder der Selektion. Vielmehr besteht dringender Handlungsbedarf beispielsweise beim Lehrermangel, bei den völlig ungenügenden Lesefertigkeiten von zu vielen Lernenden sowie bei den gesundheitlichen Risiken für unsere Jungen infolge der Digitalisierung. In Theodor Fontanes Worten ist letzteres ein ganz weites Feld.

[1] https://condorcet.ch/2024/02/16009/

[2] https://condorcet.ch/2024/02/christian-mueller-und-joerg-berger/ oder

https://condorcet.ch/2024/02/sparen-bei-der-bildung-ist-da-was/

[3] https://www.20min.ch/story/jeder-zweite-15-jaehrige-tut-sich-mit-lesen-schwer-635549074931 oder

https://www.tagesanzeiger.ch/pisa-studie-jeder-vierte-schweizer-jugendliche-kann-schlecht-lesen-577085954895

[4] https://www.orellfuessli.ch/shop/home/artikeldetails/A1048659609

 

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Weissbuch Frühfranzösisch: Chronik eines monumentalen Irrtums https://condorcet.ch/2023/09/weissbuch-fruehfranzoesisch-chronik-eines-monumentalen-irrtums/ https://condorcet.ch/2023/09/weissbuch-fruehfranzoesisch-chronik-eines-monumentalen-irrtums/#comments Mon, 18 Sep 2023 06:33:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=14950

Im Oktober erscheint in der Edition "Condorcet" bereits unser zweites Buch, das Weissbuch Frühfranzösisch. Es kann bereits heute bei uns für 10 Fr. bestellt werden.

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Wieder Millionen in den Sand setzen?

Warum dieses Weissbuch?

Das Fremdsprachenkonzept der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), gekoppelt an eine neue Didaktik, ist ein Lehrstück darüber, wie heute in der Schweiz durch ein höchst fragwürdiges Zusammenspiel von Erziehungsdirektoren, Verwaltung und Wissenschaft Bildungspolitik gemacht wird, welche Folgen das für die politische Kultur in diesem Land und den Unterricht an den Schulen hat und wie leichtfertig enorme Summen in zweifelhafte Projekte investiert werden.

In dieser Dokumentation erklären wir die Geschichte dieses monumentalen Irrtums, seine Auswirkungen und die Reaktionen auf das offensichtliche Scheitern. Am Schluss skizzieren wir Lösungsansätze, wie wir aus dem Schlamassel in Zeiten eines grassierenden Lehrkräftemangels herauskommen und aus den Fehlern lernen können.

Was steht in diesem Weissbuch?

Sie lesen ausgewählte Artikel aus den letzten 10 Jahren, eine Chronik, eine Übersicht über die Forschungsergebnisse, jede Menge Zitate und eine zusammenfassende Analyse, gefolgt von einem Lösungsvorschlag.

Wer sind die Autoren und Autorinnen dieses Weissbuchs?

Das Weissbuch wurde von der Redaktion des 2019 gegründeten Condorcet-Blogs herausgegeben. Seine Autorinnen und Autoren sind überwiegend Französisch-Lehrkräfte, welche diese Sprache und ihre Kultur lieben.

Das Weissbuch kann bereits heute bei uns bestellt werden: info@condorcet.ch. Kosten 10 Fr.

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Prima Nocte und die misshandelte Bildung – zum Change-Management https://condorcet.ch/2022/09/prima-nocte-und-die-misshandelte-bildung-zum-change-management/ https://condorcet.ch/2022/09/prima-nocte-und-die-misshandelte-bildung-zum-change-management/#comments Tue, 20 Sep 2022 17:29:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=11660

In unserem nördlichen Nachbarland ist der Lehrkräftemangel noch einiges heftiger zu spüren als in der Schweiz. Der deutsche Kunstlehrer Norbert Vetter, Mitglied der GBW, weist in seinem Beitrag auch auf die Konsequenzen hin, die er im Hinblick auf die Installierung der Top-down-Reformen hat bzw. wie dadurch das Change-Management vereinfacht wurde.

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Norbert R. Vetter, Deutsch- und Kunstlehrer: Man vertraut der Führung.

…, denn bei Einbruch der Nacht kam der ideologisch gelenkte Paradigmenwechsel mit Nachdruck in die Schulen. Die Alten waren plötzlich alle in Pension und die neuen Alten waren im Ansturm der Jungen zu wenige und nicht genügend vorbereitet, den von oben verordneten Reform-Zug aufzuhalten. Der sozio-demografische „Gap“ in den Lehrerzimmern trug dazu bei, so die hier vertretene These, das „Change-Management“ ohne nennenswerten Widerstand der Kollegien durchzusetzen. So wurde und wird der interne Generationenwechsel geschickt genutzt, indem die Jungen nun das Classroom-Managing, Coaching, die „Kompetenzen“ und neuen Bildungsstandards in nativer Frische aus den Studienseminaren mitbringen. Mitte der 90er waren wir im Kollegium noch widerständig belustigt, als man das Ergebnis unserer Arbeit, den gebildeten jungen Menschen, als „Produkt“ bezeichnen wollte.

Widerstand ist zwecklos?

Die Geschichte erinnert an die Weitsicht eines englischen Herrschers: Edward the Longshanks, wie es in der Erzählung des Films Braveheart dargestellt wird. Eduard I., englisch: Edward I, auch Edward Longshanks und „Hammer of the Scots“ genannt, war von 1272 bis zu seinem Tod König von England, Lord von Irland und Herzog von Aquitanien. Im Film sagt dieser König sinngemäß: „Das Dumme ist, dass Schottland voller Schotten ist. Wenn wir sie nicht durch Kampf besiegen können, dann brüten wir sie raus.“ Das Recht der ersten Nacht: „ius primae noctis“ ist ihm damals das geeignete Mittel, den Widerstand der Highlander auf lange Sicht zu brechen.

Heute wären solch brutale Mittel undenkbar, es bleiben der Exekutive aber andere manipulative Mittel der Kontextsteuerung über die Nutzung demographischer Entwicklungen hinaus.

Durchschnittsalter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst nach Beschäftigungsbereichen in Jahren.

Alexandro Altis vom Statistischen Bundesamt wertet anno 2017 Daten zur Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes aus. Die These vom „Gap“ wird mit der oben abgebildeten Grafik belegbar. Altis sagt hierzu: „Das sinkende Alter im Landesbereich lässt sich durch die Pensionierungswelle im Schuldienst erklären. Durch das massive Ausscheiden älterer Lehrerinnen und Lehrer aus dem Schuldienst im letzten Jahrzehnt und die Nachbesetzung mit jüngerem Personal ist hier seit 2009 eine Verjüngung des Personalbestands zu beobachten. Dies wird voraussichtlich auch noch einige Jahre andauern.“ (1)

Misstrauen gegenüber der Theorie allgemein und gegen aktuelle Forschung wie auch ein naiver Pragmatismus und mit ihm der Rückzug auf eine gegenüber Ideologien vermeintlich immune Praxis, tragen dazu bei, dass die grundsätzlichen Orientierungsbegriffe wie Bildung, Emanzipation, Schule als soziale Errungenschaft und engagierte Aufgabe nicht mehr diskutiert werden. Man vertraut der Führung. So geht die weltanschauliche Basis des Lehrerberufs verloren.

Warum konnte sich in den Kollegien kaum Widerstand formieren?

Das Lehrvolk ist zu jung oder es vergisst anscheinend gerne und schaut weg, wenn es riskant wird. Misstrauen gegenüber der Theorie allgemein und gegen aktuelle Forschung wie auch ein naiver Pragmatismus und mit ihm der Rückzug auf eine gegenüber Ideologien vermeintlich immune Praxis, tragen dazu bei, dass die grundsätzlichen Orientierungsbegriffe wie Bildung, Emanzipation, Schule als soziale Errungenschaft und engagierte Aufgabe nicht mehr diskutiert werden. Man vertraut der Führung. So geht die weltanschauliche Basis des Lehrerberufs verloren. Dieser Zustand der Besinnungslosigkeit wird durch Drill und ständige Beschäftigung verstärkt, sodass Lehrer*innen für eine echte Opposition keine Zeit haben. Der pflichtbewusste, loyale Beamte lässt sich leicht unter Druck setzen. Das Hamsterrad muss sich nur schnell genug drehen. Bertolt Brecht sagte einmal sinngemäß: Wenn du willst, dass die Katze Senf frisst, musst du ihn ihr in den Hintern schmieren! Und semantische Interventionen wirtschaftsliberaler Begrifflichkeit sorgen für die Umdeutung der ehemals pädagogischen Inhalte. Ansonsten sind Abwertung und Ausgrenzung probate Mittel, mit Widerstand im Lehrerzimmer umzugehen. Das ist alles bereits beschrieben und dokumentiert und auf Tagungen erörtert worden. Was aber selten wirklich deutlich wird, ist das durch die Entzweiung entstandene Leid, wenn kritische Lehrpersonen von Kollegien und Schulleitungen preisgegeben werden. Zusammen mit der Bildung wurden und werden auch jene „hinausgebrütet“, die an dem Dilemma zwischen Loyalität und Verantwortung zerbrechen, oder an der Geringschätzung, wenn deren Fach obsolet geworden ist, während andere in MINT-frischem Aufwind gefeiert werden.

