Reformpädagogik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 03 Jul 2023 04:45:59 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Reformpädagogik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Lehrende und lernende Gehirne. Abgesang auf die Neuropädagogik, Teil 2 https://condorcet.ch/2023/07/lehrende-und-lernende-gehirne-abgesang-auf-die-neuropaedagogik-teil-2/ https://condorcet.ch/2023/07/lehrende-und-lernende-gehirne-abgesang-auf-die-neuropaedagogik-teil-2/#comments Sun, 02 Jul 2023 14:32:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=14452

Im 2. Teil seiner Trilogie (https://condorcet.ch/2023/06/lehrende-und-lernende-gehirne-abgesang-auf-die-neuropaedagogik-teil-1/) beschäftigt sich Condorcet-Autor Walter Herzog mit den Schlussfolgerungen der Hirnforscher bezüglich des Unterrichts. Er attestiert ihnen eine bemerkenswerte Anspruchslosigkeit, begleitet von Binsenwahrheiten. Ausserdem erkennt er in den Ratschlägen der Neuropädgogen eine erstaunliche Paradoxie.

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Der Adressat der Neuropädagogik

Verlassen wir das Thema Willensfreiheit. Erstaunlicherweise spielt das «neue Menschenbild» in der angeschwollenen neuropädagogischen Literatur sowieso eine geringe Rolle. Das zeigt sich etwa daran, dass der freie Wille im Buch, das der Hirnforscher Manfred Spitzer (2002) über das Lernen geschrieben hat, unerwähnt bleibt, obwohl sich der Autor eingehend mit Fragen der moralischen und Werteerziehung auseinandersetzt. Irgendwie scheint man zu ahnen, dass es misslingen könnte, mit der Pädagogik ins Gespräch zu kommen, wenn man leugnet, dass der Mensch – als Erziehender oder Zu-Erziehender – in seinem Entscheiden und Handeln frei ist.

Professor Walter Herzog:

Dass dies keine Fehleinschätzung ist, zeigen Beispiele von Abwehrreaktionen seitens der Pädagogik, wie etwa Johannes Giesinger (2006), der die personale Perspektive als die «der Pädagogik angemessene Perspektive» (S. 97) bezeichnet. Mit der personalen Perspektive sind Begriffe wie Handlungsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Willensfreiheit, Rationalität und Verantwortlichkeit verbunden. Keiner dieser Begriffe lässt sich Gehirnen zuordnen, weshalb Giesinger den platten Naturalismus der Neurowissenschaften aus pädagogischen Gründen zurückweist.

Von einem «neuen Menschenbild» ist in den pädagogischen Texten der Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler vermutlich auch deshalb nicht die Rede, weil sich philosophische Themen für einen öffentlichen Diskurs wenig eignen. Tatsächlich sind die Adressatinnen und Adressaten der pädagogisierenden Hirnforscherinnen und Hirnforscher (wie ich sie nennen möchte) nicht die für pädagogische Fragen zuständigen Wissenschaften, sondern in erster Linie die pädagogische Praxis. Ein Autor wie Manfred Spitzer zeigt kein Interesse an einem Diskurs mit Vertreterinnen und Vertretern der Erziehungswissenschaft oder der Pädagogischen Psychologie. Sein Publikum sind Angehörige pädagogischer Professionen wie Lehrerinnen und Lehrer, Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker sowie pädagogische Laien. Dementsprechend anspruchslos kommen die Texte der pädagogisierenden Hirnforscherinnen und Hirnforscher in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht oft daher.

Pädagogische Binsenwahrheiten

Beispielhaft zeigt dies ein Artikel, den Gerald Hüther (2004) in der Zeitschrift für Pädagogik, einem erziehungswissenschaftlichen Publikationsorgan, veröffentlichte. Darin äussert er sich zur Gestaltung pädagogischer Beziehungen, führt aber keinen einzigen Verweis auf erziehungswissenschaftliche oder pädagogisch-psychologische Literatur auf. Ähnliches gilt für einen Text von Gerhard Roth (2004b) in derselben Zeitschrift. «Pädagogik» umfasst für diese Autoren offenbar das, was man intuitiv über Erziehung, Schule und Unterricht weiss, was man aus eigener Erfahrung kennt und wofür man keine wissenschaftliche Fachliteratur konsultieren muss.

Insofern erstaunt nicht, wenn man zu lesen bekommt, dass die neurowissenschaftlich hergeleiteten pädagogischen Empfehlungen nicht wirklich neu sind. Nichts von dem, was er vortrage, versichert uns Gerhard Roth (2004b), sei «einem guten Pädagogen inhaltlich neu» (S. 496). Das ist ihm eine so wichtige Aussage, dass er sie dreimal unterstrichen haben will. Beansprucht werde lediglich eine neurowissenschaftliche Begründung für altbekannte pädagogische Weisheiten. Schon Jahre zuvor sprach der Neurologe Johannes Dichgans (1994) von der «Verwissenschaftlichung von [pädagogischen, W.H.] Binsenweisheiten» (S. 244) durch die moderne Hirnforschung. In kritischer Absicht beurteilt auch Matthias Huber (2015) die neurowissenschaftlichen Bildungsempfehlungen als «pädagogische Binsenweisheiten mit reformpädagogischer Konnotation» (S. 171).

Ein Autor wie Manfred Spitzer zeigt kein Interesse an einem Diskurs mit Vertreterinnen und Vertretern der Erziehungswissenschaft oder der Pädagogischen Psychologie. Sein Publikum sind Angehörige pädagogischer Professionen wie Lehrerinnen und Lehrer, Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker sowie pädagogische Laien. Dementsprechend anspruchslos kommen die Texte der pädagogisierenden Hirnforscherinnen und Hirnforscher in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht oft daher.

Je früher, desto besser?

Zu diesen Binsenweisheiten gehört der Satz «Je früher, desto besser.» Er findet sich wörtlich bei Wolf Singer (2003, S. 118). Dank der Hirnforschung scheint er wissenschaftliche Bestätigung erfahren zu haben. Als Sprichwort von Hans, der nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, taucht er in Publikationen von pädagogisierenden Hirnforscherinnen und Hirnforschern mehrfach auf. «In neurobiologischer Hinsicht», schreibt Manfred Spitzer (2002), sei «diese Volksweisheit längst eingeholt und auf vielfache Weise bestätigt» (S. 241).

Allerdings fragt sich, was die Neurobiologie auf so vielfache Weise bestätigt hat. Denn die Aussage ist so vage gehalten, dass man alles Beliebige und selbst das Gegenteil aus ihr herauslesen kann. Tatsächlich heisst es beim Neurobiologen Hans-Joachim Pflüger (2006), es sei davon auszugehen, «dass Menschen zeitlebens lernen können, wenn auch die Lernfähigkeit ab der Pubertät […] abnimmt und die Einspeicherung neuer Inhalte schwerer zu erfolgen scheint» (S. 46). Kann also Hans doch noch lernen, was Hänschen zu lernen verpasst hat?

Der Neuropsychologe Lutz Jäncke (2009) meint jedenfalls, dass man sich «von dem unsäglichen Begriff des ‹kritischen Zeitfensters› endlich lösen» (S. 42) sollte.

Neuropsychologe Lutz Jäncke: Kritische Zeitfenster gibt es nicht

Zahlreiche Studien zeigen, dass die Neuroplastizität des Gehirns keineswegs auf die Kindheit beschränkt ist. Brigitte Falkenburg (2012, S. 155) meint gar, das alte Sprichwort von Hans, der nicht mehr lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, gelte inzwischen als überholt. Eine scharfe Kritik am «Mythos der ersten drei Jahre» üben auch John Bruer (1997) und Jerome Kagan (2000). Umstritten ist selbst bei Hirnforscherinnen und Hirnforschern, wie weit die Konzepte der sensiblen bzw. kritischen Lernphasen und der kritischen Zeitfenster tragen, da sie kaum durch Erkenntnisse beim Menschen gestützt werden. Der Neuropsychologe Lutz Jäncke (2009) meint jedenfalls, dass man sich «von dem unsäglichen Begriff des ‹kritischen Zeitfensters› endlich lösen» (S. 42) sollte.

