Mehrsprachigkeitsdidaktik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 08 Apr 2021 03:57:44 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Mehrsprachigkeitsdidaktik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Eine neue Studie zum Passepartout-Lehrmittel Clin d’oeil1: Brisant, aber notwendig https://condorcet.ch/2021/04/eine-neue-studie-zum-passepartout-lehrmittel-clin-doeil1-brisant-aber-notwendig/ https://condorcet.ch/2021/04/eine-neue-studie-zum-passepartout-lehrmittel-clin-doeil1-brisant-aber-notwendig/#comments Tue, 06 Apr 2021 12:16:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=8229

Der Sekundarlehrer Christian Henzi aus Basel analysierte in seiner Masterarbeit das Lehrmittel Clin d'oeil. Auf sachliche Art und Weise deckt er dessen Schwachstellen auf. Im abschliessenden Teil seiner Masterarbeit zeigt Christian Henzi, wie die festgestellten Mängel mit einer völligen Überarbeitung des Magazine 7.2 zu beheben wären. Condorcet-Autor Felix Schmutz fasst die Studie zusammen.

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Felix Schmutz, Baselland

Die bisher bekannten Studien zu den Passepartout Französischlehrmitteln Mille feuilles und Clin d’oeil erfahren durch eine neue Masterarbeit eine notwendige und brisante Ergänzung:

Datenerhebung

Christian Henzi unterzieht das Sekundarschul-Französischlehrmittel Clin d’oeil, das an Mille feuilles anschliesst, einer sorgfältigen Analyse. Die Daten für seine Untersuchung gewinnt er aus drei Erhebungen:

  1. Eine Umfrage unter Lehrpersonen in BL und BS, auf die 41 Angefragte geantwortet haben. Sie bewerten Clin d’oeil aufgrund ihrer praktischen Erfahrung, wobei der Schwerpunkt darauf ausgerichtet ist, wie weit sich die von den Lehrpersonen erwarteten Kompetenzen mit dem Lehrmittel erreichen lassen.
  2. Ein ausführliches, gelenktes Interview mit zwei Lehrpersonen, die konträre Ansichten zur Mehrsprachigkeitsdidaktik vertreten, um Gelungenes und Misslungenes in Clin d’oeil differenziert erläutert zu bekommen.
  3. Ein Vergleich zwischen den didaktischen Grundsätzen von Passepartout mit deren Umsetzung speziell in Clin d’oeil 7.2 «Biz’Art?» und darüber hinaus generell in den Lehrmitteln Mille feuilles und Clin d’oeil.

Resultate der Erhebung

Christian Henzi, Sekundarlehrer Basel-Stadt, Master of arts an der FHNW: Kritik ist sachlich begründet.

Henzi stösst auf einige Mängel und Ungereimtheiten. Er zeigt detailliert auf, dass die didaktische Theorie im Lehrmittel nur unzureichend, in einigen Fällen auch gar nicht oder handkehrum wieder allzu sklavisch ohne Rücksicht auf lernpsychologische Gegebenheiten umgesetzt wird und dass die schulischen Bedingungen zur Zielerreichung oft nicht gegeben sind. Er kann mit seiner Studie eine Erklärung liefern, warum die von Wiedenkeller et al. erhobenen Testresultate (2019)2 derart enttäuschend ausgefallen sind. Er weist damit auch nach, dass manche Kritik an den Lehrmitteln nicht einfach böswillige Polemik ist, sondern sachlich begründet werden kann. Mit den gewonnenen Erkenntnissen gestaltet Henzi das Material des Heftes Clin d’oeil 7.2 neu, so dass Ziele und Umsetzung deutlicher übereinstimmen und Praxisbezug und Lerneffekt verbessert werden.

Würde man den «natürlichen Spracherwerb» ernst nehmen, müsste ein immersiver Sachunterricht in der Fremdsprache genügen.

Hier einige Befunde der Analyse im Überblick:

  1. Der propagierte natürliche Spracherwerb
Scheitern an den realen Bedingungen

Clin d’oeil möchte sich am natürlichen, ungesteuerten Spracherwerb orientieren, durchbricht diese Absicht jedoch mit Sprachreflexionen, Lernstrategien, Wortschatzlisten. Würde man den «natürlichen Spracherwerb» ernst nehmen, müsste ein immersiver Sachunterricht in der Fremdsprache genügen. Dieser ist jedoch auf Primar- und Sekundarstufe nicht vorgesehen. Damit stösst der natürliche Spracherwerb wegen der beschränkten Unterrichtszeit, der Künstlichkeit der Schulsituation und der Unmöglichkeit eines echten «Sprachbades» an enge Grenzen. 

Auch der Memorierungs- und Übungsphase wird zu wenig Beachtung geschenkt, weil das Autorenteam mechanisch-repetitives Üben unter allen Umständen vermeiden will.

  1. Authentische Texte und Nachhaltigkeit des Lernens

Reichhaltiges, ansprechendes authentisches Material zu den Themen steht in Clin d’oeil unbestrittenermassen zur Verfügung. Dieses wird jedoch didaktisch zu wenig aufbereitet, so dass kein vertieftes Verstehen und nachhaltiges Lernen stattfinden kann. Oft beschränkt sich die Schülertätigkeit auf unbestimmtes Anhören, Anschauen, Durchlesen ohne verständnisleitende Anstösse (Sight-Seeing). Auch der Memorierungs- und Übungsphase wird zu wenig Beachtung geschenkt, weil das Autorenteam mechanisch-repetitives Üben unter allen Umständen vermeiden will. Die Folge: Wenn in Clin d’oeil Themen aus Bänden von Mille feuilles aufgegriffen werden, fehlt die Erinnerung an damals Behandeltes, und es kann nicht daran angeknüpft werden. Grundlegende Prinzipien des schulgemässen Lernens werden im Glauben an den Erfolg eines natürlichen Spracherwerbs mit authentischem Material missachtet.

Das wissenschaftlich nicht nachvollziehbare strikte Verbot, Texte zu didaktisieren, erweist sich damit als pädagogischer Bumerang.

  1. Sprachlicher Schwierigkeitsgrad

Der Aufbau von Clin d’oeil folgt dem Prinzip der altersgerechten Themen und nicht einer systematischen Entwicklung von Strukturen und Wortschatz, wie in andern Lehrmitteln üblich. Dadurch enthalten die Texte einen sprachlichen Schwierigkeitsgrad, der Muttersprachigen wohl angemessen wäre, lernende Anderssprachige, besonders die schwächeren, oft jedoch so sehr überfordert, dass kein verarbeitendes Lernen stattfindet. Das wissenschaftlich nicht nachvollziehbare strikte Verbot, Texte zu didaktisieren, erweist sich damit als pädagogischer Bumerang. Der grosse Material- und Zeitaufwand verpufft letztlich fast wirkungslos.