Aber „Gap“ und Seiteneinstieg kommen dem Governance-Führungsprinzip sehr entgegen, weil sie für die Kollegien einen Verlust an Erfahrung bedeuten, eine gefährliche Reduktion von Kritikfähigkeit und professioneller Besonnenheit.

Not als Dauerlösung einer langen Nacht

Um die gebeutelte Katze ganz aus dem Sack zu lassen: Flankierend zur Nutzung des intern-demografischen „Gap“ im Lehrerzimmer stiegen in dieser Zeit und tun das noch immer, viele Kurzausgebildete von der Seite ein. Deren oft mangelnde Festigung im Feld von Bildung und Erziehung und die darum fehlende Identifikation mit einem reflektierten Bildungsbegriff trugen und tragen zur kollegialen Affirmation der Ökonomisierung bei. Es musste und muss sie niemand zum „digitalen Wandel des Bildungssystems“ bekehren oder sie gar dazu zwingen. Viele brachten die Einstellung, dieser sei für Deutschlands globalen Wettbewerb unabdingbar, aus ihrer Berufserfahrung in der freien Wirtschaft mit. Vielen fehlt auch die Einsicht in die pädagogische Notwendigkeit, eine wirtschaftliche Verwertung der Schule zu verhindern. Die Zahlen in einem Artikel des Redakteurs Jürgen Amendt zeigen die Koinzidenz mit der Verjüngung der Kollegien. Er schreibt in „Quer- und Seiteneinstieg Notlösung wird zum Dauerzustand“: „Einer KMK-Statistik zufolge hat der Anteil von Quer- und Seiteneinsteigern bei den Neueinstellungen zugenommen. 2015 warben die Schulen bundesweit rund 1.500 dieser Neulehrer an, 2016 waren es bereits doppelt so viele und 2017 stieg die Zahl auf 4.250 Personen. Damit war mehr als jede zehnte der 34.281 im vergangenen Jahr neu eingestellten Lehrkräfte ein Quer- oder Seiteneinsteiger.“(2)

 

Neueinstellungen, gesamt Seiteneinsteiger (3):                    2009 bei 5,9%         entsprechen 1798 Personen

                                                                                                          2014 bei 3,5%         entsprechen 1014 Personen

                                                                                                          2018 bei 13,3%       entsprechen 4798 Personen

 

Der “GAP” führt zu einer gefährlichen Reduktion von Kritikfähigkeit.

Die hier angeführten Statistiken belegen natürlich allein den „Gap“ im Lehrerzimmer und die damit zeitlich verbundene, vermehrte Einstellung von Seiteneinsteigern. Für beides gibt es viele Gründe. Nicht belegt wird der Akt des Missbrauchs dieser Umstände als Mittel der Kontextsteuerung, um den Widerstand gegen die Vermarktung des Bildungssystems strukturell zu brechen. Die Beobachtungen des Abbaus mühsam erkämpfter demokratischer Strukturen und die Reduktion von Lehrpersonen und Schulleitungen zu Befehlsempfängern können eine perfide Nutzung der Umstände nicht logisch begründen. Aber „Gap“ und Seiteneinstieg kommen dem Governance-Führungsprinzip sehr entgegen, weil sie für die Kollegien einen Verlust an Erfahrung bedeuten, eine gefährliche Reduktion von Kritikfähigkeit und professioneller Besonnenheit. (4) Auf der Suche nach den Ursachen für den Erfolg der sogenannten „Bildungsreform“ kann der „Gap“ wegen der Unterbrechung der Weitergabe der Erfahrung der Alten an die Jungen einen von vielen Gründen liefern. Hätte die Überalterung der Kollegien und damit der „Gap“ durch eine kontinuierliche und ausreichende jährliche Neueinstellung qualifizierter Lehrpersonen vermieden werden können?  Der Schule und den Kindern schadet eine Aufstockung des erzieherisch besorgten und regulär angetrauten Lehrpersonals nicht. Ebenso wenig würde es einem sozialen Bildungssystem schaden, wenn es wichtiger genommen würde. Peinlich dagegen ist es, wenn unbefugte Ökonomen und deren Vereine, Stiftungen, Konzerne und Firmen mit bloß monetären Begehrlichkeiten ihren Senf dazugeben müssen, den die Regierungen dann wirksam verstärken und platziert verordnen. …

Aye! Wir sind längst die Besten, ließe man uns doch unseren Job machen!

Norbert Vetter: Ausbildung in den Fächern Kunst und Deutsch für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschule; Staatsdienst in Grund-, Haupt- und Realschulen – sowie an additiven und integrierten Gesamtschulen. Promotion in Frankfurt a. Main im Fach Kunstpädagogik. Seit 2021 frühpensioniert. Mitglied der GBW (Redaktion), GEW und des BDK, Mitarbeit bei IMAGO. Wohnort in Deutschland: Dauborn (Taunus). Internet: atelier-vetter.deund magistera-vitae.de

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Lehrermangel als Quittung für übersteigerte gesellschaftliche Erwartungen an die Volksschule https://condorcet.ch/2022/09/lehrermangel-als-quittung-fuer-uebersteigerte-gesellschaftliche-erwartungen-an-die-volksschule/ https://condorcet.ch/2022/09/lehrermangel-als-quittung-fuer-uebersteigerte-gesellschaftliche-erwartungen-an-die-volksschule/#comments Sun, 18 Sep 2022 18:52:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=11631

Auch unser Doyen, Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz, beschäftigt sich mit den tieferen Ursachen des Lehrkräftemangels. Er kommt zum Schluss, dass nicht nur die Demographie eine Rolle spielt, sondern die verfehlte Reformpolitik der vergangenen Jahre.

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Hanspeter Amstutz: In den vergangenen gut zwei Jahrzehnten sind die Erwartungen an die Volksschule stetig hochgeschraubt worden.

Man kann den aktuellen Lehrermangel mit den steigenden Schülerzahlen und der fehlenden Bereitschaft der jüngeren Lehrerschaft zu Vollzeitarbeit begründen. Doch das greift zu kurz. Die im Vordergrund stehenden Gründe verstellen den Blick auf die tieferen Ursachen des Lehrermangels. Dieser ist keine nur temporäre Personalknappheit, sondern Ausdruck einer nicht länger zu beschönigenden Krise der Volksschule.

In den vergangenen gut zwei Jahrzehnten sind die Erwartungen an die Volksschule stetig hochgeschraubt worden. Im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten hat der Stellenwert guter Bildung enorm an Bedeutung gewonnen. Die gestiegenen Anforderungen in der modernen Wirtschaft führten unweigerlich zur Frage, ob die Volksschule mit ihren bisherigen Lernkonzepten und ihrem traditionellen Bildungskanon den neuen Herausforderungen gewachsen sei.

Bildungsexperten lösten mit grossen Versprechungen eine Reformflut aus

Die Unruhe wuchs, als unserer Volksschule beim internationalen Pisa-Ranking in einigen Bereichen nur durchschnittlich Leistungen bescheinigt wurden. Geradezu panikartig riefen einige Bildungspolitiker nun dazu auf, die Volksschule gründlich umzubauen. Man überbot sich mit Reformideen, die rasche Erfolge versprachen. In den neu gegründeten Forschungsabteilungen der Pädagogischen Hochschulen wurden unzählige Reformprojekte entwickelt, die mit hohen Erwartungen verknüpft waren. Die neuen Ideen wurden von umtriebigen Bildungspolitikern dankbar aufgenommen und ungeprüft als grosser Fortschritt gepriesen. Wer nicht freudig mitmachte oder sich gar kritisch äusserte, wurde als hoffnungslos rückständig eingestuft.

Kaum jemand fragte, wie es um die Praxistauglichkeit der Reformprojekte stand.