Binsenwahrheiten noch und noch

Es fällt nicht schwer, in der neurowissenschaftlichen Pädagogikliteratur weitere Binsenwahrheiten zu finden, wie zum Beispiel, dass Lernen kein passiver, sondern ein aktiver Vorgang ist, dass mehr lernt, wer es aufmerksam, motiviert und interessiert tut, wohingegen Angst und Stress die Lernleistung reduzieren, dass Kinder von Natur aus neugierig sind und lernen wollen, dass Belohnung befriedigend ist, Bestrafung und Deprivation dagegen vermieden werden sollten, dass gemeinsam lernen erfolgreicher ist als alleine lernen, dass das Vorwissen eine wesentliche Grundlage des Wissenserwerbs darstellt, dass Vertrauen ein bedeutsames Fundament von Erziehung ist, dass kein Kind gleich ist wie ein anderes, dass man auf die spontanen Fragen der Kinder eingehen soll etc. Wenn zutreffen sollte, dass diese und weitere Erkenntnisse «jedem guten Lehrer bekannt sind» (Roth, 2004b, S. 505), stellt sich die Frage, ob uns die Neurowissenschaften überhaupt etwas Belangvolles zu sagen haben.

Es fällt nicht schwer, in der neurowissenschaftlichen Pädagogikliteratur weitere Binsenwahrheiten zu finden, wie zum Beispiel, dass Lernen kein passiver, sondern ein aktiver Vorgang ist, dass mehr lernt, wer es aufmerksam, motiviert und interessiert tut, wohingegen Angst und Stress die Lernleistung reduzieren.

Manfred Spitzer ist ein deutscher Neurowissenschaftler, Psychiater und Autor: Ein Lehrer, der weiss, wie das Gehirn funktioniert lehrt besser.

Von einer Wissenschaft, die pädagogisch etwas bieten will, würde man erwarten, dass sie über die Verkündigung von Plattitüden hinausgeht. Doch präziser scheint es nicht zu gehen, weil die Distanz zwischen Gehirn und Unterricht viel zu gross ist. Das zeigt sich besonders anschaulich, wenn sich die Hirnforscherinnen und Hirnforscher nicht dem Lernen, sondern dem Lehren zuwenden. Allein schon die Annahme von Manfred Spitzer (2003), «ein Lehrer, der weiss, wie das Gehirn funktioniert», würde deshalb «besser lehren können» (S. 31), ist falsch. Denn das Lernen ist keine Prämisse, aus der sich das Lehren deduktiv herleiten liesse. Zwischen Lehren und Lernen besteht kein logisches, sondern ein empirisches (kontingentes) Verhältnis. Lehren kann stattfinden, ohne dass gelernt wird, und Lernen ist möglich, ohne dass gelehrt wird. Keine noch so gute Lerntheorie kann per se etwas zur Optimierung des Lehrens beitragen.

Auch was Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler über das Lehren sagen, folgt daher nicht aus ihrer Forschung, jedenfalls nicht in einem irgendwie gearteten direkten Sinn, sondern entspricht wiederum im Wesentlichen ihrer Alltagspädagogik. Dies wird nicht selten auch freimütig eingestanden. So wenn Manfred Spitzer (2002) im Vorwort zu seinem Lern-Buch schreibt, er habe, um manches allgemeine Prinzip zu erläutern, das er aus der Hirnforschung ableite, «auf eigene Erlebnisse zurückgegriffen» (S. XIV). Bestätigung scheinen die Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler vor allem für ihre eigenen Binsenweisheiten zu finden.

Schulkritik

Wie die Behavioristen sind die Hirnforscher besonders artikuliert, wenn es darum geht, Erziehung und Unterricht, Bildung und Schule zu kritisieren. Noch harmlos tönt der Satz von Spitzer (2002): «jeder lernt […] auf seine Weise» (S. 417). Schon dezidiert kritischer ist Wolf Singer (2003), wenn er schreibt: «Man müsste auf der Basis von Fakten eine radikale Änderung der Bildungspolitik durchsetzen. Die Fakten sagen klar, dass Menschenkinder unglaublich unterschiedlich geboren werden und mit ihren Fragen und Interessen einen enormen Raum überspannen, der abgedeckt werden muss. Ein Bildungssystem ist nur dann gerecht und effizient, wenn jeder entsprechend seinen sehr unterschiedlichen Anlagen möglichst optimale Antworten findet für das, was er fragt» (S. 117).

Ähnlich sprechen die Neurobiologin Anna Katharina Braun und ihre Mitautorin Michaela Meier (2004) von der Einzigartigkeit des Gehirns und leiten daraus ab, dass «der individuellen Entwicklung des einzelnen Kindes (und vor allem seines Gehirns!) mehr Rechnung getragen werden (muss)» (S. 518). Bei Gerhard Roth (2004b) kann man lesen, «dass der gute Lehrer eigentlich den Lern- und Gedächtnisstil eines jeden seiner Schüler genau kennen müsste, um seine Tätigkeit daran optimal anzupassen» (S. 502) – was, wie er ehrlicherweise zugibt, eine fast unlösbare Aufgabe darstellt.

Die Neurowissenschaften dienen zur Legitimation einer reformpädagogischen Schulkritik, deren Massstab einzig und allein im Individuum liegt.

Trotzdem ist genau dies die Stossrichtung der neurowissenschaftlichen Schulkritik, die genauso abgedroschen wirkt wie die pädagogischen Binsenweisheiten, die uns von den Vertreterinnen und Vertretern der Disziplin serviert werden. Ulrich Herrmann (2008), ein Erziehungswissenschaftler, der für die Erkenntnisse der Neurowissenschaften voller Begeisterung ist, schreibt, dass aufgrund der neurowissenschaftlichen Forschung jetzt schon offensichtlich sei, «dass die üblichen Strukturen und Prozesse schulischen Lernens und die dortigen Formen der Leistungserbringung und ‑bewertung allen [!] grundlegenden Einsichten der Neurowissenschaften widersprechen» (S. 48). Die Neurowissenschaften dienen zur Legitimation einer reformpädagogischen Schulkritik, deren Massstab einzig und allein im Individuum liegt.

Die unendliche Komplexität des Gehirns

Pikant ist allerdings, dass sich das Hohelied vom Individuum ausgerechnet auf dem Terrain der Hirnforschung nicht singen lässt. Als vor einigen Jahren mehrere deutsche Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler ein Manifest zur Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung veröffentlichten, waren höchst optimistische Töne zu vernehmen. So glaubte man, dass die Neurowissenschaften am Ende ihrer Bemühungen «sozusagen das kleine Einmaleins des Gehirns verstehen» (Das Manifest, 2004, S. 36) würden. Ausdrücklich war auch hier von einem «neuen Menschenbild» die Rede. Was unser Bild von uns selbst betreffe, würden uns in absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus stehen.

Zur Frage, was Hirnforscherinnen und Hirnforscher eines Tages wissen werden, war dann aber zu lesen, dass «eine vollständige Beschreibung des individuellen Gehirns und damit eine Vorhersage über das Verhalten einer bestimmten Person nur höchst eingeschränkt gelingen» (S. 36) werde. Flankierend zum Manifest schrieb der Neuropsychologe Frank Rösler (2004), dass selbst der akribischste Forscher eine Zustandsbeschreibung des Gehirns «in absehbarer Zeit nicht (wird) leisten können» (S. 32). Auch wenn das Gehirn deterministisch funktioniere, sei es «in seiner Komplexität niemals [!] vollständig beschreib- und verstehbar» (ebd.). Diesem Urteil hat sich Wolf Singer (2003) angeschlossen, indem er ebenso deutlich formuliert: «Wir werden nie [!] ein individuelles menschliches Gehirn in seiner spezifischen Funktion erfassen können, dafür ist es zu komplex und zu einmalig» (S. 95). Da das Gehirn auch ständig im Umbau begriffen ist, wäre selbst bei vollständiger Kenntnis seines aktuellen Zustands eine Prognose individuellen Verhaltens nicht möglich.

Ist es nicht überheblich, der Schule vorzuwerfen, sie würde dem individuellen Kind nicht gerecht, wenn man selber nicht in der Lage ist, das individuelle Gehirn zu verstehen?

Ist es nicht überheblich, der Schule vorzuwerfen, sie würde dem individuellen Kind nicht gerecht, wenn man selber nicht in der Lage ist, das individuelle Gehirn zu verstehen? Auch wenn der Unterricht in seiner Komplexität nicht an die Komplexität eines menschlichen Gehirns heranreichen mag, ist er immer noch komplex genug, um Lehrpersonen vor vergleichbare Probleme zu stellen wie die Hirnforscherinnen und Hirnforscher. Wobei Letztere aufgrund ihrer experimentellen Forschungsmethoden weit mehr Möglichkeiten haben, ihren Gegenstand zu kontrollieren als Lehrerinnen und Lehrer.

Der überzogene Individualismus, den die pädagogisierenden Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler an den Tag legen, hindert sie daran, sich ein angemessenes Bild von der Unterrichtsrealität zu machen.

