Pulver - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 09 Oct 2022 03:30:53 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Pulver - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Interview mit einem Reformkritiker, der auch die Reformkritiker kritisiert https://condorcet.ch/2022/10/interview-mit-einem-reformkritiker-der-auch-die-reformkritiker-kritisiert/ https://condorcet.ch/2022/10/interview-mit-einem-reformkritiker-der-auch-die-reformkritiker-kritisiert/#comments Sat, 08 Oct 2022 22:33:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=11883

Die Redaktion hat geschmunzelt und von einem Altherren-Veteranen-Gespräch gesprochen. Trotzdem findet sie dieses Gespräch zwischen den beiden Reformkritikern, Lehrern und Condorcet-Autoren Alain Pichard und Res Aebi aufschlussreich. Es ist nicht nur eine kurzer Abriss über den Kamf gegen unausgegorene Schulreformen, es ist auch eine berührende Geschichte von zwei Freunden, die sich beigestanden, sich überworfen und wieder gefunden haben. Unter anderem im Condorcet-Blog.

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Res Aebi, Französischlehrer, Schulleiter, Fusballtrainer und Buchautor: Du hast Pulver falsch eingeschätzt.
Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Ich habe viel von dir gelernt.

Lieber Res, weisst du noch, wann wir uns kennengelernt haben?

Wann wir uns physisch zum ersten Mal gegenüberstanden, weiss ich nicht mehr. Aber zusammengeführt hat uns der Kampf gegen die Schüler*innen-Beurteilung, die der Kanton Bern im Jahr 2004 über die Lehrer*innen ergossen hatte. Wir bekämpften SchüBE beide, ohne voneinander zu wissen.

Es war in der Tat unglaublich. Zwei Tage zuvor war ich wegen eines SchüBE-kritischen Artikels vom damaligen Bildungsdirektor nach Bern zitiert. Ich sass – nur von meinem Gewerkschaftsvertreter begleitet – acht hochrangigen Personen gegenüber, die mir klarmachen wollten, dass ich Loyalitätspflichten verletzt hatte. Sogar mein Kommissionspräsident war anwesend und mir zutiefst feindlich gesinnt … und zwei Tage später kamt ihr mit eurer Unterschriftensammlung. Damit war der ganze Druck weg. Doch muss ich zugeben, dass ich vor dieser Verhandlung eine schlaflose Nacht hatte. Als Organisator eines Lehrerstreiks und aktiver Gewerkschafter im linken VPOD wäre eine Anstellung in einer anderen Gemeinde kein leichtes Unterfangen gewesen. Für einen dreifachen Familienvater keine einfache Situation.

Es erstaunt mich, dass du so isoliert warst. Sonst ist ja die Vernetzung eine grosse Stärke von dir.

Alain Pichard: Meine Karikatur brachte das Fass zum Überlaufen.

Ist es übertrieben, wenn ich sage, dass du diese unselige SCHÜBE fast im Alleingang gebodigt hast? Es war ein Husarenstück!

Alain, es ist weit übertrieben. Ich war zwar der Initiant und Koordinator der Aktion, wurde aber unterstützt von meiner ganzen Schule. Der damalige Schulleiter (Bernhard Mändli) stellte sich mit Rang und Namen auf die Podien, zu denen wir eingeladen wurden, das Kollegium stand voll hinter uns, und die Schulkommission samt Schulpräsidentin verpackte die Unterschriftenbögen. Zudem unterstützte uns die Sekundarschule Schwarzenburg mit Schulleiter Peter Meyer und seinem ganzen Background gleichwertig bei der Aktion. Am Schluss war es ein Gesamtkunstwerk, an dem viele Players beteiligt waren.

Euer Erfolg war spektakulär, da brachen die Dämme, auch in meinem Kollegium…

Der Husarenstreich, das war sicher unsere Abschluss-PK mit der Übergabe der 5’500 Unterschriften gegen SchüBE: Die Erziehungsdirektion hatte uns für die faktische Beerdigung von SchüBE ihren grössten Sitzungsraum zur Verfügung gestellt. Ich fand das, nach einer schwierigen Vorgeschichte, ein Zeichen von Grösse. Und der Stopp von SchüBE war ein Signal. Er führte dazu, dass der überschäumende Reformeifer des Kantons für ein paar Jahre gebremst wurde – die Lehrpersonen konnten durchatmen.

Ich habe damals viel gelernt von dir … Man muss versuchen, sich breit aufzustellen, Verbündete gewinnen…

SchüBE war unbeliebt und verärgerte die Lehrpersonen. Es gelang uns, die latente Unzufriedenheit aufzunehmen und gebündelt zum Ausdruck zu bringen. Aber dahinter steckte ein grosser  logistischer Aufwand. Wir mussten zum Beispiel irgendwo die ganzen Schuladressen organisieren – 2004 war genau das noch schwieriger als heute.

Andreas Aebi: Ich habe grausam gelitten.

Danach wurden wir Freunde – trotz des Fussballs!

