Migrantenkinder - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 09 Jan 2023 11:18:52 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Migrantenkinder - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Nach Silvester-Krawallen: Deutscher Lehrerverband fordert Höchstquoten für Migrantenkinder an Schulen https://condorcet.ch/2023/01/nach-silvester-krawallen-deutscher-lehrerverband-fordert-hoechstquoten-fuer-migrantenkinder-an-schulen/ https://condorcet.ch/2023/01/nach-silvester-krawallen-deutscher-lehrerverband-fordert-hoechstquoten-fuer-migrantenkinder-an-schulen/#comments Mon, 09 Jan 2023 11:18:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=12843

BERLIN. Nach den Ausschreitungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Berlin und anderen Städten zu Silvester ist eine Debatte um die Integration (auch) in Bildungseinrichtungen entbrannt. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, sprach sich dafür aus, Höchstquoten für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen festzulegen. «Wir haben ein Integrationsproblem in Deutschland, welches sich natürlich auch an den Schulen abspielt», sagte Meidinger der «Bild». Diesen Bericht entnahmen wir der Plattform news4teachers. Die Redaktion des Condorcet-Blogs ist gegenüber Quotenregelungen eher skeptisch eingestellt, möchte aber die Diskussion durchaus führen. Vielleicht kommen ja aus der Leserschaft einige Ideen.

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Die Vorfälle der Silvesternacht seien eine „Frage der Werteerziehung“, so Meidinger. Viele Elternhäuser würden diese Art der Erziehung heute nicht mehr leisten oder diese an die Schulen übertragen. Wenn Integration erfolgreich sein solle, sagte Meidinger, müssten «verpflichtende vorschulische Förderung, flächendeckende Sprachstandtests und Migrationsquoten» eingeführt werden. Integration gelinge nicht, wenn zum Beispiel in Klassen an Brennpunktschulen zu 95 Prozent nicht-deutsche Schüler vertreten seien, zitiert ihn die Zeitung.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands

Wie hoch die Quote sein sollte, sagte Meidinger der «Bild» allerdings nicht. Seiner Meinung nach nehmen ab einem Anteil von 35 Prozent von Kindern mit Migrationshintergrund in einer Klasse «die Leistungen überproportional» ab. Die Lehrer würden ihr Bestes geben, die Erziehung nachzuholen. «Aber ohne die Zusammenarbeit mit den Eltern kämpfen sie hier oft auf verlorenem Posten.»

Die Kinder müssten dann mit Bussen auf andere Schulen verteilt werden, um bestimmte Quoten zu erreichen

Der Vorschlag, die Migrationsquote in Klassen zu begrenzen, ist nicht neu. Bereits 2017 war die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) entsprechend vorgeprescht – ohne dass dies politisch zu Konsequenzen geführt hätte. «Abstrus und illusorisch» nannte der Verband Bildung und Erzieherin (VBE) seinerzeit eine solche Quotierung. Wankas Idee würde bedeuten, bestehende Klassen in Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Familien mit Zuwanderungsgeschichte aufzulösen. Die Kinder müssten dann mit Bussen auf andere Schulen verteilt werden, um bestimmte Quoten zu erreichen.

Özcan Mutlu, Grünen-Politiker in Deutschland: Bussing ist rechtlich gar nicht möglich.

Ein solches «Bussing» sei in Deutschland rechtlich nicht möglich und in vielen Staaten bereits gescheitert, wandte Özcan Mutlu ein, seinerzeit bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Er warf Wanka vor, «die Realität in unserem Land» zu verkennen. Nicht die Kinder und Jugendlichen mit anderen Muttersprachen seien das Problem der deutschen Schulen, sondern die mangelnde personelle Ausstattung und Sprachförderung.

In die gleiche Kerbe schlägt jetzt Berlins Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial, Sie hat eine deutlich bessere Ausstattung der Präventions- und Bildungsarbeit in sozial benachteiligten Stadtteilen angemahnt. Es könne nicht sein, dass gerade dort die Ressourcen sowie die Lehrerinnen und Lehrer «immer am Limit sind», sagte sie der «taz» zur Diskussion über die Gewalt in der Silvesternacht.

Es brauche zudem eine Debatte darüber, «wie eine Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aussehen muss, die auf eine Migrationsgesellschaft ausgerichtet ist». Dabei sei nicht die ethnische Herkunft in den Blick zu nehmen, sondern die soziale. «Es geht um abgehängte Jugendliche – und zwar um unsere Jugendlichen», so Niewiedzial. Die Situation in den Berliner Schulen sei katastrophal. «Es fehlt an neuen Schulgebäuden, technischer Ausstattung und mehr Personal, das die Lebensrealitäten der jungen Menschen besser versteht. Es muss uns gelingen, den jungen Menschen eine berufliche Perspektive zu geben», sagte Niewiedzial.

Katarina Niewiedzial, Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration

Wer die Gewalt in der Silvesternacht zu einem Ausländerthema machen wolle, entgegne sie: «1,4 Millionen Menschen in Berlin haben einen sogenannten Migrationshintergrund, das sind 38 Prozent. Wir tun dieser Gruppe Unrecht, wenn wir sie in Gänze stigmatisieren und kriminalisieren.»

Nach den Angriffen in der Silvesternacht hatte die Polizei in Berlin 145 Menschen vorläufig festgenommen, inzwischen sind sie wieder auf freiem Fuß. Die meisten davon sind junge Männer. Etwa zwei Drittel sind nach Polizeiangaben unter 25 Jahre alt, 27 noch minderjährig. Der Polizei zufolge wurden 18 verschiedene Nationalitäten erfasst. 45 der Verdächtigen haben die deutsche Staatsangehörigkeit, 27 die afghanische Nationalität und 21 seien Syrer. Auch in anderen deutschen Städten gab es offenbar Krawalle – in welchem Ausmaß ist unklar. Das Bundesinnenministerium will nun ein deutschlandweites Lagebild erstellen lassen. Aus einigen größeren Bundesländern seien dafür noch keine Zahlen eingegangen, weshalb dies noch einige Tage in Anspruch nehmen könne, sagte ein Sprecher.

«Wer die notwendige Debatte ausnutzt, um auszugrenzen, löst das Problem nicht, sondern verstärkt es»

Die «Bild» nimmt das Geschehen zum Anlass, seit Tagen eine Kampagne zu «gescheiterter Integration und Migration» zu fahren. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) postete dazu auf Twitter: «Wir müssen gewaltbereiten Integrationsverweigerern in unseren Städten die Grenzen aufzeigen: mit harter Hand und klarer Sprache. Aber ohne rassistische Ressentiments zu schüren. Wer die notwendige Debatte ausnutzt, um auszugrenzen, löst das Problem nicht, sondern verstärkt es.»

Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nannte die Vorfälle in der Silvesternacht «absolut unakzeptabel und zu verurteilen und konsequent zu verfolgen». Als Antwort auf die „massive Respektlosigkeit» und die Gewalt brauche es einen «Mix aus ausgestreckter Hand und Stopp-Signal», forderte Giffey im rbb24 Inforadio (https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2023/01/berlin-silvester-krawalle-giffey-gipfel-jugendgewalt.html). Taten müssten konsequent und schnell bestraft werden.

Die Ursache der Silvesterkrawalle sehe sie nicht in der Migrationsgeschichte von Beteiligten, sondern im sozialen Umfeld, betonte Giffey. Schließlich seien fast alle «Berliner Kinder», die hier geboren und aufgewachsen seien, so Giffey am Mittwoch auf einem Termin in der Polizeidirektion Lichtenberg. «Wir reden ja nicht über die Einwanderungsmarke, sondern über das, was in den sozialen Brennpunkten schiefgelaufen ist. » Sie forderte eine Stärkung der Jugendlichen in entsprechenden Vierteln der Stadt. Giffey kündigte an, zu einem Gipfel gegen Jugendgewalt einladen zu wollen.