Sozialität des Unterrichts

Der überzogene Individualismus, den die pädagogisierenden Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler an den Tag legen, hindert sie daran, sich ein angemessenes Bild von der Unterrichtsrealität zu machen. Forschungsobjekt der Neurowissenschaften sind Menschen «als isolierte zerebrale Subjekte in einem sozialen Vakuum», wie der Pharmakologe Felix Hasler (2012, S. 229) schreibt. Doch das Gegenüber von Lehrerinnen und Lehrern sind nicht individuelle Kinder, jedenfalls nicht nur und nicht in erster Linie, sondern Schulklassen, die sich zwar aus Individuen zusammensetzen, aber mehr als die Summe ihrer Teile bilden. Allen Forderungen nach vermehrter Individualisierung zum Trotz, beruht schulischer Unterricht auf einer sozialen Ordnung, zu deren Verständnis die Erkenntnisse der Hirnforschung wenig beitragen. Von den individuellen Gehirnen zu den sozialen Interaktionen in einer Schulklasse ist ein dermassen weiter Weg – zwar nicht in Metern gemessen, aber begrifflich und theoretisch –, dass schwer zu sehen ist, wie die Hirnforschung jemals in der Lage sein wird, der pädagogischen Schulpraxis behilflich zu sein.

Allen Forderungen nach vermehrter Individualisierung zum Trotz, beruht schulischer Unterricht auf einer sozialen Ordnung, zu deren Verständnis die Erkenntnisse der Hirnforschung wenig beitragen.

Geradezu absurd wäre es, die soziale Ordnung in einer Schulklasse aus den «Wechselwirkungen zwischen Gehirnen» (S. 12) hervorgehen zu lassen, wie eine Formulierung von Wolf Singer (2003) suggeriert. Die Absurdität wird umso deutlicher, wenn wir eine Bemerkung des Philosophen Holm Tetens (1994) aufgreifen, wonach «unsere Gehirne füreinander mit Blindheit geschlagen sind» (S. 48). In der Tat, ein Gehirn sieht nichts, hört nichts, schmeckt nichts, riecht nichts und hat auch keine Tastempfindungen – all dies sind Sinneswahrnehmungen, die wir nicht Gehirnen, sondern Menschen zuschreiben. Ohne die Körper der Menschen, in denen sie sich befinden, würden Gehirne nichts über die sie umgebende Welt erfahren, also auch nichts über andere Menschen, geschweige denn über andere Gehirne.

Lehrende und lernende Gehirne

Dass Lehrende und Lernende Gehirne haben, ohne die sie nicht miteinander kommunizieren können, Gehirne also eine notwendige Bedingung von Sozialität im schulischen Unterricht sind, steht ausser Zweifel. Dass Gehirne jedoch miteinander kommunizieren, so dass «Dialoge zwischen Gehirnen» (Singer, 2003, S. 58) stattfinden, muss als terminologischer Missgriff bezeichnet werden. Wie sollen denn Gehirne in direkten Kontakt zueinander treten?

Mittlerweile gibt es aber nicht nur Gehirne, die Dialoge führen, sondern auch Gehirne, die lernen, ja selbst solche, die lehren. Noch wissen wir zwar wenig über die lehrenden Gehirne, aber der Neurowissenschaftler Antonio Battro (2010) ist überzeugt, «dass das Klassenzimmer bald eine ausgewählte Umgebung sein wird, um das lehrende Gehirn in Interaktion mit dem lernenden Gehirn zu untersuchen» (S. 31 – meine Übersetzung). Es werde möglich sein, «den Dialog zwischen lehrenden und lernenden Gehirnen in verschiedenen Umgebungen und bei grossen Untersuchungsgruppen zu erforschen» (ebd.). Die vertraute Vorstellung, im Unterricht würden sich lehrende und lernende Personen begegnen, scheint ausgedient zu haben, denn in Wahrheit sind es interagierende Gehirne, die den Kern des pädagogischen Geschehens ausmachen.

Was wir – dank bildgebender Verfahren – zu sehen bekommen, sind keine Gedanken, sondern physische Ereignisse – Hirnströme oder Sauerstoffkonzentrationen –, die den Gedanken zwar zugrunde liegen, diese aber nicht ausmachen.

Selbst wenn zutrifft, was tatsächlich der Fall zu sein scheint, dass das Gehirn ein «Sozialorgan» (Hüther, 2004, S. 489) darstellt, «auf Sozialverhalten hin ausgerichtet (ist)» (Braun & Meier, 2004, S. 517) und «für die Gestaltung von sozialen Beziehungen optimiert» (Hüther, 2004, S. 489) wurde, erfahren wir durch den Blick ins Gehirn nicht, was Sozialität ist und wie sie realisiert wird. Wir können dem Gehirn noch so lange «beim Denken zuschauen», was wir – dank bildgebender Verfahren – zu sehen bekommen, sind keine Gedanken, sondern physische Ereignisse – Hirnströme oder Sauerstoffkonzentrationen –, die den Gedanken zwar zugrunde liegen, diese aber nicht ausmachen. Synaptische Verbindungen sind etwas gänzlich anderes als soziale Beziehungen. Folglich führen die Studien der Hirnforscherinnen und Hirnforscher auch nie so weit, dass sie den Austausch von Gedanken erklären könnten. «Wie genau wir uns das Gehirn auch anschauen – sei es durch ein Mikroskop, durch moderne bildgebende Geräte oder zukünftig vielleicht mit noch genaueren Verfahren – wir finden stets nur physikalische Objekte der üblichen Art: Neuronen und Synapsen, Neurotransmitter, Ionen, Elektronen und Protonen» (S. 6), versichert uns der Neuropsychologe Rainer Mausfeld (2007).

Die Paradoxie: Unweigerlich müssen Manfred Spitzer, Gerald Hüther, Hans-Joachim Pflüger, Wolf Singer, Gerhard Roth sowie ihre neuropädagogischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter an die Vernunft und die Verantwortung der Eltern und Lehrkräfte appellieren, an die sie sich wenden. Sie müssen Argumente verwenden, um zu überzeugen, womit ihre Gesprächspartner nicht Gehirne, sondern Personen sind.

Nicht Gehirne untersuchen Gehirne

Damit gerät die Hirnforschung in eine Paradoxie. Jedenfalls dann, wenn sie die Ergebnisse ihrer Forschung nicht für sich behalten, sondern weitergeben will. Denn ihre Botschaften müssen gelesen oder gehört werden, und sie müssen verstanden werden. Sie müssen kommuniziert werden und können nicht kausal in die Hirne der Pädagoginnen und Pädagogen injiziert werden. Noch sind wir längst nicht so weit, dass sich Wissen auf pharmakologischem Weg übertragen oder mittels Neurochips implantieren liesse. Unweigerlich müssen Manfred Spitzer, Gerald Hüther, Hans-Joachim Pflüger, Wolf Singer, Gerhard Roth sowie ihre neuropädagogischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter an die Vernunft und die Verantwortung der Eltern und Lehrkräfte appellieren, an die sie sich wenden. Sie müssen Argumente verwenden, um zu überzeugen, womit ihre Gesprächspartner nicht Gehirne, sondern Personen sind.

Das gilt auch innerwissenschaftlich. Wer ein Experiment plant, durchführt und auswertet, tut dies als Person und nicht als Gehirn. Wer die Ergebnisse seiner Forschung publiziert, auf einem Kongress vorstellt oder gegenüber Kritik verteidigt, tut dies ebenfalls als Person. Es ist schlicht verfehlt, wenn Wolf Singer (2002a) schreibt, bei der Erforschung des Gehirns würde «sich ein kognitives System im Spiegel seiner selbst» (S. 61) betrachten. Es würden also das Erklärende und das zu Erklärende ineinander verschmelzen. Gehirne werden in keiner Weise von Gehirnen erforscht, sondern von Menschen. Die Formulierung stellt nichts anderes als den Versuch dar, die erkenntnistheoretischen und methodologischen Schwierigkeiten der neurowissenschaftlichen Forschung durch Kurzschluss zweier sich ausschliessender Sprachspiele zu verschleiern.

Pädagogische Schizophrenie

Das Problem wird durchaus gesehen. Singer (2003) selbst spricht von der «Unvereinbarkeit verschiedener Beschreibungssysteme» (S. 25) und postuliert «zwei voneinander getrennte Erfahrungsbereiche […], in denen Wirklichkeiten dieser Welt zur Abbildung kommen» (S. 32). Zu unterscheiden seien die Dritte-Person-Perspektive, wie sie den Naturwissenschaften zugrunde liege, und die Erste-Person-Perspektive, wie sie im lebensweltlichen Alltag eingenommen werde.

