Rahmenlehrplan - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 30 Mar 2024 07:45:07 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Rahmenlehrplan - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wie ideologisch sind unsere Schulen? https://condorcet.ch/2024/03/wie-ideologisch-sind-unsere-schulen/ https://condorcet.ch/2024/03/wie-ideologisch-sind-unsere-schulen/#comments Fri, 29 Mar 2024 17:20:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=16320

Der Tamedia-Journalist Philipp Loser hält die Befürchtungen, wonach der neue Rahmenlehrplan in eine ideologische Richtung führt, für übertrieben – und blickt nach Russland, wo kritisches Denken wirklich gefährlich ist. Dieser Artikel ist im Tagimagi und in den Tamedia-Zeitungen veröffentlicht worden.

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Hat unsere Armee die Schweiz im Zweiten Weltkrieg heldenhaft beschützt? Verzichtete Adolf Hitler auf einen Einmarsch bei uns, weil er Angst vor dem «stacheligen Igel» hatte? War das Réduit eine strategisch brillante Idee? Wer irgendwann in der Nachkriegszeit eine Schweizer Volksschule besucht hat, der weiss auf alle drei Fragen die richtige Antwort: Jawoll!

Bis weit in die 1980er-Jahre (an manchen Orten auch darüber hinaus) wurde im Geschichtsunterricht ein geschöntes Selbstbild vermittelt. Eine Erzählung der bürgerlich-konservativen Mehrheit über ein kleines und wehrhaftes Land, das sich tapfer der Welt entgegenstellte. Nazigold? Kollaborateure? Abgewiesene Juden an der Grenze? Nicht der Rede wert.

Die berechtigte Kritik an den vermittelten Inhalten in der Schule (am verblendeten Geschichtsbild der Eidgenossenschaft überhaupt) kam damals von links. Heute haben sich die Vorzeichen umgekehrt: Es sind konservative Politiker, die sich am von ihnen beobachteten «Linksdrall» in der Staatsschule stören. Sie stören sich an angeblich links-grünen Lehrpersonen (!), die die Schüler auf Linie bringen. Sie stören sich am Lehrplan 21, der wolkige Kompetenzen statt echtes Wissen vermittle. «Lernziel Gutmensch», nannte es die «NZZ am Sonntag».

Aktuell wird der aktualisierte Lehrplan für die Gymnasien heftig kritisiert, weil dort neu «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» unterrichtet werden soll. Dieses Fach beinhaltet laut Lehrplan 21 «die Zielvorstellung, dass für die Befriedigung der materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse aller Menschen heute und in Zukunft eine solidarische Gesellschaft und wirtschaftliches Wohlergehen notwendig sind».

Es ist die Umsetzung des im zweiten Artikel der Bundesverfassung festgehaltenen Zwecks der Eidgenossenschaft, die gemeinsame Wohlfahrt und die nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Und das soll links sein?

Vielleicht nicht links. Aber gefährlich. Im neuen Lehrplan würden Haltungen als Kompetenzen definiert, sagte der Berner GLP-Grossrat Alain Pichard, einer der prominentesten Kritiker des Lehrplan 21, gegenüber der «Sonntagszeitung». «Damit entwickelt sich unser Bildungssystem in eine gefährliche Richtung, die in eine totalitäre Umerziehung münden kann.»

Das ist natürlich völlig überzogen. Wie «totalitäre Umerziehung» in der Realität funktioniert, sieht man gerade in Russland, wo Wladimir Putin alles dafür tut, seine Bevölkerung gleichzuschalten – von Anfang an. Es brauche eine staatliche Version der Geschichte für alle, die heute Schüler und morgen Staatsbürger seien, sagte Putin im Dezember lobend über ein neues Schulbuch für die elfte Klasse. Darin steht unter anderem, dass der Prager Frühling von den Amerikanern inszeniert, dass Stalin vom Volk aufrichtig geliebt und die DDR von Westdeutschland annektiert worden seien.

Totalitäre Propaganda. Die «Zeit», die über das Buch berichtete, traf in Moskau eine Lehrerin, die mit ihren Schülern eine Technik trainiert, um in Russland «als denkender Mensch» zu überleben. Bei Prüfungen solle man schreiben, was die Obrigkeit sich wünsche. Daheim dann solle man noch einmal für sich aufschreiben, was tatsächlich wahr sei. Doppeldenk.

Und anders als in Schweizer Schulen in den 1980er-Jahren, in denen sich aufgebrachte Schülerinnen und Schüler mit ihren Geschichtslehrern über das Verhalten der Eidgenossenschaft im Krieg stritten, oder in Schweizer Schulen der 2030er-Jahre, wo sich Schülerinnen und Schüler über – dereinst vielleicht total falsche – Nachhaltigkeitsansätze aufregen (wer weiss), ist es in Russland tatsächlich gefährlich zu widersprechen.

Da ist es fast schon rührend, wie fest sich manche über den Zeitgeist aufregen können, der heute durch unsere Schulen weht.Solange die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigem Denken und kritischem Fragen erzogen werden: alles easy.

https://www.derbund.ch/ideologie-an-schulen-wie-links-ist-unser-bildungssystem-660998667555

 

 

 

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«Die Schulen werden ideologisch durchtränkt» https://condorcet.ch/2024/02/die-schulen-werden-ideologisch-durchtraenkt/ https://condorcet.ch/2024/02/die-schulen-werden-ideologisch-durchtraenkt/#comments Sun, 18 Feb 2024 10:04:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=15976

Klima, Gender, Rassismus: Der neue Rahmenlehrplan für Gymnasien will die Welt verbessern. Kritiker warnen vor Indoktrination, einige Kantone üben bereits Opposition. Die Journalistin der Sonntagszeitung, Nadja Pastega, ist diesen Vorwürfen nachgegangen.