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Wolfgang Kühnels Sonntagseinspruch: Das große Drumherumreden der staatstragenden Bildungswissenschaft. https://condorcet.ch/2022/12/wolfgang-kuehnels-sonntagseinspruch-das-grosse-drumherumreden-der-staatstragenden-bildungswissenschaft/ https://condorcet.ch/2022/12/wolfgang-kuehnels-sonntagseinspruch-das-grosse-drumherumreden-der-staatstragenden-bildungswissenschaft/#respond Sun, 04 Dec 2022 13:28:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=12509

Endlich wieder einmal einer der Sonntagseinsprüche von Professor Wolfgang Kühnel. In seiner Analyse setzt er sich mit den (dokumentierten) sinkenden Schülerleistungen auseinander und seziert die Reaktionen der Bildungsforscher gnadenlos. Und noch etwas ganz Besonderes geht mit diesem Beitrag einher. Es ist der 1000ste Beitrag auf unserem Condorcet-Blog. Für einen "Wenigschreiber" wie Professor Kühnel eine reife Leistung. Aber eben... der Ball ist rund!

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Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Vor wenigen Wochen wurden die Ergebnisse des sog. “IQB-Bildungstrends  2021” in Deutschland vorgestellt, hier der offizielle Bericht:
https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021

Nun kann man durchaus skeptisch sein, was die dort verwendeten Testaufgaben und den dahinter stehenden Ansatz betrifft. Einige wenige kann man von diesem Link aus anklicken, man hält Multiple-Choice-Aufgaben für das A und O. Auch kann man diese ganze Testerei für verfehlt halten,  aber letztlich muss man konstatieren: Nach den Maßstäben der wichtigen bildungswissenschaftlichen und  schulpolitischen Institutionen im Lande sind diese Tests des sog. “Monitorings” nun mal maßgeblich, und irgendwie sagt zumindest der Trend  solcher wiederholten Tests auch etwas aus, weil die Testitems jedesmal  ähnlich sind.

Die Teste zeigen seit Jahren einen Trend

Und dieser Trend zeigt so katastrophal nach unten, dass es selbst hartgesottenen Politikern erstmal die Sprache verschlug: Innerhalb von nur 10 Jahren rauschten etliche Bundesländer beim Test um 40 und mehr PISA-Punkte nach unten, und das entspricht dann angeblich einem ganzen Schuljahr an Lernfortschritten, im Bundesdurchschnitt waren es 30-40  Punkte, je nach Testdisziplin. Seitdem rätselt die ganze Nation, woran das wohl liegen mag. Gerade diejenigen, die diese Art Testaufgaben immer propagieren, müssten jetzt eigentlich erklären, wie das kommt. Die Corona-Pandemie alleine will niemand dafür verantwortlich machen. Das soll die so oft postulierte “Bildungsrepublik Deutschland” sein? Zumindest bei dem Teil, der Lesen und das allgemeine Textverständnis betrifft, muss man natürlich Deutsch können, und zwar nicht nur ein bisschen von der Umgangssprache, sondern ein bisschen mehr von der sog. Bildungssprache. Auch bei dem Mathematiktest muss man sprachlich verstehen, was in der Aufgabe verlangt wird, also wird das Lesen eigentlich doppelt und dreifach getestet. Das wird auch viel kritisiert, aber die Tester sind davon nicht abzubringen, sie halten das für eine absolut unentbehrliche “literacy”.

40% Migrationshintergrund

Jedenfalls besagen nun leider die offiziellen Statistik-Zahlen, dass von den kleineren Kindern inzwischen ca. 40 % einen  sog. Migrationshintergrund haben, also in der Regel Deutsch nicht als Muttersprache haben, viele haben Deutsch auch nicht als aktuelle Familiensprache, das ist eine neue Feinheit in Statistiken neben der sog. “nichtdeutschen Herkunftssprache”. Wenn die Zuwanderer alle aus Österreich oder der Deutsch-Schweiz kämen, wäre das natürlich kein Problem, aber dem ist nicht so. Sie kommen aus fernen Ländern, in denen Deutsch auch als Fremdsprache kaum gelehrt wird. Ein bisschen Englisch, das können etliche wohl, aber Englisch wird jedenfalls beim Grundschultest nicht getestet. Wenn ich mir vorstelle, man hätte mich zu Grundschulzeiten nach  Frankreich gebracht, mich dort ohne französische Sprachkenntnisse in die Schule geschickt und dann später einen solchen Test auf Französisch absolvieren lassen, derweil meine Eltern weiter nur Deutsch mit mir gesprochen hätten, so fürchte ich, dass meine Ergebnisse auch mager gewesen wären. Reines Rechnen mit Zahlen hätte ich ja noch hinbekommen, weil mir das irgendwie lag, aber die neuen Aufgaben enthalten ja so schrecklich viele Wörter, die man erstmal verstehen muss. Aber genau das macht man mit Kindern aus aller Welt, aus der ganzen EU, aus Russland, aus dem Balkan, dem Vorderen Orient, aus Afrika, Afghanistan und jetzt aus der Ukraine, ein Ende ist nicht abzusehen. Die Gründe für die Migration sind unterschiedlich, aber für diesen Test zählt das nicht, der Test ist unbarmherzig und stur.

Mit rein logischer Betrachtung kommt man auch auf die Idee, dass ein generell sinkendes sprachliches Niveau im Unterricht letztlich alle treffen muss, denn auch gute Schüler erhalten weniger Anregungen, wenn viele sprachlich Schwache in der Klasse sind.

Und dann besagt eben die nüchterne Statistik in Kapitel 8 des Berichts, dass die Ergebnisse der Migrantenkinder sich besonders stark verschlechtert hatten und im Durchschnitt weit hinter den anderen herhinken (z.T. bis zu 100 PISA-Punkten, das entspricht bei dem wirklichen PISA-Test dem Unterschied zwischen Finnland und Mexiko bei den Mittelwerten im Lesen),  wenngleich sich die Nicht-Migranten auch deutlich verschlechtert haben. Mit rein logischer Betrachtung kommt man auch auf die Idee, dass ein generell sinkendes sprachliches Niveau im Unterricht letztlich alle treffen muss, denn auch gute Schüler erhalten weniger Anregungen, wenn viele sprachlich Schwache in der Klasse sind. Umgekehrt werden die schwachen Schüler frustriert, wenn sie nicht mithalten können. Und die Lehrer können nicht zaubern.

Aber diese Ursache darf offiziell nicht zu laut gesagt werden. Vielmehr hat sich als einzig korrekte Terminologie eingebürgert, von einer ubiquitären “Heterogenität” zu sprechen, die irgendwie schleichend, unmerklich, unerwartbar und auf geheimnisvolle und unkontrollierbare Weise über uns gekommen ist so wie das lautlose Schmelzen der Gletscher und die Klimaerwärmung. Diese “Heterogenität” wird jetzt für alles und jedes verantwortlich gemacht, gerade so, als seien die Schulklassen vor 30 oder 50 Jahren noch ziemlich homogen gewesen. Das waren sie natürlich nicht, leistungsmäßig gab es immer riesige Unterschiede, und alle Noten von 1 bis 6 wurden zu allen Zeiten verteilt, arm und reich gab es auch schon immer, intelligente und unintelligente, gebildete und ungebildete Eltern auch.

Prof. Becker-Mrotzek: Lauter nichtssagende Primsätze.

Nun erschien vor wenigen Tagen am 24.11.2022 ein Artikel in der FAZ mit einem längeren Interview mit Prof. Becker-Mrotzek, der nicht irgendwer ist, sondern Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache in Köln und Mitglied in zahlreichen wichtigen Kommissionen, u.a. der StäWiKo der KMK. Er und sein Institut sind federführend bei dem BISS-Programm von Bund und Ländern, das es seit nunmehr 10 Jahren gibt und das sich ausdrücklich die “erfolgreiche Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen der deutschen Sprache” im schulischen und vorschulischen Bereich auf die Fahnen geschrieben hat. Hier ist eine 118 Seiten lange Liste der diversen Aktivitäten in den diversen Bundesländern, von fleißigen Leuten zusammengestellt:
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2019/2019_12_05-Bildungssprachliche-Kompetenzen.pdf

Man bemüht sich also, die erkannten Defizite anzugehen. Auf den Seiten 94-99 geht es um “Digitalität”, z. B. “DaZ digital” oder “Digitale Lernpfade, die in ein Lernmanagementsystem eingebunden sind.”