Als YB-Fan litt ich damals grausam unter der Erfolglosigkeit meines Teams. Jahr für Jahr musste ich – meistens im St. Jakobspark – mitansehen, wie meine Gelbschwarzen gegen den FCB ehrenvoll verloren und am Schluss bestenfalls Zweiter wurden. Besonders schmerzvoll waren die Basler Schnitzelbängge, die man sich zu eben diesem Thema im Februar anhören musste. Inzwischen fühle ich mich sportlich markant besser aufgestellt. Aber da mein Fokus sowieso mehr dem Frauenfussball gilt, kann ich auch mal mit einem anderen Meister leben. Sogar mit dem FCZ. Du doch auch?

Die wahre Grösse zeigt sich in der Niederlage. Meine Bindung zum FCB wurde in den Zeiten des Misserfolgs eher noch stärker, denn vorher, in den goldenen Meister-Zeiten, war der FCB drauf und dran, ein Schicki-Micki-Klub zu werden.  Aber kommen wir zu dir zurück. Du wurdest auch Buchautor und ich durfte ganze Passagen deines Buches lektorieren.

Eine Liebeserklärung an unseren Beruf

Ja, ich habe 2013 mit «Hände hoch!» eine Art Hommage an unseren Beruf geschrieben, und darin durftest natürlich auch du nicht fehlen.

Ich durfte ganze Passagen lektorieren …

Ein Kapitel mit dem Titel «Herr Pichard!» ist einem Klassentreffen gewidmet, das wir zwischen dem OSZ Madretsch und der Sek Langnau organisierten. Hier erlebte ich von ganz nahe, was für ein leidenschaftlicher und einfühlsamer Lehrer du bist ­– und welche unterschiedlichen Berufs-Realitäten es im Kanton Bern eigentlich gibt. Hier, in der Multikulti-Schule Madretsch, brauchte es den Multitasker, Troubleshooter und Seelentröster Pichard, der zwischen Schulzimmern, Pausenhof-Schlachtfeldern und Sozialämtern herumraste. Dort, im beschaulichen Emmental, brauchte es einfach einen Lehrer. Ich habe grossen Respekt vor deiner beruflichen Leistung, Alain.

Weisst du, ich glaube, wir waren irgendwie seelenverwandt … zwei Typen, die Freude am Leben hatten, gut unterrichten und auch ein wenig gefallen wollten …

Zum Glück haben wir die veflixte Selbstgefälligkeit inzwischen abgestreift, gäu!  (lacht)

Als dann der Lehrplan kam, lancierten wir das Memorandum 550 gegen 550. Gedacht waren 550 Lehrkräfte, welche sich gegen 550 Seiten wehrten. Unterschrieben haben es schliesslich 1462 Lehrerinnen und Lehrer. Wie hast du diesen politischen Akt in Erinnerung?

Ein Erfolg, aber nicht mehr die gleiche Unterstützung.

Ich war zu Beginn ähnlich engagiert und motiviert wie bei SchüBE. In die redaktionelle Gestaltung des Memorandums war ich ja noch stark involviert. Bald realisierte ich aber, dass mir diesmal die lokale Unterstützung fehlen würde. Vom Gesamtschulleiter, dem unsere Schule mittlerweile unterstellt war, wurde ich als erstes ins Chefbüro zitiert und mit einem Verweis für meine publizistische Tätigkeit sanktioniert. Aber auch sonst harzte es mit dem Support…

Ich habe das vermutlich gar nicht richtig wahrgenommen, die Situation hatte sich geändert, wir stiessen auf viel weniger Support, obwohl auch das Memorandum ein Erfolg war und unter anderem dazu führte, dass der Lehrplan überarbeitet wurde …

Irgendwie konnte ich das nachvollziehen: So ein Lehrplan ist eine heisse Suppe voller Abstraktionen. Die Berner Lehrer*innen löffeln sie traditionellerweise erst im Gazpacho-Zustand aus, wenn überhaupt. Und im Unterschied zur SchüBE, die wir vor der Aktion bereits erprobt und für nutzlos befunden hatten, stand die Umsetzung des LP 21 ja erst bevor.

Er hörte jedem aufmerksam zu, machte kaum Notizen, brachte dann die Verhandlungen aber messerscharf auf den Punkt und fällte Beschlüsse erst dann, wenn sie ausdiskutiert waren.

Danach wurden wir von Bernhard Pulver eingeladen. Nach dem Gespräch lud er dich als Kritiker in das Gremium der Lehrplanmacher ein. Wie siehst du deine Tätigkeit heute?

Damaliger Erziehungsdirektor Bernhard Pulver: Mich überzeugte Bernhard Pulvers Argument, dass man diesen Lehrplan nicht mehr verhindern, aber noch mitgestalten konnte.