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Mit Lesen, Schreiben und Rechnen ist es schon lange nicht mehr getan. Schulen bekommen immer mehr Aufgaben. Für die Schweizer Maturitätsschulen liegt jetzt der Entwurf für einen neuen Rahmenlehrplan vor. Er ist 136 Seiten lang. In einer früheren Version waren es sogar 400 Seiten. 

Gastautorin Nadja Pastega, Journalistin der Sonntagszeitung

Neu wird das Fach «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» (BNE) verankert. Oberstes Ziel laut Lehrplan: die «Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft». Dabei gehe es nicht nur um den Schutz des Klimas und der Biodiversität, sondern es sollen auch «Rassismus, soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten oder unfaire Verteilungen zwischen den Geschlechtern» bekämpft werden. 

Gegen diese Ziele für eine gerechte Welt kann niemand etwas haben. Die Frage ist aber, wie diese erreicht werden sollen – und wie das an den Schulen umgesetzt wird. Und hier beginnen für Alain Pichard, Mitglied der Grünliberalen im Berner Kantonsrat und bis zu seiner Pensionierung der bekannteste Lehrer der Schweiz, die Probleme. 

Lehrkräfte dürfen Schülern ihre Meinung nicht aufzwingen

«Die Aufgabe der Schule ist es, Wissen zu vermitteln, um die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, sich im Sinne von mündigen Bürgern ein eigenes Urteil zu bilden», sagt Pichard. Stattdessen würden im neuen Lehrplan Haltungen als Kompetenzen definiert, die beurteilt und benotet werden müssten. «Damit entwickelt sich unser Bildungssystem in eine gefährliche Richtung, die in eine totalitäre Umerziehung münden kann.»

An den Schulen gilt ein Indoktrinationsverbot, Lehrerinnen und Lehrer dürfen den Schülern ihre Meinung nicht aufzwingen. Zudem müssen sie politische Themen kontrovers behandeln. Es müssen also gegensätzliche Positionen behandelt werden. Doch der Gymi-Lehrplan ist durchdrungen von politischen Botschaften und bestimmten Themen – anderes wird einfach weggelassen. So sollen die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel über den Treibhauseffekt und die Sonnenenergie reflektieren. Atomenergie wird nicht erwähnt. 

Alain Pichard zum neuen Lehrplan: «Neusprech aus den pädagogischen Mode-Laboratorien».

Der Lehrplan ist durchsetzt mit Floskeln, die eher an ein Parteiprogramm als an objektive Themenfelder erinnern: «gerechte Gesellschaft», «planetare wie auch soziale Belastungsgrenzen», «intra- wie auch intergenerationelle Gerechtigkeit», «Menschen aller Geschlechteridentitäten», «ganzheitlich», «transformativ», «sozialökologische Transformation». 

Lehrplan: «Tendenziös formuliert»

In der Anhörung zum neuen Rahmenlehrplan äusserten sich einige Kantone kritisch zum Fach BNE. «Es handelt sich offensichtlich um eine politische Agenda», hielt Luzern fest. Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich warnte, dass  das Prinzip der politischen Neutralität von Schulen «nicht aktiv beeinflusst» werden sollte, gewisse Formulierungen seien daher «zu überprüfen». Obwalden zieht das Fazit: «Zu tendenziös formuliert.» Auch der Kanton Aargau und die Schulleiterkonferenz der Zürcher Mittelschulen sind mit den BNE-Bestimmungen im neuen Lehrplan «gar nicht einverstanden».  

Das neue Regelwerk ist Teil der Reform «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität», das die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) zusammen mit dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung auf den Weg gebracht hat. Dabei geht es an sich darum, den Matura-Abschluss schweizweit vergleichbar zu machen und die Studierfähigkeit sicherzustellen, damit Universitäten und Hochschulen mit Aufnahmeprüfungen keine eigenen Eintrittshürden hochziehen. 

Lucius Hartmann, Präsident des Vereins der Schweizer Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, befürwortet die neuen Richtlinien: «Es ist unbestritten, dass es einen neuen Lehrplan braucht. Das, was heute gilt, stammt aus dem Jahr 1994.» Die Gymnasien müssten nicht nur für die Hochschulreife ihrer Absolventen sorgen, sondern auch für eine «vertiefte Gesellschaftsreife». Die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft sei in der Bundesverfassung vorgegeben, «daher ist ihre Vermittlung in der Schule notwendig». 

«Die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft ist in der Bundesverfassung vorgegeben, daher ist ihre Vermittlung in der Schule notwendig»: Lucius Hartmann, Präsident der Schweizer Gymilehrerinnen und -lehrer.

Er verweist auf eine Studie des Kantons Aargau, die ergeben habe, dass sich die Lehrpersonen in der Schule mehrheitlich politisch neutral verhielten. Diese Umfrage gab der Kanton in Auftrag, um eine Maturarbeit von drei Gymnasiasten zu kontern, die aufzeigte, dass unter den Lehrern ein «Linksdrall» herrscht. Der Kanton vermarktete das Studienergebnis als Persilschein. Doch in der Studie kam auch heraus, dass sich viele Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer politischen Einstellung benachteiligt fühlen. 