In praktischer Hinsicht steht der Hirnforscher damit vor einem unlösbaren Konflikt: «Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien Willen oder die eigene Verantwortung finden – und dennoch gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben» (S. 12). Das ist ein weitgehendes Eingeständnis, denn hier geht es nicht mehr um eine allgemeine pädagogische Binsenwahrheit, sondern um die konkrete Erziehungspraxis von Wolf Singer – eine Erziehungspraxis, die Singer (2002b) als existentiell bedrohlich wahrnimmt, wie er in einem Interview eingesteht: «Für mich als Hirnforscher bedeutet das ein ständiges Problem: Ich lebe gewissermassen als dissoziierte Person» (S. 32).

Zurück beim alten Menschenbild?

Andere scheinen mit der Paradoxie zweier sich ausschliessender Beschreibungssysteme besser zurechtzukommen. Michael Pauen und Gerhard Roth (2008) beispielsweise akzeptieren die «Weltsicht der Gründe», wie sie der Ersten-Person-Perspektive innewohnt, und meinen, dass sich diese ohne Selbstwiderspruch gar nicht bestreiten lasse. «Wer behauptet, dass Menschen nicht nach Gründen zu handeln und sich nicht an Gründen zu orientieren vermögen, der muss seine Behauptung begründen. Damit handelt er so, als wären Menschen eben doch in der Lage, nach Gründen zu handeln und sich an Gründen zu orientieren» (S. 113). Dieser performative Widerspruch (wie er in der Philosophie genannt wird) ist Pauen und Roth Anlass genug, um die Fähigkeit, nach Gründen zu handeln und sich an Gründen zu orientieren, als konstitutives Merkmal von Personalität anzuerkennen. Sie halten es für abwegig, wenn gesagt wird, geistige Prozesse seien in Wirklichkeit nichts anderes als neuronale Aktivitäten. «Nein! Geistige Prozesse sind geistige Prozesse, doch sie sind, nach allem was wir wissen, neuronal realisiert» (S. 126). Die kausalen Prozesse im Gehirn würden lediglich die Bedingung dafür darstellen, dass wir uns frei fühlen und in unserem Handeln von Gründen leiten lassen.

Sind wir damit wieder bei unserem alten Menschenbild? Tatsächlich will uns Pauen (2007) genau dies glauben machen. Die Rede von einem «neuen Menschenbild» sei verfehlt, da sich nicht das Menschenbild, sondern lediglich dessen Erklärung verändert habe. Es sei falsch, wenn die Neurowissenschaften von einem «neuen Menschenbild» sprechen, denn dieses existiere gar nicht! Es gebe nur ein Menschenbild, und dieses sei das alte, für das die Neurowissenschaften allerdings eine neue Erklärung geben. Kern des alten Menschenbildes bilden «das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein sowie die Fähigkeit, frei und verantwortlich zu handeln und sich dabei von Gründen leiten zu lassen» (S. 21). In unserem Alltag würden wir seit vielen tausend Jahren von diesem Menschenbild bestimmt.

Verbesserung der pädagogischen Praxis

Das ist allerdings etwas viel an Beschwichtigung. Die Neurowissenschaften wollen doch nicht alles beim Alten lassen und uns nur neue Erklärungen für längst Bekanntes geben. Wenn Wolf Singer (2002b) von «einem Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde» (S. 33) spricht, dann hat er nicht eine abgehobene theoretische Frage im Sinn. Und wenn uns Gerhard Roth (2009) die Botschaft übermittelt, dass wir «unser Gedächtnis nicht im eigentlichen Sinne verbessern (können)» (S. 105), dann macht auch er keine Aussage, die lediglich von theoretischem Interesse wäre. Den Nutzen der Hirnforschung darauf zu beschränken, dass sie uns bessere Erklärungen dafür liefert, was wir immer schon wussten, unterbietet die praktischen Ambitionen, die von dieser Disziplin ausgehen.

Das zeigen die Texte der pädagogisierenden Hirnforscherinnen und Hirnforscher unübersehbar. Es sind nicht akademische Fragen der Bildungsphilosophie oder ungelöste Probleme der pädagogischen Theorie, die hier abgehandelt werden, sondern praktische Fragen zur Verbesserung von Erziehung und Unterricht. Im Kern beansprucht die Neuropädagogik, wie es in einem Beitrag von Jeffrey Bowers (2016) heisst, «dass durch neue Erkenntnisse über das Gehirn der Unterricht verbessert werden kann» (S. 600 – eigene Übersetzung). In einer systematischen Analyse von Fachzeitschriften, die im Zeitraum von 1985 bis 2017 erschienen sind, zeigen Jacob Feiler und Maureen Stabio (2018), dass in den Artikeln, die sich zur Definition, zu den Zielen oder zum Leitbild der Neuropädagogik äussern, die Anwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zur Verbesserung der pädagogischen Praxis – neben Interdisziplinarität und interdisziplinärem Austausch – ein Hauptkriterien zur Identifizierung der Disziplin bildet.

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UWC – Das grosse Interview: Empathie für das Menschliche https://condorcet.ch/2021/10/uwc-das-grosse-interview-empathie-fuer-das-menschliche/ https://condorcet.ch/2021/10/uwc-das-grosse-interview-empathie-fuer-das-menschliche/#respond Mon, 04 Oct 2021 13:17:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=9418

Nachdem Jürgen Capitain im vorangehenden Beitrag die Idee des UWC vorgestellt hat, stellt Condorcet-Autor Alain Pichard den beiden National Commitee-Mitgliedern Marie Caffari und Jürgen Capitain kritische Nachfragen. Natürlich geht es dabei auch um die Bildungsqualität, die Finanzen und die Gefahren einer Ideologisierung. Herausgekommen ist ein spannendes und sehr persönliches Interview, bei dessen Lektüre wir Ihnen viel Spass und einen Erkenntnisgewinn wünschen.

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Prof. Dr. Marie Caffari, Leiterin Schweiz. Literaturinstitut, Mitglied des National Committee Switzerland: Die finanziellen Mittel sind nicht das Auswahlkriterium, wir interessieren uns für das Potential.

Liebe Marie, lieber Jürgen, ihr beide seid seit Jahren für die Idee des UWC engagiert. Könnt ihr mir erzählen, wie ihr zu dieser Institution gekommen seid. Oder anders gefragt, wann entstand diese Liebesgeschichte?

Marie Caffari

Bei mir geschah es 1983 durch die Begegnung mit einem ehemaligen Schüler des Atlantic-College, der zu uns in die Schule kam. Ich war damals eine nicht ganz 16 Jahre alte Schülerin einer Sekundarschule in Lausanne. Die Schule war sehr gut. Aber mir fehlte etwas. Und so ging ich mit einer Broschüre zu meiner Mutter und sagte ihr: In diese Schule möchte ich gehen.

Was genau fehlte dir?

Marie Caffari:

Mich sprach dieser pädagogische Spirit an, der stark auf Eigeninitiative und Kreativität setzte.

Wie reagierte deine Mutter?

Marie Caffari:

Sie zeigte grosses Verständnis. Ich muss noch nachschieben, dass in unserer Familie die öffentliche Bildung eine unbestrittene Stellung hatte. Also, die Idee, eine Privatschule zu besuchen, war bis dahin überhaupt nicht im Fokus.

Jürgen Capitain,  pensionierter Gymnasiallehrer und emeritierter Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, wohnhat in Magglingen bei Biel, Mitglied der National Association des UWC Switzerland: Die Begeisterung für die Ideen der UWC-Bewegung faszinierte mich.

Jürgen Capitain

Ich bin eher zufällig auf UWC aufmerksam geworden. Eine exzellente Schülerin, die sich in meinem Unterricht auf die Cambridge-Prüfungen CAE und Proficiency vorbereitete, erzählte mir von ihrem Wunsch, an einem UWC studieren zu können. Ihre Begeisterung für die Ideen der UWC-Bewegung faszinierte mich und ich erkundigte mich genauer über die Geschichte der UWCs. Für ihr Dossier zur Anmeldung an das Aufnahmeverfahren schrieb ich der Schülerin eine sehr positive Referenz. Der für das Aufnahmeverfahren zuständige Vizepräsident der UWC Swiss Association war mir bereits bekannt (ohne dass ich von seinem Einsatz für UWC wusste), da wir beide am Sekundarlehramt der Universität Zürich eine Anstellung hatten. Nachdem er meine Referenz gelesen hatte, fragte er mich, ob ich bereit sei, das Vizepräsidium der UWC Swiss Association zu übernehmen, da er als damaliger Rektor des Literargymnasiums Rämibühl in Zürich zeitlich sehr belastet war. Mein Interesse war geweckt, und an der nächsten Mitgliederversammlung, es muss etwa 2009 gewesen sein, wurde ich in den Vorstand der UWC Swiss Association gewählt. Seither bin ich verantwortlich für das Aufnahmeverfahren.