Es war eine meiner besten Entscheidungen. Beeindruckend waren auch seine Auftritte im Umsetzungsausschus zum LP 21. Wenn eine Vorlage seiner Direktion nicht dialektisch aufbereitet war, wies er sie zurück. Er hörte jedem aufmerksam zu, machte kaum Notizen, brachte dann die Verhandlungen aber messerscharf auf den Punkt und fällte Beschlüsse erst dann, wenn sie ausdiskutiert waren. Dazu gehörte auch, dass er Leute wie mich, wie die Väter und Mütter im Ausschuss, die gerade eigene Schulkinder hatten, und wie die Vertreter*innen von Bildung Bern wirklich ernst nahm. Im Verbund konnten wir beispielsweise erwirken, dass Eltern und Kinder nicht (schon wieder) mit Beurteilungs-Formularen überFLUTet wurden.

Ich sehe das natürlich immer noch anders. Bei aller Wertschätzung dieses Mannes, als Leiter des Lehrplangremiums war er mitverantwortlich für diese schwurbligen Kompetenzformulierungen, er wollte die überfachlichen Kompetenzen (Kann mit Vielfalt umgehen, Skala 1 -10) einführen und er stand voll hinter dem Passepartout-Blödsinn …

Ich habe ihn im Sitzungszimmer ganz anders erlebt. Er liess sich durch gute Argumente aus der Schulpraxis durchaus von seinen eigenen Positionen abbringen, immer wieder. Auch wenn du DIESE Petition vielleicht erst morgen unterschreibst, Alain: Ich finde, Bernhard Pulver ist ein aussergewöhnlicher Schnelldenker und Pragmatiker. Pulver for Bundesrat!

Ich habe rasch realisiert, dass rechtskonservative Kreise unsere pädagogisch unterlegte Opposition politisch zu instrumentalisieren versuchten.

Schon früh hast du dich über einen Teil der Lehrplankritiker genervt. Vor allem hast du dich konsequent gegen rechts abgegrenzt … Der Reformkritiker wurde auch ein Reformkritiker-Kritiker.

Ich habe rasch realisiert, dass rechtskonservative Kreise unsere pädagogisch unterlegte Opposition politisch zu instrumentalisieren versuchten. Plötzlich wurden wir von Fundamental-Patrioten wie Ulrich Schlüer und von freikirchlichen Kreisen gefeiert, aus sehr spezifischen Motiven.

Übertreibst du da nicht etwas? Ich habe mit diesen Leuten geredet. Sie hatten in ihrer Mehrheit ehrliche Motive und eine andere Sicht von Schule …

Ich bin im Geiste ein naturliebendes, liberales und vielfältiges Geschöpf. Eine Zusammenarbeit mit Leuten, die die Wahrheit für sich gepachtet haben oder gar für ihre Nation, kam für mich nicht in Frage.

Es kam zum Bruch zwischen uns. Wegen meiner permanenten Pulver-Kritik? Habe ich eure Bromance gestört?

Ach, was, das war nebensächlich. Aber ich konnte nicht verstehen, dass du für die «Weltwoche» schreibst und dem Rechtspopulisten Köppel zudienst, nur weil sich der die Flagge der Intellektualität und der Meinungsfreiheit umgehängt hatte.

Wieso soll ich nicht in der Weltwoche schreiben, Bodenmann tut es ja auch.

Wieso denn? Bodenmann, Wermuth, Muschg, ja sogar die Funincello schreiben ja auch für die Weltwoche …

An Köppel stört mich ganz konkret, dass er als landesweit ausgerichteter Journalist einen zweiten Hut trägt, der sich ganz schlecht mit seinem Beruf verträgt: Er ist gleichzeitig Nationalrat. Wenn man die Medien als die vierte Staatsgewalt im Lande betrachtet – und das sind nach Köppels eigener Lesart die Medien ja – dann müsste er spätestens nach seiner Wahl den Job bei der Weltwoche im Sinne der Gewaltentrennung an den Nagel gehängt haben. Hat er aber nicht – im Gegenteil: Wiederholt stand seine parlamentarische Immunität zur Debatte, weil Internas aus Kommissionen plötzlich in der Weltwoche auftauchten. Ein journalistisches No-Go und eines Politikers unwürdig.

Einverstanden, aber ist denn das Problem nicht auch, dass die Mainstream-Medien, und vor allem auch die Linke, diese Bildungsreformen fast bedingungslos unterstützt hatten und viel zu wenig kritisch waren?

Die Mainstream-Medien … das ist auch so ein Begriff von Köppel. Wer soll denn das sein? Du willst doch nicht im Ernst behaupten, Zeitungen und Portale wie «20 Minuten», «Blick» oder der «Bund» seien auf derselben politischen Linie? Das Problem bei den Reformen war das mediale Schweigen. Wen interessiert denn so ein Lehrplan, Alain? Ist doch einfach kein journalistischer Gassenhauer.

Von dir stammte ja der Satz: «Die Genossen scheinen nur noch für die Genossen in den Büros zu kämpfen.»

Zu dieser Aussage stehe ich heute noch. Leider hat sich auch in meiner alten Partei (heute bin ich parteilos) teilweise das Klüngel-Prinzip ausgebreitet. Die SP ist damit zwar beileibe nicht allein, es ist trotzdem stossend.