  1. Versäumnisse bei der Umsetzung der didaktischen Grundsätze

Clin d’oeil möchte Ernst machen damit, dass sinnvolle und handlungsorientierte Aufgaben nachweislich den besten Lerneffekt haben. Tatsächlich zeigt Henzis Analyse, dass die acitivités und die tâches mehrheitlich rein reproduktive Tätigkeiten verlangen, wie Ablesen, Zuordnen, Zusammenstellen von Äusserungen aus Listen, Vorlesen von Sätzen oder auswendig gelerntes monologisches Sprechen, nicht aber kommunikativ echtes Handeln. Offensichtlich haben methodische Ideen für einen lebensnahen Informationsaustausch gefehlt, wobei das Verbot, Situationen zu simulieren, und das Gebot, sich auf die «echte» Klassenzimmersituation zu beschränken, die Möglichkeiten unnötig einengen. 

Ausserdem kann Henzi zeigen, dass der Wortschatz in Mille feuilles und Clin d’oeil gemessen am statistisch ermittelten Grundwortschatz anteilmässig viel zu wenige Nomen umfasst.

  1. Wortschatz

Der Aufbau des Wortschatzes erfolgt nicht systematisch, sondern richtet sich nach den Themen, die in den Texten behandelt werden. Das führt dazu, dass Wörter eines thematischen Feldes nicht zusammen, sondern über viele Einheiten und Lernjahre verstreut vorkommen. Die Idee, dass die Lernenden so einen brauchbaren Wortschatz konstruktivistisch aufbauen, funktioniert unter schulischen Bedingungen allerdings nicht. Ausserdem kann Henzi zeigen, dass der Wortschatz in Mille feuilles und Clin d’oeil gemessen am statistisch ermittelten Grundwortschatz anteilmässig viel zu wenige Nomen umfasst. Eine Ausnahme bildet der Klassenwortschatz, der kontinuierlich angewendet wird, jedoch auch zu wenige Nomen enthält.

  1. Funktionale Mehrsprachigkeit und korrekter Sprachgebrauch

Clin d’oeil ist der funktionalen Mehrsprachigkeit verpflichtet, was bedeutet, dass alle sprachlichen Äusserungen, auch fehlerhafte, akzeptiert werden, solange sie verständlich sind und die Kommunikation ermöglichen. Entsprechend oberflächlich wird in den activités grammatikalisch gelernt und geübt. Im Widerspruch dazu verlangt die summative Übung tâche am Abschluss jeder Lerneinheit plötzlich dennoch sprachliche Korrektheit als Beurteilungskriterium. 

Neu ist lediglich der Verzicht auf einen systematischen Sprachaufbau.

  1. Novitätsanspruch

In den Elterninformationen und in den theoretischen Erläuterungen zu Passepartout wird der Anspruch erhoben, Mille feuilles und Clin d’oeil könnten durch altersgerechte Themen, Handlungsorientierung, Strategien und den Verweis auf andere Sprachen die Motivation besser fördern als bisherige Lehrmittel. Henzi kann jedoch nachweisen, dass Erläuterungen zum Lehrmittel Bonne Chance bereits vor über 30 Jahren mit denselben Argumenten den kommunikativen Fremdsprachenunterricht propagierten. Neu ist lediglich der Verzicht auf einen systematischen Sprachaufbau, auf simulierte Rollenaktivitäten und auf intensives Üben. Also genau das, was erfolgreiches Sprachenlernen und Sprachhandeln ermöglichen würde.

Eine Überarbeitung wäre aufwändig.

Überarbeitung eines Magazine

Henzi zeigt im abschliessenden Teil seiner Masterarbeit auf, wie die festgestellten Mängel mit einer völligen Überarbeitung des Magazine 7.2 zu beheben wären. Er verbindet die thematisch lose verknüpften Teile durch eine Geschichte mit jugendlichen Identifikationsfiguren, erhält dadurch die Möglichkeit, ergiebige Kommunikationssituationen zu simulieren und rückt durch den Fokus auf Wortschatz und Strukturen das sprachliche Lernen in den Vordergrund. Die Ausgangsmaterialien werden durch Verständnisaktivitäten besser erschlossen, der zu lernende Wortschatz klar definiert. Diese Adaptation zeigt, welchen Aufwand es bräuchte, um Clin d’oeil zu einem didaktisch lerngerechteren Lehrmittel umzugestalten. Aus verlagsrechtlichen Gründen kann dieser Teil der Masterarbeit nur beschrieben, jedoch nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

 

 

1 Christian Henzi, Clin d’oeil – Ein Lehrmittel in der Kritik, Eine umfassende Analyse des Französisch-Lehrmittels auf Sekundarstufe 1, Masterarbeit, Eingereicht bei der pädagogischen Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW), 2021.

2 Wiedenkeller, E. & Lenz, P. (2019). Schlussbericht zum Projekt‚ Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘. Durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg: Institut für Mehrsprachigkeit,

https://doc.rero.ch/record/324704.

Die PDF-Version der Masterarbeit kann über info@condorcet.ch bestellt werden.

 

 

 

 

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Wissenschaft und Pseudowissenschaft in der Sprachdidaktik https://condorcet.ch/2020/02/wissenschaft-und-pseudowissenschaft-in-der-sprachdidaktik/ https://condorcet.ch/2020/02/wissenschaft-und-pseudowissenschaft-in-der-sprachdidaktik/#comments Sat, 22 Feb 2020 20:04:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=4091

Der Mehrsprachigkeitsforscher Berthele plädiert in einem brisanten Artikel für strengere Massstäbe bei der Auswertung von Forschungsergebnissen und bei der Abgabe von Empfehlungen an die Bildungspolitiker im Bereich Fremdsprachenunterricht. Und er tut dies nicht ohne Selbstkritik. Etwas, was den Passepartout- und Frühfranzösisch-Promotoren auch anstehen würde. Condorcet-Autor Felix Schmutz übersetzte den bemerkenswerten Artikel aus dem Englischen und stellt ihn den Condorcet-Leserinnen und Lesern vor.