 Jetzt seid ihr quasi Botschafter der UWC in der Schweiz. Du, Marie, bist Präsidentin der UWC Swiss Association und du, Jürgen, bist deren Vizepräsident. In dieser Funktion geht ihr auch an die Schulen und macht Werbung für die UWC-Colleges. Und ihr seid auch um die Auswahl der neuen Studentinnen besorgt. Zeitlich ist das ein grosses Engagement.

Marie Caffari

Ich besuchte das Atlantic-College in Wales. Nachdem ich dort das IB (International Baccalaureat) bestanden hatte, kehrte ich in die Schweiz zurück. Das war nicht einfach. Man fühlte sich zwei Jahre lang einer grossen Familie zugehörig und erlebte eine intensive Zeit. Deshalb suchte ich mir den Kontakt mit ehemaligen Absolventen der UWC-Ausbildung. Wir organisierten Skilager für UWC-Schüler und gemeinsame Anlässe. Die ältesten Alumni sind heute bereits über 60, die jüngsten 20. Die Gründergeneration der Vereinigung der UWC in der Schweiz ist älter als die Eltern der Schülerinnen und Schüler, die an ein UWC in den 70er und 80er Jahren gingen.

Jürgen Capitain

Wie bereits gesagt, hat die Begeisterung einer Schülerin für ein Studium an einem UWC mein Interesse an dieser Institution geweckt. Sie studierte anschliessend am Atlantic College und so erhielt ich auch aus erster Hand Informationen über das Leben an einem UWC. Und ja, ich setze durchaus in den Monaten vor Ablauf der Anmeldefrist Zeit ein, um Werbung für ein Studium an einem UWC zu machen.

Das Atlantic-College in Wales: Grossbritannien hat eine grosse Tradition der Internate.

Immer wieder ist die Rede vom Atlantic-College. Dabei sind es heute ja weltweit deren 18 Colleges. Ist das Atlantic-College eine besondere Schule?

Jürgen Capitain

Sie ist die älteste, gegründet 1962. Und lange Zeit, bis zur Gründung des Lester Pearson College in Kanada im Jahr 1974, war sie auch die einzige. Es ist übrigens kein Zufall, dass dieses Atlantic-College in Grossbritannien gegründet wurde, wo hervorragende, ausgesprochen leistungsorientierte Privatschulen eine grosse Tradition haben. Das färbte ab.

Aber über den Zugang zu diesen Privatschulen entscheidet oft das Portemonnaie der Eltern bzw. die soziale Herkunft. Wie wollt ihr denn unsere Leserschaft davon überzeugen, dass das UWC nicht eine Privatschule für eine Elite ist?

Jürgen Capitain

Das ist eben der grosse Unterschied zu den herkömmlichen Privatschulen in Grossbritannien. Im UWC bestimmen National Committees über die Auswahl an Studenten und Studentinnen. Und die finanziellen Mittel der Eltern sind kein Auswahlkriterium, sondern das Potential, das die Kandidaten und Kandidatinnen mitbringen.

Darüber hinaus sind wir aber an jungen Menschen interessiert, die sich einbringen, die eine Botschaft in sich tragen, die Potential haben, aktiv zu werden, sich für eine Sache zu engagieren.

Marie Caffari

Natürlich müssen sie intellektuell in der Lage sein, ein IB zu schaffen. Darüber hinaus sind wir aber an jungen Menschen interessiert, die sich einbringen, die eine Botschaft in sich tragen, die Potential haben, aktiv zu werden, sich für eine Sache zu engagieren.

Da stelle ich mir die Auswahl eher schwierig vor.

Jürgen Capitain

Das Potential der Kandidatinnen und Kandidaten kann man in der Tat nicht so objektiv messen wie die Leistungen z.B. im Fach Mathematik. Aber man entwickelt mit der Zeit ein Gespür für die richtigen Leute. Ausserdem erhalten wir vorab Informationen über die Anwärter. Sie müssen in ihrer Anmeldung Texte über ihre Interessen und Aktivitäten, auch über Personen, die sie beeinflusst haben, schreiben.

Marie Caffari

Dort sehen wir auch, inwiefern sich diese jungen Menschen schon irgendwo eingebracht haben, ob sie kreativ sind, zum Beispiel im Bereich Theater oder Schreiben oder Musik, und ob sie sich sozial engagieren. Es ist uns wichtig, dass diese zukünftigen UWC-Studentinnen und Studenten Verantwortung übernehmen können.

Das UWC-College in Freiburg (D) wird von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt.

Diese Ausbildung kostet allerdings sehr viel Geld. Wer bezahlt das?

Jürgen Capitain

Das UWC hat Donatoren, z.B. Stiftungen. Mit den uns zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln unterstützen wir die von uns gewählten Schüler und übernehmen bis zu 100% der Studienkosten. Hinzu kommt, dass viele der Colleges selbst auch Stipendien vergeben. Das UWC Robert Bosch in Freiburg (Deutschland) zum Beispiel wird durch die Robert-Bosch-Stiftung unterstützt, die alleine jährlich 50 solcher Stipendien für Schüler aus einkommensschwachen Familien, vor allem aus armen Ländern, garantiert.

Daneben gibt es aber auch Kinder aus sehr reichen Familien.

Lester B. Pearson, 1897 – 1972, kanadischer Premierminister und Nobelpreisträger, Gründer des Pearson-College in Kanada: Wir wollen eine Durchmischung.

Jürgen Capitain

Das stimmt zwar, aber im Gegensatz zu ‚normalen’ Privatschulen sind sie nicht zahlreich vertreten. Lester B. Pearson, kanadischer Friedensnobelpreisträger, ehemaliger Premierminister von Kanada, der von der UWC Bewegung vollkommen, betonte die Wichtigkeit, dass Kinder aus reichen Familien mit ärmeren zusammen studieren. Ihm war die soziale Durchmischung der Colleges ähnlich wichtig wie die Internationalität. Nach ihm sollten das Streben nach Frieden, der bewusste Umgang mit der Natur, internationale Verständigung und natürlich auch Toleranz nicht nur abstrakte Begriffe bleiben, sondern im täglichen Leben erfahren werden. Nebenbei, Prinz Charles, bekannt für seinen Einsatz für ökologische Themen, hatte lange, von 1978 bis 1995, das Präsidium des UWC International inne. Sehr viel nachhaltiger allerdings ist die Erinnerung an Nelson Mandela, den südafrikanischen Freiheitskämpfer, der erfolgreich gegen die Rassentrennung, die Apartheid, in Südafrika kämpfte, der von 1995 bis 1999 gemeinsam mit Queen Nuur von Jordanien die UWC-Bewegung präsidierte und nach 1999 Ehrenpräsident von UWC wurde. Von ihm stammt ein Satz, der geradezu als Wahlspruch von UWC angesehen werden könnte: „Education is the most powerful weapon which you can choose to change the world.“

Marie Caffari

Die UWC ermöglichen auch Jugendlichen aus Flüchtlingslagern eine Ausbildung. Dort entscheidet das international Commitee über die Aufnahme. Nicht zu vergessen die Kinder von Diplomaten und ‘Expatriates’, die immer wieder den Wohnort wechseln müssen. Auch hier bietet das UWC begabten und talentierten Kindern ein innovatives und stabiles Lernumfeld.

Die Wichtigkeit internationaler Begegnungen wurde schon von De Gaule und Adenauer erkannt.

Der internationale Charakter ist ja euer Markenzeichen. Was bezweckt ihr damit?

Jürgen Capitain

Das erste UWC wurde 1962 gegründet, in einer Zeit, in der Adenauer und De Gaule erkannten, dass die Versöhnung der einst verfeindeten Nationen unter anderem durch einen Austausch der Jugendlichen zu erfolgen habe. Das war auch der Gedanke bei der Gründung des UWC. Man hat hier die Möglichkeit, zwei Jahre lang mit vielen Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen zusammen zu leben und zu lernen.

Marie Caffari

So lernen auch Jugendliche aus verfeindeten Nationen durch ihr Zusammenleben Respekt füreinander. In einer UWC kommt es vor, dass jüdische Studierende mit Studierenden arabischer Herkunft, Pakistani mit indischen Studierenden sich treffen, Aktivitäten und Häuser teilen müssen.