Was mir wirklich auf die Nerven geht, ist dieses «Guilt by association» , wie die Engländer sagen. In Frankreich lehnen sich ja auch die Linke Badinter und der rechte Finkelkraut gegen die Bildungsreformen auf. Der Franzose sagt dem «Alliance contrenaturelle», niemand käme in Frankreich auf die Idee, Frau Badinter das vorzuwerfen. Es geht doch um die Inhalte.

Hundertprozentig einverstanden. Das Problem ist nur: Wie bringst du diese anspruchsvollen Debatten zur volksdemokratischen Basis, etwa zu den Bildungsabteilungen einer Gemeinde, die oft entscheidende Weichenstellungen vornehmen müssen? Ich weiss das selber nicht.

Der Einspruch: Liberaler und linker Widerstand gegen den Lehrplan 21. Eine Erfolgsstory.

Ich habe mit Beat Kissling und Yasemin Dinekli zwei Broschüren «EINSPRUCH» herausgegeben, mit denen ich vor allem die linke Kritik bündeln wollte. Es schrieben fast nur explizit linke Kritiker in diesen Broschüren. Du nicht. Warum?

Meine eigene Schule wurde in dieser Zeit von Führungswechseln durchgeschüttelt. Ich musste mithelfen, das Kollegium und den Betrieb irgendwie wieder in die Spur zu bringen, zunächst in der Steuergruppe, dann als Interims-Schulleiter. Ausserdem hatte ich alle Hände voll zu tun beim Fussballverband Bern-Jura, wo ich den Frauenfussball voranzubringen versuchte.

Ich habe die Lehrplaninitiative der Kritiker unterstützt. Auch hier gingen unsere Meinungen auseinander. Und du solltest letztlich Recht behalten. Wir gingen mit nur 30% Unterstützung regelrecht unter. Wie siehst du das heute?

Ihr wart erstens zu wenig breit abgestützt …

Kein Wunder, wir wurden ja auch in die Schwefel-Ecke gestellt ….

… zweitens war der Lehrplan inzwischen eingeführt – und fast geräuschlos. Und drittens habt ihr euch zu ideologisch gegen die Kompetenz-Orientierung aufgelehnt. So, wie ihr den Kompetenz-Begriff gebrandmarkt habt, wurde und wird er zum Glück in den meisten Schulen nicht umgesetzt. Ausserdem haben sich namhafte LP-21-Promotoren – auch dank eures Drucks – in der Zwischenzeit korrigiert, indem sie dem Wissen wieder den nötigen Respekt entgegenbringen. War ja schon immer einleuchtend: Ohne (Vor-)Wissen baust du keine Kompetenz auf. Oder wie willst du eine Schraube in die Decke drehen, wenn du nicht weisst, was eine Schraube, ein Schraubenzieher und eine Decke sind? Mit anderen Worten: Eure Initiative wurde versenkt, weil die Stimmbürger*innen an den gesunden Menschenverstand glauben. Ist doch auch nicht schlecht.

Es war nicht meine Initiative, ich habe sie einfach unterstützt …

Mitgehangen, mitgefangen. Das wäre dann ein Klassiker.

Diesen Punkt gewinnst du … Als wir den Condorcet-Blog gegründet haben und ich dich gefragt habe, ob du mitmachst, hast du aber sofort zugesagt. Was findest du an diesem Blog gut?

Er fördert die Vielfalt! Die Verwaltungs- und Fachpresse ist oft eine Hofpresse und neigt entsprechend zur Selbstbeweihräucherung. Und die beackern natürlicherweise nur die Themen mit politischem Zündstoff, womit wir wieder beim Thema Gassenhauer landen. Für die alltäglichen Sorgen, die die Lehrpersonen, die Schüler*innen und ihre Eltern umtreiben, fehlt manchmal eine Plattform. Vor allem aber fördert Condorcet den pädagogischen Dialog. Damit das gelingt, braucht es unterschiedliche Meinungen von jungen und älteren Menschen mit vielfältigem Hintergrund. Ich wünsche weiterhin gutes Gelingen!

Das Wichtigste: Ich werde bis zuletzt mit einem Kribbeln im Bauch in die Schule radeln.

25 Jahre, 20 Bildungsreformen, nächstes Jahr wirst auch du pensioniert. Welche Bilanz ziehst du?

Das Wichtigste: Ich werde voraussichtlich bis zum letzten Schultag mit einem Kribbeln im Bauch zum Schulhaus radeln. Schule geben ist einfach schön. Solches Seelenglück verdanke ich der Vielfalt von Schüler*innen, denen ich begegnen durfte, aber auch den vielen kreativen Kolleg*innen, von denen ich manches abschauen konnte. All die schönen Erfahrungen überstrahlen bei weitem die kleinen Ärgernisse. Unausgegorene Reformen? Alles Peanuts! Man kann ja dagegen kämpfen.

Und zum Schluss: Wer wird Schweizer Fussballmeister bei den Männern und bei den Frauen?

