Reformen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 02 Apr 2024 08:28:23 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Reformen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 150 Jahre Volksschule – Reformzusatz https://condorcet.ch/2024/04/150-jahre-volksschule-reformzusatz/ https://condorcet.ch/2024/04/150-jahre-volksschule-reformzusatz/#comments Mon, 01 Apr 2024 08:53:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=16356

Ab Mai ist bei der Post eine Briefmarke erhältlich, die an den 150. Geburtstag der Schulpflicht erinnert. Entstanden ist sie auf Initiative des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH. Die Intrinsic Kleinaktionäre und die Spitze des Verbandes Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz VSLCH freuen sich über das zusätzliche Briefmarkenset «Reform plus».

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Kürzlich meinte die Verbandspräsidentin des LCH, Dagmar Rösler, dass «Schulnoten nicht mehr zeitgemäss» seien. Dies hat sich nun auch in der Gestaltung des Briefmarkensets «150 Jahre Volksschule» niedergeschlagen, die der LCH in Zusammenarbeit mit der Post ab Mai 2024 herausgibt. Man kann das Set auch mit dem Zusatz «Schluss mit Noten und Selektion» erwerben.

Aktion des LCH: Wir gestalten auch die Zukunft!

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Wer steuert eigentlich das Bildungsboot? https://condorcet.ch/2024/03/wer-steuert-eigentlich-das-bildungsboot/ https://condorcet.ch/2024/03/wer-steuert-eigentlich-das-bildungsboot/#comments Fri, 29 Mar 2024 19:45:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=16324

Und wieder sind sie unterwegs, die Bildungspropheten und Bildungsrevolutionäre. In vielen Medien propagieren sie ungehemmt radikale Strukturreformen. So wollen sie den Defiziten, die sie mitverursacht haben, entfliehen. Ein Aufruf zu mehr Wirksamkeit von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Es ist die Stunde der grossen Worte: “Bildungsrevolution – jetzt!”, heisst es beim privaten Zürcher Unternehmen “Intrinsic”. Das “Netzwerk für angewandte Bildungsrevolution”, will damit “zu neuen Ufern aufbrechen […] und mit einer radikal neuen Lernkultur Bildung revolutionieren”.[i] Bildung müsse sich endlich modernisieren! Wieder einmal wird Bildung mit ihrer Reform gleichgesetzt. Doch auf das Wie wird nicht verwiesen, lediglich auf neue Strukturen. Negiert wird auch die Evidenzfrage und damit der Wesenskern des Unterrichts: Worin zeigt sich das Wirksame dieser Reformen? Und worin erkennt man das Gelingen der Innovationen?

Reformen an der Oberfläche

Eine Art Strukturrevolution propagieren auch der Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH) und ihr umtriebiger Präsident Thomas Minder. Ultimativ verlangen sie die Abschaffung jeder Selektion in den ersten neun Schuljahren, dazu die Elimination der Noten[ii] und der Hausaufgaben. Und der VSLCH setzt dominant auf “Lernlandschaften”, auf das selbstorientierte Lernen SOL der Kinder und eine forcierte Digitalisierung.

Wenn es nach dem Schweizer Schulleiter-Verband geht, sind Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr Pädagogen, sondern nur noch Coachs und Lernbegleiter. Die Bildungsforschung aber kann nachweisen: Das ist Oberflächenkosmetik mit wenig bildungsqualitativer Tiefenwirkung.

Orchestrierte Pressekampagne?

In die gleiche Richtung zielt die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler. Auch für die Präsidentin des Verbands Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) sind “Schulnoten […] nicht mehr zeitgemäss”, wie sie im grossen Blick-Interview verrät.[iii] Und wer die Medienberichte zu Schulfragen der vergangenen Wochen durchgeht, stösst auf viel Paralleles, auf Kongruenz unter Bildungsreformern, als gliche das Ganze einer orchestrierten Pressekampagne. Da erklärt beispielsweise “Bildungsexpertin” Rahel Tschopp in der SonntagsZeitung anhand von 26 Stichworten, was sich alles ändern müsse, damit wir eine zeitgemässe Schule erhielten.[iv]   

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Und wieder trifft man auf die fast identischen Kennzeichen, wie sie auch der VSLCH postuliert und wie sie in Teilen der LCH-Präsidentin Dagmar Rösler wichtig sind: Da ist von Abschaffung der Noten und Zeugnisse und damit der Selektion die Rede, da wird die Auflösung des Klassenverbandes gefordert und damit das Ende des Unterrichts im Kollektiv, da wird die Digitalisierung forciert.[v] Die Stossrichtung ist die gleiche. Die Tamedia-Presse aber unterschlägt die Tatsache, dass Bildungsprophetin Rahel Tschopp mit ihrem Institut “Denkreise” Schulentwicklungsprojekte anbietet und im IT-Bereich tätig ist. Schulreformen um des eigenen Gewinns wegen?

Reformpädagogische Wunschvorstellungen

Thomas Minder und sein Verband VSLCH wie auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler vom LCH, wenden sich mit ihren Thesen an die Öffentlichkeit. Sie zeigen keine Scheu, “Reformen” zu forcieren, die in vielen Teilen an der Bevölkerung vorbeigehen und reformpädagogische Wunschvorstellungen bedienen. Eine”notenfreie Schule” beispielsweise ist höchst umstritten. Auch viele Schulleiter wollen sie nicht.

Es erstaunt und irritiert, dass diese radikalen Innovationen als professionelle Forderung daherkommen und der LCH wie der VSLCH so tun, als gäbe es keine Politik und keine öffentliche Meinung.

 

Verschwiegen wird, dass in einem wertschätzenden Umfeld, in einer fehlerfreundlichen Atmosphäre Noten nicht das Problem sind, sondern eine Hilfe sein können, die Klarheit schafft. Entscheidend ist das lernfördernde Feedback – im Sinne der Artikulation der Differenz zwischen Sein und Sollen in Bezug auf die Sache, den Lernprozess und die Selbstregulation. Dafür müssten Lehrerinnen und Lehrer im Alltag Zeit haben. Das wären Reformen mit Tiefenwirkung. Die empirische Bildungsforschung weist sie nach.[vi]

An der Bildungspolitik vorbei

Es erstaunt und irritiert, dass diese radikalen Innovationen als professionelle Forderung daherkommen und der LCH wie der VSLCH so tun, als gäbe es keine Politik und keine öffentliche Meinung. Dabei ist im Luhmann’schen Spiel der Subsysteme die Schule der Politik unterstellt. Da liegt das Problem: LCH wie der VSLCH und teilweise auch die Pädagogischen Hochschulen, die das mitttragen oder gar initiieren, stellen sich über die Politik und schaffen Fakten. Die Bildungspolitik und mit ihr die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK nehmen das kommentarlos hin und schweigt. Sie werden getrieben, statt zu steuern.

Strukturreformen von Seiten der Universität

Ein Paradebeispiel dazu ist das Tagesgespräch auf SRF I mit der Bildungsforscherin Katharina Maag Merki, Universität Zürich.[vii] Sie ortet zwei gravierende Probleme: Da ist einerseits die Tatsache, dass 25 Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler mit Blick auf das Leseverständnis als leistungsschwach eingestuft werden. Um die hohe Rate funktionaler Analphabeten wissen wir aber längst; und PISA 2022 hat das Defizit erneut verdeutlicht.

Und da ist anderseits das Auseinanderdriften der Schere zwischen Kindern aus bildungsfreundlichem Elternhaus und solchen aus bildungsdistanzierterem «Milieu». Konkret: die bedrohte Chancengerechtigkeit.

Doch statt diese beiden Problemfelder zu analysieren und nach den Gründen für den Einbruch zu fragen, verlangt Maag Merki dezidiert die Abschaffung der Noten und der Selektion und damit die Aufhebung leistungsunterschiedlicher Klassen nach sechs Schuljahren: Auch sie plädiert, ohne vertieft zu begründen, ultimativ für Strukturreformen!

Wenn Eltern mithelfen müssen

Die Bildungsexpertin Maag Merki verliert kein Wort, warum unsere Schulen an diesem Defizit leiden. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen, zu den beiden Fremdsprachen auf der Primarschule und der fehlenden Übungszeit, der forcierten Integration und der entsprechenden Unruhe im Schulzimmer. Auch die Moderatorin fragt nicht danach. Kein Wort, warum selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens oft grosse Lücken aufweisen.

Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Dominanz über die Schulen errungen.

Und wenn sie diese Grundlagen beherrschen, dann stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Auch das wissen wir. Hier fände sich doch der Schlüssel zur Bildungsgerechtigkeit: Darum wäre dafür zu sorgen, dass jene Kinder, die keine Impulse oder nur wenig Hilfe aus dem Elternhaus kennen, nicht benachteiligt sind. Chancengleichheit entsteht im Klassenzimmer – über gute, vital präsente, am Wohl des Kindes interessierte Lehrpersonen und einen wirksamen Unterricht.

Fokus auf den Kern der Schule richten

Elementar wäre doch eines: endlich die vielen Baustellen – wie beispielsweise die vergessene Deutschkompetenz – aufräumen, bevor neue Gruben aufgerissen werden. Doch es ist eben leichter, den zahlreichen Schadstellen zu entfliehen und sich neuen “Reformen” zuzuwenden. Und es sind immer Strukturreformen, die gefordert werden! Dabei ist längst bekannt: Humane Energie kommt aus Personen, nicht aus Strukturen. Da hinein, in die Mikroprozesse des Lehrens und Lernens, müsste eine verantwortungsbewusste Bildungspolitik zoomen, in den gefährdeten Kern der Schule.

Die Definitionsmacht über die Schule gehört der Bildungspolitik

Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der Verbände und auch nicht der Pädagogischen Hochschulen liegt. Ein Diskurs ist heute schwierig geworden. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Dominanz über die Schulen errungen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Hier müsste die Bildungspolitik gegensteuern. Leidtragende sind immer die Kinder.

 

[i] https://www.intrinsic.ch/ [abgerufen am 22.03.2024]

[ii] Vgl. https://www.srf.ch/audio/forum/sind-schulnoten-noch-zeitgemaess?id=12449418 [abgerufen am 21.03.2024]

[iii] Lisa Aeschlimann, «Schulnoten sind nicht mehr zeitgemäss», in: Blick, 25.02.204.

[iv] Vgl. Ursina Haller, Die Schule der Zukunft. Ein Glossar, in: SonntagsZeitung. Das Magazin 03.02.2024, S. 8ff.

[v] Schweden hat die Digitalgeräte auf der Primarstufe verboten und kehrt zur Papierform zurück. Auch Dänemark verbiete sie; der dänische Bildungsminister entschuldigte sich gar für die negativen Folgen, die eine forcierte Digitalisierung der Schulen verursacht habe; vgl. https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=2061 [abgerufen am 21.03.2024]

[vi] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 137ff.; dazu: John Hattie (2023), Visible Learning: The Sequel. A Synthesis of Over 2’100 Meta-Analyses

  Relating to Achievement. London, New York: Routledge, p. 224ff.

[vii] https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/katharina-maag-merki-an-den-schulen-rumpelt-es-wie-noch-nie?id=12559295 [abgerufen am 20.03.2024]

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Reformen gewollt – Bildung verschlechtert – wie prognostiziert https://condorcet.ch/2024/03/reformen-gewollt-bildung-verschlechtert-wie-prognostiziert/ https://condorcet.ch/2024/03/reformen-gewollt-bildung-verschlechtert-wie-prognostiziert/#comments Sat, 09 Mar 2024 08:33:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=16098

Die ehemalige Berner SVP- Grossrätin Sabina Geissbühler war schon immer eine Gegnerin der neuzeitlichen Reformagenda und bekämpfte u. a. den Lehrplan 21, das Frühfranzösisch und die Umsetzung des Integrationsartikels. In diesem Beitrag sieht die Praktikerin sich noch einmal bestätigt, was ihre Prognosen betrifft.