Der Verständnisgedanke ist allgegenwärtig, das ist offensichtlich. In eurer Broschüre lese ich auch noch den Satz: «Möchtest du mit Gleichaltrigen die Welt verbessern?» Das tönt stark nach Programmatik oder anders gefragt: Gibt es bei euch einen ideologischen Unterricht?

Es geht um Werte, klar, aber nicht um Ideoogien.

Marie Caffari

Man kann das UWC als eine idealistische Schule betrachten, in der es um Werte geht. Gegenseitiger Respekt, gegenseitiges Verständnis, einander Zuhören. Das wird aber nicht im Unterricht gepredigt, sondern im Alltag praktiziert. Die vorher erwähnte Zusammensetzung der Schülerschaft fördert die Fähigkeit, andere zu verstehen. Sie müssen einander zuhören, denn sie arbeiten ja nicht nur zusammen, sie leben zusammen und entwickeln gemeinsame Projekte. Wenn eine nordirische Kommilitonin mit einer Studentin aus Singapur in einem Zimmer lebt, hat es kaum Platz für ideologische Streitgespräche. Man muss lernen zuzuhören, entwickelt von selbst einen kritischen Blick auf die Welt und beginnt eigene Positionen zu hinterfragen. Das ist in unserer heutigen Situation hochaktuell. Der Unterricht selbst ist nicht ideologisch geprägt, er setzt auf Mündigkeit.

Die Schüler wissen, dass sie hart arbeiten müssen. Denn nur gute IB-Abschlüsse garantieren ihnen, dass sie danach an eine Uni gehen können und dort auch noch Stipendien bekommen.

Bei allem Respekt für diese Werte, die Collegeabgänger müssen ja auch noch ein IB bestehen und danach studierfähig sein.

Jürgen Capitain

So ist es, und die Schüler wissen, dass sie hart arbeiten müssen. Denn nur gute IB-Abschlüsse garantieren ihnen, dass sie danach an eine Uni gehen können und dort auch noch Stipendien bekommen. Gute Abschlussnoten sorgen also für Studienplätze plus Stipendien. Vor allem in den USA. Die Leistungsbereitschaft ist entsprechend hoch, ebenso wie das Unterrichtsniveau.

UWC-Abgänger schliessen mit dem international anerkannten IB (International Baccalaureate) ab, der ihnen den Zugang zu Universitäten weltweit ermöglicht.

Wie steht das IB im Vergleich zur schweizerischen Maturität da?

Jürgen Capitain

Das IB ist zentralisiert und die Prüfungsresultate werden von Lehrern korrigiert, die die Schüler nicht kennen, deren Prüfungen sie korrigieren. Es gibt weniger Fächer, aber diese werden mit mehr Tiefgang unterrichtet. Das IB stellt z.T. andere Ansprüche, es ist anders als die Maturität, aber ebenso wie diese sehr anspruchsvoll. Der schweizerische Maturitätsabschluss ist nach wie vor hervorragend und vermutlich um einiges besser als die gymnasialen Abschlussprüfungen z.B. in Deutschland oder Frankreich. Gesamthaft kann man sagen, die beiden Abschlüsse sind gleichwertig und breit anerkannt.

Starke Verbindung zwischen Lehrpersonen und Studenten.

Bei meinem Besuch im UWC-Freiburg fiel mir die grosse Nähe und herzliche Verbindung zwischen Schülern und Lehrerschaft auf. Hand aufs Herz, kann da noch ein forderndes Lernumfeld entstehen?

Marie Caffari

Ja, die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist natürlich ein wichtiger Gelingensfaktor. Und die Lehrer im UWC sind enorm engagiert. Sie leben ja auch mit den Schülern auf dem Campus. Es ist manchmal fast ein 24-Stunden-Betrieb. Aber das will nicht heissen, dass es nicht auch zu klaren Ansagen kommen kann. Die UWC haben fachlich gute Lehrkräfte, die viel verlangen, die auch viel verlangen müssen.

Jürgen Capitain

Das UWC Freiburg war eine neu gegründete Schule, da war am Anfang viel Begeisterung und Pioniergeist vorhanden. Im Gründungsjahrgang hätte man durchaus den Eindruck gewinnen können, dass hier “Friede, Freude, Eierkuchen” herrschen. Aber dieser Eindruck täuscht. Der Direktor formuliert zwischendurch deutliche Kritik, wenn es nötig ist. Und wie gesagt: Die Wahrheit kommt spätestens beim IB ans Licht.

In unseren Staatsschulen weht zurzeit ein stark ökonomisch geprägter Reformgeist. Bologna, Kompetenzorientierung, Outputorientierung, Digitalisierung, von aussen gesteuerter Unterricht, die Lehrperson als Coach… usw. Wie positioniert sich das UWC in dieser heftig geführten Debatte.

Marie Caffari

Du kannst dir natürlich vorstellen, dass angesichts unserer hier gelebten Werte der Interaktion eine starke Bedeutung zukommt. Wir haben ein hohes Mass an Mitbestimmung der Schüler, heftige Diskussionen, viele Projekte, die von Schülern entwickelt werden. Der Anteil an Kreativität und Hingabe ist immens. Das kann mit einem digitalisierten Unterricht nicht erreicht werden. Natürlich sind wir auch froh über die Digitalisierung und der Einsatz der Computer ist für uns unverzichtbar. Aber wir können es uns nicht leisten, unseren Unterricht an Algorithmen zu delegieren. Es wäre pervers, diese komplexen Lernvorgänge auf das Abhaken von Kompetenzen zu reduzieren. Im UWC spürt man immer die Empathie für das Menschliche.

Liebe Marie, lieber Jürgen, ich danke euch für das Gespräch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Replik: Das immer wiederkehrende Lamento über die Schule https://condorcet.ch/2021/07/replik-das-immer-wiederkehrende-lamento-ueber-die-schule/ https://condorcet.ch/2021/07/replik-das-immer-wiederkehrende-lamento-ueber-die-schule/#comments Wed, 07 Jul 2021 08:59:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=8837

Condorcet-Autor Felix Schmutz ist mit dem Beitrag von Bernhard Bonjour (https://condorcet.ch/2021/06/die-dystopie-der-kontrollgesellschaft-realitaet-in-der-schule/) nicht einverstanden und reiht ihn ein in eine ganze Reihe von schulkritischen Modebüchern. Er plädiert dagegen für mehr Realismus in der Bildung, um ein "Sowohl-als-auch".

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Felix Schmutz, BL:
Forschungen werden simplifiziert dargestellt.

In Bonjours Rezension kommt er wieder einmal zum Vorschein: der unüberbrückbare Graben zwischen der Pädagogik der freien Entfaltung und der auf Leistung getrimmten Normierungspädagogik. Auf der einen Seite die notenfreie, individualisierte, vom Kind her gedachte, kreativitätsfördernde, eine positive Stimmung induzierende Reformschule, auf der andern Seite die outputorientierte, auf Leistungsmessung ausgerichtete, an Kompetenzforderungen gebundene, von wirtschaftlicher Nützlichkeit dominierte Zwangs- und Paukschule des Staates.

Die Verfahren, die den Mess- und Kontrollwahn erst möglich machen, wurden von demselben Wissenschaftszweig entwickelt, der den Schulen nun den Spiegel des einseitigen Leistungsdrills vorhält.

Wenn Bonjour den Kinderpsychiater Bonney als Gewährsmann für die notwendige Korrektur einer dem Messwahn verfallenen Pädagogik anführt, entbehrt dies nicht einer gewissen Ironie: Denn ausgerechnet der Psychologie verdanken wir die Messverfahren zur Eruierung der kognitiven Leistungsfähigkeit, die Messung der Intelligenz mit dem IQ, die Bestimmung der schulischen Kompetenz mit PISA, die standardisierten Tests der Testinstitute, die Ausrichtung der Lehrpläne auf messbare Resultate, die statistisch basierten Ländervergleiche der Schulen. Die Verfahren, die den Mess- und Kontrollwahn erst möglich machen, wurden von demselben Wissenschaftszweig entwickelt, der den Schulen nun den Spiegel des einseitigen Leistungsdrills vorhält und sie als eine Maschinerie sieht, die Lernende ins schulische Unglück stürzt.

Bonjour zitiert die oft gehörte Feststellung, dass «Denken und Lernen eng verbunden sind mit Emotionen». Oft werden die Forschungen zum Thema «Emotion und Lernen» in pädagogischen Schriften simplifizierend zum Dogma verkürzt: «Positive Gefühle führen zu besserem Lernen». Tatsächlich sind die Forschungsresultate wesentlich komplexer und differenzierter, wie ein Blick in die Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005) zeigt.1

Emotionen sind ein Einflussfaktor unter vielen im schulischen Lernen.