Das klingt so richtig zukunftsorientiert. Aber wie passt das alles zu dem schwachen Ergebnis der Tests? Genau das wollte Frau Schmoll in dem FAZ-Interview erfragen, und viele andere würde es auch brennend interessieren. Aber wie das so ist: Der Fragen gibt es viele, aber die Antworten verschwinden irgendwo im Nebel der Allgemeinplätze und Postulate. Bei Politikern ist das noch verständlich, die müssen ständig Dinge erklären, die sie selber nicht genau kennen, aber wenn ein gestandener und prominenter Institutsleiter kurz vor dem Rentenalter nach seinem Spezialgebiet befragt wird, könnte er ja aus seinen wissenschaftlichen Kenntnissen schöpfen und müsste nicht einmal Rücksicht auf die Politik nehmen. Aber davon ist nichts zu sehen.

Dieses “noch immer … zu viele” ist fast schon zynisch angesichts des Trends mit den Testergebnissen: Es werden immer mehr.

Schon die erste Frage “Warum ändert sich an diesem Befund seit Jahren nichts?” wird ausweichend beantwortet: Die wirksamen Maßnahmen, die man habe, seien ja noch gar nicht in der Breite eingesetzt worden, und zum anderen verändere sich die Schülerschaft (mehr mehrsprachige Kinder), wodurch der Lern- und Unterstützungsbedarf steige. Nun ist aber gerade diese mehrsprachige Schülerschaft doch das Hauptthema des Mercator-Instituts (Deutsch als Zweitsprache – DaZ) und ist auch ein Hauptgrund für das ganze BISS-Programm. In einer offiziellen Erklärung zum BISS-Programm

https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/deutschlandweit-starten-460-schulen-in-der-bund-laender-initiative-transfer-von-sprachbildung-lese.html

erklärt Herr Becker-Mrotzek ungerührt: “Noch immer (!) verfügen zu viele Schülerinnen und Schüler nicht über die nötigen sprachlichen Kompetenzen, um dem Unterricht folgen und später ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.” Dieses “noch immer … zu viele” ist fast schon zynisch angesichts des Trends mit den Testergebnissen: Es werden immer mehr.

Bereits die in Deutschland als schwach empfundenen Ergebnisse von PISA 2000 hätte man ja auf die vielen “mehrsprachigen” Schüler zurückführen  können, die es auch damals in großer Zahl gab. Das hat man aber nicht getan, man hat vielmehr die “PISA-inkompatiblen” Lehrpläne mit der “Inputorientierung” und der fehlenden “Literacy” sowie das “veraltete” Schulsystem verantwortlich gemacht. Immerhin: Seit 20 Jahren weiß man um das Problem, aber richtig bergauf geht es dennoch nicht.

Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

In der Schweiz konnte man eigentlich mit den PISA-Ergebnissen durchweg zufrieden sein, aber seltsamerweise hat sich auch dort ein gewisser Reformeifer breitgemacht mit ebenfalls schwächelnden Ergebnissen, siehe:

https://condorcet.ch/2022/11/immer-mehr-eltern-betrachten-die-schule-als-niedere-serviceleistung-sagt-der-ehemalige-gymilehrer-carl-bossard/

Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet. Auf die Frage von Frau Schmoll nach den ausgebliebenen Effekten eines Sprachförderungsprogramms in Berlin in dreistelliger Millionenhöhe antwortet Herr Becker-Mrotzek mit dem Hinweis auf einige Hamburger Schulen. Dabei ist er Mitglied der Expertenkommission zur Verbesserung der Schulqualität in Berlin. Ich bin selbst in Berlin (West) zur Schule gegangen, aber meine Meinung zur gegenwärtigen Berliner Schulpolitik sollte ich hier nicht schreiben, weil das die Regeln der Höflichkeit verbieten. Wen es interessiert, der schaue in die Wahlprogramme der jetzt regierenden Parteien SPD, Grüne, Linke (auf Landesebene) und in den Koalitionsvertrag von 2021. Es wird ja in Kürze neu gewählt wegen administrativer Unfähigkeit bei der Wahl 2021. Zwei der drei Parteien wollen am liebsten die 5. und 6. Gymnasialklassen abschaffen, und der Koalitionsvertrag möchte in der “Regenbogenhauptstadt” die “lesbische Sichtbarkeit” erhöhen und wünscht mehr “Diversity- und Queerkompetenzen in allen pädagogischen Berufen”.

Die Kita soll es richten, was Sprache betrifft.

Die Heterogenität in den Schulen soll ausdrücklich erhöht (!) werden, auch in sog. Profilschulen, so als sei das eine große Tugend. Nicht untypisch für die Berliner Bürokratie: Als “zentralen Baustein einer neuen Qualitätsstrategie” möchte man ein neues Landesinstitut aufbauen,  das dann vermutlich auch wortreich um die Probleme drumherumreden wird. Die Gymnasien sollen “inklusiv” werden und das Probejahr sowie das “Abschulen” abschaffen. Die “Verbesserung der Sprachförderung durch den Ausbau der Sprachkitas” steht auch drin, aber von solchen nüchternen Themen wie schulische Leistungen oder Lesen, Schreiben, Rechnen in Grundschulen ist nicht die Rede. Die Kita soll es richten, was Sprache betrifft. Regierungen und politische Parteien haben eben eine Sichtweise auf die Dinge von “weiter oben” und nicht die “Froschperspektive” aus den Niederungen des einfachen Volkes. So werden Kernaufgaben der Schule letztlich ausgehöhlt. Und all das liegt schwarz auf weiß auf dem Tisch, auch Herr Becker-Mrotzek weiß es.

Was wird noch in dem Interview geboten? Hier eine kleine Anthologie von Postulaten des Herrn Becker-Mrotzek aus dem Interview:
“Alle Kinder mit Förderbedarf müssen konsequent ein Förder- und Bildungsangebot bekommen”,
“Der Bildungsauftrag der Kita müsste ausbuchstabiert werden”,
“Wir brauchen einen breiten Konsens über den Stellenwert der frühen Bildung”,
“Benötigt wird ein systematischer Schrifterwerb, der den Erstklässlern auch zeigt, wie unsere Schrift funktioniert.”
“Dann muss man noch wissen, dass Hauptwörter großgeschrieben werden und dass einige Wörter anders ausgesprochen als sie geschrieben werden. Wenn man Hund sagt, hört sich das d wie ein t an, Hunde spricht man mit d und schreibt es mit d. Das ist eigentlich schon die ganze Orthographie, die man zu beachten hat.”

Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Volksschullehrer vor 100 Jahren das mit dem Üben vielleicht auch schon wussten oder zumindest ahnten.

Das klingt alles nicht so, als müsse man ein hochrangiger institutsleitender Spezialist für den Spracherwerb sein, um das sagen zu können. Wissen das nicht alle Lehrer? Immerhin verrät er uns eine wichtige Erkenntnis: “Das muss man fortwährend beobachten und dann auch entsprechend üben. Ich glaube, dass das Üben von Lesen und Schreiben zu kurz kommt. Das Üben ist über lange Zeit gerade im Deutschunterricht diskreditiert (!) worden.”

So platt wie alte Fussballweisheiten.