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Professor Raphael Berthele, Universität Freiburg: Es wurde nicht unterschieden zwischen Hypothese und Evidenz.
Felix Schmutz, BL:
Übersetzte den Artikel von Prof. Berthele.

Wir erinnern uns: Der Fremdsprachenunterricht in Schweizer Schulen beruht auf dem Sprachenkonzept der EDK von 2004. Im Wesentlichen brachte er zwei Neuerungen:

1. die Vorverlegung zweier Fremdsprachen in die 3. und 5. Primarklasse für alle Kinder,

2. die Einführung einer neuen Unterrichtsmethode, der so genannten «Mehrsprachigkeitsdidaktik».

Massgeblich stützte sich die EDK auf Expertenmeinungen, die eine markante Verbesserung der schulischen Leistungen versprachen. In seinem Artikel im «Journal of the European Second Language Association» von 2019 äussert nun aber Raphael Berthele, der frühere Leiter des Instituts für Mehrsprachigkeitsforschung der Universität Fribourg, grosse Bedenken gegen die wissenschaftliche Qualität der Empfehlungen, welche die Experten zuhanden der Bildungspolitik abgaben.[1]

An zwei Fallstudien zeigt er auf, wie leicht sich bei der Erforschung des Zweitsprachenerwerbs abgesicherte Wissenschaft mit reinem «Fürwahrhalten» (doxa) und Pseudowissenschaft vermischt hat. Er legt dar, dass im Falle des schweizerischen Sprachenkonzeptes oft nicht unterschieden wurde zwischen programmatisch (= spekulativ) formulierten Hypothesen und gesicherten evidenzbasierten Erkenntnissen[2], dass ausserdem evidenzbasierte Erkenntnisse, die auf eine bestimmte Situation zutrafen, unzulässigerweise auf Situationen mit andern Bedingungen übertragen wurden.[3] Das führte in der Konsequenz zu unsicheren Schlussfolgerungen, die sich nachteilig auf die Umsetzung im Schulbereich  auswirken konnten.

Es wurde nicht unterschieden zwischen hypothetisch (spekulativ) und evident (datenbasiert).

Korrekt durchgeführte experimentelle Studien zu Transferwirkungen, die beim Lernen neuer Sprachen entstehen, weisen ebenfalls ihre Tücken auf: Wenn es darum geht, Lerneffekte (Interdependenz) nachzuweisen, können leicht Korrelationen als Kausalitäten interpretiert werden, obwohl auch andere, nicht untersuchte Parameter für die Korrelation verantwortlich sein könnten: z.B. Auswahl der Probandengruppe, generelle kognitive Voraussetzungen.

Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst.

Ferner besteht die Gefahr, dass bei unerwarteten Ergebnissen die zugrunde gelegte Hypothese nachträglich verändert wird, damit die gewonnenen Daten mit der Hypothese wieder übereinstimmen, wobei vergessen geht, dass die neue Hypothese mit einem zusätzlichen Test verifiziert werden müsste. Tritt ein erwarteter Effekt nicht ein, wird zur Rettung der Hypothese ein Schwellenwert angenommen, bei dessen Überschreitung die Theorie erst ihre Gültigkeit erweisen solle. Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst, um die nach ihrer Überzeugung erwünschten Lerneffekte bestätigt zu bekommen.

Jedenfalls warnt Berthele eindringlich davor, allgemeine Empfehlungen zur Sprachenpolitik und zum Unterricht abzugeben, wenn nicht mehrere unabhängige Studien vorhanden sind, deren Ergebnisse in die gleiche Richtung tendieren.[4]

Bertheles bemerkenswerte Selbstkritik

Im ersten Fallbeispiel nimmt sich Berthele mit bewundernswerter Selbstkritik selbst an der Nase. 2006 erklärte er auf die Frage eines Journalisten in «La liberté» am 22.9., ob Primarschulkinder mit dem Lernen von zwei Fremdsprachen nicht überfordert seien:

«You have only to look at the African example to prove the opposite. There, it is not rare to see children growing up with four or five languages, and that does not pose any problems.”[5]

Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem.

Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem. Seine damalige Äusserung sei von unwissenschaftlichen Faktoren beeinflusst gewesen: von seiner Begeisterung für mehrsprachiges Lernen, von programmatischer, nicht evidenz-basierter Fachliteratur, vom Erwartungsdruck aufgrund seiner kürzlichen Ernennung zum Professor am Institut für Mehrsprachigkeit, das speziell zur Beförderung der Mehrsprachigkeitsdidaktik gegründet worden und auf externe Finanzierung angewiesen war[6], von der Bestätigung durch Kollegen mit den gleichen Überzeugungen («group conformity bias»).

Völlig unzulässige Übertragungen

In eigenen empirischen Forschungen untersuchte er die verbreitete und plausible These, inwiefern sorgfältiger Unterricht portugiesischer Kinder in ihrer Muttersprache deren Fähigkeiten in der Schweizer Schulsprache (Französisch bzw. Deutsch) förderten.

Dass es zwischensprachliche Transfereffekte gibt, ist tatsächlich wissenschaftlich erhärtet. Allerdings – und das ist das entscheidende Handicap – nicht durch Studien, die im schulischen Umfeld (d.h. im Unterricht) durchgeführt wurden, sondern durch Ergebnisse, die von mehrsprachigen Probanden oder in psycholinguistischen Laborexperimenten gewonnen wurden. Zudem befasst sich die Mehrheit der Studien mit negativen Transfereffekten. Diese Studien sind demnach ein Beispiel für unzulässige Übertragungen («surrogate outcomes») von speziellen Situationen auf die schulische bzw. für Umdeutungen von negativen auf positive Effekte.[7]

Bertheles eigene Daten aus dem schulischen Umfeld zeigen nun aber, dass es wohl positive Lerneffekte gibt, allerdings funktionieren sie in beide Richtungen: sowohl vom Portugiesischen zur Schulsprache als auch von der Schulsprache zur portugiesischen Muttersprache, ohne eine statistisch signifikante Präferenz. Die Gründe für die Korrelation können nicht bestimmt werden. Sie könnten auch in kognitiven oder motivationalen Unterschieden liegen. Jedenfalls liefern die Daten keinen ausreichenden Beweis für die Richtigkeit der These, dass man in die Migrantensprache investieren müsse, um die Leistung in der Schulsprache zu verbessern.[8]

Zwei Fremdsprachen in der Primarschule: Fallstudie 2

 Das Fremdsprachenkonzept von 2004 hatte den Schönheitsfehler, dass man sich nicht auf die Reihenfolge der Fremdsprachen einigen konnte: Die Mehrheit der Kantone beginnt mit Englisch, die Kantone VS, FR, BE, SO, BL und BS beginnen mit Französisch. Diesen Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten.