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Seit dem 1. Januar 2008 erfolgte die Umsetzung von Art. 17 des Volksschulgesetzes, das heisst, die Anzahl besonderer Klassen wurden stark reduziert. Dafür wurde der Spezialunterricht wie Integrative Förderung, Logopädie, Legasthenie, Dyskalkulie, Deutsch für Fremdsprachige und Psychomotorik massiv ausgebaut. Von diesem Förderunterricht sind in einigen Klassen bis die Hälfte aller Schüler/-innen betroffen.

Gastautorin Sabina Geissbühler

Dieser Spezialunterricht findet oft innerhalb der Klasse statt.  Heilpädagoginnen, Klassenhilfen, usw. betreuen während dem Regelklassenunterricht Kinder mit Defiziten, indem sie Erklärungen und Anweisungen geben, was sehr störend sein kann. Diese Unruhe führt ab und zu sogar dazu, dass Schüler/-innen mit Gehörschutz ausgerüstet werden müssen. Der Förderunterricht in Kleingruppen findet während der ordentlichen Unterrichtszeit ausserhalb des Klassenzimmers statt. Auch diese Massnahme führt zu Hektik und Unruhe, denn daraus resultiert ein stetiges Kommen und Gehen.

Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder wird durch die Unruhe überstrapaziert, und gute Schulleistungen sind in einem solchen Umfeld schwierig zu erbringen. Da der Spezialunterricht ausserhalb des Klassenzimmers stattfindet, verpassen Kinder den Unterrichtsstoff der Regelklasse.

Auch darf es nicht sein, dass bald bei der Hälfte der Schulkinder ein Defizit diagnostiziert wird. Jedes Kind, das einen Spezialunterricht besuchen muss, ist stigmatisiert. Nicht nur die Kinder sind in einem solchen Schulklima überfordert, sondern auch manche Lehrperson. Ihre Lehrtätigkeit wird durch Koordination und Absprachen belastet. Die individuellen Arbeitspläne der Kinder und die heterogenen Klassen verlangen nach individueller Förderung, welche die Lehrperson nur ungenügend erfüllen können.

Ebenfalls belastend für die Lehrpersonen und die Kinder sind Mehrjahrgangsklassen. Insbesondere überfordert sind die Erstklässler beim selbständigen Arbeiten währenddem die Zweit- und Drittklässler am mündlichen Unterricht teilnehmen.

Zum Frühsprachenlernen

Bedenken von Sprachforschern und Lehrpersonen wurden ignoriert, und das Frühsprachenlernen wurde ohne Versuchsphase eingeführt. Dies obschon fremdsprachigen Drittklässler/innen die Standardsprache bereits grosse Probleme bereitet.

Von den Lehrpersonen wird fürs Frühfranzösisch eine anspruchsvolle Weiterbildung verlangt, und für die neue Dotation an Lektionen muss (im Kanton Bern) mit jährlich wiederkehrenden Kosten von 14 Millionen CHF gerechnet werden. Auch diese Reform wurde durchgesetzt, obschon unzählige Studien zum frühkindlichen Lernen immer zum gleichen Schluss kommen, nämlich: dass es möglich ist, Fertigkeiten in verschiedensten Bereichen früh zu erwerben, dass aber bei späterem Beginn dieser “Vorsprung” wieder eingeholt wird. Dass das Lernen einer Sprache über das Ohr, wie es bei einem Aufenthalt in einem anders sprachigen Land stattfindet, mit zwei/drei Lektionen pro Woche nicht möglich, und das teure Lehrmittel “Milles feuilles” unbrauchbar ist, war von Anfang an klar. Von einem “Sprachbad” zu reden, ist absurd, muss doch ein Kind ungefähr 40% seiner Wachzeit mit einer Fremdsprache konfrontiert sein, damit sein Gehirn diese speichern kann.

Die Sprachforscherin Simone Pfenninger, welche die Sprachkompetenzen der Frühenglisch- mit Spätenglischlernenden verglichen hat, kam zu folgendem Fazit:

  • Spätlernende sind motivierter und holen den Vorsprung der Frühlernenden in kurzer Zeit auf.
  • Wegen den Defiziten der Frühlernenden in der deutschen Sprache fällt den Kindern das Fremdsprachenlernen schwerer
  • Eine gefestigte Sprachbasis ist positiv für den Fremdsprachenerwerb,

Unsere Mittelstufenschulkinder sind mit einem übervollen Stundenplan belastet. Insbesondere Kindern mit Migrationshintergrund (ca. 30%) sind oft überfordert, denn sie müssen neben ihrer Heimatsprache, die Mundart, dann die Standartsprache und im dritten Schuljahr bereits die französische oder englische Sprache erlernen.

Einschulung von Vierjährigen

Dem Bildungsziel der linken Politik: Jedem das Gleiche, anstatt jedem das Seine konnte mit der Früheinschulung näher gerückt werden. Die Behauptung, eine obligatorische Früheinschulung führe zu besseren Leistungen, konnte jedoch widerlegt werden: Die Kinder, die bei der Pisa-Studie am besten abgeschnitten haben, stammen aus dem Kanton Freiburg, wo nur gerade 19% einen zweijährigen Kindergarten besuchten. Die Kinder des Kantons Tessin hingegen gehen alle zwei bis drei Jahre lang in den Kindergarten und schlossen die Pisa-Tests mit den schlechtesten Ergebnissen ab.

Mit der obligatorischen Einschulung von Vierjährigen wurde die in diesem Alter eminent wichtige Aufgabe einer individuellen motorischen und sprachlichen Förderung den Familien weggenommen. Auch die beste Kindergärtnerin kann nicht auf die vielen Fragen, die jedes Kind in diesem Alter stellen möchte, eingehen. Sie wird zudem kaum den Bewegungsdrang dieser Kinder stillen können, sie auf Mäuerchen klettern und in ihre Arme springen lassen. Mit diesen zwei Beispielen soll gezeigt werden, wie die Kinder in einer Gruppe in ihrer persönlichen Entwicklung behindert werden.

Defizite in Sprache und Motorik verlangen vermehrt Förderunterricht, also auch Kostenfolgen. Dass bei einer Verlängerung der Schulzeit von neun auf elf Jahre auch mehrere hundert Lehrpersonen mehr nötig sind, wurde im Bernischen Grossen Rat zwar vorgerechnet, aber von der Bildungsdirektion kaum zur Kenntnis genommen. Die finanzielle Belastung von Gemeinden durch zusätzliche Schulräume, Schulmaterial und Anstellungen ist enorm.

Gezwungenermassen müssen nun diese kleinen Kinder einen umfangreichen Blockzeitenstundenplan von vier Lektionen pro Morgen absolvieren, anstatt, wie für sie angepasst, einmal in der Woche eine Spielgruppe besuchen zu können.

Eltern beklagen, dass ihre Vierjährigen unter Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Aggressionen leiden, ein Zeichen ihrer psychischen Überforderung.

Ein weiteres Problem ist für viele Vierjährige der Schulweg, entweder ist er zu lang oder zu gefährlich. Mit dem Schulbeginn bereits nach acht Uhr, ist die Dunkelheit im Winter ebenfalls eine Zumutung. Trotzdem wagen es viele Eltern und Kindergärtnerinnen nicht, ihre Erfahrungen mit den vierjährigen Kindern offenzulegen, da sie sonst als Versager/-innen abgeurteilt werden.

“Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.”

Ursina Zindel, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ)

 

Mutig weist hingegen die Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ) auf die Probleme von und mit Vierjährigen hin: “Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.” Auch Erziehungswissenschafterin Prof. Stamm meint: “Der vorverlegte Schulbeginn hat entwicklungspsychologisch durchaus seine Nachteile.” Zwar würden früh instruierte Kinder einen Vorsprung gegenüber anderen bekommen, aber dieser wachse sich relativ schnell aus. Eine ausgewogene physische und mentale Gesundheit, emotionale Stabilität und ein gutes Selbstwertgefühl seien ebenso wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Zwei Kantone, nämlich Schwyz und Nidwalden, haben bereits auf die Klagen von Eltern und Lehrpersonen reagiert. Und in den Kantonen Graubünden, den beiden Appenzell und Zug gibt es keinen obligatorischen zweijährigen Kindergarten.

Es ist erwiesen, dass Vorschulkinder in den Bereichen motorische, kognitive, emotionale und soziale Kompetenz noch grosse Unterschiede aufweisen, die sich bis zum 6./7. Lebensjahr – dem aus diesem Grund gewählten Einschulungstermin – immer mehr angleichen. Meist sind erst ca. sechsjährige Kinder fähig, während längerer Zeit zuzuhören oder selbstständig für sich zu spielen oder zu arbeiten.

Auch die Erziehungsdirektion hat im Rahmen eines Controllings die Anzahl Kinder mit einem reduzierten Pensum (was im Kanton Bern z.T. möglich ist) erhoben. Von 9633 Kindern wurde für 5956 Kinder, also für 62%, ein reduziertes Pensum verlangt und 9,6% zurückgestellt.

Selbstgesteuertes, digitales Lernen

Das im Lehrplan propagierte selbst gesteuerte Lernen überfordert viele Kinder und verlangt zusätzlichen Förderunterricht. Dies führt zu Chancenungleichheit, indem Kinder von wohlhabenden Eltern Privatunterricht oder eine Privatschule besuchen können.

Mit der Einführung des Lehrplans 21 wurden die Lehrpersonen beauftragt, nicht primär Wissen zu vermitteln, sondern nur noch als Coaches das selbstgesteuerte Lernen der Kinder organisatorisch zu begleiten.

Das selbstgesteuerte, digitale Lernen gelingt nicht allen Kindern gleich gut. Gemäss einer in der Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlichten kanadischen Studie mit 4520 Kindern zwischen acht und elf Jahren sind die kognitiven Fähigkeiten wie wahrnehmen, denken und verstehen schon ab zwei Stunden vor dem Bildschirm beeinträchtigt. Digitales Lernen ist asozial und kann bei Kindern zu psychischen Problemen führen.

Als Folge des individualisierten Unterrichts mit dem mühsamen Zusammentragen von Unterrichtsstoff durch die Kinder selbst, brauchen die Kinder mehr Zeit. Diese Mehrlektionen haben im Kanton Bern mehrere hundert neue Vollzeitstellen erfordert. Die Aufstockung der Lektionen belastet nicht nur die Schulkinder und Lehrpersonen, sondern auch die Finanzen (im Kanton Bern von jährlich 30 Mio. CHF). Neu entwickelte Lehrmittel sollten nicht zwingend die Arbeit mit Tablets oder Hanys voraussetzen. Diese digitalen Lernhilfen müssen jedoch im Zyklus 3 – vom Kanton finanziert – jedem Kind zur Verfügung gestellt werden, um die Chancengerechtigkeit zu garantieren.

Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit.

 

Entwicklungspsychologisch steht im Zyklus 1 und 2 das analoge Lernen über den direkten Austausch, die Nachahmung, das Ansprechen aller Sinne und Erlebnisse in der Natur im Vordergrund. Das Prinzip des Lernens über Kopf, Herz und Hand, aber auch die verschiedenen Lerntypen müssen berücksichtigt werden. Dies als Ausgleich zum zunehmenden Gebrauch von digitalen Medien in der Freizeit.

Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit. Dies zeigte sich in der Schweiz bei den digitalen Unterrichtshilfen zu den Lehrmitteln “Mille Feuilles” und “Clin d’Oeil”. Was nicht sofort per Klick geht, wird verworfen.

Immer mehr Jugendlichen fehlt die Ausdauer

Das Phänomen “lazy brain” tritt auf und zeigt sich längst bei den Ausbildungsplätzen. 798 Personalverantwortliche von Schweizer Ausbildungsbetrieben gaben bei einer Umfrage an, dass immer öfter die Ausbildungen abgebrochen würden und vielen Jugendlichen die Ausdauer fehle. Aufgaben und Probleme im Berufsalltag liessen sich eben nicht mit einem Wisch auf dem Touchscreen lösen.