Die Versprechungen der Bildungsexperten blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Eltern. Die Vorstellung, dass eine modernisierte Schule sehr viel mehr als bisher erreichen könnte, befeuerte die Schuldiskussionen im ganzen Land. Fortschrittliche Gemeinden führten neue Schulmodelle ein und die Zürcher Bildungspolitik mit Ernst Buschor an der Spitze liess keinen Stein mehr auf dem andern. Die Presse berichtete von grossartigen ersten Resultaten beim frühen Fremdsprachenunterricht, auch wenn die Schüler erst zwei Wochen Englischunterricht hatten. Die Dynamik des Fortschrittglaubens hatte die Volksschule erfasst, doch kaum jemand fragte, wie es um die Praxistauglichkeit der Reformprojekte stand. Überprüft wurde wenig, und dort, wo sich negative Befunde zeigten, verschwanden die unerfreulichen Resultate in den tiefen Schubladen der Bildungsbürokratie.

Es ist Zeit, eine unbeschönigte Bilanz zu ziehen

Es dürfte aufschlussreich sein, eine kurze Bilanz der Reformvorhaben im Licht der Gegenwart zu ziehen. Haben die einzelnen Reformen die Erwartungen erfüllt? Und welche bedeutenden Nebenwirkungen auf das gesamte Schulsystem sind feststellbar? Viele der umstrittenen Reformen sind im neuen Lehrplan verankert worden, deshalb kommt diesem sogenannten Jahrhundertwerk eine Ausnahmestellung in der Schulgeschichte zu. Wieweit diese Reformen die aktuelle Schulkrise mitverursacht haben, wird in der nachfolgenden Übersicht erläutert.

Zentralistische Steuerung des Bildungsprogramms erweist sich als ineffizient

Die Schwierigkeit liegt nicht im Erfassen von Daten zu den Schülerleistungen, sondern im Umsetzen von nötigen Konsequenzen.

Kompetenzraster: Mehr Wunschdenken

Die Vorstellung, man könne durch eine regelmässige Überprüfung von festgelegten Bildungsstandards die Qualität unserer Volksschule heben, ist mehr Wunschdenken als Realität. Sicher ist es aufschlussreich, durch wissenschaftliche Erhebungen in ausgewählten Schulen einen Überblick über den Bildungsstand in einzelnen Fächern zu erhalten. Doch wie sich deutlich abzeichnet, ist es einfacher, Schwächen aufzudecken als diese nachher zu beheben. Dass ein Fünftel unserer Schulabgänger kaum einfachste Texte versteht, war das Resultat einer der zentralen Erhebungen. Doch ein Monitoring bleibt ohne grossen Nutzen, wenn eine Studie wie in diesem Fall weitgehend totgeschwiegen wird.

Bildungssteuerung lässt sich nicht durch Knopfdruck von oben bewerkstelligen. Die Schwierigkeit liegt nicht im Erfassen von Daten zu den Schülerleistungen, sondern im Umsetzen von nötigen Konsequenzen. Doch da fehlt den Planungsstäben meist der Mut, die eigenen Fehler einzugestehen und gescheiterte Vorhaben abzubrechen. Lehrpersonen sehen meist sehr deutlich, wo Änderungen nötig sind. Ihr Engagement für praxisnahe Reformen wäre der effizienteste Weg, um Fehler zu korrigieren. Wird diese Initiative aber durch ein unnötiges Gängelband einer obrigkeitlichen Steuerung eingeschränkt, geht viel pädagogische Initiative verloren.

Der Lehrplan als wegweisender Bildungskompass sorgt für Frustration

Rückmeldungen aus den Schulen zeigen, dass das umfangreiche Werk des neuen Lehrplans seine Funktion als Orientierungshilfe bei der Jahresplanung nicht erfüllt. Der Lehrplan mit seiner Fülle an Kompetenzzielen ist überladen und erschwert die Vertiefung wesentlicher Bildungsinhalte. Es ist den Lehrplanverantwortlichen nicht gelungen, sich auf Kernanliegen der Bildung zu einigen und den Lehrpersonen genug Freiheit für ihr Unterrichtsprogramm zu gewähren. Lehrinnen und Lehrer benötigen klare Bildungsziele, eine Unmenge an detaillierten Vorgaben jedoch ist nur hinderlich und sorgt für Frustration.

Hauptvorwurf bleibt, dass beim Lehrplan der Faktor Zeit in der Pädagogik unterschätzt wurde. Mit unzähligen Bildungsversprechungen hat man den Karren überladen und die Illusion genährt, mit einer leicht erhöhter Lektionenzahl bewältige die Schule das Programm schon. Dies hat dazu geführt, dass in manchen Schulzimmern unnötige Hektik Einzug gehalten hat.

Zur Schadensbegrenzung mussten Lehrmittel mit umstrittenen Methoden entsorgt und durch Bücher mit klar strukturierten Lernkonzepten ersetzt werden.

Die abenteuerliche Didaktik der frühen Mehrsprachigkeit ist gescheitert

Manche Schüler haben die Freude am Sprachenlernen verloren, und bei den Grundkenntnissen im Deutsch wachsen die Defizite.

Das frühe Erlernen zweier Fremdsprachen ist zu einer grossen Belastung in der Mittelstufe geworden. Viele Schüler haben in mindestens einer der beiden Fremdsprachen längst abgehängt, wenn sie in die Sekundarschule übertreten. Seriöse Erhebungen deckten auf, dass ein Grossteil der Primarschüler durch die vielgerühmte immersive Didaktik und das sprachliche Nebeneinander im Unterricht stark verunsichert ist. Zur Schadensbegrenzung mussten Lehrmittel mit umstrittenen Methoden entsorgt und durch Bücher mit klar strukturierten Lernkonzepten ersetzt werden.

Der Preis für den Tanz auf drei Hochzeiten beim frühen Sprachenlernen ist hoch. Neben der ernüchternden Leistungsbilanz vor allem im Französisch gibt es erhebliche Nebenwirkungen. Manche Schüler haben die Freude am Sprachenlernen verloren und bei den Grundkenntnissen im Deutsch wachsen die Defizite. Völlig ausgeblendet wurde der grosse zeitliche Aufwand für die Ausbildung der Primarlehrkräfte in den beiden Fremdsprachen. Die Zeche dafür bezahlt die Realiendidaktik, wo kulturbildende Fächer wie Geschichte oder Geografie klar zu kurz kommen.

Das überstrapazierte Integrationsmodell ist der grösste Belastungsfaktor

Wohl die grösste Belastung für Schulklassen und deren Lehrkräfte sind Schüler, welche über jedes erträgliche Mass hinaus den Unterricht stören. Bei der vorschnellen Abschaffung der Kleinklassen haben die Bildungsexperten nicht einkalkuliert, dass der Betreuungsaufwand für verhaltensauffällige Schüler sehr hoch ist. Es genügt bei weitem nicht, einen schwierigen Schüler während drei Stunden pro Woche durch eine Heilpädagogin zu betreuen und die restliche Zeit der Klassenlehrerin zu überlassen.

Die Politik glaubte, aus dem Ruder gelaufene Klassen durch den Einsatz zusätzlicher Fachlehrpersonen stabilisieren zu können.

Die Ankündigung, das neue Integrationsmodell grenze niemanden mehr aus und schaffe mehr Gerechtigkeit, kam anfänglich in der Bevölkerung gut an. Doch schon bald stellte sich heraus, dass einzelne Schüler es schafften, ganze Klassen durcheinanderzubringen. Die Politik glaubte, aus dem Ruder gelaufene Klassen durch den Einsatz zusätzlicher Fachlehrpersonen stabilisieren zu können. Doch Personalmangel, dogmatisches Festhalten am Integrationskonzept und viel bürokratischer Aufwand verhinderten akzeptable Lösungen.

Die Frage der Chancengerechtigkeit ist zweifellos ein zentrales Anliegen der Volksschule. Es führt aber entschieden zu weit, wenn von den Klassenlehrkräften erwartet wird, sie hätten auch schwerste Erziehungsdefizite einzelner Schüler zu korrigieren. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass solche Aufträge die Lehrpersonen überfordern und zu heillos langen Diskussionen mit Eltern führen.

Individualisierungsträume erschweren die Organisierbarkeit des Unterrichts

Massgeschneiderte Lernprogramme weckten die Hoffnung, dass auch Schüler mit mittelmässigen Leistungen ans Gymnasium übertreten könnten.