Bereits der Begriff «vertiefte Gesellschaftsreife» sorgt für Kritik. «Was heisst das denn?», fragt Mario Andreotti, Germanist und Historiker. «Dass ich mich auf der Strasse festklebe für den Klimawandel?» Er unterrichtete 38 Jahre an Gymnasien und ist Verfasser des Buchs «Eine Kultur schafft sich ab», das kritisch auf die Schulreformen der letzten Jahre eingeht. 

Politiker delegieren Konflikte an die Schulen

«Aus der Formulierung in der Bundesverfassung  lässt sich kein Erziehungsauftrag für die Schulen ableiten», sagt Bildungspolitiker Pichard. Eine gerechte Welt sei schon immer ein hehres Ziel gewesen, bei dem sich wirtschaftliche und andere Interessen gegenüberstehen würden. «Es gibt den Trend, dass die Politik diese Konflikte an die Schulen delegiert», sagt Pichard. «Die Schulen werden zunehmend ideologisch durchtränkt.»

«Neusprech aus den pädagogischen Mode-Laboratorien», sagt Pichard dazu.

Auch die Sprache des neuen Lehrplans wird kritisiert. Da ist die Rede von Interdisziplinarität und Transdisziplinarität, von transversalem Unterricht und transversalen Kompetenzen, von transversalem Einbezug der Digitalität, von curricularen Primär- und Sekundärstrukturen. Oder konkret: «Fachlicher und überfachlicher Kompetenzerwerb aus einer transversalen Sicht erfolgt dann, wenn didaktisch domänenspezifisches und  -übergreifendes Wissen zum Erkennen von Zusammenhängen und zur Lösung von fachlichen wie gesellschaftlichen Problemen in relevanten Funktionsbereichen angewendet wird.»

«Fachchinesisch» nennt es Andreotti. «Neusprech aus den pädagogischen Mode-Laboratorien», sagt Pichard dazu.

Für die Umsetzung des Rahmenlehrplans, der im August in Kraft tritt, sind nun die Kantone zuständig. Das Regelwerk gilt für alle Gymnasien in der Schweiz.

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Kompetenzen sind nicht inhaltsneutral https://condorcet.ch/2023/03/kompetenzen-sind-nicht-inhaltsneutral/ https://condorcet.ch/2023/03/kompetenzen-sind-nicht-inhaltsneutral/#comments Wed, 01 Mar 2023 17:41:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=13318

Franz Eberle hat den Beginn gemacht. Er analysierte den gegenwärtigen Streit um die Kompetenzorientierung, mahnte zum verbalen Abbau und forderte eine Ende der "unseligen ideologisierten Debatte". Condorcet-Autor Volker Ladenthin widersprach ihm und hielt ihm das Bild von "Generalisten, die zwar „überfachliche“ Kompetenzen vorweisen können, aber von der Sache nichts verstehen", entggegen. Wir bringen eine Dublik des kritisierten Franz Eberle und freuen uns auf einen respektvollen und gehaltvollen Diskurs.

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Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich: keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung.
Professor Volker Ladenthin: Lernen bereitet auf Wissenschaft vor.

Leider ist meine Intention, die «unselige Polarisierung zu beenden», erfolglos geblieben, und ich unternehme mittels einer Duplik zur Replik von Volker Ladenthin einen nächsten Versuch zur Entschärfung der Debatte. Volker Ladenthin argumentiert weiterhin auf der Grundlage von Annahmen über die «Kompetenztheorie», die bei Weitem nicht von allen Befürwortern kompetenzorientierter Bildung und auch nicht der empirischen Kompetenzforschung geteilt werden und deshalb zu Disputen führen, die sich vorwiegend wegen Differenzen im semantischen Verständnis von Begrifflichkeiten ergeben. Unter Weglassung der Verknüpfungen mit dem Begriff «Kompetenzen» teile ich viele der normativen Maximen und Grundannahmen von Kollege Ladenthin über Bildung, soweit sie in seiner Replik sichtbar werden, die Differenzen ergeben sich fast ausschliesslich aus Unterschieden im Verständnis des Begriffs «Kompetenzen». Im Folgenden gehe ich auf einige Einzelaussagen der Replik von Volker Ladenthin näher ein:

Leider finden sich in der Tat in kompetenzorientierten Lehrplänen viele schlecht gesetzte Kompetenzziele. Ungenügend formulierte Zielbeschreibungen finden sich aber ebenso in nicht kompetenzorientierten Lehrplänen.

– Selbstverständlich kommt es darauf an, «ob man die chemische Analyse an der Herstellung von militärischen Giftgasen oder an der Herstellung von künstlichem Dünger lernt». Abgesehen davon, dass es sich um zwei verschiedene Fachkompetenzen handelt, ist «Chemische Analyse» ohne weitere inhaltliche Bestimmung und den Einbezug normativer (Kompetenz-)Aspekte im Hinblick auf die Bildungsziele des Schweizer Gymnasium ein sehr mangelhaft formuliertes Kompetenzziel und damit ein Beispiel schlecht umgesetzter Kompetenzorientierung. Leider finden sich in der Tat in kompetenzorientierten Lehrplänen viele schlecht gesetzte Kompetenzziele. Ungenügend formulierte Zielbeschreibungen finden sich aber ebenso in nicht kompetenzorientierten Lehrplänen.