Hört, hört! Haben wir hier eine wichtige Ursache für die Misere gefunden? Und wie kam das? Hatte vielleicht die pädagogische bzw. didaktische Wissenschaft das Üben diskreditiert? Ist es etwa von Schulbürokraten im Zuge von Sparmassnahmen wegrationalisiert worden? Oder waren es Außerirdische oder politische Extremisten? Egal, für diesen Satz sollten wir Herrn Becker-Mrotzek wirklich dankbar sein, und beherzigen sollte man ihn auch. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Volksschullehrer vor 100 Jahren das mit dem Üben vielleicht auch schon wussten oder zumindest ahnten. Für Fußballtrainer ist das alles wohl klar, sie wussten schon immer: “Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten, und Trainieren ist unverzichtbar für den Erfolg.” Da kann niemand widersprechen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag
Wolfgang Kühnel

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Das kann ich den Kids nicht antun https://condorcet.ch/2022/04/das-kann-ich-den-kids-nicht-antun/ https://condorcet.ch/2022/04/das-kann-ich-den-kids-nicht-antun/#comments Mon, 18 Apr 2022 07:27:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=10813

Sandro Trunz ist Gymnasiallehrer und arbeitet derzeit an einer Brennpunktschule in Biel, zusammen mit unserem eigentlich pensionierten Condorcet-Autor Alain Pichard. Beide sind sie dem Notruf der dortigen Schulleitung gefolgt. Der grassierende Lehrkräftemangel hinterlässt Spuren, das zeigt dieses Gespräch deutlich.

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Sandro Trunz (Jg. 1975), Gymnasiallehrer: Hier siehst du sofort die Effekte.

Alain Pichard

Wenn man deinen Lebensweg betrachtet, könnte man dich als einen bunten Wandervogel betrachten.

Sandro Trunz

In der Tat. Im Appenzell aufgewachsen. Viele Reisen mit Stationen in Indonesien, Australien, Portugal, Marokko, und auf dem Weg in die Schweiz sah ich die Stellenausschreibung im OSZ-Mett-Bözingen.

Dazwischen hast du aber auch eine Gymnasiallehrerausbildung absolviert. Und Geld verdient.

Ich habe Deutsch, Französisch und Englisch als Gymnasiallehrer studiert und arbeitete an verschiedenen Schulen … unter anderem an der Berufsunteroffiziersschule. Ein relaxter Job, gut bezahlt.

Wie kam es, dass du hier gelandet bist und dir diesen – ich sage es mal deutlich – Knochenjob zugemutet hast?

Ich war längere Zeit in Portugal, habe dort auch gearbeitet. Als Hochschullehrer oder Gymnasiallehrer verdienst du dort deine 1000 Euro. Ich brauchte Geld. Und so entschloss ich mich, in die Schweiz zurückzufahren. Unterwegs studierte ich die Stellenausschreibungen. In meinem Fachgebiet gab es keinen Job an den Gymnasien, wohl aber auf der Sekundarstufe 1. Und da fiel mir die originelle Webseite des Oberstufenzentrums Mett-Bözingen auf. In Spanien meldete ich mich telefonisch bei der Schulleitung, schickte meinen Lebenslauf und in Frankreich hatte ich die Stelle. Hätte ich drei Tage länger gewartet, wäre mir eine Stellvertretung mit meiner Fächerkombination am Bieler Seeland-Gymnasium angeboten worden.

Alain Pichard und Sandro Trunz folgten dem Ruf der Schulleitung.

Ein Glücksfall für unsere Schule. Für dich auch?

Mittlerweile bin ich froh, dass ich hier arbeite.

Aber der Realitätsschock muss heftig gewesen sein.

In der Tat. An einer solchen Schule zu unterrichten, ist aufwändig, arbeitsintensiv und benötigt Nerven.

Lehrerband des OSZMB: ein tolles Kollegium

Trotzdem sagst du, dass du gerne hier arbeitest.

Die Lehrkräfte hier sind eine phänomenale Gemeinschaft. Es herrscht – allen Schwierigkeiten zum Trotz – ein ungemein positiver und – teils – gar vergnügter Geist. Ich fühlte mich von Anfang an wohl.

Wo lagen die grössten Herausforderungen?

Die Klasse, die ich unterrichte, hatte unzählige Lehrerwechsel (6+). Sie wurde meines Erachtens im Stich gelassen vom abrupten Abgang meines Vorgängers. Corona-Lockdown, viele Absenzen, drückende soziale Verhältnisse, ein enorm hoher Migrationsanteil, viele unterprivilegierte Kids, disziplinarische Exzesse … es herrschte irgendwie ein Chaos. Zuerst wurde ich für eine Stellvertretung engagiert, danach bat man mich, die besagte Klasse zu übernehmen; ein kurzfristig angestellter Lehrer musste wieder gehen; du kamst; Stefan (ein anderer pensionierter Lehrer) stiess dazu. Es galt in erster Linie, Ruhe in den Betrieb zu bringen.

Die Kids hier sind spontan, direkt und sehr menschlich. Und sie spüren, dass ich kein 08/15-Lehrer bin. Sie schätzen auch meine harte Hand, denn niemand hier will Chaos. Sie wissen, dass ich mich für sie interessiere.

Atrium des OSZMB: Ich bin froh, hier zu arbeiten.

Das hast du geschafft. Man sieht dich von morgens früh bis abends spät in der Schule, die Kolleginnen und Kollegen schätzen dich, und bei den Schülern kommst du gut an.

Ich möchte nichts nach Hause nehmen. So kommt es vor, dass ich manchmal erst um acht Uhr abends das Schulhaus verlasse. Auch meine Kolleginnen und Kollegen arbeiten hier sehr viel. Sie kommen z. B. am Mittwochnachmittag freiwillig und unbezahlt in die Schule, um ihren Schülerinnen und Schülern bei der Praktikumssuche zu helfen. Die Kids hier sind spontan, direkt und sehr menschlich. Und sie spüren, dass ich kein 08/15-Lehrer bin. Sie schätzen auch meine harte Hand, denn niemand hier will Chaos. Sie wissen, dass ich mich für sie interessiere.

Dennoch haben wir hier recht grosse Probleme. Stichwort «Arbeitshaltung», «Disziplin», «Schulkenntnisse».

Es lernen hier wunderbare Schülerinnen und Schüler. Leistungsfähig, sozial denkend, zupackend. Es sind regelrechte Influencerinnen, die die anderen mitreissen. Meine Kolleginnen und Kollegen sagen mir aber auch, dass es zurzeit unüblich viele Problemfälle gibt. Kinder mit psychischen Schwierigkeiten hat es an jeder Schule. Im Moment ist die Häufung das Problem, zusammen mit dem Lehrermangel und den vielen Corona-bedingten Lektionenausfällen. Das führte bei einem Teil der Schüler zu einer Verwilderung. Die nie dagewesenen Wechsel der Lehrer begünstigte all diese Tendenzen nur noch mehr.

Ich musste einigen Lümmeln zuerst einmal klarmachen, dass sie bei mir nicht mit dicken Windjacken und Kapuzen in den Stühlen liegen können …

Pünktlichkeit, Haltung, auch im Äusseren, Ordnung … Und dann der Absentismus, die vielen Arztbesuche während der Schulzeit … zuerst ging es mal darum, eine Basis zu schaffen …

Du hast an deiner Klasse sogar die Trainerhosen verboten.

Das gab zu reden, war aber ein Teil des Ganzen. Klar: Kleidung, Ernährung, grundsätzlich Lebensnotwendiges ist Sache der Eltern. Doch sollten wir dennoch nicht aus den Augen verlieren, dass die Kids in einem Jahr in die Arbeitswelt eintreten müssen.

Vor allem die Französischkenntnisse sind bei den Realschülerinnen inakzeptabel. Da haben diese komischen Lehrmittel einen immensen Schaden angerichtet. Französisch scheint das neue Hassfach zu sein.

Wie steht es mit dem Unterricht? Wie siehst du das schulische Niveau.

Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Potential erkennen und ausschöpfen können. Sie müssen lernen. Und sie müssen arbeiten. Und der Unterricht verträgt keine ständigen Störungen. Das müssen die arbeitswilligen Lernenden erkennen. Meine erste Aufgabe war es, dies bewusst zu machen. Und dafür zu sorgen, dass Unterricht stattfinden kann.

Du weichst etwas aus … Wie steht es mit dem Können und Wissen der Schüler?

Das Niveau bei einigen ist erschreckend tief. Vor allem die Französischkenntnisse sind bei den Realschülerinnen inakzeptabel. Da haben diese komischen Lehrmittel einen immensen Schaden angerichtet. Ungefähr 1/3 der Schülerinnen und Schüler versteht, in einem fürs unterste Lernniveau adaptierten Text, gerade mal «je», «tu», «fais» und das war’s dann auch schon. Französisch scheint das neue Hassfach zu sein.