Die Digitalisierung wirkt sich auch gesundheitlich aus. Professor Dr. Norbert Pfeiffer, Direktor der Augenklinik des Universitätsspitals Mainz, weist auf die Zusammenhänge zwischen Bildschirmarbeit und zunehmender Kurzsichtigkeit von Kindern und Jugendlichen hin. Weitere gesundheitliche Folgen des immer exzessiveren Computer-, Tablet- und Handygebrauchs sind Fehlbelastungen, insbesondere der Halsmuskulatur, was zu degenerativen Veränderungen an Wirbelkörpern oder Bandscheiben führen kann.

An (Berner) Schulen muss die heute vorhandenen Erfahrungswerte und neusten Erkenntnisse zum Einsatz von digitalen Hilfsmitteln berücksichtigt werden. Das Ziel muss ein Mehrwert beim Lernen der Kinder sein, aber nicht auf Kosten ihrer Gesundheit.  Die Meinung, dass in unserer digitalen Welt kein eigentliches Wissen mehr gefragt sei, weil sich alles im Internet finden lässt, muss revidiert werden.

Spezielles Curriculum für zukünftige Lehrpersonen (Kindergärtnerinnen) für 4- und 5- Jährige, sowie Einführung einer 4-jährigen Berufslehre für Lehrpersonen mit einem Berufsmaturabschluss

Mit der Forderung, dass alle zukünftigen Kindergärtnerinnen das Gymnasium und die Matura machen müssen, war absehbar, dass damit geeignete, sozialkompetente, musisch begabte und auf die besondere Pädagogik für Kleinkinder Ausgebildete fehlen würden.

Mit der Lehrpersonenausbildung an Seminaren, mit allgemeinbildenden Fächern und einer vierjährigen Einführung ins Berufsleben konnten die Absolventen bereits als 20-Jährige eine Schulklasse übernehmen.

Heute stehen den Absolventinnen und Absolventen eines Gymnasiums mit der Matura alle Studienrichtungen offen. Somit hat sich der Einstieg ins Berufsleben und die Eigenständigkeit für Lehrpersonen drei bis vier Jahre hinausgeschoben. Oft sind der Umgang und die Arbeit mit Kindern den Absolventinnen und Absolventen des Gymnasiums fremd.

Deshalb müsste insbesondere für die Lehrpersonen für 4- und 5-Jährige eine spezielle Ausbildung analog der Kindergärtnerinnenausbildung geschaffen werden. Beginn nach der obligatorischen Schulzeit mit einem mindestens einjährigen Sozialpraktikum/ Praktikum mit Kindern, dann einer 2- bis 3-jährigen Ausbildung an der PH.

Für zukünftige Lehrpersonen der Zyklen (1), 2 bis 3 ist ein Curriculum für eine Berufslehre nach der obligatorischen Schulzeit mit einem Berufsmaturaabschluss auszuarbeiten.

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Messer, Gabel, Löffel • Von Gewissheiten gelingenden Unterrichts – und ihrem Gegenteil https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/#comments Tue, 26 Dec 2023 12:42:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=15549

Condorcet-Autor und Präsident des Basellandschaftlichen Lehrer- und Lehrerinnenvereins ruft uns in seinem Editorial seiner Verbandszeitung noch einmal die wesentlichen Erfolgsgarantien für guten Unterricht in Erinnerung.

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April 2007: Auf die Frage, was Ex-Microsoft-Chef Steve Ballmer vom eben auf den Markt gebrachten iPhone halte, antwortete er belustigt, nie im Leben werde das iPhone einen nennenswerten Marktanteil erlangen. Keine Tastatur, ergo schlechte Mail-Maschine, horrender Preis. Tatsächlich hat Apple seit der Lancierung 2007 über 2.5 Milliarden iPhones verkauft. In der Schweiz beträgt der Marktanteil mittlerweile stolze 46 %. Steve Ballmer unterlag einer kolossalen Fehleinschätzung.

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer,  Präsident lvb, Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland
Bild: fabü

2011 kündigten die Verantwortlichen von Passepartout die Revolutionierung des Fremdsprachenerwerbs an. Doch der Zaubertrank in Gestalt der sogenannten Didaktik der Mehrsprachigkeit und der Lehrmittel «Mille feuilles» resp. «Clin d’oeil» fiel gleich in vier wissenschaftlichen Studien durch. Bei der Überprüfung der Grundkompetenzen ÜGK verfehlten 89 % der Passepartout-Kinder das erklärte Ziel im Bereich Sprechen. Nach Einführung der Lehrmittelfreiheit im Kanton Baselland 2019 sank der Marktanteil von «Clin d’oeil» auf einen Schlag in die Bedeutungslosigkeit. Die Projektleitung, die Bildungsdirektoren und die Bildungs-«Experten» aus dem Dunstkreis der Pädagogischen Hochschulen ereilte das gleiche Schicksal wie Steve Ballmer: Sie waren einem monumentalen Irrtum aufgesessen.

1884 gründete Karl Elsener die Gemeinschaft für Messerschmiede. Ob er den universellen Einsatz von Messer und Gabel als unverzichtbare Tischutensilien vorausgesagt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls existiert die Firma «Elsener Messerschmied AG» heute noch und stellt bereits in der achten Generation u.a. Messer und Gabeln her. Der «Marktanteil» der beiden «Esswerkzeuge» dürfte in der westlichen Welt den Traumwert von nahezu 100 % erreicht haben. Karl Elsener hatte also auf das richtige Pferd gesetzt.

Ich bin überzeugt, dass der Mensch auch in 100 Jahren seine Nahrung mit dem Messer zerkleinern und mit der Gabel zum Mund führen wird. Frei nach Bestseller-Autor Rolf Dobelli: «Was sich über Jahrhunderte gegen den Innovationssturm behauptet hat, wird sich wohl auch in Zukunft behaupten.»

Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben.

Verlässliche Konstanten sind auch in dem von Neomanie geprägten Bildungswesen von grosser Bedeutung. Lernen auf Beziehungsebene erfordert physische Präsenz. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf verlässliche und fähige Lehrpersonen, die sich auch in Zukunft durch die folgenden drei Hauptmerkmale auszeichnen:

Sie verfügen über pädagogisches Geschick, haben ein offenes Ohr für die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und pflegen deshalb einen altersgerechten Unterrichtsstil. Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben. Oberflächlich-aktionistische Sightseeing-Pädagogik dagegen ist ihnen ein Graus.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk.

Bekanntlich fallen gute Lehrpersonen nicht vom Himmel. Pädagogische Hochschulen, welche sich ihrer grossen Verantwortung für den Bildungserfolg in unserem Land bewusst sind, sorgen mit seriösen Assessments dafür, dass geeignete junge Menschen den Weg in den Lehrberuf finden. Die fachwissenschaftliche Ausbildung stellt sicher, dass die angehenden Lehrpersonen über ein solides und stufengerechtes Fachwissen verfügen. Dabei gilt es, Augenmass zu halten. Literatur in allen Ehren, aber Englischlehrer an der Volksschule müssen in erster Linie die englische Sprache beherrschen. Und von Sek I-Physiklehrpersonen wird nicht erwartet, dass sie Astronauten ausbilden können.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk. Eine praxisorientierte Ausbildung in Methodik und Didaktik gehört deshalb zum Pflichtprogramm. Der von manchen PH-Vertretern gebetsmühlenartig wiederholte Vorwurf der Rezepthaftigkeit greift definitiv nicht.

Erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Realitätssinn

Zugegeben: Unterrichtserfahrung ist noch keine Garantie für eine erfolgreiche Lehrtätigkeit als Fachdidaktikdozent. Mangelnde oder fehlende Unterrichtserfahrung hingegen ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein Garant für praxisferne Konzepte wie bspw. die eingangs erwähnte Mehrsprachigkeitsdidaktik oder pseudowissenschaftliche pädagogische Konzepte, die Primarschulkinder wie Erwachsene behandeln. Überzogene Selbstorganisation, inflationäre individuelle Lernarrangements oder psychometrische Kompetenzraster lassen grüssen. Nein, wir brauchen in der Lehrerbildung keine realitätsfernen Technokraten, sondern erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Herzblut und Realitätssinn.

Wie angehende Lehrpersonen zu einem tragfähigen Praxiswissen und solidem Berufskönnen befähigt werden, zeigt das neue Studienmodell der Hochschule für agile Bildung HfaB in Zürich, das Carl Bossard in seinem Artikel «Das Gleiche anders machen» [1] erfrischend beleuchtet. Prädikat: Strengstens lesenswert!

P.S.: Fast hätte ich es vergessen: Neben Messer und Gabel ist natürlich auch der Löffel fester Bestandteil des Bestecks, damit wir die Kürbissuppe auch in ferner Zukunft geniessen können. Das Auslöffeln der Suppe, die uns (notorisch rechthaberische) Bildungspropheten eingebrockt haben, überlasse ich allerdings lieber dem «Bullshit-Filter der Geschichte» (Nassim Nicholas Taleb).

[1] https://condorcet.ch/2023/11/das-gleiche-anders-machen/

Dieser Artikel ist zuerst in der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB erschienen: https://lvb.ch/lvbinform/ausgabe/2023-24-02/

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Eine halbchaotische Institution, die viel Kreativität und wenig Steuerung braucht https://condorcet.ch/2023/11/eine-halbchaotische-institution-die-viel-kreativitaet-und-wenig-steuerung-braucht/ https://condorcet.ch/2023/11/eine-halbchaotische-institution-die-viel-kreativitaet-und-wenig-steuerung-braucht/#comments Mon, 13 Nov 2023 05:25:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=15296

Es war die Starke Volksschule Zürich, welche zu einem Referat mit dem Psychologen und Psychotherapeuten Allan Guggenbühl eingeladen hatte. Die etwa 50 Anwesenden erlebten ein Feuerwerk geistreicher Analysen und verblüffend einfacher Erkenntnisse. Condorcet-Autor Alain Pichard war dabei.

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Natürlich hat der bekannte Ausbildner und Autor zahlreicher Fachbücher und Artikel zu den Themen Konfliktmanagement, Gewaltprävention, Bildung sowie Jungen- und Männerarbeit ein Heimspiel. Vor den 50 eher älteren Zuhörerinnen und Zuhörern wirkt der auch schon in die Jahre gekommene Referent spritzig, ja fast jugendlich. Der Vater von vier Kindern – das wird sofort klar – weiss, wovon er spricht. Kaum einer kennt die Jugendlichen in ihren Nöten und Bedürfnissen besser, und in der Gilde der Psychologen ist er – der ständig nah an der Praxis ist – schon fast seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen.

Allan Guggenbühl in Zürich bei einem Referat der Starken Volksschule Zürich: PH’s schaffen sich eine eigene Definitionsmacht

Guggenbühl kommt denn auch sofort zur Sache. Die Schule sei derzeit auf einer falschen Bahn. Ein Heer von Erziehungswissenschaftlern versucht seit ca. 15 Jahren, die Schule top-down von oben zu gestalten und umzuformen. Das erweise sich als schwierig, weil die Schule sehr schwierig zu steuern sei. Es handle sich hier um eine halbanarchische Institution mit vielen chaotischen Färbungen.

Die Arbeit in dieser Institution erfordere viel Kreativität, im Moment gehe aber gerade diese in einem auf Kompetenzen getrimmten Unterricht verloren. Der ehemalige Gitarrenlehrer weist darauf hin, wie wichtig die Vermittlung eines Kulturkanons sei, betont beispielsweise die Bedeutung des Singens. «Singen ist ein Teil der Arbeit, schon die Arbeitenden auf den Baustellen oder auf dem Felde pflegten früher zu singen.» Heute liest man im Lehrplan zur Musik Sätze wie: «Kann seinen Körper funktionell wahrnehmen und musisch darauf reagieren.»

Alle 10 Jahre kämen von den Pädagogischen Hochschulen neue Trends. Was bleibe, seien – vor allem auf der Oberstufe – demotivierte Schüler.

Skeptisch beurteilt der Referent auch die Tendenz, die Schule zu einem Erziehungsort verschiedener gesellschaftlicher Anliegen zu machen. Das führe meist ins Leere und zu einer Überfrachtung des Schulprogramms.