Das gemeinsame Lernen unter Führung einer empathischen Lehrperson bleibt von zentraler Bedeutung.

Der neue Lehrplan erachtet eine individualisierte Lerngestaltung als zentrales Element einer modernen Schule. Schülerinnen und Schüler sollten möglichst in ihrem eigenen Lerntempo vorankommen und eine breite Grundbildung erhalten. Individualisierung war das Zauberwort, um mehr Chancengerechtigkeit erreichen zu können. Viele waren überzeugt, dass eine Schule mit einem fortschrittlicheren Bildungskonzept mehr aus den Kindern «herausholen» könne. Entsprechend hoch war der Druck auf die Lehrpersonen, den Unterricht grundlegend zu individualisieren. Massgeschneiderte Lernprogramme weckten die Hoffnung, dass auch Schüler mit mittelmässigen Leistungen ans Gymnasium übertreten könnten. Dabei sollte das Spielerische im Unterricht selbstverständlich nicht zu kurz kommen.

Das Vermitteln von Bildungsinhalten in parallellaufenden individuellen Lernprozessen ist organisatorisch aufwändig. Wer glaubt, der Verzicht auf kollektives Lernen mache die Schule erfolgreicher, täuscht sich. Die bekannte Hattie-Studie hat eindrücklich bewiesen, dass direkte Instruktion im gemeinsamen Klassenunterricht gegenüber individualisierten Lernformen effizienter ist. An dieser Feststellung werden auch neue digitale Lernprogramme kaum viel ändern, da das gemeinsame Lernen unter Führung einer empathischen Lehrperson von zentraler Bedeutung bleibt.

Das neue Lehrerbild von der betreuenden Lehrperson hat einen hohen Preis

Heute sehen sich viele Lehrerinnen primär als eine Lernbegleiterin, die sich selbst stark zurücknimmt und so den Kindern mehr Spielraum geben möchte. Diese Haltung steht in diametralem Gegensatz zur Vorstellung, Lehrerinnen würden durch begeisterte Stoffvermittlung und klare Führung den Unterricht in ihrer Klasse prägen. Der in der Lehrerbildung empfohlene Rollenwechsel von der Stoffvermittlerin zur Lernbegleiterin ist in der Praxis äusserst umstritten. Vor allem Männer scheinen sich mit der Vorstellung, ein Lehrer sei in erster Linie ein einfühlsamer Lernbegleiter, schwer zu tun. Die Zahlen bei den männlichen Stellenbewerbern für die Primarschule sprechen da eine deutliche Sprache. Das Wegbrechen fast einer ganzen Generation junger Lehrer trifft die Primarschule in ihrer Gesamtentwicklung empfindlich und verschärft den Lehrermangel in hohem Mass.

Gesellschaftliche Forderungen nach einer Volksschule mit erweiterter Betreuungsfunktion haben nicht nur auf das Lehrerbild Auswirkungen. Lektionenzahlen wurden erhöht, damit die Kinder in garantierten Präsenzzeiten gut betreut werden. Meist werden in den zusätzlichen Randstunden voll ausgebildete Lehrpersonen eingesetzt, was zu einer Verknappung des Lehrpersonals in den Hauptfächern führt. Wenn nun auch noch gefordert wird, es seien mehr Lehrpersonen mit professioneller Ausbildung zur Schülerbetreuung beim Mittagstisch einzusetzen, wird sich die Situation bei der Unterrichtsverpflichtung sicher nicht verbessern.

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Das Wunder der Volksschule – sie hält sich … noch. https://condorcet.ch/2022/02/das-wunder-der-volksschule-sie-haelt-sich-noch/ https://condorcet.ch/2022/02/das-wunder-der-volksschule-sie-haelt-sich-noch/#comments Thu, 03 Feb 2022 19:37:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=10461

Condorcet-Autor Alain Pichard hält unsere Volksschule nach wie vor für ein Erfolgsmodell und nennt in seinem Text die Indikatoren. Er sieht aber auch dunkle Wolken am Horizont. Dass es immer noch recht gut stehe, verdanke die Schweiz dem Föderalismus und der Mehrheit seiner Lehrkräfte, die wissen, worauf es ankomme ...

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Alain Pichard: Lehrkräfte unterwandern unausgegorene Vorgaben.

An meiner einstigen Schule pflegte unser Schulkommissionspräsident die Eltern jeweils bei seiner Begrüssungsrede zum neuen Schuljahr mit dem Satz zu entlassen: «Ihre Kinder kommen in eine gute Schule!»

Einmal fragte ich ihn beim Hinausgehen, woher er eigentlich wisse, dass wir eine gute Schule seien. Er schmunzelte, überlegte und sagte schliesslich: «Aus dem Gespräch mit den Leuten! »

«Und was verstehst du unter einer guten Schule? », fuhr ich fort. Wie aus der Pistole geschossen antwortete dieser: «Na, wenn die Schüler hier etwas lernen. » Diese einfache Weisheit eines KMU-Mannes sollte man beherzigen, wenn es um die Frage geht, wie es generell um unsere Volksschule bestellt ist.

Zu Beginn einer Analyse über die Schweizer Schule gilt es allerdings festzuhalten: Die Schweizer Volksschule gibt es nicht. Trotz aller Zentralisierungsbemühungen und Top-Down-Reformen ist unser Schulsystem immer noch föderal aufgebaut. Die Kantone haben die Schulhoheit und die einzelnen Schulen sind in den jeweiligen Gemeinden eingebettet. Von vielen als Flickenteppich verspottet, ist diese Konstruktion die eigentliche Stärke unseres Bildungswesens. Sie ist ein Laboratorium, in dem man experimentiert, aus Fehlern lernt, und ein Lernort, der stark mit den Behörden, Eltern und Schülern verbunden bleibt. Da haben es Masterpläne zum Leidwesen der Bildungszentralen naturgemäss schwer. Dieser Bildungsföderalismus mag auch ein Grund dafür sein, dass unsere Schulen immer noch in einem recht guten Zustand sind.

Sie ist ein Laboratorium, in dem man experimentiert, aus Fehlern lernt und ein Lernort, der stark mit den Behörden, Eltern und Schülern verbunden bleibt. Da haben es Masterpläne zum Leidwesen der Bildungszentralen naturgemäss schwer.

Das Schweizer Billdungssystem integriert die Migrantenkinder besser als unsere Nachbarländer.

Sie geniessen einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung. Schweizweit besuchen nur sechs Prozent der Heranwachsenden eine Privatschule. Die Tendenz ist zwar steigend. Aber das ist kein hoher Marktanteil. Der Schweiz gelingt es immer noch, den Grossteil unserer fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und dies, obwohl sie im Verhältnis mehr Migranten aufgenommen hat als beispielsweise die USA. Im Vergleich zum PISA-Wunderknaben Finnland mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 19% produziert die Schweiz – je nach Berechnungsmodell – einen rekordtiefen Prozentsatz von 2,5-5%.

An den Berufsweltmeisterschaften halten sich unsere Lehrlinge – obwohl nicht mehr ganz so souverän wie in früheren Zeiten – immer noch in den Spitzenrängen, und in den internationalen TIMSS-Studien (Trends in International Mathematics and Science Study) lag die Schweiz bis vor Kurzem im oberen Drittel.

Das sind im Grunde genommen recht gute Indikatoren für ein solides Bildungssystem.

Folgt man der öffentlichen Debatte und den Medien, prasseln allerdings dramatische Untergangsphantasien auf uns ein. Wer die Schweizer Schulen besucht, könnte meinen, dass sie bewusst übersehen werden sollen. Oft werden negative Einzelfälle skandalisiert oder tolle Performances, z. B. bei Preisverleihungen, gehypt. Die alltägliche, profane Arbeit der Lehrkräfte liefert zu wenig Schlagzeilen.

Kein PISA-Gegner

PISA-Schock wurde erfunden.

2001 wurde der „PISA-Schock“ erfunden, der in unseren Medien flugs zur Bildungskatastrophe hochstilisiert wurde.  Rundherum „hysterisierten“ Journalisten, Politiker und Funktionäre den doch eher simplen Test als «das Armageddon der öffentlichen Bildung. Damit eines klar ist: Ich gehöre nicht zu den PISA-Gegnern. PISA liefert uns ausserordentlich interessante Ergebnisse zu einzelnen Teilbereichen unserer Schule. PISA hatte aber nie den Anspruch, nationale Schulsysteme als Ganzes zu bewerten. Absurde Länderrankings ohne tiefgehende Analysen erfolgten durch die Medien und Bildungspolitiker, die zu einem beispiellosen Schulbashing ansetzten.