Mit ist auch aufgefallen, dass Schüler den Spruch «aide-toi toi-même» als «Eide teu teu mem» aussprechen. In der 8. Klasse.

Das ist doch unglaublich. Nach fünfeinhalb Jahren Französischunterricht! Glücklicherweise wurde an dieser Schule immer mit zusätzlichen Lehrmitteln gearbeitet. Und jetzt haben wir ja eine zaghafte Lehrmittelfreiheit. Allerdings gibt es hier in Biel einige (fast) zwei- und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler, mit denen kann man recht gut arbeiten. Und im Englisch stellt sich die Situation einiges besser dar. Dort arbeiten die Kids motivierter und können auch viel mehr. Dabei gilt es nicht zu vergessen, dass das Englische eine germanische Sprache ist (also deutschsprachigen Lernenden näher) und – mutmasslich – vielleicht auch für slavische Studierende einfacher. Die Generation ‘TikTok, SnapChat, YouTube …’ ist dem Englischen ohnehin stets nahe.

Und wie empfindest du den Stand im Deutschunterricht?

Die Schule hier hat meines Wissens den Stand beim Leseverständnis mit einem Lesescreening erhoben. Das Ergebnis ist bedrückend. Viele Kinder haben nach 6 Primarschuljahren ein völlig ungenügendes Leseverständnis. Da fragt man sich schon, was da vorher passiert ist. Natürlich, 80 % Migrationsanteil sind eine Erklärung, aber für mich keine genügende.

Literarische Gespräche im OSZMB: Der Schwerpunkt liegt hier beim Leseverständnis und Schreiben.
Am Mittwochnachmttag helfen die Lehrer den Schülerinnen und Schülern bei der Praktikumssuche.

Die Schule, in der du zurzeit arbeitest, hat das Lesen und Schreiben zu einem Kernthema gemacht. Leseförderung fängt bereits in der 7. Klasse an. Lesebiografien, Erzählnächte, Tagebücher schreiben, Lesewettbewerbe, Leseaufgaben über die Ferien und die literarischen Gespräche … Das ist eine ganze Menge.

Ja, die Schule hat hier Prioritäten gesetzt, und dies völlig zu Recht. Ausserdem wird hier straff geführt und auch kontrolliert. Es gibt Teamteaching und hohe Erwartungen. Ich selber lasse auch Diktate schreiben. Das ist ja in der modernen Didaktik völlig verpönt. Übrigens ist es auch in den Gymnasien mit dem Schreiben nicht zum Besten bestellt. Vor kurzem habe ich gelesen, dass angehende Anwälte in Schreibkurse geschickt werden.

Der zweite Schwerpunkt ist die Berufswahl. Hier wird ein enormer Einsatz geleistet. Die ganze Schule steht dahinter. Die Schüler werden bereits in der 8. Klasse zu einem Praktikum «gezwungen». In der 9. Klasse folgen drei Wochen obligatorisches Praktikum. Danach hat wohl kaum eine Schule in Biel so viele Lehrverträge wie diese hier. Am Mittwochnachmittag ist eine Lehrerin in der Schule und hilft den Schülerinnen und Schülern. Und zu meiner grossen Überraschung sind auch viele Lehrkräfte da und helfen mit, gratis und franko.

Diesen Leuten in den warmen Studierstuben sollte ein Jahr Pflichtpensum an dieser Schule verordnet werden.

PH Bern: Zwangseinsatz für Dozierende

In der PH werden andere Schwerpunkte gelegt …

Ich hasse diese schöngeistige Rhetorik, die fernab der Realität formuliert wird. Diesen Leuten in den warmen Studierstuben sollte ein Jahr Pflichtpensum an dieser Schule verordnet werden.

Ich selber habe in meiner problematischen Französischklasse ein Theaterstück studieren lassen. Als ich mit einer Gruppe hinausging, um zu üben, klaute mir ein Schüler das Lösungsblatt und legte es unter den Visualizer. Die Schülerinnen und Schüler schrieben den Auftrag grösstenteils ab.

Und wie hast du reagiert?

Ich habe mich an die Arbeitswilligen gerichtet und sie gefragt, ob es das ist, was sie wollen. Es gab aber keine Diskussion … Sie schwiegen betreten. Auf jeden Fall ist die 8. Klasse noch nicht bereit, einen entdeckenden, individualisierten Unterricht zu leisten, in denen ich als Coach fungieren soll. (lacht). Unter uns … Es ist auch grundsätzlich kaum möglich.

Es ist so. Gewisse Schüler haben sich eine Bildungsresistenz zugelegt, und es gelingt uns nicht bei jedem, diese aufzuknacken. Hinzu kommt noch, dass viele Eltern machtlos sind, weit existentiellere Probleme haben oder schlicht resignieren.

Bei den meisten problematischen Kids handelt es sich um Knaben und sehr oft sind die privaten Verhältnisse schwierig.

Glücklicherweise haben wir eine hervorragende Schulsozialarbeiterin. Hier sollte man den Stundenansatz massiv ausbauen, zumal auch die entsprechenden Behörden, wie das KJPD oder die Erziehungsberatung heillos ausgelastet sind. Dies habe ich – unter anderem – gemerkt, als ich dieser Behörde eine ‘Kindesgefährdung’ meldete und – relativ schnell – merkte, dass nur in extremen Fällen sofort interveniert würde … nicht wenn das Kind «bloss» geschlagen wird.

Wie sind deine Pläne? Unsere Erfahrung mit den Gymnasiallehrern ist, dass sie gehen, wenn sie eine Stelle als Gymnasiallehrer angeboten bekommen.

Ich hatte vor, nach den Sommerferien zu gehen. Zumal ich noch 10% weniger verdiene als ein Lehrer der Sekundarstufe 1, weil ich das Gymnasiallehrerdiplom habe.

Schülerband: Du siehst hier sofort positive Effekte.

Das ist unbegreiflich.

Nun ist es allerdings zu einer weiteren Kündigung gekommen. Da sagte ich mir: Das kannst du den Schülerinnen und Schülern nicht antun. Noch ein Lehrerwechsel? Nein, die brauchen mich. Ich habe der Schulleitung zugesagt, dass ich meine Klasse bis zum Schulaustritt in einem Jahr unterrichten werde.

Da ist sehr viel Idealismus im Spiel

Sagen wir es mal so. Ich sehe das Positive! Das engagierte Kollegium, die innovative Schule und vor allem: Es ist cool zu sehen, welche Entwicklung viele dieser Kids machen, wenn sie richtig geführt werden, wenn man sich für sie interessiert und etwas von ihnen verlangt. Zudem habe viele der Lernenden ungemeine Erfolgserlebnisse, wenn sie berufsbezogene Erfahrungen sammeln können (erster Anruf in einem Betrieb, erste Bewerbung, den Lebenslauf aufpeppen usw.). Du erzielst hier in kürzester Zeit sichtbare Effekte. Und du spürst ihre Dankbarkeit. Ich möchte zurzeit nicht an einem Gymnasium arbeiten. Ich mache hier einen eminent nützlichen und wichtigen Job. Das ist auch eine Belohnung.

 

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Sprachkompetenz im Mathematikunterricht https://condorcet.ch/2021/03/sprachkompetenz-im-mathematikunterricht/ https://condorcet.ch/2021/03/sprachkompetenz-im-mathematikunterricht/#respond Sun, 07 Mar 2021 14:09:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=7942

Professor Kühnel, emer. Mathematikprofessor in Stuttgart, stellt nicht nur die "Ethnomathematik" (Viel Phraseologie – wenig mathematische Didaktik, 4.3.21) in Frage. In diesem Beitrag wendet er sich auch gegen einen allzu sprachlastigen Mathematikunterricht, der die ohnenhin schon enorme Anpassungsleistung unserer Migrantenkinder zusätzlich erschwert. Der Artikel ist zuerst im Bildungsmagazin Profil erschienen.