Den Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten. Das war spekulativ und steht auf wissenschaftlich wackligen Füssen.

Damit sind wir wiederum bei einer These, die wissenschaftlich auf wackligen Füssen steht:

  1. In der Forschung besteht Einigkeit, dass «an earlier start of Foreign Language Teaching does not consistently lead to better proficiency” (ein früher Start des Fremdsprachenunterrichts nicht konsequenterweise zu besserer Leistung führt). [9]
  2. Bei der Frage, welche Sprache zuerst gelernt werden soll (Französisch oder Englisch), muss zwischen politischen Gründen und wissenschaftlich bewiesenen Lerneffekten unterschieden werden.
  3. Als Beweis für den frühen Lernbeginn führten Imgrund und Le Pape 2005 Erkenntnisse aus der Hirnforschung an: Beim jüngeren Gehirn sind mehr Gehirnaktivierungsmuster in spezifischen Arealen zu beobachten als bei älteren. Die neurowissenschaftliche Studie, auf die sich Imgrund und Le Pape bezogen, ergab jedoch keine Resultate in Bezug auf unterschiedliche Leistungen in beiden Altersstufen. Damit sind die Beobachtungen der Aktivierungsmuster für die Frage des frühen Lernbeginns von Fremdsprachen völlig irrelevant. Mit Bezug auf eine kritische Studie von McCabe und Castel meint Berthele, dass Forscher gerne Hirnforschung zitieren, um ihre Thesen zu untermauern, da Lesende dadurch leicht zu beeindrucken seien.[10]
  4. Ob ein früher Unterrichtsbeginn mit einer Fremdsprache sich tatsächlich auf die Leistung auswirkt, müsste in Vergleichsstudien eruiert werden, bei denen mehrere Kohorten in unterschiedlichen Klassenstufen mit dem Unterricht beginnen.
  5. Zum Transfer von Fremdsprache 1 auf Fremdsprache 2 und umgekehrt: Die Hypothese ist stark beeinflusst von der holistischen Theorie eines mehrsprachigen Repertoires im Gehirn, die ein grosser Teil spekulativ-programmatischer Fachliteratur suggeriert. Aus eigenen Untersuchungen zu rezeptiven Kompetenzen (Hörverstehen und Lesen) kann Berthele bestätigen, dass es spontane Transfers von einer Sprache zur andern gibt. In bilingualen Umgebungen (z.B. Baskenland, Südtirol) sind die Resultate nicht eindeutig: Manchmal gibt es Effekte, manchmal nicht. Diese Situation kann jedoch nicht auf das systematische schulische Lernen der dritten Fremdsprache in der Schweiz mit 2 bis 4 Wochenlektionen angewendet werden – eine unzulässige Übertragung («surrogate outcomes»). Zudem sind die beobachteten positiven Transfers an Erwachsenen und an Linguistikstudenten festgestellt worden, bei denen von begabten Sprachlernern ausgegangen werden kann, was man nicht mit Schweizer Primarschülern vergleichen kann.
  6. Zur oft angeführten Vergleichsstudie von Haenni Hoti 2011: Hier wurden Primarklassen verglichen, die mit einer bzw. mit zwei Fremdsprachen unterrichtet wurden. Die Klassen, die Französisch als Zweitfremdsprache lernten, wiesen im 5. Schuljahr bessere Leistungen im Hören und Lesen auf als diejenigen, die nur Französisch hatten. Allerdings war der Effekt in der meist unerwähnten Folgestudie von Heinzmann, 2009, ein Jahr später nicht mehr erkennbar. Die Verfasser nehmen an, das Nullresultat wäre mit besseren Tests positiver ausgefallen, ein Fall von CARKING (Kritisieren, nachdem die Resultate bekannt sind).[11]
  7. Zur Studie von Manno 2017: In dieser korrekt durchgeführten Vergleichsstudie fand der Forscher ebenfalls keine positiven Transfereffekte bei Kindern, die Französisch als zweite Fremdsprache lernten. Allerdings traut Manno seinen Resultaten nicht, sondern operiert mit einem nachträglich angenommenen «Schwellenwert», ein Fall von HARKING (Hypothesen bilden, nachdem die Daten ausgewertet sind, ohne diese neu zu überprüfen).

Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin, 1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen.

Christine Le Pape-Racine:
Frivole Zitate aus der Hirnforschung zusammengebastelt.
Bild: HP Paperace

So kommt Berthele zum Schluss, dass es sich bei der Theorie des positiven Transfers um «vague theories and an optimistic view of language teaching and learning» (vage Theorien und ein optimistisches Bild vom Sprachunterricht und vom Sprachenlernen) handele. Er bekennt: «The more I learn about transfer, the less I feel comfortable when asked to give recommendations.” (Je mehr ich über Transferwirkungen lerne, desto weniger fühle ich mich wohl, wenn ich gebeten werden, Empfehlungen abzugeben.)[12]

Fazit

 Berthele empfiehlt den Kolleginnen und Kollegen seiner Zunft, sich künftig streng wissenschaftlicher Erkenntnismethoden zu bedienen und nicht in spekulativen Annahmen stecken zu bleiben. Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin,  1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen. Eigene Werte (Mehrsprachigkeit, kulturelle Offenheit) zu vertreten, ist erwünscht, jedoch sollten einem diese bei der Forschung nicht in die Quere kommen, wenn die Resultate anders ausfallen, als man es gerne hätte.