In der Schweiz ist gemäss Bildungszielartikel für das Gymnasium die angestrebte Studierfähigkeit eine Allgemeine Studierfähigkeit, und zwar eine solche, die tatsächlich ausreichende Grundlage für die erfolgreiche Aufnahme und Bewältigung irgendeines universitären Studiums ist und somit keine weiteren Eignungs- und Zulassungsprüfungen oder Numerus-clausus-Bestimmungen mehr notwendig macht.

Zielrichtung führt nicht zu Inhaltsbeliebigkeit entsprechender Kompetenzen.

– Natürlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass das Gymnasium auf das Studium vorbereitet. Auf welche Studien die Vorbereitung erfolgen bzw. welche Art von Studierfähigkeit es sein soll und welcher Unterricht in welchen Fächern mit welchen Lehr-Lerninhalten diesem Ziel am besten dient, ist aber überhaupt nicht selbstverständlich. Zur besseren Klärung dieser Frage braucht es doch noch Einiges sowohl an systemgestaltenden bildungspolitischen Vorgaben und Absprachen zwischen dem Gymnasium und den Hochschulen als auch an empirischer Forschung zu den Konsequenzen solcher normativen Vorgaben für Curriculum und Unterricht. In der Schweiz ist gemäss Bildungszielartikel für das Gymnasium die angestrebte Studierfähigkeit eine Allgemeine Studierfähigkeit, und zwar eine solche, die tatsächlich ausreichende Grundlage für die erfolgreiche Aufnahme und Bewältigung irgendeines universitären Studiums ist und somit keine weiteren Eignungs- und Zulassungsprüfungen oder Numerus-clausus-Bestimmungen mehr notwendig macht. Welche Kompetenzziele und welcher Unterricht dem dienen, wird in der aktuellen Revision des Rahmenlehrplans untersucht. Das Schweizer Gymnasium kennt zudem gemäss seinem Bildungszielartikel, wie in meinem Blog-Beitrag beschrieben, ein zweites, in meiner normativen Überzeugung mindestens so wichtiges Ziel, nämlich die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft, damit sie später einen verantwortungsvollen Beitrag zu deren Lösung leisten können. Darüber, ob der von mir verwendete, zusammenfassende Begriff «vertiefte Gesellschaftsreife» diese Zielbeschreibung ausreichend trifft, lässt sich selbstverständlich streiten, ändert aber am Ziel nichts. Welche weiteren Lehr-Lerninhalte in welchen Fächern es für die Erreichung auch dieses Ziels braucht, muss ebenfalls sorgfältig in der laufenden Lehrplanarbeit geklärt werden. Jedenfalls führt auch diese Zielrichtung nicht zu Inhaltsbeliebigkeit entsprechender Kompetenzen.

Die Aussage von Volker Ladenthin, dass «die Kompetenztheorie … in neuen schönen Worten den uralten Traum einer Schulung zu inhaltsneutralen Fähigkeiten, die man auf alles und jedes anwenden kann», entspricht eben nicht meinem Verständnis von Kompetenzen, auch nicht jenem von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen, und natürlich auch nicht dem Kenntnisstand der empirischen Forschung sowohl der Kognitions- und der Neuropsychologie als auch weiterer Forschungstraditionen wie Transfer- und Problemlöseforschung.

– Auf einer allgemeineren Ebene: Die Aussage von Volker Ladenthin, dass «die Kompetenztheorie … in neuen schönen Worten den uralten Traum einer Schulung zu inhaltsneutralen Fähigkeiten, die man auf alles und jedes anwenden kann», entspricht eben nicht meinem Verständnis von Kompetenzen, auch nicht jenem von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen, und natürlich auch nicht dem Kenntnisstand der empirischen Forschung sowohl der Kognitions- und der Neuropsychologie als auch weiterer Forschungstraditionen wie Transfer- und Problemlöseforschung. Richtig an der Aussage von Volker Ladenthin ist, dass es nichtsdestotrotz die Illusion inhaltsneutraler Fähigkeiten in verschiedenen theoretischen Gewändern gab und gibt – von den früheren formalen Bildungstheorien bis hin zu den aktuellen Visionen von Schlüsselkompetenzen oder inhaltsunabhängigen Schlüsselqualifikationen, die sich aber bisher allesamt empirisch nicht belegen liessen. Dieser Mythos war schon Gegenstand sowohl meines Habilitationsvortrags 1996 an der Universität St. Gallen als auch insbesondere meiner Antrittsvorlesung an der Universität Zürich im Jahre 2000. Ich bin ihm in meinen Referaten und Schriften immer wieder entgegengetreten und habe die Wichtigkeit der sorgfältigen Auswahl von Fachinhalten auf allen Bildungsstufen immer betont. Die Aussage nun, dass «die Kompetenztheorie» unisono diesen Mythos vertrete, stimmt einfach nicht. Es sind nur Auswüchse und Irrwege einiger Exponenten, die aber keine empirische Basis für ihre Version der Kompetenztheorie vorweisen können. Die Kompetenztheorie, soweit ich sie kenne und ihr zustimme, vertritt auch nicht Interdisziplinarität ohne solides fachliches Fundament der zugrundeliegenden Fachdisziplinen.