Ich traue den Degen-Brüdern zu, die Transferumtriebe von Sion-Präsident Christian Constantin noch zu übertrumpfen. Meister wird also wieder YB. Die haben irgendwie nicht nur auf dem Spielfeld ein System. Im Frauenfussball wirft Arsenal den FCZ aus der Champions League, womit auch die Basler wieder zufriedengestellt wären. Mir häbe zäme, Alain!

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Vielleicht einmal die Klappe halten https://condorcet.ch/2020/02/vielleicht-einmal-die-klappe-halten/ https://condorcet.ch/2020/02/vielleicht-einmal-die-klappe-halten/#comments Tue, 11 Feb 2020 12:35:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=3929

Condorcet-Autor Alain Pichard hat eine Wette gegen den ehemaligen Erziehungsdirektor Pulver gewonnen, sieht aber die Karawane weiterziehen. Nach missglücktem Frühfranzösisch und fehlgeschlagener Fremdsprachendidaktik macht jetzt ein neues Mekka-Wort die Runde: der obligatorische Sprachaustausch! Bevor nun schon wieder Fachkommissionen gegründet und Geldbeträge gesprochen werden, mahnt Pichard einen Besuch des OSZ-Orpund an.

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Alain Pichard, Sekundarlehrer in Orpund, hat die Wette gewonnen.

Es ist schwierig, bei den Themen Schulreformen und vor allem bei der Fremdsprachenreform Haltung und Anstand zu bewahren. Auch Rechthaberei, verbunden mit einem gerüttelten Mass an «Klugscheissertum», drohen dem Autor dieser Zeilen, wenn er die jüngste Geschichte der bildungsbürokratischen Segnungen an sich vorbeiziehen lässt und dabei auch seinen eigenen Einsatz gegen diesen «Amoklauf im dummschweizerischen Bildungsmassiv» (so ein Bund-Artikel des Autors, 2014) reflektiert. In der Berner Zeitung (2012) bot ich dem damaligen Bildungsdirektor Pulver eine Wette an. Frühfranzösisch werde ein monumentaler Flop, behauptete ich damals, nicht ohne Grundlagen. Ich zitierte mehrere Studien mit Quellen, und auch die Erfahrungen unseres nördlichen Nachbarlandes mit Frühenglisch («Frühenglisch ist ein Murks», Spiegel 2011) liess ich dem Magistraten zukommen. Der Bildungsdirektor ging nicht auf die Wette ein.

Frühfranzösisch war ein Amoklauf im dummschweizerischen Bildungsmassiv.

Zu allem Übel noch diese Mehrsprachendidaktik

Als dann noch die Mehrsprachendidaktik in Form der Passepartout-Lehrmittel folgte, mit all den Nachfolgeinvestitionen, verfasste ich in der Berner Zeitung 2015 einen ersten Erfahrungsbericht eines ratlosen Französischlehrers:

«Es war für mich ernüchternd, als ich feststellte, dass die Schüler nicht wussten, dass man ‹au› als ‹o› ausspricht oder ‹ou› als ‹u›. Gestaunt habe ich, dass ich mit meinen SchülerInnen zwar komplexe Texte über Erfindungen der Zukunft (‹aéolienne géante›) lesen sollte, diese aber nicht wussten, was ‹gestern›, ‹heute› und ‹morgen› auf Französisch heisst (wohlgemerkt, nicht schriftlich, sondern mündlich).»

Ich bekannte mich zu einem geordneten Aufbau der Sprache und kündigte an, der Didaktik dieses Lehrmittels nicht zu folgen. Am Schluss schrieb ich: «Ich lade die AutorInnen zu einem Unterrichtsbesuch ein und stelle mich jeder Evaluation.» Selbstredend kam es nie zu einem Unterrichtsbesuch.

Georges Lüdi, 1997/98 leitete er die Expertengruppe der EDK für ein Gesamtsprachenkonzept für die Volksschule in der Schweiz.
Bild: Uni Basel

Die Evaluationen kamen, knüppeldick

Die Evaluationen hingegen kamen, und zwar knüppeldick. Die Lehrmittelreihe fiel in allen relevanten unabhängigen Untersuchungen völlig durch. Und Georges Lüdi, ein glühender Vertreter des Frühfremdsprachenerwerbs, bekannte: «Internationale Studien haben in der Tat nachgewiesen, dass innerhalb des klassischen Fremdsprachenunterrichts ‹Frühstarter› am Schluss der Schulzeit ohne zusätzliche Massnahmen bezüglich ihrer Sprachkompetenzen kaum mehr messbare Vorteile haben». (Babylon, Oktober 2018)

100 Millionen Franken in den Sand gesetzt

100 Millionen Franken hat uns dieser Spass gekostet. Gelder, die man in den Spracherwerb in Asylheimen, in die Ausbildung von Heilpädagoginnen oder direkt in die Bekämpfung des Illetrismus hätte investieren können. «100 Millionen Franken in den Sand gesetzt», würde es bei einer Privatinvestition eines Unternehmens heissen.

Beschimpfungen habe ich schön aufbewahrt

Meine Mitstreiter und ich gingen vorher durch ein Bad der Verunglimpfungen. In meiner Mailbox sind –  gut aufbewahrt –  alle Beschimpfungen und hämischen Bemerkungen fein säuberlich gespeichert, die ich in den vergangenen Jahren erhalte habe.