Es war die Stunde einer neuen Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft, die sich zu den eigentlichen Playern unseres Bildungssystems entwickelten.

Schmiss der alte Gilgen seinen Laden noch mit ein paar Dutzend Mitarbeitern, so arbeiten heute in der Zürcher Bildungsverwaltung an die 1’800 Angestellte.

Die Politik sorgte dafür, dass die Bildungsausgaben massiv erhöht wurden, von 16 Milliarden Franken (1990) auf rund 38 Milliarden Franken (2018), was sich auch im Bruttosozialproduktsanteil manifestierte. Dieses Geld floss nicht nur in die Praxis und die neu gegründeten Fachhochschulen. Wie auch in anderen Gefilden unseres Staatssystems wurde ein massiver Ausbau des Überbaus vorangetrieben. Evaluatoren, Lehrplanentwickler, Berater, Bildungsforscher besetzten die Schaltstellen der Bildungszentralen. Sie begannen zielstrebig, unser Schulsystem umzubauen. Lehrkräfte wanderten in Scharen in die neuen Berufsfelder, wirkten an Weiterbildungsinstituten, wurden Dozenten an der PH oder arbeiteten in den nun immer zahlreicheren Arbeitsgruppen und Lehrmittelkommissionen und Funktionärsstellen der Verbände. Schmiss der alte Gilgen seinen Laden noch mit ein paar Dutzend Mitarbeitern, so arbeiten heute in der Zürcher Bildungsverwaltung an die 1’800 Angestellte.

Harmos war eine Steuerungsvorlage basierend auf dem Weissbuch der EDK

Die EDK (Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz) schlug 2004 mit einem Weissbuch vor, das Schulsystem auf die PISA-Test-Formate umzustellen. Von da an entwickelte sich vieles zwangsläufig: Wer eine Vergleichbarkeit will, braucht Standards. Wer Standards hat, muss diese überprüfen und benötigt Tests, und wer diese Tests will, braucht zu erwerbende Kompetenzen. Nach und nach geriet die Schule in den Würgegriff dieser Technokraten. Allein in meinem Kanton Bern gab es in dieser Zeit 20 Schulreformen, von denen die Hälfte in ein regelrechtes Desaster mündeten.

Die Folge waren der Lehrplan 21, Kompetenzraster, neue Beurteilungsformen, Bewertung überfachlicher Kompetenzen, siebenseitige Beobachtungsfragebögen im Kindergarten, flächendeckende Tests in der Nordwestschweiz, Umbau des Hauswirtschaftsunterrichts, eine abenteuerliche Fremdsprachendidaktik, «Classroom Walkthrough»-​Kontrollen der Schulleitungen, neue Inklusionskonzepte u.v.a. mehr. Auch pädagogische Vorgaben wie Konstruktivismus, entdeckendes oder selbstbestimmtes Lernen begannen, die Methodenfreiheit der Lehrkräfte einzuschränken.

Die PISA-Tests wurden uns als Schritt in eine datenbasierte Forschung verkauft, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen. Das Zauberwort «Bildungsmonitoring» machte die Runde.

Wie es mit der Ernsthaftigkeit dieser Vorhaben bestellt ist, zeigt der Umgang mit dem Illetrismus. Eine der wirklich fundierten Erkenntnisse von PISA zeigte uns, dass das teuerste Schulsystem der Welt es fertigbringt, dass ein Fünftel der Schüler nicht einmal die tiefsten Standards beim Lesen erreicht, also praktisch als Illetristen aus der Schulpflicht entlassen wird. Ein ernst gemeintes Bildungsmonitoring – so müsste man annehmen – würde diese dramatische Entwicklung zu beheben versuchen. Stattdessen führte man Frühfranzösisch und Frühenglisch ein.

Dies zeigt uns, dass sich die Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft von den Erfordernissen der Schulen längst entkoppelt hat. Neben der Steuerung geht es schliesslich um Auftragssicherheit und Jobs. In den Lehrerzimmern des Landes zirkuliert der alte Spontispruch: «Die probieren mal was. Wenn es nicht klappt, versuchen sie was Neues. Vielleicht klappt es dann ja auch nicht.»

Illetrismus: Ein Fünftel kann nach 9 Schuljahren nicht richtig lesen und schreiben.

Und schliesslich gilt es festzuhalten, dass unser Bildungssystem ein Mittelstandsprojekt ist. Die Nöte der Illetristen, weitestgehend Migrantenkinder und Kinder der unterprivilegierten Schichten, interessiert diese Mittelschicht nur in Sonntagspredigten. Das Frühenglisch wurde denn auch in Zürich in einer Volksabstimmung bestätigt. In links-grün regierten Städten werden zurzeit staatlich finanzierte Privatschulen – zweisprachige Schulen – in Mittelstandsquartieren eingeführt, was die Restschulproblematik in den Aussenquartieren erhöht.

Was haben uns all die Reformen der Allianz gebracht ausser einer ideologischen Phrasendrescherei und einer «verschwurbelten» Kompetenzrhetorik?  Trotz gewaltiger Bildungsinvestitionen sinken die Leistungen unserer Schüler in den PISA-Studien, die Fremdsprachendidaktik mit dem Lehrmittel Passepartout hat das Französisch an unseren Schulen mehr oder weniger «gekillt». Der Drang ans Gymnasium nimmt zu, die Berufsbildung, eine starke Säule unseres Bildungssystems kommt unter Druck. Untaugliche, weil holistisch geprägte Integrationskonzepte bringen viele Schulklassen an ihre Belastungsgrenze. Ein eklatanter, in dieser Form noch nie dagewesener Lehrermangel untergräbt die Unterrichtsqualität. An meiner Ex-Schule arbeiten derzeit zwei Lehrkräfte, die kein Wort Deutsch sprechen.

Die Lehrkräfte wissen mehrheitlich, worauf es ankommt.

Verfalle ich jetzt selber dem von mir am Anfang dieses Textes gegeisselten Alarmismus? Dass all die negativen Auswirkungen bisher nicht voll durchgeschlagen haben, ist den meisten der rund 90’000 an der Volksschule arbeitenden Lehrkräften zu verdanken. Sie halten wacker stand, unterlaufen die praxisfernen Lehrplanvorgaben und unausgegorenen pädagogischen Konzepte und versuchen das umzusetzen, was der Kommissionspräsident einst meinte: Die Schüler müssen etwas lernen.

Und sie beginnen sich zu wehren. Zaghaft zwar, aber immer energischer. Sie treten kaum noch in die Lehrerverbände ein, welche diese unheilvolle Bildungspolitik stets unkritisch unterstützt haben. Die grosse Ausnahme unter all den kantonalen Lehrerverbänden ist allerdings der LVB (LehrerInnen-Verband Baselland), der mit klarer Kante die stupiden Auswüchse der Reformpolitik bekämpfte und dadurch vieles wieder in die richtigen Bahnen lenkte.  Gerade dieser LVB erkämpfte sich die Lehrmittelfreiheit, weitere Kantone folgten. Und ausgerechnet in Basel lancierte nun der behördenfreundlichste Lehrerverband der Schweiz eine Volksinitiative für die Wiedereinführung der Kleinklassen.

Letztendlich ist es die verantwortliche Lehrerin bzw. der verantwortliche Lehrer, die mit ihrer Person unterrichten und dabei überzeugen müssen. Das ist vielen Lehrkräften bewusst. «In einer demokratischen Gesellschaft muss die öffentliche Schule überzeugen, und zwar mit ihren Leistungen und so mit ihrer Qualität. Sie muss sich entwickeln, damit auch für die künftigen Generationen eine verlässliche Bildungsversorgung gegeben ist. Dafür stehen gute Schulen ein» (Professor Juergen Oelkers).

Dieser Artikel erschien in einer gekürzten Variante in der Weltwoche.

 

 

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Buchbesprechung: «Sind Inklusion, Integration in der Schule gescheitert?» https://condorcet.ch/2022/01/buchbesprechung-sind-inklusion-integration-in-der-schule-gescheitert/ https://condorcet.ch/2022/01/buchbesprechung-sind-inklusion-integration-in-der-schule-gescheitert/#respond Mon, 03 Jan 2022 13:39:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=10260

Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, Psychologe, Dozent und pens. Gymnasiallehrer, Mitherausgeber der reformkritischen Broschüre "Einspruch", ist kein Unbekannter in diesem Blog. Nun hat er ein Buch herausgegeben, dass sich mit der Inklusion beschäftigt. Gastautorin Eliane Perret stellt es Ihnen vor.