Guggenbühl – nun ganz in seinem Element – betont die Wichtigkeit der Klassengemeinschaft. Es sei für die Kinder wichtig dazuzugehören, denn die Schüler orientierten sich an Menschen. Die Rede von der kompletten Individualisierung sei ein Blödsinn. Die Idee des selbsttätigen Schülers, der alleine schon aufgrund der Tatsache, dass er selbst entscheiden könne, woran er arbeite, vor lauter Lernfreude explodiere, sei ein Betrug an den Lernenden. Man lerne in der Gemeinschaft und man lerne, weil die anderen es auch tun. Die Lehrkraft – am besten ein verantwortlicher Klassenlehrer oder eine selbstbewusste Klassenlehrerin – sei hier zentral. Sie müsse belastbar und risikofreudig sein, hinstehen, wenn es nötig ist, und auch Mut zur Emotion zeigen. Die Persönlichkeit des Lehrers sei ein zentraler Gelingensfaktor. Der Einzug der vielen zusätzlichen Bezugspersonen im Klassenzimmer führe zu einer Verantwortungsdiffusion.

Hingabe und Mut zur Emotion – die Lehrperson hat eine zentrale Bedeutung.

Kritisch geht er auch mit den Lernzielen in Sachen Sozialkompetenz ins Gericht. Für einen Lacher sorgte Guggenbühl, als er von einem Experiment an einer Schule erzählte, in der die Schüler den Unterricht hielten und die Lehrpersonen die Lernenden waren. «Sie können sich kaum vorstellen, wie oft die Lehrkräfte zu spät in den Unterricht kamen, wie undiszipliniert sie sich während der Lektionen verhielten.»

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden.

Es gibt Kritiker, die Guggenbühl eine gewisse Intellektuellenfeindlichkeit vorwerfen. Das hat auch mit dessen Referatstechnik zu tun. Guggenbühl untermauert seine Thesen immer wieder mit Praxisbeispielen und Anekdoten – positiven und negativen – und verzichtet gänzlich auf Literaturhinweise oder Quellenangaben. Es gilt die freie Rede ohne Manuskript. Es fallen verblüffende Sätze, deren Evidenz man dennoch überprüfen sollte. So behauptet Guggenbühl, dass die Anwesenheit einer zweiten Lehrperson sofort die Aufmerksamkeit beider Lehrkräfte auf die Schüler reduzieren würde. Da würde man gerne erfahren, welche Untersuchung dies belegt.

«Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen».

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden. Die würden aber in separaten Räumen fernab der schulischen Realität kreiert, gefüttert von ständig fliessenden Forschungsmitteln. Sie entwickelten sich damit immer mehr zu Playern der Bildungssteuerung. «Die obligatorische Weiterbildung gehört abgeschafft, es braucht mehrere Anbieter. Die Lehrkräfte sollen selber auswählen, was ihnen dient.»

Timotheus Bruderer moderierte den Abend souverän

Er fordert zudem einen Stopp der Papierproduktion: «Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen». In der Bürokratiekritik spricht man von Datenfriedhöfen. Als eine Massnahme schlägt der Psychologe – nun in typischer Guggenbühl-Art – vor, mit dem Protokollieren der Elterngespräche aufzuhören. So etwas zerstöre den Gesprächsfluss und die ungezwungene Gesprächskultur. Es schaffe auch einen autoritätsbehafteten Graben zwischen Lehrkraft und Eltern.

Der Mahner und Analyst Guggenbühl trägt seine Forderungen – und das unterscheidet ihn von vielen anderen Reformkritikern – stets charmant und freundlich vor. Man vernimmt kaum einen Alarmismus, und die missionarische Strenge fehlt völlig. Er verlässt sich auf die gnadenlose Plausibilität seiner Aussagen.

Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können?

Je länger das Referat dauerte, desto mehr hatte man das Gefühl, dass hier vorne eine Person aus dem Vollen schöpft und er dies noch stundenlang tun könne. Allan Guggenbühl aber – ganz der Psychologe – weiss, wann die Aufmerksamkeitsspanne ihre Grenzen erreicht. Das Publikum quittiert seine Ausführungen mit einem warmen Applaus. Dem Moderator Timotheus Bruderer gelingt es in der anschliessenden Fragerunde, die nervigen Co-Referate in Grenzen zu halten und sorgte damit auch für eine gehaltvolle Diskussion.

Dem Berichterstatter hinterlässt der Abend eine kleine Wunschprosa-Frage. Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können? Es ist anzunehmen, dass die Leitungen der PH’s ein solches Risiko scheuen.

 

 

 

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Ein Visionär, aber kein Praktiker https://condorcet.ch/2023/10/15221/ https://condorcet.ch/2023/10/15221/#comments Sat, 28 Oct 2023 07:05:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=15221

Eigentlich wollte Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz auf den Nachruf von Alain Pichard mit einem Kommentar antworten. Dann wurde es ein ganzer Beitrag. Mit Recht, denn Hanspeter Amstutz hat als Mitglied der Bildungskommission acht Jahre lang mit Ernst Buschor zusammengearbeitet und mit ihm in dessen Wirkungsjahren ab und zu heftig gestritten. Die Anerkennung und der Respekt gegenüber diesem grossen Gestalter strömt allerdings trotz aller Kritik aus jeder seiner Zeilen.

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Was für ein Nachruf auf einen bildungspolitisch sehr umstrittenen, aber im persönlichen Umgang hochanständigen Menschen! Ich bin Alain Pichard dankbar, dass er Ernst Buschors Lebenswerk etwas anders interpretiert, als seine zahlreichen Gegner dies wohl tun würden.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Ernst Buschor war ein Visionär, aber kein Praktiker.

Acht Jahre lange habe ich eng mit Ernst Buschor zusammengearbeitet. Es ging damals in der Bildungskommission des Zürcher Kantonsrats um das schwergewichtige Volksschulgesetz und die Schaffung der Zürcher Fachhochschulen. Buschor war überzeugt, dass vieles radikal geändert werden müsse, um unser Bildungswesen wettbewerbsfähiger zu machen. Mit seinen Modellvorstellungen aus dem new public management, die er auf die Schule übertragen wollte, beeindruckte und alarmierte er die Lehrerschaft schlagartig. Das Zauberwort von den teilautonomen Schulen löste heftige Diskussionen aus. Die Vorstellung einer Schule mit eigenem Profil und gemeinsamer Schulkultur beflügelte viele, die von einem pädagogischen Feuer beseelt waren.

Leider war der ganze Ansatz der Reformen viel zu technokratisch und allzu strukturgläubig. Pädagogisch fehlte ein durchdachtes Bildungskonzept, da es Bildungspolitik und Erziehungswissenschaften versäumten, sich mit den konkreten Auswirkungen der Reformen im Schulalltag vertieft auseinanderzusetzen. Ja, es brach eine eigentliche Euphorie zugunsten eines völligen Umbaus unserer Volksschule aus. Man kommt nicht darum herum, der damaligen vorherrschenden Politik den Vorwurf zu machen, sich bezüglich der realen Möglichkeiten unserer Schulen völlig verschätzt zu haben. Soziologische und didaktische Schlagwörter beherrschten die Schuldiskussionen. Die kritischen Geister in der Lehrerschaft hatten es in dieser überoptimistischen Aufbruchstimmung schwer, mit sachlichen Einwänden Gehör zu finden. Und in den neu gegründeten Pädagogischen Hochschulen wollten die fortschrittlichen Dozenten beweisen, dass jetzt neue Massstäbe in der Didaktik gelten sollten.

Um das Frühenglisch zu retten, setzte sich Buschor für ein Mehrsprachenkonzept für die Primarschule ein. Dass ihm dieser für die Schule verhängnisvolle Schritt gelang, war weniger Buschors Vorgehen als der Unentschlossenheit der Zürcher Lehrerschaft geschuldet.

Ein anschauliches Beispiel im Rahmen dieser Entwicklung war die Einführung der Mehrsprachendidaktik in der Primarschule. Ernst Buschor wollte ursprünglich Englisch anstelle von Französisch in der Primarschule einführen. Er wusste, dass er damit im Wirtschaftskanton Zürich auf eine breite Zustimmung zählen konnte. Doch er rechnete nicht mit der heftigen Opposition, die ihm aus der Romandie entgegenschlug. Um das Frühenglisch zu retten, setzte sich Buschor für ein Mehrsprachenkonzept für die Primarschule ein. Dass ihm dieser für die Schule verhängnisvolle Schritt gelang, war weniger Buschors Vorgehen als der Unentschlossenheit der Zürcher Lehrerschaft geschuldet. Diese hatte bereits sehr viel ins Frühenglisch investiert. Nach der Drohung des Bundesrats, man werde beim Beharren auf einer Fremdsprache nur das Frühfranzösisch zulassen, befürchteten die meisten Lehrpersonen, auf ein attraktives Fach verzichten zu müssen. Ohne diese entschlossene Gegenwehr war es für die Bildungsdirektion und die Pädagogischen Hochschulen leichter, das unselige Dreisprachenkonzept in der Primarschule durchzusetzen.

Visionäre können Erstarrtes auflösen, aber sie entfalten nur eine positive Wirkung, wenn sie auf den Widerstand reformwilliger Realisten treffen und ihre Ideen mit der Praxis in Übereinstimmung bringen müssen.

Ernst Buschor war ein Visionär, aber kein Praktiker. Er traf auf einen Zeitgeist, der auch in der Pädagogik stark vom internationalen Wettbewerb beeinflusst war und unsere Volksschule vor grosse Herausforderungen stellte. Visionäre können Erstarrtes auflösen, aber sie entfalten nur eine positive Wirkung, wenn sie auf den Widerstand reformwilliger Realisten treffen und ihre Ideen mit der Praxis in Übereinstimmung bringen müssen.

Ernst Buschor setzte sich für Leistungstests ein

Ernst Buschor war überzeugt, dass ihm die pädagogischen Wissenschaften wegweisende Antworten für die Umsetzung seiner Reformpläne geben würden. Er war durch und durch Professor, der sich im Wissenschaftsbetrieb auskannte, aber weniger mit der Tagespolitik und den realen Verhältnissen in der Volksschule vertraut war. Doch ausgerechnet die Erziehungswissenschaften neigten in jenen Jahren zu utopischen Vorstellungen wie dem immersiven Fremdsprachenlernen oder der radikalen Abkehr von der direkten Instruktion im Klassenunterricht. Buschors Ideen mussten nicht durch das Fegefeuer eines harten wissenschaftlichen Diskurses, sie wurden vielmehr freudig begrüsst und mit Pauken und Trompeten ungeprüft in der Praxis eingeführt.

Ernst Buschors freundliches Wesen machte es ihm möglich, Kritik an seinen Reformvorhaben auf sanfte Weise zu parieren. Oft hatte man allerdings den Eindruck, dass der Dialog mit ihm doch recht einseitig war. Im Nachhinein könnte man sagen, dass der Mangel an echter Auseinandersetzung mit pädagogischen Grundfragen und der fehlende politische Widerstand sich letztlich ungünstig auf die allgemeine Schulentwicklung auswirkte. Was jedoch von Ernst Buschors grosser Schaffenskraft bleibt, ist die Realisierung eines durchlässigen Bildungssystems mit Berufsmatur und Fachhochschulen. Es ist das Vermächtnis eines Menschen, dessen Gerechtigkeitssinn über alle Zweifel erhaben war.

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Ein verkannter Gestalter, der die Schule verändern wollte https://condorcet.ch/2023/10/ein-verkannter-gestalter-der-die-schule-veraendern-wollte/ https://condorcet.ch/2023/10/ein-verkannter-gestalter-der-die-schule-veraendern-wollte/#comments Fri, 27 Oct 2023 10:10:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=15210

Der ehemalige Bildungsdirektor des Kantons Zürich (1992 -2003) ist im Alter von 80 Jahren gestorben. Condorcet-Autor Alain Pichard verband mit ihm eine Art "Hass-Liebe". In seinem Beitrag erklärt er uns weshalb.