Die Verteidiger sind verstummt

Bernard Pulver, ehem. Erziehungsdirektor des Kantons Bern: Ich möchte mich dazu nicht mehr äussern.

Die Protagonisten des frühen Fremdsprachenunterrichts und der Mehrsprachendidaktik wollen allerdings von ihren damaligen Voten nichts mehr wissen. «Die Verteidiger von ‹Mille feuilles› sind verstummt», schrieb der Journalist von Bergen am 20. Dezember 2019 in der Berner Zeitung. Reto Furter, bis 2018 Projektleiter für das Lehrmittel «Passepartout», ist heute Verantwortlicher für die Bereiche obligatorische Schule, Kultur und Sport bei der Erziehungsdirektorenkonferenz. Auf Anfrage erklärt er, er wolle sich in seiner neuen Funktion nicht mehr zum Lehrmittel äussern. Und Bernhard Pulver meinte gegenüber der Berner Zeitung: «Als Alt-Regierungsrat will ich heute zu aktuellen politischen Debatten nicht mehr Stellung nehmen.»

Die Karawane zieht weiter: Obligatorischer Sprachaustausch heisst das neue Zauberwort

Im Prinzip könnte das Beispiel dieser beiden Herren auch ein vorbildliches Leitmotiv für die heutigen selbsternannten Bildungspolitiker sein: Einfach mal die Klappe halten!

Grafitti-Spruch

Doch weit gefehlt, die Karawane zieht weiter und Politiker wollen nun eben mal gestalten, und die desavouierten Dozenten, Kursanbieter und Fremdsprachenexperten suchen neue Einkommensquellen und Beschäftigungsfelder. Gestreng nach dem Sponti-Motto: «Wenn wir etwas vorschlagen und es nicht klappt, versuchen wir was Neues, vielleicht klappt es ja auch nicht,” vernimmt man aus den Politsälen des Landes beunruhigende Voten. Assistiert werden sie durch eine «newsorientierte» Presse, welche jeden Reformgedanken weiterhin aufsaugt und ihn unreflektiert wiedergibt. Schon 2014 forderte der NZZ-Journalist Andreas Diethelm einen obligatorischen Sprachaustausch für jeden Schweizer Schüler. Letztes Jahr postulierte der frühere Chefredakteur der Tribune de Lausanne, Peter Rothenbühler, in der Basellandschaftlichen Zeitung ebenfalls einen obligatorischen Sprachaustausch (Oktober 2019). Und das Migros-Magazin kürte den Studenten Christian Siegenthaler in einem Wettbewerb mit dem vielsagenden Namen «Wunschschloss» zum Preisträger 2019 für die innovativste Idee. Er forderte – dreimal dürfen Sie raten – einen obligatorischen Schüleraustausch zwischen den Landesteilen.

Natürlich darf jetzt auch die Politik nicht fehlen. Neu gewählte Nationalrätinnen aus allen Parteien wollen – keine Überraschung – einen obligatorischen Sprachaustausch der SchülerInnen unseres Landes fördern. Der Bund, so eine Nationalrätin, müsse jetzt endlich vorwärts machen. Im Dezember 2019 verlangte Martin Rufer (FDP) im Solothurner Kantonsparlament, dass die Französischkompetenzen der Volksschüler verbessert und der Sprachaustausch gefördert werden sollten. Und der Regierungsrat erklärte eilfertig, dass er sich der Wichtigkeit von Austauschprojekten bewusst sei. Es seien bereits Schritte zur Förderung solcher Aktivitäten unternommen worden. Der stets euphorische  Tagesanzeiger schliesslich beklagte: Nur 2 % der Schüler machen einen Sprachaustausch. Das Ziel müsse aber 100% sein (13.5.19).

Es bedarf wohl keiner grossen Phantasie, sich vorzustellen, wie rasch es gehen wird, bis die ersten Fachgremien gebildet, die ersten Kredite gesprochen, die ersten Grosskonzepte geschrieben sind.

Sprachaustausch ist ein Gewinn, aber schwierig zu organisieren

Der grosse Wechsel im OSZ-Orpund. Einige Schüler reisen ins Wallis, andere kommen zurück.

Damit keine Missverständnisse entstehen. Der Autor dieser Zeilen hält sehr viel von Sprachaustauschen. Er pflegt Kontakte zu Genfer Partnerklassen, führt gemeinsame Skilager mit französischsprachigen Klassen durch und plant seine Abschlussreisen des Öfteren in Südfrankreich. Vor allem aber installierte er an seiner Schule, dem OSZ-Orpund, den traditionellen Sprachaustausch mit den französischsprachigen Walliser Schulen. Vier Tage verbringen unsere Schüler bei ihren welschen Kollegen und beherbergen diese ebenso lange bei sich. Ausserdem besuchen sie jeweils den Unterricht in den beiden Schulen, schreiben sich vorher mehrere Briefe und absolvieren zu zweit einen Postenlauf. An einem Samstag im Januar fahren die Eltern mit ihren Zöglingen und den Lehrkräften ins Wallis, wo sie von den Eltern ihrer Partnerkinder empfangen werden. Dies ist ein grosser Anlass, der die Leute zusammenbringt. Auch wir Lehrkräfte kennen uns mittlerweile und freuen uns schon jetzt auf das Wiedersehen. In wenigen Fällen geht dieser Austausch schief, in den meisten profitieren unsere Lernenden aber ungemein von diesen Begegnungen. Und manchmal entstehen sogar Freundschaften fürs Leben, gehen die Familien zum Beispiel gemeinsam in die Skiferien.