Ein polarisierendes, leider weit verbreitetes, aber eben sehr reduziertes Verständnis von Kompetenz

– Sowohl am Beispiel aus dem Chemieunterricht als auch in der Aussage von Volker Ladenthin zum angeblichen Traum der Kompetenzbefürworter zeigt sich das polarisierende, leider weit verbreitete, aber eben sehr reduzierte Verständnis von Kompetenz als überfachliche Kompetenzen. Zentral sind Sachkompetenzen, die eben an konkretes und keineswegs beliebiges Fachwissen gebunden sind. Aber auch Selbst- und Sozialkompetenzen sind überwiegend kontextspezifisch. Auch die überfachlichen Kompetenzen lassen sich nicht «inhaltsleer» erwerben. Der Weg führt über den Erwerb in den Fächern, deren Inhalte eben nicht beliebig sind. Wie weit es die überfachlichen Kompetenzen überhaupt gibt, ist zudem tatsächlich nicht abschliessend geklärt. Das ist aber kein Totschlagargument für die Sinnhaftigkeit der Kompetenzorientierung, sie bliebe auch ohne tragfähige überfachliche Kompetenzen ein geeignetes Konzept zur Erreichung von Bildungszielen.

Die genaue Messbarkeit ist keine zwingende Eigenschaft von Kompetenzen.

– Ich bestreite, dass die Kompetenzorientierung an die Bildungsideologie der OECD geknüpft ist. In meinem Blog-Beitrag habe ich die Definition von Kompetenzen leicht gekürzt wiedergegeben, was der Platzbeschränkung in der NZZ geschuldet war. Ich füge sie deshalb im Folgenden nochmals an, in der Originalversion (Hartig & Klieme, 2007, S. 21): «Kompetenzen sind Dispositionen, die im Verlaufe von Bildungs- und Erziehungsprozessen erworben (erlernt) werden und die Bewältigung von unterschiedlichen Aufgaben bzw. Lebenssituationen ermöglichen. Sie umfassen Wissen und kognitive Fähigkeiten, Komponenten der Selbstregulation und sozial-kommunikative Fähigkeiten wie auch motivationale Orientierungen.» Es handelt sich dabei gemäss Hartig & Klieme (2007, S. 21) um «zentrale Bestandteile des Begriffsverständnisses», die sowohl in der erziehungswissenschaftlichen als auch in der pädagogisch-psychologischen Forschung «immer wieder zu Tage treten». Die Definition ist insofern wertneutral formuliert, als es offenbleibt, welche «Aufgaben und Lebenssituation» mittels entsprechender Kompetenzen bewältigt werden können sollen. Für das Schweizer Gymnasium sind es natürlich jene, die im Bildungszielartikel des Schweizer Gymnasiums formuliert sind, nicht die OECD-Ziele. Die OECD hat den Begriff «Kompetenz» nicht für ihre spezifischen Ausbildungsabsichten gepachtet, er ist nicht an diese gebunden. Wenn im Weiteren Kompetenzen gemäss der angeführten Definition nur teilweise messbar sind, können trotzdem auch die schlecht oder nicht messbaren Teile als Leitlinien für Bildung und Unterricht dienen. Die genaue Messbarkeit ist keine zwingende Eigenschaft von Kompetenzen.

– Weshalb mir die Definition von Hartig und Klieme (2007) besser zusagt als jene von Weinert (2001, S. 27 f.): Sie ist erstens aus einer umfassenden Analyse verschiedener Ansätze zum Kompetenzbegriff hervorgegangen, von denen jene von Franz E. Weinert nur einer davon ist. Zweitens, während Weinerts Definition noch auf die Lösung «bestimmter Probleme» fokussiert und damit zu Recht einen Teil der Kritik hervorgerufen hat – Bildung sei mehr als die Ausbildung von Problemlösenden –, weiten Hartig und Klieme das Zielspektrum allgemein auf die «Bewältigung von unterschiedlichen Aufgaben bzw. Lebenssituationen» aus.

– Zu den «sentimentalen» nichtkognitiven Kompetenzen: Ich habe neben meiner Arbeit an Universitäten während rund 15 Jahren zu mindestens 50% am Gymnasium unterrichtet, unter anderem in den Fachbereichen Staatsrecht und politische Bildung. Eine Haltung, «Menschenrechte werden so zum diffusen Gefühl, das nicht weiter stört», war weit weg von dem, was ich unternommen habe, für die Wertebildung der jungen Leute beizutragen. Wenn in meinem Blogartikel «Werthaltungen» als Beispiel von «nichtkognitiven Kompetenzen» aufgeführt sind, verleitet das zwar tatsächlich zu einer solchen abwertenden Bewertung. Ich schreibe aber auch: «Diese Bestandteile des Kompetenzbegriffs überschneiden sich und stehen im Hinblick auf die Bewältigung von Aufgaben bzw. Lebenssituationen in einem komplexen wechselseitigen Verhältnis.» Damit ist auch die Selbstverständlichkeit gemeint, dass Wertebildung und Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und mit jenen Anderer mittels eines kognitiven Zugangs erfolgt und in der Schule erfolgen muss. Ich erinnere mich an viele intensive Wertediskussionen mit meinen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Letztlich bleibt aber bei den vorhandenen und resultierenden Werthaltungen und Überzeugungen eine Nichtrationalität. Zudem: auch Gefühle – Volker Ladenthin reduziert sie auf «Sentimentalität» – gehören zum Menschsein und das sich darin zurecht finden zur Bildung.