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Prof. Wolfgang Kuehnel, Stuttgart: Den Migrankenkindern zu mehr Erfolgserlebnissen verhelfen.

Überall kann man sehen, dass Mathematikaufgaben heute meist mit langen Texten versehen werden, dass Aufgaben zur mathematischen Modellierung viel Kontext erfordern und deren Formulierung eben gute Sprachkenntnisse voraussetzt. Konkret führt das leider dazu (mehr als in anderen Ländern), dass Migrantenkinder in der Schule in Mathematik wegen ‘sprachlicher Hürden’ schlechter abschneiden (siehe Gogolin 2012, Prediger 2013). Warum in aller Welt müssen wir die Migrantenkinder selbst im Mathematikunterricht mit sprachlichen Problemen belasten, von denen es doch schon genug gibt? Sogar in der Presse wurde schon über zu komplizierte Texte mathematischer Abituraufgaben 2015 geklagt: »Besonders für Schüler mit nicht deutscher Muttersprache war das schwierig«, so wird eine Gymnasialdirektorin in Wien zitiert (Kurier 2015).

Warum denn nicht gleich Mathematikaufgaben ohne überflüssigen Text?

Das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie besagt Folgendes:

»Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie war, dass Schülerinnen und Schüler beim Reproduzieren des mathematischen Sinns von Aufgaben, die im Deutschen als Zweitsprache angeboten wurden, deutlich mehr Intensität und Zeit zur Klärung von sprachlichen Detailmerkmalen der zu bearbeitenden Texte verwendeten als die einsprachigen Gleichaltrigen. Während Letztere für die Mathematisierung irrelevante sprachliche Teile der Aufgaben tendenziell unbeachtet ließen (und somit Zeit für mathematisches Tun gewannen), verfolgten Erstere eher die Strategie der Schritt-für-Schritt-Erschließung des Sinns der sprachlichen Darbietung und traten erst nach Abschluss dieser Tätigkeit in die mathematische Arbeit im engeren Sinne über.« (Gogolin 2012, S. 159)

Mit anderen Worten: Wer clever ist, lässt gleich den überflüssigen Text weg und konzentriert sich auf das, was man eigentlich machen soll. Gerüchten zufolge ist das auch der Ratschlag erfahrener Gymnasiallehrer. Den Migrantenkindern fehlt diese Art von Cleverness oft schon allein wegen der Sprache. Ist das nicht unfair? Wozu braucht man die von Gogolin zitierten »irrelevanten sprachlichen Teile«? Etwas sarkastisch formuliert: Erst schafft man ein Problem für die Migrantenkinder (die  man doch eigentlich gar nicht schädigen will, im Gegenteil) durch die bombastischen Texte der angeblichen ‘

Leitfaden zum Textverstehen von Mathematikaufgaben: Ist das nötig?

Modellierungaufgaben’ (vgl. Kühnel 2015), und dann behauptet man, jetzt mehr Sprachförderung in den Mathematikunterricht einbringen zu müssen, natürlich zu Lasten des eigentlichen mathematischen Verständnisses. Warum denn nicht gleich Mathematikaufgaben ohne überflüssigen Text? Gerade ein kalkülmäßiges Bearbeiten von mathematischen Aufgaben ist sprachunabhängig: Jeder kann in seiner Muttersprache rechnen, und es muss immer dasselbe herauskommen, das ist doch schön. Warum sollen türkische Schüler das kleine Einmaleins oder die Regeln des ‘Buchstabenrechnens’ nicht auf Türkisch memorieren? Die Schriftzeichen für die Zahlen und Formeln sind zum Glück international immer dieselben, sogar in chinesischen Lehrbüchern. Sollte es dabei ‘kulturelle Unterschiede’ geben, so sind diese jedenfalls nicht dafür relevant, ob das Ergebnis bzw. der Rechenweg nun stimmt oder nicht. Ganz deutlich wird dies in den berühmten ‘Beweisen’ antiker Geometer, die eine Figur aufmalten und dann ‘Siehe!’ danebenschrieben. Jeder sollte die Figur ansehen und sich dann seinen Beweis selbst zusammenreimen, wobei es selbstverständlich auf eine bestimmte Sprache gar nicht mehr ankam. Das ist wahrhaft ‘internationale Verständigung’, fast so wie bei dem sprachlichen Wunder in der christlichen Mythologie zu Pingsten.

Zusätzlich gibt es dabei auch noch die Gender-Problematik:

»Der weiblichen Gender-Gruppe mit ihrer größeren Sensibilität für Sprache bereitet die sprachliche Ebene immer mehr Probleme als der männlichen« (Jungwirth o.J., S. 8). Also schafft man auch noch Probleme für die Mädchen, ganz im Gegensatz zu der offiziellen Politik, mehr Frauen in die MINT-Fächer zu locken.

Es fallen auch die Worte ‘Schwarzwald’, ‘Bedarfsspitzen’ und ‘Verbrauchseinbrüche’. Außerdem wird auf die Austrocknung des Aralsees Bezug genommen sowie auf den Baumwollanbau in Usbekistan.

Schön wäre es eigentlich, wenn die Schulbücher zur Mathematik darauf Rücksicht nähmen und sprachliche Probleme auf ein Mindestmaß reduzieren würden. Aber das Gegenteil ist der Fall: Schulbücher erzählen immer buntere Geschichten über alles und jedes, wobei diejenigen benachteiligt sind, die sprachlich eben nicht gut sind. In dem verbreiteten Buch (Elemente 2010) wird in der Einleitung des Kapitels 5 zur Integralrechnung über eine Seite lang erläutert, was ein Pumpspeicherkraftwerk tut. Müssen wir alle dieses Wort kennen? Es fallen auch die Worte ‘Schwarzwald’, ‘Bedarfsspitzen’ und ‘Verbrauchseinbrüche’. Außerdem wird auf die Austrocknung des Aralsees Bezug genommen sowie auf den Baumwollanbau in Usbekistan. Auch ein Hybridauto darf zur Motivation des Integralbegriffs nicht fehlen. Alles geschieht in guter Absicht, aber ob das nicht mehr ablenkt als nützt? Gelegentlich wird sogar behauptet, der Mathematikunterricht müsse quasi eine Art von »Fortsetzung des Deutschunterrichts mit anderen Mitteln« sein und zur Sprachförderung Entscheidendes beitragen. Das kostet natürlich Zeit, die anderswo fehlt.

Auch hat PISA 2012 ergeben, dass die mathematischen Kenntnisse der getesteten Schüler in Griechenland und in der Türkei durchschnittlich um mehr als 60 Punkte hinter denen in Deutschland zurückfielen (Migranten mitgezählt), was enorm viel ist, nämlich ein bis zwei Schuljahre. Ob das an mangelnder Sprachförderung der griechischen bzw. türkischen Schüler gelegen hat?

Bei einem Weiterbildungskurs (DZLM 2014) postuliert man wörtlich:

»… Daher ist Sprachförderung im Mathematikunterricht ein bedeutsamer Faktor zur Reduktion herkunft- und sozialbedingter Leistungsdisparitäten«.

Sprachförderung durch Mathematik?

Diese Behauptung übersieht geflissentlich, dass man diese Art von Disparitäten zum guten Teil selbst erst geschaffen hat, und es klingt fast so, als hätte es riesige Leistungsdisparitäten im Fach Mathematik nicht schon immer gegeben, auch innerhalb des klassischen Gymnasiums und innerhalb einer relativ homogenen sozialen Schicht, bei der von sprachlichen Defiziten keine Rede sein konnte. Auch hat PISA 2012 ergeben, dass die mathematischen Kenntnisse der getesteten Schüler in Griechenland und in der Türkei durchschnittlich um mehr als 60 Punkte hinter denen in Deutschland zurückfielen (Migranten mitgezählt), was enorm viel ist, nämlich ein bis zwei Schuljahre. Ob das an mangelnder Sprachförderung der griechischen bzw. türkischen Schüler gelegen hat?