Austausch ist Knochenarbeit und bedeutet einen grossen Zeitaufwand

Was hier wie ein Werbeprospekt tönt, ist in Wirklichkeit Knochenarbeit. Deshalb empfehle ich den praxisfernen Gestaltern dringend, sich vorerst einmal mit den immensen Vorbereitungen unseres Austausch-Verantwortlichen an unserer Schule zu beschäftigen.

«Mein Sohn hat mit ‹Mille Feuilles› so wenig Französisch gelernt, dass ich ihm diese Erfahrung ersparen möchte.»

Christoph Schneeberger, der Austauschverantwortliche am OSZ-Orpund: Ich kann gerne Auskunft geben.

In beiden Sprachregionen beteiligen sich trotz intensiver Werbung lediglich 50% – 70% an diesem Austausch, Tendenz sinkend. Es gibt Familien, denen man eine Austauschschülerin nicht anvertrauen kann. Es kommt immer mehr zu angsterfüllten Panikabsagen, Spezialwünschen und kurzfristigen Abmeldungen. Die Abmeldung einer Mutter lässt tief blicken: «Mein Sohn hat mit ‹Mille Feuilles› so wenig Französisch gelernt, dass ich ihm diese Erfahrung ersparen möchte.» Auch religiöse Bedenken muslimischer Familien stellen oft ein Hindernis dar. Selbst im zweisprachigen Biel ist es nie gelungen, einen solchen Austausch voranzutreiben. Eine Schulleiterin der Oberstufe meinte: «Bei uns lassen die sozialen Verhältnisse einen solchen Austausch in vielen Fällen gar nicht zu. Und wir haben hier andere Probleme, wie z. B. das Erlernen und Beherrschen von Deutsch.»

Die organisatorischen Vorbereitungen sind gewaltig und die Reibungsflächen nehmen zu. Es kommt auch zu Abmeldungen von Schulen, die sich an dem Austausch nicht mehr beteiligen wollen.

Gesamtschweizerischer obligatorischer Sprachaufenthalt ist Wunschprosa in Reinform.

Trotzdem möchten wir dieses Projekt nicht missen. Es ist für uns ein wirkungsmächtiger und herzerwärmender Anlass, der  neben dem Spracherwerb viele weitere positive Effekte für die Reifung der Persönlichkeiten hervorbringt.

Bitte keine Masterpläne mehr

Ein gesamtschweizerischer obligatorischer Sprachaustausch ist Wunschprosa in Reinform. Bitte keine Masterpläne mehr. Stattdessen sollte man die bereits bestehenden Projekte fördern, den Praktikern zuhören, sich für ihre Arbeit interessieren und sie in eine eventuelle Ausweitung des Sprachaustausch-Gedankens einbeziehen. Und ansonsten einfach mal die Klappe halten.

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Unterrichten ist keine Mission https://condorcet.ch/2019/05/unterrichten-ist-keine-mission/ https://condorcet.ch/2019/05/unterrichten-ist-keine-mission/#respond Sun, 05 May 2019 13:19:31 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=979 Was ist der Unterschied zwischen einem Missionar und einem Pragmatiker? Der eine weiss, wie der Unterricht funktioniert, der andere versucht es immer wieder herauszufinden, manchmal sein ganzes Berufsleben lang.

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Seit 35 Jahren versuche ich mich als Lehrer. Das klappte ganz gut, bis ich vor drei Jahren meine Funktionenpalette erweiterte und Schulleiter wurde. Alles entsprang einer politischen Zeiterscheinung: Meine bis dahin eigenständige Schule kriegte vom Gemeinderat den Zentralschulleiter verpasst, den die anderen längst hatten. Im Emmental dauert eben alles etwas länger. «Nume nid gsprängt.»

Leider kopierte man dabei auch die Fehler der anderen: Die Stellenprozente der Hausleitung wurden von den Schulbehörden zurückgestutzt wie die Äste der Platanen im Frühling. Nur dass die Prozente nicht nachwachsen.

 

Alter schützt vor Torheit nicht

Meine ersten zwei Vorgänger retteten sich in die Pension. Ihre Nachfolger warfen nach zwei Runden das Handtuch. Und im gleichen Rhythmus, wie sich unsere Sous-Chefs die Klinke reichten, drohte der Betrieb aus dem Ruder zu laufen. Nun wollten sie eine Pragmatikerin, die den Laden von innen kannte. Das Drama nahm seinen klassischen Ausgang: Sie traute sich den Job nicht zu. Am Schluss blieben sie bei mir hängen.