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Als junger linker Lehrer und Vertreter einer modernen, reformorientierten Schule hatte ich – im Gegensatz zu meinem Umfeld – durchaus Sympathien für den Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor, der 1995 den Bildungssektor nach betrieblichen Grundsätzen umzupflügen begann. Das hatte viel mit meiner damaligen beruflichen Situation zu tun. Wir wollten die Schule verändern, die Selektion abschaffen, Experimente wagen, Schülermitbestimmung einführen, Noten abschaffen und stiessen dabei immer wieder auf den Widerstand unserer älteren Kollegen und scheiterten an den starren Strukturen. Da kam Ernst Buschor gerade recht.  Seine sogenannte wirkungsgeführte Verwaltung (New Public Management) verfolgte die Trennung von strategischer und operativer Führung, wobei die einzelnen Verwaltungseinheiten eine Leistungs- und Kostenvorgabe erhielten. Mit diesen Leitlinien schuf Buschor die teilautonomen Schulen – eine einschneidende Änderung, gegen die sich vor allem ältere Lehrer zur Wehr setzten. Wir hingegen erhofften uns dadurch mehr Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Er war ein Visionär.

Obwohl der «Reformturbo», wie Ernst Buschor oft genannt wurde, 2002 mit der Ablehnung seines Volksschulgesetzes gebremst wurde, war sein Einfluss immens. Zwar war die Schule, wie Herr Buschor sie antraf, längst nicht in Lethargie versunken, wie er es der Öffentlichkeit weismachen wollte. Aber wir sahen die immer noch bestehenden Mängel unseres Schulsystems und all die Widerstände, die wir auch bei kleinsten Veränderungswünschen überwinden mussten oder sogar an ihnen scheiterten.

Die Gründung der pädagogischen Hochschulen

Bis dahin hatte jeder Lehrer im Grunde seine eigene Schule geführt. Diesem Einzelkämpfertum sagte Buschor den Kampf an, was durchaus in unserem Sinne war. In den teilautonomen Schulen sollten die Lehrer gemeinsam pädagogische Schwerpunkte setzen, Leitbilder und Jahresprogramme erarbeiten, und wenn sie Probleme mit ihren Klassen hatten, diese im Team besprechen. Buschor kritisierte das behördliche Weisungsgehabe und verlangte die Abtretung von möglichst viel Autonomie an die einzelnen Einheiten des Bildungswesens. Neben der Universitätsreform zählt die Einrichtung einer pädagogischen Hochschule zu Buschors grössten Leistungen. Die zuvor verstreuten Seminarien wurden an einem Ort zusammengefasst; die Straffung der Weiterbildungsangebote ermöglichte es den Lehrern, von einer Schulstufe auf eine andere zu wechseln. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Buschor die Aufwertung des Lehrerberufs anstrebte, was die Vertreter dieses Standes aber nicht wahrhaben wollten, wir hingegen als positiv erachteten. Ernst Buschor wollte das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umformen.

Die Ideen für seine Reformen holte sich der anerkannte Verwaltungsspezialist öfters im Ausland. Nach einem kalifornischen Vorbild startete Buschor das Schulprojekt 21. Vorgesehen waren – notabene schon damals – der Einsatz von Computern im Unterricht, altersdurchmischte Lerngruppen sowie die sogenannte Immersion beim Fremdsprachenunterricht: Mathematik zum Beispiel wird auf Englisch unterrichtet. Zum Verhängnis wurde diesem Mann die fehlende Praxisnähe und das Tempo, mit dem er vieles auf einmal durchsetzen wollte. Langfristig jedoch hatten seine Ideen eine grosse Wirkung, vor allem – und das war uns nicht bewusst – weil vieles bereits im globalen Trend lag.

1996 wurden im Kanton Bern die geleiteten Schulen eingeführt. Die Schulkommissionen traten mit der Zeit einen grossen Teil ihrer Kompetenzen an die Schulleitung ab oder sie wurden sogar ganz abgeschafft und durch die örtliche Schuldirektion ersetzt. Wir empfanden dies als eine dringend notwendige Professionalisierung.

Die PISA-Tests sahen auch wir als einen Schritt in eine datenbasierte Forschung, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen.

Das Zusammenwirken linker Reformpolitik und liberaler Modernisierung hatte dazu geführt, dass unsere Schule vor der HarmoS-Debatte und der Einführung des Lehrplans 21 in einer recht guten Verfassung war, was sich z. B. auch in der Bewältigung der Migrationswelle der späten 90er-Jahre manifestierte. Niemand von uns wollte wieder zurück in die Schule der sechziger Jahre.

Die Tests zeigen seit Jahren einen Trend

Die PISA-Tests sahen auch wir als einen Schritt in eine datenbasierte Forschung, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen. Und die Tatsache, dass das teuerste Schulsystem der Welt es fertigbringt, dass ein Fünftel der Schüler nicht einmal die tiefsten Standards beim Lesen erreicht, also praktisch als Illetristen aus der Schulpflicht entlassen wurden, konnte man ja nicht einfach wegdiskutieren. Es war uns – und wohl auch Buschor – nicht bewusst, welche schädlichen Auswirkungen diese Tests auf unsere Bildungkultur hatten.

Ich erinnere mich noch gut an ein Podium, auf welchem ich 2004 mit dem linken Gymnasiallehrer und (wie ich) Vorstandsmitglied der VPOD-Lehrergruppe, Guy Lévy, die Klingen kreuzte. Ich verteidigte damals einen Teil der «Buschor-Reformen» und plädierte für die geleiteten Schulen, für Feedbackkultur, für Standards und für die teilautonome Schule. Mein Gegenpart Lévy kritisierte meine Haltung als «Neoliberalismus» und mich als Steigbügelhalter einer ökonomistischen Bildungspolitik. Die Ironie der Geschichte: Heute wehre ich mich gegen die Auswüchse eines auf Output getrimmten ökonomistischen Bildungssystems, während mein damaliger Kontrahent Guy Lévy als Chefbeamter der bernischen Erziehungsdirektion sämtliche von ihm kritisierten Reformen umsetzte. Was ist also hier passiert?

Proteste: Man empfand ihn als Provokateur und Störenfried.

Die Kritik vieler meiner Freunde, eine Art Steigbügelhalter einer ökonomistischen Bildung zu sein, muss ich heute teilweise akzeptieren. Die linken Lehrkräfte, welche ihren Beruf liebten und ihm treu blieben, hatten bei weitem nicht den wissenschaftlichen Background, über den die frühen Kritiker der nun einsetzenden Bildungsreformen verfügten. Wir wussten nichts von den Bildungsvorgaben der OECD, kannten die Agenda der PISA-Promotoren nicht. Wir waren ziemlich naiv. Vor allem aber waren wir intensiv mit unserem Unterricht beschäftigt und sahen die kommenden Signale des bevorstehenden Umbaus höchstens in Form der immer umfassender werdenden bürokratischen Bevormundung.

Ernst Buschor war ein Theoretiker, der damals die richtigen Fragen stellte, seine Antworten in der Wirtschaft fand und sie ohne Rücksicht auf die Praxis umsetzen wollte.

Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass Ernst Buschor für das, was nach seinem Abgang als Bildungsdirektor im Jahre 2003 folgte, eine Verantwortung trägt. Ihn aber für die monströse Bürokratisierung unseres Bildungssystems, für die übergriffige Change-Management-Ideologie, für den Kompetenz-Quark und die stupide Überfrachtung unserer Lehrpläne verantwortlich zu machen, ist falsch. Ernst Buschor war ein Theoretiker, der damals die richtigen Fragen stellte, seine Antworten in der Wirtschaft fand und sie ohne Rücksicht auf die Praxis umsetzen wollte.

Es gehört zu einer gewissen Tragik dieses Mannes, dass er – betrachtet man die heutige Wirklichkeit – genau das Gegenteil erreichte.

Er strebte eigentlich die Befreiung der Schulen von staatlicher «Kontrollitis» an, er wollte eine «Öffentlich Rechtliche Schule» und ganz sicher keine Staatsschule, in welcher die Schulleitungen als die kleinen Feldwebel der Bildungsbehörden wirkten. Er war am Output interessiert und beabsichtigte, die Schule wirtschaftsfreundlicher zu machen. Es gehört zu einer gewissen Tragik dieses Mannes, dass er – betrachtet man die heutige Wirklichkeit – genau das Gegenteil erreichte. Heute haben wir eine Allianz von Wissenschaft, Politik und Verwaltung, welche ihre Agenda “top-down” durchzusetzen versucht. Die schulischen Inhalte sind so wirtschaftsfeindlich wie nie zuvor und der schulische Output sinkt. Dennoch gilt es festzuhalten: Ernst Buschor war ein Gestalter und Visionär, intelligent, hochanständig und wirkungsmächtig. Der Tages-Anzeiger schreibt: “Peter Grünenfelder, der spätere Avenir-Suisse-Chef, ist quasi der Ziehsohn von Buschor. Er war damals dessen persönlicher Mitarbeiter und erinnert sich: “Wir mussten ihn jeweils daran erinnern, dass Wahlkampf ist. Buschor war ein Anti-Politiker, der sich nicht um seine Wiederwahl kümmerte, aber mit extremer Arbeits- und Lebenslust etwas bewegen wollte.”  Wenn man sich die heutigen Bildungsdirektoren vergegenwärtigt, hat man unweigerlich das Gefühl, es mit blutleeren Vollstreckungsgehilfen einer ausser Rand und Band geratenen Bildungsverwaltung zu tun zu haben.

Ernst Buschor ist im Alter von 80 Jahren verstorben.

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Man kratzt an der Oberfläche und erreicht das Gegenteil https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/#comments Thu, 21 Sep 2023 15:06:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=14971

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin mit Pädagogik-Studium, beschäftigt sich in Ihrem Beitrag mit der ungenügenden Begründbarkeit vieler Reformen und analysiert messerscharf die gravierenden Konsequenzen.

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In den letzten Jahren prägen Schlagzeilen wie “Lehrpersonen am Ende – Druck auf die integrative Schule”, “Frühfranzösisch und integrative Schule – alles ein Fehler?”, “Frühfranzösisch an der Primarschule ist gescheitert”, “Wegen Gewalt an Schulen – 1000 Lehrer mussten zum Arzt”, “Viele Lehrer schmeissen wegen hoher Belastung hin”, “Eltern erstatten häufiger Anzeige gegen Lehrer”, “Wenn wir nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt”, “Lehrplan 21 im Sperrfeuer der Kritik” den schulischen Diskurs.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Nationalratskandidatin der GLP-Basel: Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Die Schlagzeilen, die Debatte und die Kritik beschäftigen sich mit Oberflächlichkeiten. Die Schule steht nicht mehr als Repräsentantin der Kultur und ihrer Aufgabe, diese mittels eines pädagogischen Auftrags zu tradieren, im Zentrum der Debatte. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass die Reformen der letzten Jahrzehnte, welche das Selbstverständnis der Schule erschüttert haben, reine Oberflächeninterventionen waren. Sie haben diese behäbige, prinzipiell konservative Institution mit Neuem überflutet. Dem Neuen, das seine Begründung und damit seinen Sinn weder aus der pädagogischen Praxis oder ihrer Theorie noch aus dem gesellschaftlichen Auftrag der Schule abgeleitet hat, sondern letztlich allein aus der Idee des Neuen selbst. Zusammenhangslos, theorielos, erfolglos und ziellos wurden unzählige Reformen – Beispiele werden weiter unten aufgeführt – den Schulen einfach übergestülpt.

Das hat nicht nur das Selbstverständnis der Schule, sondern auch das pädagogische Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer aus dem Gleichgewicht gebracht. Und die Auswirkungen auf verschiedenen Eben zeigen: Es hat das Vertrauen in die Institution und ihre Glaubwürdigkeit geschwächt. Und in der Debatte rund um die Oberflächlichkeitsphänomene geht vergessen, dass diese nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Es scheint, als wisse die Gesellschaft nicht mehr, was die pädagogische Praxis vor Ort leisten kann und soll. Es wird ihr viel zu viel zugemutet und gleichzeitig wird sie ständig kritisiert. Sie soll also alles richten und gleichzeitig traut man es ihr nicht zu. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, lebenslanges Lernen verlangt, aber an den Schulen verschwindet das Pädagogische, das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.