Bereits Lernziele haben teilweise die Eigenschaften von Kompetenzzielen

– Es stimmt, dass Vieles, was ich bezüglich Kompetenzkonzept nenne, nicht neu ist. Das behaupte ich auch nicht. Das sage ich ja schon lange in meinen Referaten und Schriften. Sowohl die von Volker Ladenthin genannten allgemeinen Bildungsziele der Aufklärung als auch die von mir eingebrachten spezifischen Bildungsziele des Schweizer Gymnasiums stehen über den daraus abzuleitenden Kompetenzen. Kompetenzen sind keine Selbstläufer. Auch im Hinblick auf übergeordnete Bildungsziele zu entwickelnde Lernziele ist die Kompetenzorientierung nicht neu. So haben beispielsweise bereits Lernziele, die nach den von Benjamin S. Bloom (Bloom, 1976) und seinen Kolleginnen und Kollegen in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts geschaffenen Taxonomien für Lernziele im kognitiven und affektiven Bereich entwickelt werden, teilweise die Eigenschaften von Kompetenzzielen; die zu Beginn dieses Jahrhunderts von Lorin Anderson, David Krathwohl und weiteren Mitarbeitenden (Anderson et al., 2001) weiter entwickelte bloom’sche kognitive Taxonomie ab der Kompetenzstufe «Anwendung». Ergänzend neu an der Kompetenzidee ist höchstens das explizite Erfordernis, Kompetenzziele inhaltlich in umfassenden Fach- oder Themenbereichen systematisch miteinander zu verbinden, damit daraus auch umfassend-ganzheitliche Kompetenzen entstehen.

Natürlich ist es richtig, nicht einlösbare Versprechungen einiger «Kompetenztheoretiker» anzuprangern und den Bildungszieldiskurs zu führen.

 Welches nun das richtige Verständnis von Kompetenzen ist, und ob man entsprechend dafür oder dagegen ist, wird leider wohl weiterhin Streitobjekt bleiben. Natürlich ist es richtig, nicht einlösbare Versprechungen einiger «Kompetenztheoretiker» anzuprangern und den Bildungszieldiskurs zu führen. Aber es ist einfach falsch, alle Befürworter kompetenzorientierter Bildung jenen «Träumern» zuzuordnen, die nur noch inhaltsleere Fähigkeiten oder Kompetenzen schulen wollen, oder sie gar in den gleichen kleinräumigen Topf kultur- und bildungsfeindlicher, ausschliesslich auf ökonomische Nützlichkeit ausgerichteter Interessen zu werfen. Eine solche Deutungshoheit können die «Kompetenzgegner» nicht beanspruchen.

Literatur

Anderson, L. W., Krathwohl, D. R., Airasian, P. W., Cruikshank, K. A., Mayer, R. E., Pintrich, P. R., Raths, J., & Wittrock, M. C. (2001). A taxonomy for learning, teaching and assessing. A revision of Bloom’s taxonomy of educational objectives. New York: Longman.

Bloom, B. S. (Hrsg.). (1976). Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich (5. Aufl.). Weinheim und Basel: Beltz

Klieme, E. & Hartig, J. (2007). Kompetenzkonzepte in den Sozialwissenschaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In M. Prenzel, I. Gogolin & H.-H. Krüger (Hrsg.), Kompetenzdiagnostik [Sonderheft 8]. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 10, 11–29

Weinert, F. E. (2001). Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In F. E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen. (S. 17–31). Weinheim und Basel: Beltz.

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Unbehagen an der Kompetenz: Die Checklisten-Mentalität hat sich durchgesetzt https://condorcet.ch/2022/01/unbehagen-an-der-kompetenz-die-checklisten-mentalitaet-hat-sich-durchgesetzt/ https://condorcet.ch/2022/01/unbehagen-an-der-kompetenz-die-checklisten-mentalitaet-hat-sich-durchgesetzt/#comments Sat, 08 Jan 2022 10:12:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=10285

Christian Villiger, Gymnasiallehrer in Zürich (Rämibühl), stellt uns einen Text zur Verfügung, der sich mit dem neuen Rahmenlehrplan der Gymnasien beschäftigt. Es handelt sich hier um eine eindrückliche Analyse der gegenwärtigen "Kompetenzmanie", über die - so unser Gastautor - man in 50 Jahren wohl nur nach schallend lachen wird.

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Ein Gespenst geht um in der Bildungslandschaft, das Gespenst der Kompetenz. Es ist kein Marxsches Gespenst, vor dem sich alle fürchten und gegen das eine Hetzjagd veranstaltet wird. Es ist vielmehr ein Gespenst, das sich mit solcher Selbstverständlichkeit in den Diskurs eingenistet hat, dass es niemand mehr sieht und sich niemand mehr daran stösst.

Wer von Bildung redet, sagt heute Kompetenz.

Wer von Bildung redet, sagt heute Kompetenz. Beredtes Zeugnis dieses Befundes legen die Entwürfe für die neuen Fachrahmenlehrpläne ab, da sich die Arbeitsgruppen zwingend an die Vorgabe halten mussten, den Beitrag ihres Faches zu den überfachlichen Kompetenzen auszuweisen und den fachspezifischen Teil des Lehrplans in Form von Kompetenzformulierungen zu gestalten. Zusätzlich gilt einer der sechs Transversalen Bereiche eigens den überfachlichen Kompetenzen.

Lediglich eine Weiterentwicklung eines schon länger andauernden Prozesses?