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Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, Psychologe, Dozent und pens. Gymnasiallehrer.

«Sind Inklusion, Integration in der Schule gescheitert?», ist der Titel eines neuerschienenen Buches, das zu einer differenzierten Diskussion über dieses Thema einlädt, es aber viel weiter fasst als bisher üblich und grundsätzliche Fragen zur Bildung einbezieht. Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, Lehrer und Psychotherapeut gibt uns in seinem Buch die Grundlagen dazu. Es ist deshalb eine Perle für jeden, der sich nicht im Dschungel eines Schlagabtauschs verirren will. Und es ist ein Buch, das sich reflektiert engagiert – für jedes einzelne Kind und den Auftrag der Schule.

In seiner Einleitung gibt der Autor Einblick in die Biografien von Menschen, die eine gelungene oder missglückte Integration erlebten. Damit wird bereits ein Licht auf die Komplexität der Frage geworfen, die stets der Individualität, dem Beziehungsnetz und den Lebensumständen des Betroffenen gerecht werden muss. Nach dieser Anteil nehmenden Einstimmung aufs Thema nimmt der Autor den Leser mit auf einen geschichtlichen Exkurs über die Entstehung eines spezialisierten Sonderschulwesens, stellt dessen Wende hin zur Integration und Inklusion im Rahmen der internationalen Konventionen dar und diskutiert den meist unbekannten, in diesem globalen Rahmen jedoch enthaltenen Handlungsspielraum.

Auch hier wiederum ist das Anliegen des Autors spürbar, dass ein sachlicher, von menschlichen Werten getragener Dialog die heutige, von Polemik geprägte Diskussion ablösen soll – im Interesse des Kindes.

An konkreten Beispielen zeigt der Autor, wie Integration und Inklusion umgesetzt wird und welchen Anforderungen, damit verbundenen Problemen und kritischen Einwänden Rechnung getragen werden muss. Dabei kommen nicht nur renommierte Wissenschaftler zu Wort, sondern auch direkt betroffene ehemalige Sonderschüler. Auch hier wiederum ist das Anliegen des Autors spürbar, dass ein sachlicher, von menschlichen Werten getragener Dialog die heutige, von Polemik geprägte Diskussion ablösen soll – im Interesse des Kindes.

Spezielle Aufmerksamkeit verdient das anthropologische Kapitel, in welchem der Autor den heutigen Forschungsstand für erfolgreiches Lernen differenziert darlegt.

Spezielle Aufmerksamkeit verdient das anthropologische Kapitel, in welchem der Autor den heutigen Forschungsstand für erfolgreiches Lernen differenziert darlegt. Es geht dabei nicht nur um spezifische Grundlagen zum Lernen mit Kindern und Jugendlichen mit speziellem Förderbedarf, sondern um Lernprozesse ganz allgemein, denn wie am besten gelernt wird, stellt sich als Aufgabe in allen Schulformen und allen Altersstufen. Einen speziellen Stellenwert bekommt dabei die Bindungsforschung, womit der Autor die Ergebnisse der Hattie-Studie wertvoll ergänzt. Mit diesem anthropologischen Teil hebt sich das Buch wohltuend ab von vielen Neuerscheinungen, die diesbezüglich zu wenig in die Tiefe gehen. Es ist naheliegend, dass sich dem Leser/ der Leserin bei der Lektüre Fragen nach den heute üblichen individualisierenden Unterrichtsformen und Lernarrangements stellen, die sich aktuell (in einer Schulreformkaskade) zu etablieren scheinen. Dies zu Recht, denn sie genügen den Qualitätsansprüchen kaum, gemessen am  im Buch dargelegten weltweiten Forschungsstand.

Aus den anthropologischen Grundlagen ergeben sich auch Anforderungen an das Rollenverständnis und den Aufgabenbereich von Lehrerinnen und Lehrern, die weit über das schlichte Vermitteln von Lernstoff oder Bereitstellen von Lernumgebungen hinausgehen. Der Autor konkretisiert diesen Problemkreis an eindrücklichen Beispielen aus der Schulpraxis und greift auf seine eigenen Unterrichtserfahrungen und die authentischen Schilderungen von Schülerinnen und Schülern zurück.

Gelingensbedingungen für eine geglückt Integration

Was sind nun Gelingensbedingungen für eine geglückte Integration, um auf die Frage im Titel des Buches zurückzugreifen? Die bis dahin dargelegten wissenschaftlichen Erkenntnisse geben bereits Antworten und legen das Fundament für die folgenden Kapitel. Der Autor analysiert nun exemplarisch Beispiele aus Literatur und Film, die zeigen, wie der Werdegang eines Kindes durch die Persönlichkeit und Beziehung zur Lehrperson geprägt wird, und er beschreibt Schulversuche von Pionieren in Psychologie und Pädagogik (wie sie beispielsweise die Individualpsychologie hervorbrachte), in denen Integration gelebt wurde. Beim Lesen klingen unmittelbar eigene positive, aber auch negative Schulerlebnisse an, und man kommt nicht umhin, bisherige Perspektiven zu überdenken. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Autors zum “Dialogischen Lernen”, mit dem der Lernstoff in gemeinsamer Auseinandersetzung erarbeitet und gelernt wird – eine Lernform, die seit einiger Zeit vor allem im angloamerikanischen Raum Eingang gefunden hat und dort bisherige missglückte Reformexperimente ablöst. Mit dieser Unterrichtsform sind die heute vielfach geforderten «überfachlichen Qualitäten» wie Empathie, Team- und Kritikfähigkeit verbunden. Sie müsste auch bei uns einen zentralen Stellenwert in (heil-) pädagogischen Studiengängen bekommen! So trägt auch dieser Teil des Buches zu einer differenzierten Sicht bei, welche Faktoren einen gelungenen Lernprozess möglich machen.

Schliesslich kommt der Autor zu Schlussfolgerungen, die sich wiederum durch wissenschaftliche Genauigkeit, pädagogischen Weitblick und menschliche Sorgfalt auszeichnen, aber hier nicht vorweggenommen werden sollen.

Das Buch sei darum jedem zur Lektüre empfohlen, der die Vorstellung einer «zukunftsfähigen Schule» und einer echten «Bildung für alle» mit Inhalt füllen will. Es ist einerseits eine Fundgrube an neuen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, andererseits stellt es immer den Bezug zur stets anspruchsvollen pädagogischen Praxis her. Dann aber ist es – und das ist entscheidend – getragen von einer pädagogischen Grundhaltung, die sich einem personalen Menschenbild verpflichtet fühlt. Damit liefert das Buch Grundlagen für eine Diskussion, nicht nur zur Frage von Integration und Inklusion, sondern zu Fragen von Schule und Bildung überhaupt. Eine Diskussion, die noch ansteht und nicht bildungspolitische Strategien verfolgen darf, sondern auf dem Boden wissenschaftlicher Erkenntnisse und staatsbürgerlicher Verantwortung geführt werden muss.

Eliane Perret

 

Kissling, Beat. Sind Inklusion und Integration gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung. Bern: Hogrefe. 2022. ISBN 978 – 3 – 456 – 85920 – 0

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Die Schule soll’s richten https://condorcet.ch/2020/05/die-schule-solls-richten/ https://condorcet.ch/2020/05/die-schule-solls-richten/#comments Sun, 31 May 2020 08:19:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=5168

Der Glaube, dass die Schule „es“ richten kann, ist ein weit verbreitetes Phänomen. Entgegen aller - zur Zeit vor allem durch die Hirnforschung untermauerter - entwicklungspsychologischer Einsichten wird der Schule die hervorragende Rolle schlechthin zugewiesen, wenn’s darum geht, die Zukunftschancen junger Menschen zu wahren und voranzutreiben. Der Bieler Philosoph und ehemalige Gymnasiallehrer Dr. Markus Waldvogel zeigt in seinem Beitrag auf, warum der Familienpolitik dabei die Aschenputtelrolle zufällt.

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Dr. Markus Waldvogel: Die Schule kann es nicht richten.