Die praxisfremden Oberflächenneuerungen

Der Lehrplan 21 mit seinen unzähligen Kompetenzen wurde erfunden; neue methodisch-didaktische Konzepte ausgeklügelt, die immer mehr Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler delegieren, weil die ältere Generation meint, die jüngere wisse es besser. Gleichzeitig stiehlt sich die ältere damit der Verantwortung; die Integration aller Kinder vorangetrieben ohne zu berücksichtigen, dass es Kinder gibt, die auf einen spezifischen, ihren Fähigkeiten angemessenen Unterricht angewiesen sind, damit sie später an der Gesellschaft teilhaben können; das Frühfranzösisch wurde eingeführt, ohne zu beachten, dass frühes Erlernen einer Fremdsprache nicht einfach besser ist, sondern dass das Erlernen von Neuem immer auch in einem altersabhängig angemessenen Kontext stattfinden muss, damit es Erfolg haben kann; die Schule wurde mit digitalen Geräten geflutet, um auf die Digitalisierung vorzubereiten, was auch immer das heissen mag, ohne zu berücksichtigen, dass Lernen und Lehren eine grundsätzlich personale Angelegenheit ist und dass die Nutzung technischer Hilfsmittel keine pädagogische Praxis an sich ist.

Die Wirkung der Neuerungen

Dem kann man entgegenhalten, dass dies alles ja nur Oberflächeninterventionen seien, doch diese haben die Schule in ihrem Kern getroffen, da damit eine grundlegende Umgestaltung der pädagogischen Praxis erfolgt ist.

Die unzähligen Kompetenzen des Lehrplans 21 führen in ihrer Oberflächlichkeit genau dazu, dass alles Wesentliche nur noch angetippt wird; es fehlt die Zeit für die vertiefte Beschäftigung, für das Verstehen, für das Üben. Hektisch und atemlos wird versucht, diese Können-Formulierungen irgendwie umzusetzen. Und da die Lehrpersonen hier an ihre Grenzen stossen, werden die Kompetenzformulierungen einfach den Schülerinnen und Schülern übergeben zusammen mit entsprechenden Aufträgen und so genannten Dossiers.

Die methodisch-didaktischen Konzepte treiben die Individualisierung des Unterrichts in unterschiedlichen Variationen voran, die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden; die gemeinsame Ansprache, worauf das Unterrichten im Kollektiv, wie es an der Schule nun einmal stattfindet, angewiesen ist, wird als Frontalunterricht diskreditiert und dem Prinzip der Individualisierung als unterrichtsleitend gegenübergestellt.

Die integrative Schule ist eine Schule für immer weniger

Die so genannt integrative Schule hat genau das Gegenteil ihrer Absicht verwirklicht: Noch nie hatten so viele Kinder einen so genannten Förderbedarf, noch nie wurden so viele Diagnosen gestellt, verstärkte Massnahmen finanziert, Therapien an Schulen durchgeführt und noch nie wurde so oft moniert, dass die Lehrpersonen aufgrund der Zunahme von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern an ihre Grenzen stossen. Die integrative Schule ist nicht eine Schule für alle, sondern eine Schule für immer weniger, denn immer mehr brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.

Dass das Frühfranzösisch scheitern würde, war vorhersehbar, denn das Konzept des Sprachbads während zwei bis drei Lektionen pro Woche ist weder begründbar noch nachvollziehbar. Doch es ist auch ein Zeichen der Zeit, dass das Experiment das Mittel der Wahl ist und das Argument im Vorfeld keine Chance hat. Dass mit diesem Konzept mehrere Millionen in den Sand gesetzt wurden, dass der Stellenwert des Französisch als Landessprache zusätzlich geschwächt wurde, dass Kinder unzählige Lektionen in einem ineffektiven Unterricht verbringen, das wurde einfach in Kauf genommen.

Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Turbodigitalisierung hat den Lernerfolg nicht gesteigert, im Gegenteil. Es ist empirisch erwiesen, dass das Lesen am Bildschirm oberflächlicher erfolgt als in Büchern, dass der Wortschatz kleiner wird und die Fähigkeit zur Textproduktion sinkt, je häufiger digitale Medien genutzt werden, dass das Schreiben von Hand dem Schreiben mit digitalen Endgeräten überlegen ist. Ganz abgesehen davon führt die extensive Nutzung digitaler Geräte an Schulen dazu, dass die sozialen Interaktionen abnehmen, dass jeder zunehmend nur mit seinem Gerät beschäftigt ist, dass die Lehrperson hinter den Bildschirmen verschwindet und das Wissen irgendwo in den Sphären gesucht werden muss, kurz: Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Debatte der Oberflächlichkeiten

Die nun sichtbar gewordenen problematischen Auswirkungen der oberflächlichen Reformen führen zu öffentlichen Debatten, bei welchen alle mitreden, alle sich aufregen, alle kritisieren, alle alles besser wissen können. Sie führen zu oberflächlichen Diskursen und verfehlen damit einerseits die grundsätzliche Problematik eines möglichen Scheiterns der öffentlichen Schule und andererseits werden sie der Komplexität des gesellschaftlichen Auftrags an die Schule, der pädagogischen Praxis und deren Widersprüchlichkeiten nicht gerecht. Man redet über jene Phänomene des Scheiterns, die nun sichtbar werden, ohne nach den eigentlichen Ursachen zu fragen.

Ein Lehrplan, der das Können formuliert, vergisst, dass dieses nicht einfach hergestellt werden kann und dass es grundsätzlich ausschliesst, dass Bildung viel mehr ist, als dass, was verwertet werden kann. Eine finale Formulierung von Kompetenzen schliesst Neugierde, Begeisterung, verstehen Wollen und alles Schöne, aber vielleicht nicht direkt Verwertbare aus. Ausserdem erhebt sie den Anspruch, dass es Instanzen gibt, die genau wissen, was überhaupt gewusst werden soll. Sie nehmen der pädagogischen Praxis die Sinnhaftigkeit, die weit über das hinausgeht zu vermitteln, was unmittelbar als nützlich erachtet wird. Und so diskutieren wir über die Ausformulierung und die Anzahl von Kompetenzen, statt über das Lernen im Kollektiv mit dem Ziel, sich die Welt ein Stück weit anzueignen und sich dadurch einbringen zu können.

Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten.

Individualisierende Unterrichtsformen sollen den Lernbedürfnissen des einzelnen Kindes entgegenkommen, jedes Kind soll als Individuum wahrgenommen und sich selbst sein dürfen, sein aktueller Lernstand soll erhoben und spezifische, darauf ausgerichtete Lernangebote sollen bereitgestellt werden oder es soll aus einem breiten Angebot in einer Lernlandschaft selbst wählen können, was es gerade lernen möchte. Dabei stiehlt sich die Erwachsenenwelt aus ihrer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation und lässt sie zunehmend allein und auf sich selbst bezogen. Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten. Das heisst, die Erwartungen bleiben dieselben, aber sie werden nicht mehr direkt kommuniziert, sondern die Schülerinnen und Schüler müssen sie selbst entdecken, was bedeutend schwieriger ist. Wir Menschen sind soziale Wesen und leben in einer geteilten Welt. Nicht die Debatten darüber, wie die Schule noch mehr auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes eingehen könnte, ist zielführend, sondern die Besinnung darauf, dass wir soziale Wesen sind. Gerade diese herausfordernde Praxis, dass wir, auch wenn wir alle unterschiedlich sind, die Welt teilen und stets von Neuem aushandeln müssen, wie wir zusammenleben wollen, können wir in der Schule erlernen.

Wir reden darüber, mit wie viel zusätzlichen finanziellen Mitteln und zusätzlichen therapeutischen Angeboten wir die integrative Schule retten können, statt darüber zu reden, dass es einige wenige Kinder gibt, für welche die Regelschule nicht das angemessene Setting bieten kann, weil sie nicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingeht. Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen bei immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu. Dies wird dann mit gesellschaftlichen Veränderungen begründet, auch wenn die Probleme systemimmanent sind. Wir gehen tatsächlich so weit, eine immer grössere Anzahl von Kindern und Jugendlichen als förder- und therapiebedürftig zu bezeichnen, anstatt darüber zu reden, wie sehr wir die Schülerinnen und Schüler allein lassen, weil sie sogar ihre Lernziele selbst wählen können, obwohl sie wissen, dass überall versteckte Erwartungen lauern.

Wir streiten über die Ineffizienz des Französischunterrichts, statt darüber zu reden, wie wichtig es für ein mehrsprachiges Land ist, sich gegenseitig zu verstehen und sich austauschen zu können.

Obwohl Digitalisierung ein sehr unscharfer Begriff ist, hat diese Idee und die dafür bereitgestellten Millionenbudgets an den Schulen dazu geführt, dass zunehmend digitale Endgeräte eingesetzt werden. Aktuell wird darüber diskutiert, ob KI und ChatGPT für die Schulen eine Gefahr, eine Revolution oder ein Segen seien. Sie sollen personalisierte Lernprogramme erstellen, den Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern eruieren können und sie beim Lernen unterstützen. Wir aber sollten öffentlich darüber diskutieren, ob wir als Menschen, die das Wissen in unseren Köpfen an die Köpfe der nächsten Generation weitergeben, angereichert mit unserer Begeisterung und unseren Erfahrungen, in einer pädagogischen Beziehung, die auf Vertrauen, Zutrauen, Zumuten und einer manchmal kontrafaktisch positiven Erwartungshaltung basiert, diese Aufgabe tatsächlich an Maschinen delegieren wollen.

Worüber wir eigentlich debattieren sollten

Die Ausführungen wollen aufzeigen, dass die oberflächlichen Reformen der letzten Jahrzehnte und die ausufernden Zumutungen an die Schule sowie die damit einhergehenden oberflächlichen, öffentlichen Debatten die pädagogische Praxis und die Schule als wesentliche Institution einer Demokratie irritiert und verunsichert haben Die Schule als Ort der Widersprüchlichkeiten, des möglichen Scheiterns, der Horizonterweiterung, der personalen pädagogischen Beziehungen, der Begeisterung und der Langeweile, des Lernens im Kollektiv, der Weltzugänge sowie der Freundschaften und der Streitigkeiten ist eine äusserst komplexe Institution. Sie ist auf ein pädagogisches Selbstverständnis angewiesen, das ihren Sinn zumindest teilweise begründet. Das ist der unsichtbare, aber überlebenswichtige Teil des Eisbergs, über welchen wir nicht debattieren. Wenn wir uns nicht damit befassen, sondern nur mit den über dem Meeresspiegel sichtbaren Oberflächlichkeiten, die jeder aus seiner individuellen Perspektive wahrnimmt, interpretiert und kritisiert, dann wird der unsichtbare Teil möglichweise eines Tages geschmolzen sein, ohne dass wir es bemerkt haben. Und wir werden uns fragen, warum die öffentliche Schule verschwunden ist, spätestens dann, wenn niemand mehr dort unterrichten wird.