Bernhard Bonjour, Lehrer an der Schule für Offenes Lernen Liestal, SP-Mitglied und Verteter im Einwohnerrat Liestal.

Aus den Artikeln von Andreas Krapp und Tina Hascher geht hervor, dass Emotionen als ein Einflussfaktor unter vielen im schulischen Lernen zu sehen sind, dass es ausserordentlich schwierig ist, den Anteil der Emotionen am Gelingen des Lernprozesses im Zusammenspiel der andern Variablen (Motivation, Begabung, Lerngegenstand, äussere Lernbedingungen, etc.) wissenschaftlich sauber zu isolieren, um sichere Erkenntnisse zu erhalten, die auch ausserhalb der Laborsituation im Klassenzimmer gültig sind. Pikanterweise haben auch negative Emotionen positive Effekte: «Während negative Gefühle analytisches Denken fördern, erleichtern positive Affekte die Anwendung intuitiv-holistischer Denkmuster».Kommt hinzu, dass von Lehrpersonen induzierte positive Stimmungen jeweils nur bis 20 Minuten Wirkung zeigen und dann abflachen.

Die Liste von Werken, welche die Schule kritisieren, Reformprojekte propagieren und in die sich das Buch Bonneys einreihen lässt, ist lange und wirft auch Schatten. Um nur einige zu nennen:

Alexander S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill (1969). (Das demokratische Schulexperiment, viel diskutiert und umstritten),

Jürg Jegge (1976): Dummheit ist lernbar (Buch mit Kultstatus über «aussortierte Jugendliche» und erst zurückgezogen, als Jegge des sexuellen Missbrauchs bezichtigt wurde),

Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken (1993) (Als Vorzeigeprojekt die Odenwaldschule, die später als Kinderschänderinstitut entlarvt wurde),

Remo Largo Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken. (2010) (Die Sicht des Kinderarztes)

Richard David Precht (2013): Anna, die Schule und der liebe Gott (Pauschale Abrechnung mit der traditionellen Schulform als nicht kindergerecht).

Zu dieser Realität gehören freie Entfaltungsmöglichkeiten ebenso wie auferlegte Leistungsanforderungen. Die Schule muss deshalb gleichzeitig fördern und fordern.

Lange Liste von Werken, welche die Schule kritisieren.

Tatsache ist, dass Kinder und Jugendliche nun einmal im hier und jetzt, in einer gegebenen Realität leben und darauf vorbereitet werden müssen. Zu dieser Realität gehören freie Entfaltungsmöglichkeiten ebenso wie auferlegte Leistungsanforderungen. Die Schule muss deshalb gleichzeitig fördern und fordern. Sie bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen individueller Zuwendung und vorgeschriebenem Anpassungsdruck, einem Sowohl als Auch, was einer Gratwanderung entspricht, die nie ganz widerspruchsfrei ist. Insbesondere ist die Aufgabe, allen Individuen, auch denjenigen mit psychisch-sozialen Auffälligkeiten stets ausnahmslos gerecht zu werden, eine grosse Herausforderung. Die Reformer hingegen leisten sich das Privileg, den Aspekt der Anpassung an gesellschaftliche Zwänge eher auszublenden und sich auf eine bestimmte Klientel speziell auszurichten.

Die Reformer hingegen leisten sich das Privileg, den Aspekt der Anpassung an gesellschaftliche Zwänge eher auszublenden und sich auf eine bestimmte Klientel speziell auszurichten.

Der erwähnte Graben zwischen Reformpädagogik und staatlicher Schulrealität findet sich wieder in der Bildungspolitik. Linksliberale Kreise stehen der Standardisierung und Kompetenzorientierung kritisch gegenüber, sie befürworten eine breite Bildung mit dem Ziel eines offenen, autonomen Persönlichkeitsideals, die finanziellen Mittel werden als Fördermittel gesehen (Fördermassnahmen, Fächerangebote, bauliche Verbesserungen, Betreuungsdienste). Bürgerliche Kreise wollen eine Schule, die auf berufliche Nützlichkeit ausgerichtet ist, die finanziellen Mittel sollen an die erfolgversprechenden Massnahmen gekoppelt werden (Digitalisierung, regelmässige Tests, Lehrerfortbildung, Verpflichtung der Lehrpersonen auf eng gesteckte Ziele).

Die gegensätzlichen Lager treffen sich jedoch in einem Punkt: dem Leiden an und der Unzufriedenheit mit dem schulischen Mainstream. Sie sind sich auch einig darin, dass nur Innovation und Qualitätsnachbesserung Abhilfe schaffen können. Der Graben zeigt sich erst wieder, wenn es um die konkreten Massnahmen geht, die ergriffen werden müssten: Standardvorgaben oder inhaltliche Freiheit? Konzentration auf nützliche Inhalte oder breites Angebot mit Freiräumen? Leistungskurse oder Alters- und Niveaudurchmischung? Frontalunterricht oder Lernateliers? etc.

Bonjours Rezension mündet nicht überraschend in die Forderung, den Eltern bei der Schulwahl mehr finanzielle Freiheit zu lassen, damit private Schulprojekte, und damit auch seine eigene Privatschule, breiteren Bevölkerungskreisen offenstehen.

1 Krapp, Andreas Emotion und Lernen – Beiträge der Pädagogischen Psychologie. Einführung inden ThementeilZeitschrift für Pädagogik 51 (2005) 5, S. 603-609urn:nbn:de:0111-opus-47707

2 Hascher, Tina Emotionen im Schulalltag: Wirkungen und RegulationsformenZeitschrift für Pädagogik 51 (2005) 5, S. 610-625urn:nbn:de:0111-opus-47719

 

 

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Die Wiener Schulreform 1920: erstaunlich modern und dennoch mit Augenmass https://condorcet.ch/2020/02/die-wiener-schulreform-1920-erstaunlich-modern-und-dennoch-mit-augenmass/ https://condorcet.ch/2020/02/die-wiener-schulreform-1920-erstaunlich-modern-und-dennoch-mit-augenmass/#comments Fri, 21 Feb 2020 12:00:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=4059

Die Schulreform im Roten Wien (1919 bis 1934) bleibt in ihrer Art und als staatliches Modell bis heute unerreicht und vorbildhaft. So schrieb die NZZ zum diesjährigen 150. Geburtstag von Alfred Adler, dem individualpsychologischen Mentor der Wiener Schulreform: „Von diesem Psychologen wäre heute viel zu lernen“. Dieser meinung ist auch Peter Aebersold, der dieses bei uns eher unbekannte Projekt den Condorcet-Leserinnen und -Lesern vorstellt.

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1918 brach der Vielvölkerstaat auseinander

Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn und seine Hauptstadt Wien wiesen schon damals multikulturelle Verhältnisse auf, wie wir sie heute in ganz Europa kennen. Österreich kannte seit dem Reichsschulgesetz von 1869 ein vergleichsweise modernes, gegliedertes Schulwesen (achtjährige Schulpflicht), die höhere Bildung (Mittelschulen) blieb jedoch den gehobenen gesellschaftlichen Schichten vorbehalten.

Die junge Demokratie braucht gebildete Bürger

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs initiierte die Sozialdemokratie im „Roten Wien“ neben anderen Reformprojekten auch die Wiener Schulreform. Dabei kam ihr der Umstand zugute, dass das damalige Wien mit Freud und Adler eine Hochburg der neuen Entwicklungen der Tiefenpsychologie war, deren Erkenntnisse nun allmählich in der Volksschule pädagogisch umgesetzt wurden. Die Schulreform wurde auch von gemeinnützigen Vereinen wie den österreichischen Kinderfreunden (Schönbrunner Erzieherschule) und dem Verein für Individualpsychologie (28 Erziehungsberatungsstellen) unterstützt, die Kinderferien, Lehrer- und Elternbildungsstätten usw. organisierten und betrieben.

Abschaffung der alten Zöpfe

Die Wiener Schulreform fand unter dem geschäftsführenden Präsidenten des Stadtschulrates, dem Sozialdemokraten, Reformpädagogen und österreichischen Unterrichtsminister Otto Glöckel statt. Glöckels Reformabteilung u.a. mit Carl Furtmüller arbeitete daran, entgegen dem früheren autoritären Prinzip, die Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen. Sie sollten zur Kritikfähigkeit und selbständigem Handeln angeleitet werden. Glöckel war ein Verfechter der Gesamtschule und Gegner von Bildungsprivilegien sowie Kämpfer gegen die kirchliche Vormachtstellung in den öffentlichen Schulen. Das Reformprogramm umfasste u.a. die Unentgeltlichkeit von Unterricht und Lehrmittel, die Begrenzung der Schülerzahl auf 30 Schüler pro Klasse, eine gründliche Lehrerbildung und demokratisch zusammengesetzte Schulbehörden.