Im Bereich Schule und Bildung fühlen sich sehr viele Menschen „zu Hause“. Ressentiments und natürlich auch positive Erfahrungen an die eigene Schulzeit bringt jeder mit. Deshalb erscheint der Sprung in die Bildungspolitik sehr vielen Menschen als nahe liegend. In der Bildungspolitik kann man so richtig loslegen, die eigenen Erfahrungen und Ideen in Postulate ummünzen und sich kommunal, kantonal oder national profilieren. Doch der Rückgriff auf die eigenen Erfahrungen als Ausgangspunkt für ein bildungspolitisches Engagement ist problematisch. Was vor zwanzig oder mehr Jahren die Schulen prägte, ist heute längst überholt. Es gibt denn auch nichts Penibleres als schulpolitische Vorstösse, die an der Schulrealität vorbeizielen. Solche politischen Aktivitäten können groteske Dimensionen annehmen. Nicht zuletzt dann, wenn über das tiefe Niveau in Schulen geklagt wird, ohne die aktuellen Voraussetzungen von Unterricht zu hinterfragen. Wenn also über Schule gesprochen wird, als hätte man es noch mit den Kindern von einst zu tun.

Reformen können kontraproduktiv ausfallen

Aber auch gross angelegte Reformen wie die Rechtscheibreform können kontraproduktiv ausfallen, wenn ursprünglich vernünftige Anliegen in der bildungspolitischen Maschinerie ihr Profil verlieren. Diese Reform, –  politischem Druck – nur halb durchgeführt, schafft unterm Strich dieselben Probleme, deren Lösung sie eigentlich hat vorantreiben wollen. Rechtschreibung ist nur unwesentlich einfacher geworden. Fraglich bleibt auch, ob es sinnvoll ist, wenn die Probleme vieler Schüler/innen beim Erlernen der Erstsprache in der öffentlichen Wahrnehmung als Orthographieschwächen erscheinen. Natürlich haben viele Menschen unter dem unseligen Rotstift gelitten. Doch die Artikulationsdefizite gegenwärtiger Schüler/innen gehen weit über dieses Fehlerverständnis hinaus. Darüber wird zu wenig gesprochen. Die Rechtschreibdebatte überlagert die Sprachdiskussion.

Verbalismus, der sich an keine Erfahrung mehr anschließt.

Jean Piaget: Es wird viel zu sehr mit Worten belehrt.

Zu reden geben müsste dagegen in zunehmendem Masse der Verbalismus einer begrifflichen Abstraktion, die sich an keine Erfahrung mehr anschließt und nur das alte Schulübel des bezugslos bleibenden, demotivierenden Stofflernens noch verschärft.

Den kapitalen Fehler unserer Schulen, die Kinder viel zu sehr mit Worten zu belehren, auch dort, wo sie selber erkennen, entdecken und handeln könnten, hat auch der große Genfer Psychologe Jean Piaget immer wieder verurteilt.“  (Andreas Flitner, NZZ, 12./13. 2. 1983)

Das ist bedenklich, weil dadurch Strukturen und Zusammenhänge der Alltagswelt, die für die unmittelbare Erfahrung nicht durchschaubar sind, der Einsicht, Reflexion und Kritik entzogen bleiben. Diese Beschneidung der Einsichtsfähigkeit verhindert Mündigkeit.

 

Rechtschreibreform: Artikulationsdefizite werden ausgeblendet.

Die wesentlichere, tiefer liegende und verhängnisvollere generelle Ausdrucksschwäche kann leider denselben (politischen) Raum wie etwa die Fragen über die Gross- und Kleinschreibung nicht einnehmen. Ob das ein Akt kollektiven Verdrängens ist, bleibe dahingestellt. Tatsache bleibt, dass die – wenn auch unter grössten Schwierigkeiten – angestrebte Rechtschreibreform unglaublich viel Geld und Energien verpufft hat, was manchen Schulpraktiker, der dringend auf mehr Unterstützung in seiner Arbeit angewiesen wäre, mit Wehmut erfüllen dürfte. Denn die Fähigkeit der Artikulation lässt sich nicht „gratis“ erwerben. Was im Sport eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich das Training, das Üben und die Disziplin, belastet Lehrkräfte mit grossen Klassen und zunehmend sprachschwachen Schülern, die von Hause aus keinen Umgang mit Sprache im weitesten Sinne haben, über Gebühr.

Wer „aus eigenem Antrieb“ weder liest noch schreibt, kann in einer anspruchsvollen Schule keinen Erfolg haben.

Wer „aus eigenem Antrieb“ weder liest noch schreibt, kann in einer anspruchsvollen Schule keinen Erfolg haben. Die Bedeutung der Sprache in einer komplexen Gesellschaft ist nach wie vor gross. Der Beherrschung der Erstsprache kommt eine fundamentale Rolle zu, gerade in einer Schule, die mit hehren Bildungszielen förmlich überschüttet wird. Reformerische Absichtserklärungen müssten deshalb immer und vorgängig einer Machbarkeitsprüfung unterzogen werden.

Der Beherrschung der Erstsprache kommt eine fundamentale Rolle zu, gerade in einer Schule, die mit hehren Bildungszielen förmlich überschüttet wird.

Wenn’s mit der eigentlich wünschbaren Schule im Argen liegt, muss mit anderen Massnahmen als mit jahrelangem Palaver über Struktur- und Organisationsreformen, denen wohlklingende und oft irreführende Namen gegeben werden, reagiert werden.

Vor allem Versuche, erzieherische Ziele, welche Missstände beheben wollen, die nicht hausgemacht sind, die also nicht durch den Unterricht hervorgerufen wurden, genau in diesem umzusetzen, belasten die Schulen enorm.

Die Schulen können, und zwar auf allen Stufen, weder die Frustrationsgefühle ehemaliger Schulabgänger/innen auflösen noch ein gewisses Elend der Pädagogik auffangen. So verständlich der Reformeifer allenthalben ist, so notwendig ist eine intensive Diskussion darüber, welche Ziele der „Reformer“ sinnvoll sind und welche nicht. Vor allem Versuche, erzieherische Ziele, welche Missstände beheben wollen, die nicht hausgemacht sind, die also nicht durch den Unterricht hervorgerufen wurden, genau in diesem umzusetzen, belasten die Schulen enorm. Man schlägt den Sack und meint den Esel. Energie, Geld und Zeit werden so von der eigentlichen Verbesserung des Unterrichts abgezogen und Bildungsreformer, Eltern sowie viele Schüler/innen und Lehrkräfte werden noch mehr frustriert.

Die Schule kann “es” so wirklich nicht richten

Die Schule kann „es“ so wirklich nicht richten. Schulen können, entsprechend ihrem allgemeinbildenden Charakter, bildungsfähigen und -willigen Menschen zu einem Mehr an Auseinandersetzung und Lernerfahrungen verhelfen. Schulen haben aber beschränkte Mittel, was pädagogische Missstände betrifft. Letztere gehören auf eine andere Traktandenliste. Zu ihrer Behebung hülfe ein pädagogisches Bewusstsein, das die ersten Lebensjahre der Kinder nicht ins Ressort „Privatsache“ abschiebt. „Zu Hause muss beginnen, …“ ist mehr als ein Slogan des 19. Jahrhunderts. Ein Brückenschlag zwischen Vorschul- und Schulpädagogik ist dringend vonnöten. Zurzeit macht es den Anschein, als wollte man dieses Thema offiziell nur zögerlich aufgreifen. TV-Sendungen befassen sich zwar (auf bisweilen unerträglich voyeuristische Art) mit dem Phänomen Erziehung, „der Staat“ dagegen gibt sich auffallend kleinlaut. Das hat politische Konsequenzen, denn die Hinführung junger Menschen auf ein Leben in der Bürgergemeinschaft bleibt damit jenen vorbehalten, die von zu Hause aus darauf vorbereitet werden. Dies sind die Kinder, respektive die Jugendlichen, die später von der sogenannt höheren Bildung profitieren können. Für die anderen entsteht ein gnadenloser Überlebenskampf mit ungewissem Ausgang. Allgemeinbildung und im Speziellen politische Bildung drohen mehr und mehr zu einem Privileg zu werden, während die Volksschule darum kämpft, ein halbwegs praktikables Lernklima sicherzustellen, damit ein elementarer Lern- und Lehrbetrieb aufrechterhalten werden kann.

Resultat ist eine politische Querschnittlähmung.