 

[1] Berthele, R. (2019). Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience. Journal of the European Second Language Association, 3(1), 1–11. DOI: https://doi.org/10.22599/jesla.50

[2] «… oftentimes policy is not based on robust scholarly evidence» (Oft beruhen politische Programme nicht auf gesicherten wissenschaftlichen Beweisen.»), Berthele, S. 1

[3]  «surrogate outcomes» (stellvertretend angenommene Wirkungen), Berthele, S. 4

[4] «converging evidence», Berthele, S. 3

[5] «Sie müssen nur das afrikanische Beispiel ansehen, um das Gegenteil zu beweisen. Dort geschieht es nicht selten, dass Kinder mit vier oder fünf Sprachen aufwachsen und dass dabei keinerlei Probleme entstehen.» Berthele, S. 1

[6] “my institution expected me and my colleagues to acquire external funding for multilingualism research, funding that was and still is associated with a multilingual policy agenda”, Berthele, p.2

[7] Berthele, S. 4

[8] «To sum up, the evidence for causal transfer effects from L1 to L2 in the literacy domain is inconclusive … and the evidence for positive effects of Heritage Language instruction on L2 is scarce.” (Zusammenfassend ist der Beweis für kausale Transfereffekte von L1 zu L2 im Bereich der Sprachbeherrschung nicht schlüssig … und der Beweis für positive Effekte von der Migrantensprache zu L2 schwach.), Berthele, S. 5

[9] Berthele, S. 6

[10] Berthele, S. 6

[11] Berthele, S. 7

[12] Berthele, S. 7

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Achtung Lesewarnung: Brisante Äusserungen eines Sprachforschers https://condorcet.ch/2020/02/achtung-lesewarnung-brisante-aeusserungen-eines-sprachforschers/ https://condorcet.ch/2020/02/achtung-lesewarnung-brisante-aeusserungen-eines-sprachforschers/#comments Sat, 22 Feb 2020 14:34:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=4087

Der nachfolgende Artikel enthüllt die unglaublichen Vorgänge in der Entstehungsgeschichte der Einführung des Frühfranzösisch und der Mehrsprachendidaktik.

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Liebe Leserinnen und Leser des Condorcet-Blogs,

Alain Pichard, Sekundarlehrer in Orpund: Eigentlich skandalös.

Wie konnte es sein, dass eine 100-Millionen-Investition wider besseres Wissen überstürzt in unserem Lande eingeführt wurde? Und wie kann es sein, dass eine derart unausgegorene Fremdsprachendidaktik ohne flächendeckende Evaluierungen in einem Hauruckverfahren 100’000 Schülerinnen und Schülern dieses Landes übergestülpt wurde?

Welches war die Rolle der Wissenschaft? Der renommierte Sprachforscher Raphael Berthele, ordentlicher Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität Freiburg, schrieb kürzlich im «Journal of the European Second Language Association» einen brisanten Artikel, in dem er aufzeigt, welch grosse Bedenken damals gegen die wissenschaftliche Qualität der Empfehlungen vorherrschten!

Condorcet-Autor Felix Schmutz hat den Text aus dem Englischen übersetzt und stellt ihn den Leserinnen und Lesern im nachfolgenden Artikel vor. Viel Vergnügen kann man bei der Lektüre wahrlich nicht wünschen.

Für die Redaktion

Alain Pichard

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Plurilinguales Sprachenlernen, ein Grossprojekt des Europarates https://condorcet.ch/2019/11/plurilinguales-sprachenlernen-ein-grossprojekt-des-europarates/ https://condorcet.ch/2019/11/plurilinguales-sprachenlernen-ein-grossprojekt-des-europarates/#respond Wed, 13 Nov 2019 17:23:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=2831

Seit Beginn des Millenniums herrscht Aufbruchstimmung in der europäischen Sprachenpolitik: Der gemeinsame europäische Referenzrahmen (CEFR) wurde erarbeitet, um Fremdsprachenkompetenzen in aufsteigender Qualität (A1 bis C2) genau zu beschreiben und in einem Sprachenportfolio auszuweisen; die Länder wurden aufgerufen, in den obligatorischen Schulen mindestens zwei Fremdsprachen zu unterrichten; ein didaktisches Konzept namens Mehrsprachigkeit (Plurilingualism, plurilinguisme) wurde propagiert, um die Monolingualität vieler Staaten zu durchbrechen. Condorcet-Autor Felix Schmutz untersucht in einer gewohnt minutiösen Recherche die Hintergründe, welche zum Mehrsprachigkeitskonzept und der Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts geführt haben.

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Felix Schmutz, Baselland

Die Bildungspolitik war gefordert. Schulen und berufliche Ausbildungs- und Weiterbildungsstätten interessierten sich natürlicherweise für die technische Seite der Neuerungen:

  1. Welche Kenntnisse braucht es nach CEFR, um eine bestimmte Arbeitsstelle in einer Firma zu erhalten? Genügt B1 oder sollte es eher B2 sein?
  2. Wann soll in den Schulen der Zweit- und Drittsprachenunterricht beginnen? Welche Sprachen? Wie soll die Stundentafel gestaltet werden?
  3. Wie müssen Lehrmittel aussehen, welche die neue «Mehrsprachigkeit» umsetzen? Welche Methoden müssen Lehrpersonen anwenden?

Diese Fragen lösten epische Debatten aus, grosse Betriebsamkeit entstand bei den Schulbehörden und beachtliche Finanzströme flossen in entsprechende Projekte. Was von der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen wurde, war die politische Zielsetzung, die hinter den Bemühungen steckte und die Neuorientierung überhaupt in Gang brachte. Zwei Ziele verfolgt der Europarat [1]:

  1. Integration

 

Viele europäische Staaten sind monolinguale Gebilde mit einer einzigen dominierenden Sprache und Kultur. Europa kann aber nur näher zusammenrücken, wenn das gegenseitige Verständnis gefördert, die sprachliche und kulturelle Diversität für gleichwertig anerkannt wird. Die Menschen sollen deshalb durch das Bildungssystem Gelegenheit erhalten, möglichst viele sprachliche und kulturelle Varianten kennen zu lernen. Auch diejenigen der Migranten sollen einbezogen werden. Sprachliche Hierarchien sollen überwunden werden. Das Ideal: die sprach- und kulturbewanderten «citoyens européens».

  1. Störfaktor Englisch

Das Englische hat sich als «lingua franca», als Sprache für Handel, Wissenschaft, Technik, Verkehr, Kultur längst durchgesetzt und bedroht die Sprachenvielfalt, weil es eigentlich genügen würde, wenn in allen Schulen Europas Englisch unterrichtet würde, um sich untereinander zu verständigen. Mit der Förderung der Sprachenvielfalt soll der erdrückende Einfluss des Englischen eingedämmt werden.