Die methodischen Neuerungen wurden von einem Grossteil der österreichischen Lehrerschaft mitgetragen, obwohl die Mehrheit nicht sozialdemokratisch ausgerichtet war. Die Lehrer nahmen in breiter Front, meist unbeeinflusst von parteipolitischen Überlegungen, die Reformarbeit auf. Sie hatten in den provisorischen Lehrerkammern eine beratende Funktion und die Einsetzung von pädagogischen Arbeitsgemeinschaften und Bezirkslehrerkonferenzen ermöglichte ein differenziertes Zusammenwirken zwischen Unterrichtsverwaltung und Lehrerschaft. „Die Schulstadt Wien“ profitierte auch davon, dass wegen dem fehlenden Bildungsartikel in der neuen, demokratischen Verfassung über sämtliche Reformen im Konsens abgestimmt werden musste.

Verbindung von Reformpädagogik und individualpsychologischer Pädagogik

Erste Versuche erfolgten auf privater Initiative in den von Lehrkräften des individualpsychologischen Arbeitskreises unterrichteten Klassen. Ab 1924 erhielt die Versuchsklasse von Oskar Spiel und Franz Scharmer im Rahmen der Versuchsreihe „Lebens- und Arbeitsgemeinschaften“ einen offiziellen Charakter.  Die Verbindung der Gedanken der Individualpsychologie mit jenen der Reformpädagogik wurde von den Wiener Schulbehörden unterstützt.

1931 wurde die Knabenhauptschule Staudingergasse in eine Individualpsychologische Versuchsschule umgestaltet und bildete nun das Kernstück der Wiener Schulreform. Sie wurde vom Stadtschulrat als wichtiges Vorzeigeobjekt präsentiert, um damit internationale Anerkennung zur Unterstützung seiner Reform zu erhalten.  Die Versuchsschule erregte grosse Aufmerksamkeit bei der Wiener Lehrerschaft und den Hospitanten aus dem In- und Ausland und trug zum guten Ruf der Stadt Wien als „Mekka für die moderne (psychologisch ausgerichtete) Pädagogik“ bei. Publikationen der Versuchsschullehrer Oskar Spiel und Ferdinand Birnbaum in verschiedenen Sprachen führten unter anderem in Ungarn und der Türkei dazu, dass die individualpsychologische Pädagogik von den Schulbehörden offiziell umgesetzt wurde.

Individualpsychologische Erziehungslehre in der Praxis

Die individualpsychologisch ausgerichtete erzieherische Arbeit im Rahmen der Klasse sollte die Schüler in die Lage versetzen, ihren Lebensstil zu verstehen, ihre von Gefühlen geleitete Wahrnehmung einer wirklichkeitsgetreueren anzunähern und konstruktive Auswege aus einer empfundenen Minderwertigkeit zu finden sowie ihr Gemeinschaftsgefühl weiter zu entwickeln. Das Konzept der Individualpsychologischen Versuchsschule stand damit in Übereinstimmung mit den wesentlichen Erziehungszielen der Wiener Schulreform.

Sehr moderne Ansätze mit Augenmass

Die Versuchsschullehrer Spiel und Birnbaum unterschieden fünf verschiedene Gemeinschaftsformen: In der „Aussprachegemeinschaft“ wurden tatsächliche Vorfälle (Nichteinhalten von Klassenregeln, Fortkommen bei Lernen) besprochen, um den Kindern eine psychologische Sichtweise mitmenschlicher Probleme näher zu bringen. In der „Verwaltungsgemeinschaft“ wurden organisatorische Belange (Klassenordnung) im Klassenverband gemeinsam ausgehandelt und geregelt. In der „Arbeitsgemeinschaft“ als Unterrichtsfunktion in Anlehnung an den Arbeitsschulgedanken wurden verschiedene Unterrichtsformen (Einzel-, Gruppen- oder Ganzklassenunterricht) angewendet. Das methodische Arrangement findet individualpsychologisch gesehen seine Grenzen, wenn ein Kind entmutigt ist und das Gefühl hat, das Verlangte nicht bewältigen zu können. Bei der „Erlebnisgemeinschaft“ stand das Gemeinschaftserlebnis im Mittelpunkt (Sport, Spiel, Spass), wo gerade die schwächsten Schüler sich positiv in der Gemeinschaft profilieren konnten. Bei der „Hilfeleistungsgemeinschaft“ galt das Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Schüler konnten unter Anleitung des Lehrers schwache Mitschüler unterstützen, wobei Empfangende und Gebende im Sinne des Gemeinschaftsgefühls profitierten.  Verwaltungsgemeinschaft

„Erziehung der Erzieher“  

Alfred Adler: der berühmte Arzt und Psychiater Alferd Alder unterstützte die Reform von Angan an

1919 wurde von den österreichischen Kinderfreunden im Schloss Schönbrunn die „Schönbrunner Erzieherschule“ unter der Leitung von Otto Felix Kanitz als pädagogische Ausbildungseinrichtung gegründet. Der Lehrkörper bestand aus bekannten sozialistischen und individualpsychologischen Pädagogen wie Alfred Adler, Max Adler, Anton Tesarek, Karl Kautsy usw.

Das Pädagogische Institut der Stadt Wien wurde 1923 durch Otto Glöckel eröffnet. Dozenten waren u.a. Alfred Adler, Max Adler, Charlotte Bühler usw. Von 1929 bis 1934 hielt Birnbaum hier Vorlesungen für Lehrer.

Lehrer mussten über psychologisches Wissen und gutes Einfühlungsvermögen verfügen.

Der individualpsychologische Charakter des pädagogischen Konzepts der Versuchsschule stellte an die Lehrkräfte besondere Anforderungen. Sie mussten über psychologisches Wissen und über ein gutes Einfühlungsvermögen verfügen bzw. sich das aneignen, um den Schülern durch eine gefühlsmässige und rationale Beziehungsgestaltung über unbewusste seelische Fehlhaltungen hinweghelfen zu können.  Dazu erfolgten im Rahmen von Lehrerkonferenzen der Versuchsschule regelmässige Aussprachen über Theorie und Praxis der Individualpsychologie. Weniger erfahrene Lehrkräfte hospitierten bei erfahreneren im Unterricht. Die „Erziehung der Erzieher“ zielte darauf ab, die persönliche Erzieherkompetenz (das Gemeinschaftsgefühl) der Lehrer auszubilden.

Der Charakter des Menschen ist nicht unabänderlich

„Was für den begeisterten Pädagogen nur eine sanguinische Hoffnung ist, das wird für die individualpsychologische Betrachtungsweise durch Zergliederung des Werdeganges der menschlichen Persönlichkeit zur gefestigten wissenschaftlichen Überzeugung: Der Charakter des Menschen erscheint nicht mehr als unabänderliche und daher trostlose Gegebenheit, sondern als ein Werdendes, sich Gestaltendes, Gestaltbares und Umgestaltbares, und so ist die Erwartung berechtigt, dass eine völlige Neuordnung der Erziehung uns einst ein gesünderes, mutigeres und glücklicheres Geschlecht werde bescheren können.

Carl Furtmüller, Mitarbeiter Glöckels, in „Denken und Handeln“, 1930/1983

Stark sozialistisch beeinflusst

Ende und Neubeginn

Bereits 1934 setzte der autoritäre österreichische „Ständestaat“ dem erfolgreichen Schulversuch ein Ende. Glöckel wurde aus politischen Gründen verhaftet. Die Wiener Schulreform erholte sich nach dem Krieg trotz Erfolgen der von Oskar Spiel ab 1946 geleiteten Versuchs- und Besuchsschule nie mehr richtig. Den individualpsychologischen Wiederbelebungsversuchen durch Spiel, Birnbaum und Scharmer fehlten die Förderung durch die Behörden und die breite Unterstützung. Insofern ging es ihr ähnlich, wie heute der erfolgreichen „Direkten Instruktion“ in den Vereinigten Staaten.

Quellen:

Lutz Wittenberg: Geschichte der individualpsychologischen Versuchsschule in Wien. Eine Synthese aus Reformpädagogik und Individualpsychologie. Dissertation der Universität Wien, Universitätsverlag  Wien 2002, ISBN 3-85114-739-1

https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=192437 Otto Spiel (1892–1961): Individualpsychologische Schulreform

https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Schulreform

https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Gl%C3%B6ckel

https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%B6nbrunner_Erzieherschule

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichischer_Verein_f%C3%BCr_Individualpsychologie

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