Diese Entwicklung ist weder für die sozial Benachteiligten noch für die „Privilegierten“ zufriedenstellend und die eigentliche Bildungsaufgabe der Volksschule ist nicht mehr erfüllbar. Das schon fast üblich gewordene allgemeine Wegschauen, wenn’s um die erzieherische Misere geht, lastet schwer auf (allen) Schulen. Wenn einfach zugesehen wird, wie grössere Teile der Kinder völlig ungeschützt in Situationen aufwachsen, die mehr von einer Stillhalte- und Verblödungsindustrie geprägt sind als von kindergemässen Erfahrungen, leistet man einem gefährlichen Trend Vorschub, der zu Orientierungslosigkeit und massiven Selbstwertproblemen bei Kindern und Jugendlichen führt. Dadurch wird Unterricht schlicht behindert. Resultat ist eine pädagogische Querschnittlähmung: Die vom Reformeifer überforderte, von Sparaposteln zurechtgestutzte und vom erzieherischen Elend gebeutelte Schule kann nicht mehr angemessen agieren und reagieren. Sie kann „es“ nicht richten, weil sie von der Politik im Stich gelassen wird. Dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die Schulen verpolitisiert sind wie schon lange nicht mehr.

Dr. Markus Waldvogel, Autor & Philosoph, ehem. Fachdidaktiker Philosophie PH Bern

 

 

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Reformen sollen Bestehendes verbessern. Die Bildungspolitik überzog darum die Schulen mit vielen Reformen. Nicht wenige verfehlen die versprochenen Ziele. Wer übernimmt dafür die Verantwortung, fragt Condorcet-Autor Carl Bossard in seinem Beitrag.

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„Der Verantwortung bin ich zum ersten Mal als Primarschüler auf Bergwanderungen begegnet. Mein Cousin, der schon ins Gymnasium ging, befahl jeweils: ‘Du trägst den Rucksack und ich die Verantwortung; so sind wir quitt.’ Damals wusste ich also, was Verantwortung ist: ein schwerer Rucksack.“ Das Bonmot stammt von alt Bundesrat Moritz Leuenberger: Verantwortung als spürbare Last und Belastung, Verantwortung als schwerer Rucksack. So Leuenbergers Metapher für dieses anspruchsvolle Wort.

Verantwortung
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Verantwortung als professionsethische Grösse

Verantwortlich zu sein gehört zur menschlichen Existenz. Verantwortung ist – je nach Kontext ihrer Thematisierung – eine Tatsache oder eine Norm. Eine Tatsache ist sie insofern, als Menschen autonome Personen sind und damit für die Folgen ihre Entscheide verantwortlich zeichnen. Verantwortung kann auch herbeigeführt werden – Verantwortung als Norm, die übertragen und dann getragen wird – mit einer Aufgabe beispielsweise oder einem Amt.

Verantwortung orientiert sich an den Konsequenzen des Handelns. Darum rechnet der Soziologe Max Weber die Verantwortungsethik zum Beruf der Politik. Er stellt sie in kontradiktorischen Gegensatz zur Gesinnungsethik, die zum Unbedingten tendiert. Die Weber’sche Verantwortungsethik bedenkt die voraussehbaren Folgen des jeweiligen Handelns; sie betont das Vorausdenken und das Nachbedenken.

Die „et respice finem-Haltung“

Die Ergebnisse des Handelns bedenken und notfalls für sie einstehen, fordert Max Weber. Vielleicht ist es genau das, was wir im Latein-Unterricht gelernt haben: „Was auch immer du tust, handle klug und berücksichtige das Ende.“ „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.“ Achtsam handeln, sich am Ziel orientieren und die Folgen abschätzen: Das will uns dieser lateinische Hexameter sagen. Ein Grundsatz ohne Verfalldatum!

Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen.

Die Bildung kennt darum das „Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen“. Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen. Bildung darf daher nicht herummodellieren und herumexperimentieren, ohne dass man die Folgen kennt. Und sie ist nicht mit ihrer permanenten Reform gleichzusetzen. Junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie. Das unterscheidet sie von industriellen Produktionsgütern. Mit Werkstücken kann man experimentieren; mit jungen Menschen geht das nicht.

„Il näsch“ ist so gut wie „il neige 

Genau das aber geschah in den letzten Jahren: Ein Wirbelwind an Reformen überzog die Schulen, vielfach ohne verantwortliches Wissen um die Folgen. Die konkreten Konsequenzen (er-)tragen die Lehrpersonen im Unterrichtsalltag. Zu den vielen Reformen gehört auch der doppelte Fremdsprachenunterricht in der Primarschule.

Passepartout, eine der vielen fehlgeleiteten Reformen des letzten Jahrzehnts

Dazu ein illustratives Beispiel: Die sechs Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, Bern, Freiburg und Wallis unterrichten ab der dritten Klasse Französisch. Seit 2011 setzen sie das gemeinsame Lehrmittel „Mille feuilles“ ein. Es ist Teil des 50 Millionen teuren Fremdsprachenkonzepts „Passepartout“. Das didaktische Prinzip: Die Schülerinnen und Schüler sollen die neue Sprache möglichst oft hören und so in „ein Sprachbad“ eintauchen. Das Lernen von Vokabeln und Grammatik läuft en passant. Das Konjugieren von Verben kommt kaum vor. Korrigieren sollen die Lehrer nur zurückhaltend.

Alarmierende Ergebnisse – und die Bildungspolitik schaut weg

Bald schon tauchten Kritiken und Klagen auf. „Manche Kinder können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen französischen Satz sagen,“ sagte ein Lehrer aus dem Baselbiet.[1] Als Folge verzichtete der Kanton Bern 2017 bei den Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium aufs gezielte Prüfen grammatikalischer Kenntnisse:[2] Wahrnehmen der Verantwortung durch Reduktion der Ansprüche und der notwendigen Lernbedingung für alle, die einen analytischen Sprachzugang haben.

Fremdsprachen-Didaktikerin Barbara Grossenbacher: «Es wird schon gut!»

Die Fremdsprachen-Didaktikerin Barbara Grossenbacher, Co-Autorin des Lehrmittels „Mille feuilles“, beschwichtigte. In schönster Selbstgewissheit meinte sie, man solle zuerst „auf wissenschaftliche Ergebnisse warten, welche die Wirksamkeit dieser Didaktik nachweisen“. Das geschah auch: Die Universität Freiburg evaluierte die Fremdsprachenkenntnisse der Schülerinnen und Schüler am Ende der Primarschule. Die Ergebnisse waren deprimierend: Nur gerade knapp elf Prozent (!) erfüllten beim interaktiven Sprechen das Lernziel. Beim Leseverstehen waren es lediglich 33 Prozent, während beim Hörverstehen immerhin 57 ein positives Resultat erreichten.[3] Aus der Berner Erziehungsdirektion hiess es lakonisch, man befände sich beim Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg.[4]

 

Entsteht eine Art „Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept“?

Da stellt sich schon die Frage: Wer zeichnet denn verantwortlich, wenn durch eine politisch gewollte und von vielen Bildungsauguren vorangetriebene Reform eine Art „Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept“ entsteht, wie die NZZ schreibt.[5] „Nur wer es ans Gymnasium schaffe, erhalte die nötigen Sprachkompetenzen“, kritisiert ein passionierter Lehrer und fügt bei: „Beim Rest begnüge man sich im Französisch inzwischen mit ein paar wenigen Brocken.“

Das mag vielleicht mit dem groben Pinsel von van Gogh gezeichnet sein und nicht mit Albrecht Dürers feinem Stift. Doch die alarmierenden Resultate können nicht ungesehen beiseitegeschoben werden. Sie weisen auf ein tiefes Malaise hin.

Vom Prinzip der Verantwortung

Verantwortung hat mit „Worten“ und „Antworten“ zu tun. Verantwortung übernehmen heisst immer auch Ant-Wort geben als Reaktion auf eine Situation. Das ist anspruchsvoll. Darum wohl wiegt die Verantwortung schwer wie ein Rucksack. Wegschauen ist keine Antwort. Wer wegschaut, stiehlt sich aus der Verantwortung, lässt sie liegen oder gar fortfliegen wie einen leichten Luftballon. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Leidtragenden in der Pädagogik sind die Kinder und Jugendlichen. Mit ihnen zu experimentieren zeugt von wenig Verantwortungsbewusstsein. Denn junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie.

 

[1] Felix Schindler, Der Sprachenstreit beginnt schon beim Lehrmittel, in: Tages Anzeiger, 11.10.2016.

[2] Daniel Gerny, Barlez wu Fransai?, in: NZZ, 12.04.2017, S. 18.

[3] Eva Wiederkeller, Peter Lenz (2019), Kurzbericht zum Projekt ,Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen’, durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg.

[4] Stefan von Bergen, Die geheime Frühfranzösisch-Studie, in: Tages-Anzeiger, 28.09.2019.

[5] Daniel Gerny und Erich Aschwanden, Ein Französischbuch fällt durch, in: NZZ, 18.10.2019, S. 13.

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