Auswirkung auf die Schweiz

Dieses politische Programm wurde in mehreren Empfehlungen vom Europarat verabschiedet [2], jedoch in den einzelnen Ländern politisch nicht diskutiert. In der Schweiz erfolgte eine Art «autonomer Vorausvollzug», wobei die EDK das Zepter übernahm, ohne dass auf Bundes- oder kantonaler Ebene demokratische Mitsprache möglich war. Die politischen Absichten wurden an den demokratischen Institutionen vorbei als «Umsetzung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse» und als «Anpassung an die modernen gesellschaftlichen Erfordernisse» eingeführt. Verkauft wurden die Massnahmen als Verbesserung und Innovation:

– Objektivere Bewertung mit einem international gültigen Massstab (CEFR),

– Förderung des Verständnisses für andere Kulturen,

– Entwicklung einer «funktionalen Mehrsprachigkeit» anstelle eines «sprachlichen Perfektionismus».

Das politisch motivierte Sprach- und Kulturprogramm berücksichtigte nicht, welche sprachlich-kulturellen Bedingungen in der Schweiz herrschten, wie der bestehende und historisch gewachsene Sprachunterricht zu diesen Bedingungen passte, welche Defizite tatsächlich bestanden und wie sie behoben werden könnten. Stattdessen übernahm man relativ unkritisch das Programm des Europarates, versuchte sogar, dieses in vorauseilendem Gehorsam mustergültig und zeitnah umzusetzen. Beispiele dafür sind die Einführung von Frühfranzösisch/Frühenglisch oder das sechskantonale Projekt Passepartout, das neue Lehrmittel und eine neue Didaktik in den Volksschulen top-down installierte.

Eine neue Didaktik als Kopfgeburt

Tatsächlich wirkt der politische Traum von einem Europa mit nicht auf eine Sprache fixierten und kulturell vielseitig informierten Menschen verlockend, obwohl in vielen europäischen Ländern zurzeit starke Tendenzen der Regression zu national-identitären Denkweisen im Vormarsch sind.

Der Europarat setzt alles auf die Karte Plurilingualismus (Mehrsprachigkeit). Deshalb soll dieses Konzept näher überprüft werden. Was ist damit gemeint?

Unter Mehrsprachigkeit (Plurilingualismus) versteht der Europarat «the ability to call flexibly upon an inter-related, uneven, plurilinguistic repertoire» (die Fähigkeit, flexibel aus einem unausgeglichenen Sprachrepertoire zu schöpfen, das aus Elementen besteht, die untereinander in Beziehung stehen) [3].

Daraus sollen sich vielfältige Kompetenzen ergeben:

► schnelles Umschalten zwischen den Sprachen (switch from one language or dialect (or variety) to another);

► sich in einer Sprache ausdrücken und eine Person verstehen, die eine andere Sprache benützt (express oneself in one language (or dialect, or variety) and understand a person speaking another);

► aus der Kenntnis mehrerer Sprachen schöpfen, um einen Text zu verstehen (call upon the knowledge of a number of languages (or dialects, or varieties) to make sense of a text);

► Wörter aus einem gemeinsamen internationalen Vorrat erkennen, wenn sie in neuem sprachlichem Gewand erscheinen (recognise words from a common international store in a new guise);

► vermitteln zwischen zwei Personen, die sich untereinander nicht verstehen, weil sie keine gemeinsame Sprache haben (mediate between individuals with no common language (or dialect, or variety), even with only a slight knowledge oneself) [4];

Im Februar 2018 veröffentlichte der Europarat eine Neufassung des Referenzrahmens. Das Werk ist inzwischen auf 230 Seiten angewachsen. Es wurde gegenüber der Erstauflage von 2001 um Hunderte Deskriptoren erweitert. Neu finden sich tatsächlich auch Deskriptoren zum Plurilingualismus nach obiger Definition.

Fünf Ungereimtheiten des Konzepts

  1. Mehrsprachigkeit als altbekannte Erscheinung

Der Plurilingualismus ist grundsätzlich nichts Neues. So sprechen in der Schweiz 64% der Bewohner(innen) pro Woche mehr als eine Sprache [5]. In touristischen Gegenden und unter der Migrantenpopulation dürfte die Mehrsprachigkeit im Alltag selbstverständlich sein. Dort, wo mehrere Sprachen (in unterschiedlicher Qualität) durch die Lebenssituation gefordert sind, wird Mehrsprachigkeit auch gelebt und muss nicht neu erfunden werden. Sie muss auch nicht optimiert werden, denn sie funktioniert, obwohl die Menschen noch nicht durch spezielle didaktische Verfahren darauf getrimmt wurden. Der Europarat rennt hier offene Türen ein.

Ein grundlegender Widerspruch ergibt sich, wenn Plurilingualismus zum überprüfbaren Bildungsziel und zur Lehrmethode in der Volksschule erhoben wird.

  1. Mehrsprachigkeit als Bildungsziel der Volksschule

Ein grundlegender Widerspruch ergibt sich, wenn Plurilingualismus zum überprüfbaren Bildungsziel und zur Lehrmethode in der Volksschule erhoben wird. Mehrsprachigkeitskompetenzen der obigen Liste sind vom Ende eines Lernvorganges her gedacht, aus der Warte von Menschen, die schon über Kompetenzen in verschiedenen Sprachen verfügen und dank dieser Kenntnisse Vergleiche anstellen, Bedeutungen herleiten, Folgerungen ziehen können. Schnelles Umschalten, Dolmetschen (vornehm: Mediation), Wiedererkennen von Wortmaterial in neuem Gewand, das alles setzt voraus, dass ein Lernvorgang in einzelnen Sprachen schon stattgefunden hat und ein aufmerksamer Geist die Möglichkeiten nutzen kann. Die Mehrsprachigkeitskompetenzen werden in diesem Modell zu früh anvisiert. Zuerst muss wenigstens der Rohbau des Hauses stehen, bevor man Verbindungstüren einbauen kann.

  1. Die Fragwürdigkeit von Sprachvergleichen

Bei der Umsetzung des Plurilingualismus in Lehrmitteln werden früh Sprachvergleiche gezogen. So wird z.B. in Mille feuilles die Verneinung in Französisch eingeführt mit dem Hinweis auf die Verneinung in mehreren anderen Sprachen. In dieser Weise entpuppt sich die Methode der Mehrsprachigkeit als eine theoretische Sprachanalyse. Da die Kinder noch nicht über Kenntnisse der aufgeführten Sprachen (mit Ausnahme der eigenen Erstsprache) verfügen, können die dabei allenfalls gewonnenen Erkenntnisse nicht fruchtbar werden. Weder ist durch solche Grammatikvergleiche die französische Verneinung im Sprachgebrauch verankert worden, noch ist für die nicht vertrauten andern Sprachen irgendein Effekt zu erwarten. Das Ganze ist zwar gut gemeint, bleibt aber weitgehend «l’art pour l’art».