Drei Jahre später weiss ich, diese Zusage war die Torheit meines Lebens. Denn als Sous-Chef landest du in der Zwangsjacke der Mission. Du sollst zur Umsetzung führen, was die Missionare der guten Schule alles herausgetüftelt haben. Im schlimmsten Fall führst du ein trojanisches Pferd zur Tränke deines Kollegiums.

Amadeus auf den Leim gekrochen

Zur Mehrheit meiner Stellenprozente bin ich immer noch Lehrer. Und als solcher ist mir jede Mission ein Gräuel. Meine Schlüsselerfahrung diesbezüglich hatte ich als Jungspund in Paris gemacht, bei einem Exkurs in die Suggéstopédie. «Die Magie Mozarts – Lernen im Unterbewusstsein.» Das ging so: Wir legten uns auf die Yogamatte, eine zauberhafte und nur leicht ergraute Yogini rezitierte im Rhythmus einer mozärtlichen Sonate ein Kapitel aus Sempés «Petit Nicolas». Sinnlos dösten wir verkaterten Lümmel auf der Matte herum. Mais quelle surprise! Après le concert, ich verstand den ganzen Text, ich hatte verinnerlicht tout le vocabulaire, et en plus, ich beherrschte enfin le subjonctif imparfait de mon verbe favori: Que cette méthode reçût la médaille d’or!

Beschwingt kehrte ich aus Paris zurück und wandte die Zauberformel «Lernen im Halbschlaf» im Klassenzimmer an. Mais quelle stupéfaction! Sie kapierten nichts, oder nur unter Beizug bekannter Zusatztricks, die von den Yoginis für den Notfall mitgeliefert worden waren. Als Wundermittel entpuppte sich das Plakat mit dem subjonctif imparfait de mon verbe préféré. Im Weltformat. Ich liess es zehn Monate hängen. Und seither hängt mein Unterricht nicht voller Geigen, aber voller Plakate.

 

Das «Ja, aber mit Mass»-Modell

Denn seither unterrichte ich nach dem Muster: «Hör’ dir die Botschaft an, probier’ das Ding aus und filtere heraus, was funktioniert. Für mich ist das eine Art Erfolgsmodell. Mit ihm konnte ich meinen Horizont erweitern, ohne in der Sackgasse der einzigen und heiligen Botschaft zu landen.

Und die Botschaften prasselten reichlich auf uns ein. Manchmal wurden sie von Pragmatikern verlesen, öfters von Gurus. Wochenplan? Ja, der fördert die Selbständigkeit, wenn du es nicht übertreibst damit. Lehrplan 95? Starker Denkansatz. Funktioniert aber nur in Kombination mit dem Mut zur Lücke. Projektunterricht? Fantastisch! Eine Zeitung produzieren, eine Bundesratswahl veranstalten, ein Biotop bauen, ein Hörspiel schreiben…. Neue Schülerbeurteilung Bern? Haben wir ein Jahr lang ausprobiert. Hundert Formulare, tausend Kreuzchen. Diesen Wahnsinn müssen wir stoppen. SchueBE HALT! Kooperative Lernformen: Sie sorgen für Abwechslung und fördern das Teamwork. Handwerk hat goldenen Boden.

 

Der Maestro des Machbaren:

Bernhard Pulver

Beim Lehrplan 21 schwangen Alain Pichard, seine Mitstreiter und ich wieder die Protestkeule: Man wollte uns mit Kompetenzen überfluten und das Wissen beerdigen. Bernhard Pulver lud Alain und mich zur Aussprache in sein Büro, und ich spürte: Dieser Mann nimmt uns ernst.

Ich folgte auch seiner zweiten Einladung und nahm im Steuerungsausschuss Einsitz, der im Kanton Bern den Lehrplan 21 umsetzen sollte. In meiner Rolle als «konstruktiver Kritiker» erlebte ich vier Jahre lang und hautnah diesen Meister des Machbaren und Fahnenträger der pädagogischen Freiheit.

Die Missionarinnen des Lehrplans 21 holte er vom siebten Himmel auf den Teppich der Praxis herunter. Der Lehrplan liefere den roten Faden; eine Bibel sei das nicht. Kompetenzen seien heute unerlässlich, aber sie basierten auf Wissen. Und sie produzierten neues Wissen. Sogar seine Apostel des Formulars wies er in die Schranken: Wir geben den SchülerInnen nützliche Feedbacks, aber es geht nicht um Vermessung. Zu flächendeckenden Vergleichstests sagte er kategorisch: nein. Zu Schulversuchen und Pilotprojekten ebenso kategorisch: ja. Die Lehrmittel wollte er empfehlen, aber nicht verordnen. Und uns LehrerInnen ermutigte er, in Ruhe alles auszuprobieren. Mit Mut, Optimismus und Freude, aber auch mit Augenmass. Er sprach mir in vielem aus dem Herzen.

Danke, Bernhard.

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