Der Kompetenzbegriff ist „gegessen“, hat sich „durchgesetzt“, wird von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt. Heisst es auf kritische Nachfrage. Die Einwände gegen den Kompetenzbegriff wurden doch längst widerlegt: In der Kompetenz „fallen Wissen und Können zusammen“, auch „Selbst- und Sozialkompetenz ist eingeschlossen“.[1] Und: „Auch unter der Leitidee der Kompetenzorientierung behält Unterricht seinen Charakter als kognitiver und sozialer Austausch unter Menschen und mit Gegenständen, er bleibt als personale Interaktion auch weiterhin risikoreich, nicht linear und ergebnisoffen – gerade was Verstehens- und Verständigungsprozesse  anlangt.“[2] Selbst der Lehrplan 21, mit dem der neue Rahmenlehrplan der Gymnasien kompatibel sein möchte, wurde den Volksschulen nicht bürokratisch aufoktroyiert, sondern stellt lediglich eine Weiterentwicklung eines schon länger andauernden Prozesses dar.[3] Wer heute noch den Kompetenzbegriff angreift, scheint tatsächlich ein Marxsches Gespenst zu jagen.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die Bildungsforschung in fünfzig Jahren herzhaft lachen wird über die 2020er Jahre, die so vernarrt waren in den Kompetenzbegriff und ihm hinterherliefen wie dem Rattenfänger von Hameln.

Ich verschlucke mich dennoch immer wieder an diesem angeblich „gegessenen“ Begriff. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die Bildungsforschung in fünfzig Jahren herzhaft lachen wird über die 2020er Jahre, die so vernarrt waren in den Kompetenzbegriff und ihm hinterherliefen wie dem Rattenfänger von Hameln. „Kompetenz“: eine Allzweckwaffe, die alternativlose Wunderformel zur Beschreibung von Unterrichtszielen, die scheinbar alles in sich aufsaugt, auch noch das Gegenteil von dem, wofür der Begriff ursprünglich steht (also ein trügerischer Begriff). Ein Wort, so selbstverständlich und durchsichtig, dass man es schon gesagt hat, bevor man überhaupt mit dem Denken beginnen muss (also ein ideologischer Begriff). Ein Hochwertwort, mit dem man sich das Eintrittsticket in den herrschenden Diskurs verschafft und die Herzen der Bildungspolitiker gewinnt (also ein opportunistischer Begriff).

Kompetenzorientierter Lyrikunterricht in BW, Deutschland: Hohl und geistlos.

Mein Unbehagen ist zunächst ein stilistisches: Die „kompetenzorientierten“ Beschreibungen dessen, was im Unterricht angeblich bei den Schülerinnen und Schülern geschieht oder geschehen soll, klingen hohl, geistlos, banal. Lese ich die Entwürfe zu den Rahmenlehrplänen durch, möchte ich mir am liebsten einen anderen Beruf suchen. Es ist ja nicht völlig falsch, was hier steht, und ich würde auch nicht sagen, dass ich in meinem Unterricht etwas ganz anderes mache oder mich nicht an diesen oder ähnlichen Zielen orientiere. Und doch: Dieses technokratische Gebrabbel soll abbilden, was in meiner Wahrnehmung ein lebendiger, geistiger Dialog, eine kreative, nie ganz kontrollierbare Begegnung von Personen sein kann und oft auch ist. „Kreatives Denken“ ist gemäss Rahmenlehrplan eine kognitive „überfachlich-methodische Kompetenz“, die gleichermassen den Zielen „der Allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Gesellschaftsreife“ dient. Sie besteht darin, dass man durch „das Verlassen gewohnter Denkweisen und Strukturen neue Sichtweisen und vielfältige Ideen zur Lösung von Problemstellungen entwickelt“[4] und wird im Fach Deutsch gemäss Fachlehrplan dadurch erworben, dass die Schülerinnen und Schüler „Phantasie ausbilden“.[5] Wissen die Verfasser/innen dieser Papiere, wovon sie reden? Oder schauen wir hier gerade dabei zu, wie Farbenblinde die Farbe Rot beschreiben? Der beste Weg, der Kreativität den Garaus zu machen, ist wohl, sie als „Kompetenz“ zu bezeichnen. Das Gleiche gilt für die „selbst- bzw. persönlichkeitsbezogene“, „nicht-kognitive“ (wirklich?) Kompetenz der Neugier, die man erwirbt, indem man „eine Begegnung mit Grundfragen erleb[t]“.[6] Man kann von schlechtem Stil nicht zwingend auf schlechtes Denken schliessen, aber gutes Denken zeichnet sich eher nicht durch stilistische Unbeholfenheit und Begriffshörigkeit aus. Die (verzeihlich) hilflosen Formulierungen im Deutsch-Rahmenlehrplan zeigen ganz nebenbei, dass solche Kompetenzlisten für das konkrete Planen und Organisieren von Unterricht schlicht unbrauchbar sind.

Professor Elmar Anhalt, Bern: Der Kompetenzbegriff sei nicht in der Lage, Komplexität zu denken.