  1. Rechtfertigung Chomsky
Chomsky wurde missbraucht oder missverstanden.
Bild: BBC

Zur Rechtfertigung der Mehrsprachigkeit wird Noam Chomskys Hypothese von der «angeborenen Sprachfähigkeit» herangezogen: Danach seien Menschen genetisch mit «Sprachkompetenz» (universal grammar) ausgerüstet, könnten neben ihrer Erstsprache der frühen Kindheit später auch jede weitere Sprache erlernen. Die Sprachfähigkeit bestehe aus einer grammatisch-semantischen Tiefenstruktur, die via Transformationsregeln in jede Menschensprache ausgeformt werden könne [6].

Aus dieser These leiten Plurilingualisten ab, dass es unterschiedliche Sprachbegabungen gar nicht gebe, da blosses Menschsein die Sprachfähigkeit garantiere. Im euphorischen Überschwang folgern sie, dass jedes Kind zur Mehrsprachigkeit problemlos befähigt sei.

Zweitens verbinden sie Chomskys Theorie mit der Beobachtung der Hirnforschung, dass verschiedene Sprachen in denselben Hirnarealen aktiviert werden. Sie deuten dies dahingehend, dass die Sprachen aus einem «gemeinsamen Repertoire» schöpften, die Sprachen somit alle untereinander verbunden seien.

Damit missdeuten sie Chomsky in doppelter Hinsicht:

Chomskys abstrakte, vorsprachliche Tiefenstruktur wird in dieser Interpretation plötzlich zu einem «gemeinsprachlichen Repertoire». Bei Chomsky entsteht Sprache aber erst durch die Transformation vorsprachlich-kategorialer Prinzipien in eine sprachliche Gestalt. Ausserdem sind bei Chomsky die Sprachen voneinander getrennte Gebilde, denn sie erhalten erst durch spezifische Transformationsregeln ihre individuelle Gestalt (bei Chomsky Oberflächenstruktur).

Auch die Hypothese von der für alle gleichen Sprachfähigkeit steht auf dünnem Eis. Widerlegt wird sie durch die psychologischen Tests, die Sprachfähigkeit unterschiedlicher Güte messen können. Im Faktorenmodell von Hufeisen (2007), einer Mehrsprachigkeitsforscherin der ersten Stunde, erscheint als neurophysiologische Voraussetzung für Mehrsprachigkeit der Faktor «General language acquisition capability» [7], also die allgemeine, individuell verschiedene Fähigkeit, Sprachen zu erwerben. Die Hypothese widerspricht ausserdem der Erfahrung mit Lernenden, die jede Lehrperson täglich machen kann.

Beide Behauptungen (gemeinsames Repertoire, angeborene Sprachfähigkeit) sollen ein ideologisch-politisches Programm rechtfertigen, beruhen jedoch auf gewagten Auslegungen von empirisch bisher nicht nachprüfbaren Hypothesen.

Diesen Zielkonflikt tragen Lehrmittel in sich, die wie Mille feuilles/Clin d’oeil die «Mehrsprachigkeit» umzusetzen versuchen. Einerseits streben sie einen sprachlichen Aufbau an, der sich nach dem Referenzrahmen in aufsteigender Qualität richtet (bis B1 und B2), anderseits sind wieder nur an einzelne Aufgaben gebundene partielle Kenntnisse für die Mehrsprachigkeitsziele nötig. Was soll gelten?

  1. Zielkonflikt

Einerseits genügen für die Mehrsprachigkeit «partielle» Sprachkenntnisse einer nicht näher definierten Art – Die Devise heisst, Sprachunterricht solle sich nicht am Niveau des «native speaker» ausrichten -, anderseits misst der europäische Referenzrahmen die Kenntnisse nach einem akribisch ausformulierten Kompetenzenkatalog, der von spärlichen Anfängen (A1) mit einer globalen Skala bis zur Meisterschaft (C2) reicht und höchste muttersprachliche Qualitäten umfasst (perfekte Grammatik, umfassender Wortschatz, Kenntnis aller idiomatischen Ausdrücke). Der gleiche Europarat vergibt also einerseits mit grösster Toleranz das Prädikat Mehrsprachigkeit für rudimentäre Gehversuche, während er anderseits den Kenntnisstand (proficiency) mit ausgeklügelten Kriterien aufsteigend nach dem muttersprachlichen Ideal ausrichtet.

Diesen Zielkonflikt tragen Lehrmittel in sich, die wie Mille feuilles/Clin d’oeil die «Mehrsprachigkeit» umzusetzen versuchen. Einerseits streben sie einen sprachlichen Aufbau an, der sich nach dem Referenzrahmen in aufsteigender Qualität richtet (bis B1 und B2), anderseits sind wieder nur an einzelne Aufgaben gebundene partielle Kenntnisse für die Mehrsprachigkeitsziele nötig. Was soll gelten?

Fazit:Verschwommen und widersprüchlich

Als sprachdidaktisches Prinzip bleibt Plurilingualismus verschwommen und widersprüchlich, ein idealistisch-politisches Konzept, das sich mit Hypothesen aus Linguistik und Psychologie legitimieren will. Die elsässische Verkäuferin, die mit ihrer Kollegin Französisch spricht, gleich darauf den Kunden auf Deutsch bedient; Die italienischen Secondos, die im Tram bald italienisch, bald deutsch sprechen, manchmal mitten im Satz umstellen: In beiden Fällen sind es die Gesprächspartner oder die Inhalte, welche das sprachliche Verhalten automatisch auslösen. In beiden Fällen greifen die Sprechenden jedoch auf getrennt existierende, historisch gewachsene Sprachsysteme zu, die nicht einem gemeinsamen Pool oder «Repertoire» entspringen, sondern einem Gedächtnisspeicher, der die Sprachen nicht mischt, sondern wechselt, und zwar systemgetreu, wenn auch nicht fehlerfrei.

 

[1] Nachzulesen in : Conseil de l’Europe, Beacco Jean-Claude/ Michael Byram : DE LA DIVERSITÉ LINGUISTIQUE À L’EDUCATION PLURILINGUE :Guide pour l’élaboration des politiques linguistiques éducatives en Europe, 2007.    https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016802fc3ab

[2] Conseil de l’Europe, Beacco Jean-Claude/ Michael Byram : DE LA DIVERSITÉ LINGUISTIQUE À L’EDUCATION PLURILINGUE :Guide pour l’élaboration des politiques linguistiques éducatives en Europe, 2007, p. 36.