Das alles ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Mathematiknote heutzutage eben tatsächlich nicht mehr allein  von mathematischen Fähigkeiten abhängen soll, und das nicht nur in der Grundschule, sondern sogar beim Gymnasium. Ein schönes Beispiel ist die Formulierung der Bildungsziele in der gymnasialen Oberstufe in Hamburg (Bildungsplan 2009), wo  es auf S. 25 explizit heißt: »Die für ein Semester vergebenen Gesamtnoten dürfen sich nicht überwiegend auf die Ergebnisse der Klausuren und der ihnen gleichgestellten Leistungen beziehen.« Stattdessen werden eine ganze Seite lang andere Bewertungskriterien aufgelistet, von denen etliche den sogenannten ‘soft skills’ zuzurechnen sind, etwa ‘Einhaltung von Gesprächsregeln’, ‘Übernahme der Verantwortung für den eigenen Lern- und Arbeitsprozess’, ‘Integration der eigenen Arbeit in Gruppenarbeit’, ‘Medieneinsatz’, ‘Zeitplanung’, ‘Kommunikation und Kooperation’ usw.

So gesehen scheint die vielbeschworene ‘Kompetenzorientierung’ unter anderem zur Folge zu haben, dass bei jedem Schulfach gewisse Standardkompetenzen eingehen, die mit dem Fach selbst gar nichts direkt zu tun haben. Ob das ursprünglich beabsichtigt war, als man sich über Kompetenzen Gedanken machte? So scheint das ganz offiziell dazu zu führen, dass Sozial- oder kommunikative Kompetenz in praktisch jedem Schulfach zu besseren Noten führt. Das aber ist im Fach Mathematik doch sehr fragwürdig: Was mathematisch nicht stimmt, wird durch noch so viel kommunikative Kompetenz nicht besser. Populär ausgedrückt: Mathematik ist nun einmal ein Fach, bei dem man nicht ‘drumherum schwätzen’ kann (gewiss keine neue Erkenntnis, aber doch wert, mal wieder in Erinnerung gerufen zu werden). Vergessen wird oft, dass der Mathematikunterricht u.a. auch auf das Denken und spezifisch auf das logischen Denken und logische Schließen zielt, im Gegensatz zu etlichen anderen Fächern. Die sogenannte ‘Bildungssprache’ (academic language) steht dagegen gar nicht im Fokus. Im Prinzip genügt eine schlichte Sprache mit schnörkellosen, nicht verschachtelten Sätzen und mit einem Standard-Vokabular, um in der Mathematik fast alles Relevante auszudrücken. Im Gegensatz dazu spricht man von ‘Hürden auf Wortebene’ und von hinderlicher ‘Komplexität von Satzstrukturen’ (Prediger 2013).

Negativ ausgedrückt: Die neue Betonung des Sprachlichen im Mathematikunterricht könnte dazu führen, dass man jetzt eben doch bei der Mathematik drum herumschwätzen und damit ausreichende oder bessere Noten bekommen kann. Wie man hört, werden nicht selten ‘Präsentationen’ und Referate dazu genutzt, fehlende Punkte auszugleichen, denn eine Präsentationsprüfung wird selten mit einer Note schlechter als ‘befriedigend’ benotet. Am Ende kann es sich ruinös auf das mathematische Niveau auswirken, wenn viele versuchten, auf diese Weise ‘durchzurutschen’. Und es benachteiligt gerade diejenigen, die mathematisch gut, aber sprachlich nicht gut sind. Muss das sein?

In der Kürze liegt die Würze, und Übersichtlichkeit ist eine Tugend! Schließlich ist die Formelsprache eine geniale und international verbindende Möglichkeit zu kommunizieren.

Die Migrantenkinder würden es uns vielleicht danken, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht schon deshalb ins Hintertreffen geraten, weil ihr Deutsch nicht perfekt ist.

Positiv formuliert: Es sollte doch möglich sein, die Mathematik als Fach sui generis zu betrachten und nicht unnötigerweise mit Sprachproblemen zu belasten. In maßvollem Umfang sind Textaufgaben zu Anwendungen selbstverständlich auch willkommen, aber: In der Kürze liegt die Würze, und Übersichtlichkeit ist eine Tugend! Schließlich ist die Formelsprache eine geniale und international verbindende Möglichkeit zu kommunizieren. Die Migrantenkinder würden es uns vielleicht danken, wenn sie ausnahmsweise einmal nicht schon deshalb ins Hintertreffen geraten, weil ihr Deutsch nicht perfekt ist. Aktuell könnten vielleicht aufgeweckte Flüchtlingskinder beim Fach Mathematik erste Erfolgserlebnisse in der Schule haben, auch wenn ihr Deutsch noch sehr mager ist. Gönnen wir es ihnen doch. Möglicherweise werden so – auch unter den Nicht-Migranten – mehr mathematische Talente entdeckt, die eben nicht zugleich auch sprachliche Talente sind. Der pädagogische Traum, durch geeignete Förderung sämtliche Leistungsunterschiede im Bereich der Mathematik einzuebnen, dürfte wohl ohnehin unerfüllbar sein, Sprache hin – Sprache her.

Wolfgang Kühnel (* 1950) ist ein deutscher Mathematiker, der sich mit Differentialgeometrie und kombinatorischer Topologie beschäftigt. Er ist Autor von über 80 wissenschaftlichen Publikationen und Verfasser eines Standardlehrbuchs der Differentialgeometrie. Der Artikel erschien zuerst im Magazin PROFIL (Deutschland).

Literaturangaben:

Bildungsplan 2009: Bildungsplan gymnasiale Oberstufe Mathematik. Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg, 27 Seiten, www.hamburg.de/content- blob/1475206/data/mathe- matik-gyo.pdf

DZLM 2014: Weiterbildungskurs zur Sprachförderung im Ma- thematikunterricht, www.dzlm.de/fort-und-weiterbildung/kurse/sprachförderung-im-mathematikunterricht

Elemente 2010: Heinz Griesel et al. (eds.), Elemente der Mathematik für die Kursstufe in Baden-Württemberg. Schroe- del-Verlag, ISBN 978-3-507-87951-5

Gogolin 2012: Ingrid Gogolin, Sprachliche Bildung im Mathematikunterricht. In: Mathematikunterricht im Kontext von Realität, Kultur und Lehrerprofessionalität (W. Blum, R. Borromeo Ferri, K. Maaß, Hrsg.), Festschrift für Gabriele Kaiser, Springer Spektrum, S. 157-165

Kühnel 2015: Wolfgang Kühnel, Modellierungskompetenz und Problemlösekompetenz im Hamburger Zentralabitur zur Mathematik. Math. Semesterberichte 62 (2015), 69-82

Kurier 2015: http://kurier.at/lebensart/familie/zentralmtura-so-waren-die-mathema- tikklausuren/129.817.452

Prediger 2013: Susanne Prediger, Sprachmittel für mathematische Verstehensprozesse – Einblicke in Probleme, Vorgehensweise und Ergebnisse von Entwicklungsstudien, siehe: www.mathematik.uni- dortmund.de/~prediger/vero- eff/13-Prediger-MNU-FL- MuM_Sprachmittel.pdf

 

 

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«Mythos Bildung» – Eine Buchbesprechung https://condorcet.ch/2020/07/mythos-bildung-eine-buchbesprechung/ https://condorcet.ch/2020/07/mythos-bildung-eine-buchbesprechung/#comments Mon, 06 Jul 2020 19:02:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=5602

Aladin Al-Mafaalani ist eine wohltuende und mahnende Stimme aus Deutschland, welche in der Bildungsdebatte regelmässig an das Schicksal der unterprivilegierten Kinder in unserem Bildungssystem erinnert. Sein neustes Buch wird von Georg Geiger vorgestellt.

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Georg Geiger Gymnasiallehrer, Basel-Stadt

«Der ganzen Gesellschaft ist in den letzten Wochen bewusst geworden, wie wichtig unsere Schulen als sozialer Ort sind. Unterricht in den Klassenzimmern mit direktem Kontakt von Mensch zu Mensch bleibt unersetzlich. Nur so kann die Schule soziale Ungleichheiten verringern und die Chancengerechtigkeit vergrössern.»