Neben diesem subjektiven Unbehagen gibt es auch auf der theoretischen Ebene gute Gründe, gegen den Kompetenzbegriff Einspruch zu erheben. Elmar Anhalt, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bern, hat dies kürzlich in einem noch nicht veröffentlichten, aber bereits kursierenden Aufsatz luzid getan.[7] Drei Punkte scheinen mir an seinen Ausführungen besonders bemerkenswert: Der Kompetenzbegriff sei nicht in der Lage, Komplexität zu denken (definiert als „Herausforderung, zu deren Bewältigung keine Regel bekannt ist“); der Kompetenzbegriff sei nicht in der Lage, die Entwicklung des Kompetenzerwerbs zu denken, da er keinen Komplementärbegriff kennt (Bildungsprozesse sind nur als Mischverhältnis von Kompetenz und Inkompetenz zu verstehen); schliesslich sei der Kompetenzbegriff politisch blind und orientiere sich nicht mehr an der Idee einer auf demokratischem Miteinander beruhenden, offenen Gesellschaft. Der Einwand, dass Anhalt sich auf ein Zerrbild des Kompetenzbegriffs stütze, da „Kompetenz“ ja alle Formen von kritischem, gewagtem, ergebnisoffenem Denken ein- und nicht ausschliesse (siehe das Reusser-Zitat weiter oben), ist so erwartbar wie unredlich. Man kann nicht das Eine und sein Gegenteil wollen. Man kann sich nicht der Logik von Bildungsstandards und standardisierten Tests andienen und zugleich meinen, das habe dann keine Auswirkungen auf unser Verständnis und unsere Praxis von Bildung. Es klingt fast ein wenig naiv, wenn Kurt Reusser am Ende seiner Verteidigungsschrift einräumt: „Offenbleiben muss […], welche Nebenwirkungen die Umsetzung der Kompetenzorientierung zeitigen wird, wenn Kompetenzen nicht nur in der Schule unterrichtet, sondern auch gemessen und getestet werden.“[8] Freilich schlägt Reusser selbst einen auf den ersten Blick harmlosen Begriff von Kompetenz vor: Die Lehrpersonen sollen „nicht nur an den Stoff denken“, sondern sich vermehrt fragen, mit welchem Ziel sie einen bestimmten Stoff behandeln: „[A]lso nicht einfach: ‹Jetzt nehmen wir die Römer durch›, sondern: ‹Was sollen die Schülerinnen und Schüler – fachlich und überfachlich – lernen, wenn wir uns mit den Römern beschäftigen?›“[9] Die Forderung ist so banal, dass sie sich fast wie eine Beleidigung anhört. Sobald jedoch Listen von Kompetenzen angelegt werden, die sich Schülerinnen und Schüler „fachlich und überfachlich“ aneignen sollen, und Lehrpersonen dazu aufgefordert werden, ihre Lehrpläne gemäss diesen Checklisten auszurichten, nimmt sich die Forderung weniger appetitlich aus.

Es zerlegt, vergleichbar dem Projekt der Physiognomik im 18. Jahrhundert, den Menschen in einzelne Teilfähigkeiten und glaubt, diese unabhängig voneinander beüben zu können. Die einzelnen Schulfächer sind dann wie die verschiedenen Geräte in einem Fitnessstudio, die jeweils bestimmte Muskeln trainieren und in der Summe den gestählten, kompetenten Schüler erzeugen.

Die kompetenzorientierten Rahmenlehrpläne für das Gymnasium sind bereits stark geprägt von einer solchen Checklisten-Mentalität. Das Modell der überfachlichen Kompetenzen zeigt das deutlich. Es zerlegt, vergleichbar dem Projekt der Physiognomik im 18. Jahrhundert, den Menschen in einzelne Teilfähigkeiten und glaubt, diese unabhängig voneinander beüben zu können. Die einzelnen Schulfächer sind dann wie die verschiedenen Geräte in einem Fitnessstudio, die jeweils bestimmte Muskeln trainieren und in der Summe den gestählten, kompetenten Schüler erzeugen. (Wer das für übertrieben hält, schaue sich einmal den Lehrplan der Kantonsschule Schwyz an, der diesem Irrglauben bereits anhängt.)[10] Störend daran ist das zugrundeliegende Menschenbild, störend auch der Glaube an die vollständige Steuer- und Kontrollierbarkeit von Lern- und Bildungsprozessen. Und ganz grundsätzlich möchte ich einwenden, dass Expertise vielleicht gar nicht darin besteht, etwas zu „können“, sondern darin, sich bewusst zu sein, dass sich viele Dinge nie endgültig beherrschen und begreifen lassen. „Ich weiss, dass ich nichts weiss“, sagte Sokrates. Der gute Forscher, die gute Forscherin steht trotz approbierter „allgemeiner Studierfähigkeit“ jedes Mal von neuem vor einem Rätsel, für das es keine hergebrachte Lösung gibt. „Inkompetenzkompetenz“ könnte man das nennen. Aber man lässt es besser sein. Vielleicht sollten wir den Ausdruck „Kompetenz“ aus unserem Vokabular streichen, damit wir wieder nachdenken können – über Bildung und die Zukunft des Gymnasiums.

 

Zuerst erschienen in: Bulletin 2021 des Vereins Schweizerischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer

[1] Entwürfe Rahmenlehrplan: Kapitel II – Transversale Bereiche, S. 8.

[2] Reusser, Kurt: Kompetenzorientierung als Leitbegriff der Didaktik. In: Beiträge zur Lehrerinnen- und

Lehrerbildung 32 (2014) 3, S. 325-339, hier S. 337.

[3] Ebd.

[4] Entwürfe Rahmenlehrplan: Kapitel II, S. 12.

[5] Entwürfe Fachlehrpläne, S. 63.

[6] Ebd.

[7] Anhalt, Elmar: Überlegungen zu einem bildungstheoretisch begründeten Lehrplan, 1. März 2021 (ungedruckt, PDF)

[8] Reusser, S. 338.

[9] Reusser, S. 333.

[10] https://kks.ch/angebot/gymnasium/lehrplan/ (12.10.21)

 

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