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In der Gestaltungsfreiheit der Lehrerinnen und Lehrer liegt der Schlüssel zum Schulerfolg https://condorcet.ch/2023/08/in-der-gestaltungsfreiheit-der-lehrerinnen-und-lehrer-liegt-der-schluessel-zum-schulerfolg/ https://condorcet.ch/2023/08/in-der-gestaltungsfreiheit-der-lehrerinnen-und-lehrer-liegt-der-schluessel-zum-schulerfolg/#respond Mon, 28 Aug 2023 07:11:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=14867

Condorcet-Auto Hanspeter Amstutz, mittlerweile pensionierter Volksschullehrer aus dem Kanton Zürich, Mitbegründer der Starken Volksschule Kanton Zürich, arbeitet seit Jahrzehnten daran, die Schule gegen unsinnige Reformen zu verteidigen und sie somit wieder auf die Füsse zu stellen. Alle zwei Wochen geben er und seine Mitstreiter eine Sammlung interessanter Bildungsartikel aus der schweizerischen Presslandschaft heraus. Diese werden jeweils mit einem Newsletter angekündigt. Wir weisen immer auf diesen Newsletter in unserem Lila-Kasten "Unsere Starken" hin. Für einmal aber wollen wir Ihnen, liebe Condorcet-Leserinnen und -Leser, den Newsletter als Condorcet-Beitrag in der ganzen Länge zur Verfügung stellen. Es ist unser Obulus an die einmalige Schaffenskraft dieses Pädagogen und Menschenfreundes, aber auch eine Anerkennung an die Leistung seiner Mitstreiter. Einige der vorgestellten Artikel finden Sie auch auf unserem Blog, die anderen können auf der Webseite der "Starken Schule Zürich" heruntergeladen werden.

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Für Carl Bossard ist das Unterrichten eines Klassenzugs wie eine Fahrt mit einem Segelschiff über einen Ozean mit einem verheissungsvollen Ziel. Erwartungsvoll sind die Schülerinnen und Schüler in diesen Tagen an Bord gegangen. Für viele ist es ein Aufbruch zu neuen Ufern, für andere eine Weiterfahrt auf dem nächsten Abschnitt ihrer abenteuerlichen Reise. Geleitet von einem kundigen Kapitän vertrauen sie darauf, dass man den kommenden Stürmen trotzen und das Ziel erreichen wird. Eine Schulklasse als aktive Mannschaft auf einem Segelschiff, was für ein eindrückliches Bild!

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Da ist alles durchgetaktet wie in einem Eisenbahnfahrplan.

Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass eine gute Vorbereitung wichtig ist für das Gelingen des Unternehmens. Sie haben sich mit dem Schulstoff gründlich auseinandergesetzt und nehmen einen reichhaltigen Proviant auf die Fahrt mit. Die Windrichtung und die Windstärke können sie nicht beeinflussen, aber die Navigation müssen sie beherrschen und die Mannschaft durch gezieltes Training auf lebenswichtige Einsätze einspielen. Im Sinnbild des Segelns erkennt Carl Bossard ein erhebliches Spannungsfeld zwischen dem Planbaren und dem Unberechenbaren in der täglichen Unterrichtsarbeit.

Bei einem Blick auf den neuen Lehrplan hat man allerdings nicht den Eindruck, dass in der Pädagogik dem Unwägbaren genug Raum gewährt wird. Da ist alles durchgetaktet wie in einem Eisenbahnfahrplan. Nicht wie ein von der Windstärke und den Strömungen abhängiges Segelschiff, sondern wie ein schienengebundener TGV sollen die Schulklassen ihre Kompetenzziele erreichen. Diese Schnellzugsfahrten zu unzähligen Destinationen mit planmässigen Halten an Teilkompetenz-Stationen erweckt den Eindruck eines von zentralen Stellwerken gesteuerten Bahnsystems. Lehrpersonen sind dabei in den Augen mancher Bildungsplaner eher ausführende Beamte als eigenständig handelnde Persönlichkeiten.

Das überfüllte Bildungsprogramm erzeugt Hektik und untergräbt echte Bildung

Das Verkennen der schulischen Realitäten belastet unsere Schule zusehends. Der neue Lehrplan versagt als Bildungskompass, weil er durch seine Überfülle an Kompetenzzielen und inhaltlicher Beliebigkeit keine Orientierungshilfe bietet.

Die aktuelle Rhetorik von den grossen Freiheiten im Lehrerberuf tönt hohl, solange unter Bildung nur die Vorstellung von einem planmässigen Abarbeiten einer riesigen Zahl von Kompetenzzielen verstanden wird.

Solange der Mut zum Ausmisten fehlt, bleibt bei den meisten Lehrpersonen ein mulmiges Gefühl des Verpassens von Bildungszielen hängen. Es braucht keine zweite Fremdsprache in der Primarschule und viele Kompetenzziele aus dem Bildungs-Wunschbereich könnten gestrichen werden. Unterrichtende sollen sich an wesentlichen Aufträgen orientieren können, die sie auch mit schwierigen Klassen erfüllen werden. Die aktuelle Rhetorik von den grossen Freiheiten im Lehrerberuf tönt hohl, solange unter Bildung nur die Vorstellung von einem planmässigen Abarbeiten einer riesigen Zahl von Kompetenzzielen verstanden wird.

Eine gute pädagogische Beziehung benötigt Zeit

Der Gestaltungsspielraum in der Volksschule ist noch von einer anderen Seite her bedroht. Grund ist die einschneidende Doktrin mit dem Zwang zur Integration aller Schüler in Regelklassen. Wenn sich eine Lehrerin mit einem schwer störenden Schüler immer wieder beschäftigen muss, erschwert dies das Unterrichten in freieren Lernformen erheblich. Aber auch geistig behinderte Kinder, denen eine spezielle Förderung in einer Kleingruppe weit mehr Erfolg brächte, fühlen sich unwohl in Regelklassen und kommen nicht weiter. In gleich zwei Gastbeiträgen und einem Leserbrief wird die aktuelle Integrationspolitik ohne alternative Möglichkeiten scharf kritisiert. Beat Kissling hebt die Rolle der Lehrerin als Bezugsperson für jedes Kind hervor. Der Autor sieht in der verstärkten Zuwendung und der erzieherischen Arbeit den entscheidenden Faktor für den Erfolg der Integration. Das gelingt in einer Kleinklasse oft besser als in Regelklassen mit viel selbständigem Lernen.

Völlig zu Unrecht werde heute die soziale Integrationsleistung von Kleinklassen unterschätzt.

Eliane Perret: Beobachtet seit 30 Jahren Kinder und Jugendliche sehr genau.

Eliane Perret wiederum befasst sich eingehend mit der Geschichte der Sonderpädagogik und weist nach, dass die sonderpädagogische Förderung wesentliche schulische Verbesserungen für benachteiligte Schüler brachte. Völlig zu Unrecht werde heute die soziale Integrationsleistung von Kleinklassen unterschätzt. Eine stark von der Biologie her geprägte Pädagogik habe mit ihrem veränderten Menschenbild die Bedeutung des Erzieherischen abgewertet. In einer Regelklasse einfach anwesend sein und uninteressiert an einem Lernprogramm teilzunehmen, bedeute nicht, dass ein benachteiligter Schüler dabei integriert wird. Manche Kinder würden in den Regelklassen im Stich gelassen, weil keine ausreichenden Betreuungsverhältnisse vorhanden seien. Auch da wäre ein unbefangener Blick auf die Schulrealität dringend nötig.

Ein eindrückliches Bild von den möglichen Freiheiten eines Lehrers zeigt ein Interview in der NZZ mit einem Mathematiklehrer einer Mittelschule. Da wird gründlich aufgeräumt mit der Vorstellung, dass die Menge der abgearbeiteten Kompetenzen ein Massstab für guten Unterricht sei. Der Lehrer betont, bei jedem Thema müsse man sich vergewissern, dass die mathematischen Grundlagen wirklich vorhanden seien. Dafür müsse man sich in jedem Fall Zeit nehmen und die Lernknoten auflösen. Wenn die Schüler dort abgeholt werden, wo sie in ihrem Mathematikverständnis stehen, verschwinden die Blockaden bald einmal und es öffnen sich für alle weite Türen. Dabei soll ein Lehrer den Mut haben, sich beim Schulstoff auf die wesentlichen Themen zu konzentrieren. Schade, dass wir nicht erfahren, was dieser erfolgreiche Mittelschullehrer über den Lehrplan der Volksschule denkt.

Kritische Gedanken zu trendigen Reformen und einem unsinnigen Vorhaben

Wer sich gerne kritisch mit trendigen pädagogischen Strömungen befassen möchte, wird bei zwei weiteren Beiträgen von Eliane Perret auf seine Rechnung kommen. Im ersten setzt sich die Autorin mit internationalen Studien über das digitale Lernen am Bildschirm auseinander.

Aufgrund der vorwiegend negativen Studienergebnisse haben verschiedene europäische Regierungsstellen zur Zurückhaltung bei der schulischen Digitalisierung aufgerufen. Im zweiten Beitrag nimmt Eliane Perret den 400-seitigen Schweizer Bildungsbericht unter die Lupe. Sie stellt fest, dass der Bildungsdampfer Schweiz arge Schäden aufweist. Obwohl diverse gravierende Mängel im Bericht genannt werden, kommen aus dem Kreis untersuchenden Wissenschafter keine überzeugenden Vorschläge zur gründlichen Revision des Dampfers. Vielleicht müsste man einen neuen bauen, meint die Autorin.

Zum Schluss noch ein kleiner Paukenschlag. Offenbar haben gewisse Politiker noch immer nicht gemerkt, dass die Schule keine neuen unsinnigen Reformen mehr braucht. Nur so ist es zu erklären, dass in der Stadt Zürich die Primarschule nach den Zyklen des Lehrplans auch organisatorisch umgekrempelt werden soll. Worum es dabei geht, lesen Sie in einem Bericht des Tages-Anzeigers und in der saftigen Antwort eines Leserbriefschreibers.

Wir von der Starken Volksschule Zürich sind auf jeden Fall interessiert, den Dampfer Volksschule ozeantauglich zu machen und nicht länger orientierungslos auf Fahrt zu schicken.

Für das Redaktionsteam
Hanspeter Amstutz

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“Es gibt überall die Cleveren und die weniger Cleveren” https://condorcet.ch/2023/08/es-gibt-ueberall-die-cleveren-und-die-weniger-cleveren/ https://condorcet.ch/2023/08/es-gibt-ueberall-die-cleveren-und-die-weniger-cleveren/#comments Mon, 28 Aug 2023 06:43:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=14855

Zum Schulstart: Worauf kommt es im Schulzimmer an? Eine Bilanz des Primarlehrers Hansjörg Tanner. Ein einfühlsames Porträt des NZZ-Journalisten Samuel Tanner, das in der NZZ erschienen ist.

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In diesen Tagen, wenn die Schulen nach den Ferien erwachen, erscheinen wieder die Berichte über den Lehrkräftemangel. Es gibt zu wenige Lehrerinnen, und zu wenige Lehrer sowieso. Laien werden porträtiert, die aus irgendeiner Werkstatt ans Lehrerpult gewechselt sind. Klagelieder erklingen: über immergleiche, immer neu variierende Reformen. Und die oberste Lehrerin der Schweiz fordert, wie zuletzt in einem Interview mit der Zeitung “Die Zeit”: “Wir dürfen diesen Beruf nicht demontieren.”

In diesem Sommer bin ich zu dem Dorfschulhaus in Marbach, Kanton St. Gallen, zurückgekehrt, in dem ich die Mittelstufe besucht hatte. Fast alles war noch da: unten auf dem roten Platz der Torpfosten, an dem ich mir meine Frontzähne ausschlug, oben im Treppenhaus die Scherenschnitte an den Wänden. Das Schulhaus Feld ist für mich ein besonderer Ort, auch weil einer der Lehrer mein Vater war.

Ich sass hinten, auf einem der Kinderstühle, und fragte mich, worauf es als Lehrer ankommt.

An dem Nachmittag sass er vorne am Klavier und begleitete seine Klasse zu einem letzten Lied. Dann begannen die Sommerferien – und endete sein Leben als Lehrer. 42 Jahre lang unterrichtete er die Kinder im Dorf. Er war in der Stadt St. Gallen aufgewachsen, in einer Zeit von Lehrerüberfluss. Er hätte überall unterrichtet, am Ende bewarb er sich auf eine kleine Notiz, die die Schulgemeinde Marbach im Amtlichen Schulblatt publiziert hatte: “Tüchtige Bewerber/innen finden bei uns günstige Klassenbestände und neuzeitlich eingerichtete Schulräume.”