Mit diesen Worten bedankt sich der Vorsteher des Basler Erziehungsdepartementes in einem Brief bei den Lehrerinnen und Lehrern. Wir alle kennen solche Sätze. Die sind wohl gut gemeint, aber sie laufen immer Gefahr, zu viel zu versprechen. El-Mafaalani würde dazu sagen: «Wenn man nicht mehr weiterweiss, wird Bildung als Zauberformel und Allheilmittel, als Lückenfüller oder als Totschlagargument ins Spiel gebracht. Bildung ist ein Mythos, ein kaum bestimmbarer Begriff, den man über jedes gesellschaftliche Problem stülpen kann. Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst das zentrale Problem.»

«Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst das zentrale Problem.» El-Mafaalani

Der Autor kennt das deutsche Bildungssystem aus praktisch jeder Perspektive, ob als Schüler, Student, Lehrer, Bildungsforscher, Hochschuldozent oder als Vater. Entsprechend nüchtern, pragmatisch, kritisch und umfassend zugleich ist sein Blick darauf.

In der Zeit des Homeschooling während der Corona-Pandemie drängten sich Fragen nach der sozialen Realität der Schülerinnen und Schüler auf, wenn man als Lehrer versuchte, mit seinen SchülerInnen digital in Kontakt zu treten: Auf wie vielen Quadratmetern lebt mein Schüler? Mit wie vielen anderen Familienmitgliedern? Wie viele Computer stehen ihnen zur Verfügung? Hat er überhaupt ein eigenes Zimmer? Sind die Eltern von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen? Kann sich der Jugendliche schulische Unterstützung bei seinen Eltern oder seinen Geschwistern holen? In welchem Quartier wohnt er überhaupt?

Soziale Verhältnisse werden chronisch vernachlässigt

Wie wohnen meine Schüler?

Normalerweise werden in Deutschland und in der Schweiz solche Fragen nach den sozialen Verhältnissen chronisch vernachlässigt. Wir selektionieren früh und das Bildungswesen reproduziert die sozialen Ungerechtigkeiten gnadenlos. Soziale Aspekte sind so lange aktuell, bis jeder Schüler und jede Schülerin im digitalen Netz erfasst ist. Danach wird wohl das Thema von Arm und Reich schnell wieder in Vergessenheit geraten.

 

Die Frage der sozialen Herlunft steht im Mittelpunkt

Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani: ein zutiefst ungerechtes Bildungssystem

Mit seinem nüchternen soziologischen Blick plädiert El-Mafaalani dafür, das Bildungssystem nicht auf Lehrkräfte und ihren Unterricht oder abstrakte Schulsystemfragen zu reduzieren. Im ganzen Buch steht die soziale Herkunft von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt. Der Umgang mit Migrationshintergrund sowie mit Kindern mit Behinderungen wird zwar thematisiert, stellt aber nicht den Schwerpunkt der Analyse dar. Der Autor geht, wie er im Vorwort klarmacht, von drei Grundproblemen aus: «Erstens ist es die Gesellschaft, die Ungleichheiten zulässt und produziert, die ohne das Bildungssystem, insbesondere die Schule, noch viel grösser wären.» Zweitens wird durch die Bildungsinstitutionen, die die Ungleichheiten nicht restlos ausgleichen, paradoxerweise soziale Ungleicheit überhaupt erst legitimiert: Du hast leider die Chance nicht genutzt!  Und drittens gibt es aber bedauerlicherweise keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, in dem dieser Kreislauf durchbrochen werden könnte.

Der Habitus als Bindeglied

Das meiner Ansicht nach zentralste Kapitel in diesem etwa 300-seitigen Buch ist das Kapitel vier mit dem Titel «In Armut aufwachsen – und zur Schule gehen».  Eine wichtige Rolle spielt hier der soziologische Begriff des Habitus: «Der Habitus ist das Bindeglied sowohl für alle Vorstellungen davon, was Bildung ist oder sein kann, als auch für alle genannten Ursachen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem.» Der soziale Habitus «beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln. Diese Grundhaltung wird bereits früh im jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen – auch in der sozialen Schicht beziehungsweise im Milieu – ausgebildet und hilft ihm, sich daran zu orientieren.» Es geht dabei um «das Hineinwachsen in ein Milieu, in dem man dann imstande ist, intuitiv zu handeln. Dabei geht es aber nicht nur um Gewohnheiten und Routinen, sondern auch um Geschmack, Ästhetik und Stil bis hin zu einer bestimmten Weltsicht.»

Wie wachsen arme Kinder auf, wie reiche? Sind die Eltern arbeitslos, arm und bildungsfern?

Potenziale von Unterschichtkindern werden regelmässig und ohne böse Absicht verzerrt eingeschätzt.

Existiert ein unterstützendes Netzwerk? Kinder aus der sozialen Unterschicht entwickeln intuitiv ein Denk- und Handlungsmuster, «den Mangel zu managen». Die finanzielle Knappheit begünstigt die Entwicklung eines an Kurzfristigkeit und Funktionslogik orientierten Denk- und Handlungsmusters. Der Zeithorizont ist also kurz, weil alles andere irrational wäre. Alles ist nutzenorientiert, es gibt kaum einen Umgang mit Optionen. Offene Entscheidungssituationen verunsichern schnell und werden möglichst vermieden. Und die permanente Finanzknappheit ermöglicht es auch nicht, sich in Selbstdisziplin zu üben, «denn die Rahmenbedingungen disziplinieren bereits umfassend.» Man kann gar nicht selbstbestimmt verzichten, wie das in reichen Haushalten aufwachsende Kinder oft können, bei denen «jeden Tag mehr möglich wäre, als machbar ist.» Bei den privilegierten Kindern gehören Langzeitorientierung, ein Denken in Alternativen, Experimentier- und Risikofreudigkeit zur habituellen Prägung.

Bei den privilegierten Kindern gehören Langzeitorientierung, ein Denken in Alternativen, Experimentier- und Risikofreudigkeit zur habituellen Prägung.

Diese unterschiedlichen Mentalitäten wirken sich dann auch wieder spürbar auf die Schule aus: Im Modus des Mangels ist der Zugang zu Bildung als Selbstzweck weitgehend versperrt. Offene Lernarrangements führen zu Unsicherheit. Für Unterschichtenkinder steht die Statusverbesserung im Zentrum, während für Kinder der Mittel- und Oberschicht auch die Gesellschaft als solche in den Blick geraten kann, um möglicherweise auch grundsätzlich in Frage gestellt zu werden.

Selbständiges, projektorientiertes und fächerübergreifendes Lernen und Arbeiten wäre im Fernunterricht eigentlich vermehrt angesagt. Aber damit werden viele Jugendliche, die im Management des Mangels gross geworden sind, überfordert. Bei Kindern mit Migrationshintergrund kommt noch dazu, dass diese von ihren Eltern geschubst werden, schulisch erfolgreich zu sein und sozial aufzusteigen, und gleichzeitig gezogen, der eigenen Herkunft treu zu bleiben. Kommt dazu, dass die LehrerInnen mehrheitlich aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht stammen, was dazu führt, dass die Potenziale von Kindern regelmässig und ohne böse Absicht schichtspezifisch verzerrt eingeschätzt werden.

Beseitung von sozialen Ungerechtigkeiten energischer angehen

Was El-Mafaalani gegen Ende seines Buches präsentiert, sind einige pragmatische und gleichermassen umfassende Reformideen: Man soll trotz allem die Beseitigung von Ungerechtigkeiten, mit Blick auf soziale Herkunft und Bildungserfolg, energisch in Angriff nehmen, vor allem in der Grundschule. Man solle die Lehrkräfte entlasten und von den Eltern nicht zu viel erwarten. Das Bildungssystem müsse übersichtlicher werden und das duale Bildungssystem solle geschützt werden. Und von zentraler Bedeutung sei das Mikrosystem jeder einzelnen Schule.

 

Aladin El-Mafaalani: MYTHOS BILDUNG – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln 2020. Kiepenheuer&Witsch. 23 Franken.

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