Als er im Winter 1981 zum ersten Mal nach Marbach kam, war das Wetter eisig. Einer seiner zukünftigen Schüler lag mit einer Platzwunde in der Einfahrt – er war beim Eisschlittern gestürzt. Mein Vater bekam die Stelle, er sollte hier seine Frau kennenlernen, eine Familie gründen und nie mehr eine andere Stelle antreten, bis zu diesem Tag am Klavier, seinem letzten Schultag.

Ich sass hinten, auf einem der Kinderstühle, und fragte mich, worauf es als Lehrer ankommt: Was sind die Lektionen, die er hier gelernt und gelehrt hat?

I. Die Welt als Schulstoff

Als er am Tag seiner Pensionierung am Klavier sass, waren die Wände um ihn herum schon kahl. Nur ein kleiner Vespa-Kalender hing noch über seinem Pult. Sein Schulzimmer im obersten Stock unter dem Dach, mit riesigen Fensterfronten, war eine eigene Welt. Jetzt, als wir uns in den Sommerferien treffen, richtet er sie mit Worten noch einmal ein.

Der Vater hat zu den Kindern gesagt, sie müssten wie ein Schwamm sein: aufsaugen und behalten.

“Ich hatte nie eine perfekte Ordnung”, sagt er, “ich wollte einen Ort, an dem es einem wohl ist. Es lagen Spiele aus, oder die ‘Tierwelt’, oder Lexika. Die Hoffnung war immer: Wenn sie unter H den Hund suchen, werden sie auf der Doppelseite noch anderes finden.” Er habe zu den Kindern gesagt, sie müssten wie ein Schwamm sein: aufsaugen und behalten. Das Behalten, sagt er, war manchmal schwierig.

Nach dem Unfall im Gotthard-Basistunnel ein aktuelles Thema für den Schulunterricht: Warum ist der Gotthard wichtig? ICE in Erstfeld UR.

Aus seinem Schulzimmer sah man hinauf in die Berge, hinaus ins Riet. “Das Leben draussen lehrt dich mehr als die Schule”, glaubt mein Vater, “ich sagte oft: ‘Hey, lueged emol use!'” Früher begann der Geschichtsunterricht in der Mittelstufe bei den Pfahlbauten und den Alemannen. Aber anderes war ihm ein grösseres Anliegen: In der vierten Klasse zeigte er den Kindern das Dorf, in der fünften den Kanton, in der sechsten die Schweiz. Wenn die Tour de Suisse durch das Land fuhr, unterrichtete er über die Distanzen und Zeiten im Velorennen und lehrte nebenbei auch noch die Alpenpässe. Er habe zu den Kindern gesagt, sie müssten wie ein Schwamm sein: aufsaugen und behalten. “Gäbe ich jetzt noch Schule”, sagt er, “hätte mir der aktuelle Unfall im Gotthardtunnel sicher zwei Lektionen gefüllt: Wo ist der Gotthard? Warum ist er wichtig? Was ist ein Basistunnel? Die Kinder sollten merken, wie alles miteinander verknüpft ist.” Ich glaube, mein Vater war ein Lehrer, der in der Welt den Schulstoff suchte und nicht im Schulstoff die Welt.

“Gäbe ich jetzt noch Schule, hätte mir der aktuelle Unfall im Gotthardtunnel sicher zwei Lektionen gefüllt.”

Zu seiner Pensionierung hat ihm eine andere Lehrerin aus dem Dorf einen Film geschnitten, in dem ehemalige Schülerinnen und Schüler erzählten, was ihnen aus der Schulzeit “beim Herrn Tanner” geblieben ist: der Ausflug zur Portalpina, das Skilager, die Erkundigungen im Engadin. Mein Vater kam mir manchmal vor, als sei er eine Art Andreas Moser unter den Lehrern: Als Schüler bekam ich mit, wie seine Schülerinnen und Schüler mit Lupen in den Wald ausrückten, oder mit dem Velo an den Alten Rhein.

“Es ist ein hoher Anspruch”, sagt mein Vater, “aber im Idealfall kannst du alle Kinder irgendwie packen, auch wenn es nicht im Schulzimmer ist.”

II. Der “Tüpflischiisser” am Klavier

In den Wochen nach seinem Schulabschluss hat mein Vater sein Archiv sortiert. Er zeigt mir einen Notizzettel, den er aus seiner Anfangszeit aufbewahrt hat. Titel: “Regeln”.

– Wenn es läutet, sitzen wir auf unseren Plätzen

– Wir halten den Finkenraum in Ordnung

– In der Pause dürfen alle mitspielen

– Die Schulsachen tragen wir im Tornister nach Hause

Er hat die Regeln über die Zeit gerettet. Mein Vater galt im Dorf als strenger Lehrer. Es hiess, wenn er am Morgen auf seinem Velo pfeifend zum Schulhaus fahre, sei alles gut. Wenn er nicht pfeife, werde der Unterricht anders als sonst. “Ich war ein ‘Tüpflischiisser'”, sagt er, “aber ich wusste, warum ich einer war. Ich glaube, die Kinder haben es leichter, wenn sie wissen, was von ihnen erwartet wird, und wenn sich die Regeln nicht ständig verändern.”

Bei ihm entstanden die ausgelassenen Momente aus der Ordnung, nicht aus der Verwegenheit.

Was ihn als Lehrer vielleicht charakterisiert, ist sein Morgenritual: Zuerst wollte er jedem Kind die Hand schütteln, auch um zu sehen, wer müde und wer schon wach war. Dann setzte er sich ans Klavier, um mit der Klasse zu singen. Jeden Morgen. Bei ihm entstanden die ausgelassenen Momente aus der Ordnung, nicht aus der Verwegenheit. Abends im Skilager, an der Handorgel, sang er mit den Kindern “Von den blauen Bergen kommen wir / Unser Lehrer ist genauso dumm wie wir”, bis sie aufgedreht waren – aber dann drehte er auch wieder herunter.

Ende der neunziger Jahre, vor seinem ersten Bildungsurlaub, geriet er in eine Krise. Jüngere Lehrer zogen ins Schulhaus ein, und mit ihnen ein neuer Stil. Sie liessen die Kinder durch die Gänge rennen, die Türe schletzen, alles easy. “Ich fragte mich: Bin ich noch zeitgemäss?”, sagt mein Vater. Als er im Bildungsurlaub in einer Werkstatt von Polymechanikern mitarbeitete, sagte ihm einer der Lehrlinge: Dieses Tuch bitte dahin, jenes Werkzeug dahin, so will es der Chef. “In dieser Werkstatt bekam ich das Gefühl: Ich bin schon auf dem richtigen Weg. Wenn 5,20 Millimeter gefragt sind, dann sind es nicht 5,15 Millimeter. So ist das Leben nicht immer, aber so ist es auch.”

III. Die Angst vor Hunden

Mein Vater unterrichtete schon gerne, als er noch Schüler war. Auf der Primarstufe war er ein sogenannter Stellvertreter des Lehrers – und wenn dieser nicht erschien, was ab und zu vorkam, übernahm er den Laden und liess, schon damals, aus dem Gesangbuch singen. Er leitete Lager im Cevi. Und dann ging er ans Lehrerseminar. Nach der Probezeit wollte er wegen einiger schlechter Noten aber zu einem Psychologen. Er fragte sich: Bin ich clever genug? Mein Vater sagt, wenn er Eltern jeweils darüber informierte, dass ihr Kind in der Realschule besser aufgehoben wäre als in der Sek, dann habe er manchmal von sich erzählt: “Man kann es auch zu etwas bringen, wenn es einmal stockt.”

In der Zeit, in der er in Marbach anfing, unterrichteten ältere Lehrer noch mit der Krawatte, die sie wie eine Unantastbarkeitsurkunde vor sich hertrugen. Wenn ich an meinen Vater als Lehrer denke, dann trägt er kurze Hosen und ein Kurzarmhemd. Er war auch am Wochenende erreichbar, aber er gab seine Handynummer nicht heraus. Er unterrichtete gerne frontal, “um die Filaxe im Auge zu behalten”, wie er sagt, aber die Kinder konnten sich an Sechsertische setzen, wenn sie trotzdem aufpassten. Er brauchte das Whiteboard, das sie ihm gegen Ende ins Schulzimmer stellten, nicht mehr richtig, aber als Leinwand, um den Kindern einen Film über die Schneeräumung am Sustenpass zu zeigen.

“Man kann es auch zu etwas bringen, wenn es einmal stockt.”

Ihm war es wichtig, dass es weiterhin Prüfungen gibt, aber er wollte, dass man auch Schwächen zeigen darf. “Die Kinder wissen sowieso genau, wer wo gut ist und wo eine Pfeife”, sagt er. “Sie merkten sofort, dass ich nicht zeichnen kann. Wenn ich einen Elefanten zeichnete, musste ich darunterschreiben: Elefant. Und sie wussten, dass ich Angst habe vor Hunden. Es gab Klassen, die mich dann in die Mitte nahmen auf einem Ausflug.”

Ich glaube, mein Vater stand als Lehrer immer ein bisschen zwischen den Trends und den Reformen, die über die Schule hereinbrachen.

IV. Du bist mir nicht Wurst

Seine Schulreisen führten immer mal wieder auf den nahen Kronberg, da konnten sich die Zeiten rundherum noch so verändern. In der ersten Klasse hatte er noch kein Migrantenkind, nachher kamen sie aus Vietnam, aus dem früheren Jugoslawien, aus Sri Lanka, dann aus Kosovo, aus Afghanistan. In seiner letzten Klasse hatte er einen Buben aus der Ukraine.

Möglichst schnell Deutsch lernen. Das ist für Migrantenkinder nicht nur für den Unterricht wichtig, sondern auch für die Pause.

“Es gibt überall die Cleveren und die weniger Cleveren”, sagt mein Vater, “alle haben irgendwo ihre Stärken. Elementar ist einfach: möglichst schnell Deutsch lernen. Das ist nicht nur für den Unterricht wichtig, sondern auch für die Pause.”

Die Kinder sind selbstbewusster geworden – “und kritischer, zusammen mit den Eltern”. Im besten Fall sei das schön, sagt mein Vater, aber der Lehrerberuf sei sicher “vielbräuchiger” geworden. Er hatte Eltern, die ihm sagten, ein Übertritt in die Realschule bedeute “eine Katastrophe”. Ein Bub zog die Hosen herunter, um zu zeigen, wo der Vater zuschlug. Mein Vater schaltete die Schulsozialarbeit ein. Und als er an ein schwieriges Elterngespräch nicht allein gehen wollte, nahm er den Schulpräsidenten mit. Ein anderes Kind schickte er in eine Time-out-Klasse ausserhalb des Dorfs. Aber am Ende fand man meistens den Rank.

Mein Vater lässt die Dinge nicht schleifen, ihm ist nichts egal. Inzwischen glaube ich, es geht nicht anders, wenn einem etwas wichtig ist. Das ist eine Lektion, die ich von ihm gelernt habe.

“Du musst das Vertrauen der Kinder gewinnen”, sagt er, “indem du dich für sie interessierst: Wieso sind sie gestresst? Haben sie ein familiäres Problem? Und dann sagte ich ihnen oft: Das Reiben aneinander, zwischen Schüler und Lehrer, ist ein Zeichen, dass einem jemand wichtig ist. Wenn du mir Wurst bist, setz ich dich in eine Ecke, und du schreibst irgendwas ab. Wir sitzen jetzt zusammen und suchen eine Lösung, weil du mir nicht Wurst bist.”

Als ich ihm zuhöre, denke ich, er rede über mich, über uns. Obwohl ich nie zu ihm in die Schule ging. Als Kind fragte ich mich manchmal, wieso er nicht ein bisschen lockerer sein konnte, wenn wir zu Hause die Schuhe nicht schön nebeneinandergestellt hatten. Mein Vater lässt die Dinge nicht schleifen, ihm ist nichts egal. Inzwischen glaube ich, es geht nicht anders, wenn einem etwas wichtig ist. Das ist eine Lektion, die ich von ihm gelernt habe.

Was von einem Lehrerleben bleibt? Verblichene Schulzimmerwände, wo früher Postkarten hingen.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen

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