[3] Council of Europe COMMON EUROPEAN FRAMEWORK OF REFERENCE FOR LANGUAGES: LEARNING, TEACHING, ASSESSMENT COMPANION VOLUME WITH NEW DESCRIPTORS, February 2018, p. 28

[4] Council of Europe, 2018

[5] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/sprachen.html

[6] Michael N. Koslowski, A Survey and Synthesis of Cross-language Transfer Theory:
From Contrast to Interdependence to Interconnectedness and Back Again, York University, 2015, p. 32: “However, a shift toward innateness theory was instigated by Chomsky (1968) in ideas of universal grammar and the language acquisition device. Such notions of deep structure wired for language learning in the human brain led to approaches that no longer saw languages as separate and contrastable but rather underpinned by the same cognitive structure.”

[7] Hufeisen, B. & N. Marx (2007b). How can DaFnE and EuroComGerm contribute to the concept
of receptive multilingualism? Theoretical and practical considerations. In J. Thije & L. Zeevaert
(eds.), Receptive, multilingualism: Linguistic analyses, language policies and didactic concepts. Amsterdam: John Benjamins, 307–321.

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Wenn Bildungsidee und pädagogische Wirklichkeit nicht übereinstimmen https://condorcet.ch/2019/10/wenn-bildungsidee-und-paedagogische-wirklichkeit-nicht-uebereinstimmen/ https://condorcet.ch/2019/10/wenn-bildungsidee-und-paedagogische-wirklichkeit-nicht-uebereinstimmen/#comments Wed, 09 Oct 2019 15:37:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=2359

Die Primarschule hat viele neue Aufgaben übernommen – weggenommen wurde wenig. Manches kann darum gar nicht genügend geübt werden. Das gilt insbesondere fürs Frühfranzösisch. Doch die Behörden verdrängen die Schulzimmerrealität, schreibt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard
Bild: fabü

Wer in den Unterricht hineinzoomt, der sieht, dass hier vieles geschieht – zum Beispiel in der fünften und sechsten Primarklasse des Kantons Zürich: Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik, Mensch-Natur-Gesellschaft (MNG), Religionen, Kulturen, Ethik (RKE), Bildnerisches sowie Technisches und Textiles Gestalten, Musik, Bewegung und Sport, Medien und Informatik. Für diese Bereiche sind 30 Lektionen eingesetzt, zehn allein für die drei Sprachen. Zur Fächeraddition der letzten Jahre kommen die Integration und als Folge die verstärkte Individuation. Beides absorbiert Zeit und erhöht den Anspruch an die Lehrerinnen und Lehrer.

Die Fülle fordert und überfordert

Erfahrene Lehrkräfte wissen es schon lange: Wer addiert, muss reduzieren. Wer die Fächerfülle maximiert, muss beim Üben und Automatisieren minimieren. Es fehlt die Zeit zum Konsolidieren. Das ist schlichte Proportionenrechnung und hat nichts mit Ideologie zu tun. Kein wirksames Lernen kann ungestraft gezieltem und systematischem Wiederholen ausweichen.

Darum haben langjährige Pädagoginnen und Pädagogen vor zwei Fremdsprachen in der Primarschule gewarnt: Das Konzept überfordere lernschwächere und mittelmässige Schüler – und oft auch Kinder mit Migrationshintergrund. Denn zu vieles müsse heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar oft von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert.

Ernüchternde Resultate

Wie sehr diese erfahrenen Stimmen recht behalten, hat eine repräsentative Studie von 2016 in der Zentralschweiz an Tag gelegt. Sie schockierte. Die Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler lagen weit unter dem versprochenen Erfolg: Nur jeder 30. Achtklässler sprach lehrplangerecht Französisch, nicht einmal jeder zehnte erreichte die Ziele im Hörverstehen. Etwas besser, aber immer noch unbefriedigend, waren die Resultate beim Lesen und Schreiben. Untersucht wurden 3’700 Schüler der 6. und 8. Klasse.

Bild: lvb.inform

Nicht zufriedenstellend, wenn auch leicht günstiger, sahen die Ergebnisse im Kanton Zug aus. Hier haben die Schüler bis zum achten Unterrichtsjahr insgesamt zwei Wochenlektionen mehr Französisch als in den Nachbarkantonen. Und doch erreichte eine deutliche Mehrheit der Zuger Schülerinnen und Schüler die Lehrplanziele nicht

Man weiss es; die Studie zeigt es: Der Frühfranzösisch-Unterricht in der Primarschule führt unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht weit. Doch Konsequenzen gab es keine; Korrekturen sind kaum in Sicht. Die Karawane zieht einfach weiter.

Die Bildungsbehörden verschweigen die Wirklichkeit

Wenn Bildungsidee und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, leidet bloss die Wirklichkeit. Doch diese Schulzimmerrealität wird ausgeblendet, obwohl man sie über Evaluationen kennt. „Was tut man, wenn man eine Studie in Auftrag gegeben hat, deren Ergebnisse unbefriedigend ausfallen?“, fragt der Tages-Anzeiger sibyllinisch.[1] Und er fügt bei: „Man kann sie zum Beispiel einer breiteren Öffentlichkeit gar nicht vorstellen und nur auf ein paar Internetseiten aufschalten, die kaum konsultiert werden.“ Das erinnert an Christian Morgensterns messerscharfen Schluss, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“.

Diesem Prinzip folgen die Bildungsbehörden der sechs Kantone Bern, Solothurn, Freiburg, Wallis und beider Basel. Sie halten die Ergebnisse einer Studie zum Frühfranzösisch weitgehend verborgen, obwohl sie seit Mitte April dieses Jahres vorliegt.[2] Warum wohl?, fragt sich der Beobachter. Weil Resultate und Erwartungen deutlich differieren? Weil „ein beachtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler […] am Ende der Primarstufe auch ein elementares Niveau bei den Sprachkompetenzen nicht [erreicht]“?[3] Denn nur gerade knapp elf Prozent (!) erfüllen beim interaktiven Sprechen das Lernziel. Beim Leseverstehen sind es lediglich 33 Prozent, während beim Hörverstehen immerhin 57 ein positives Resultat erreichten. Untersucht wurden über 1000 Sechstklässlerinnen und Sechstklässler an 193 Schulen. Sie alle lernen seit der dritten Klasse Französisch.

Heime Studie, Tagesanzeiger

Jeder konstruiert sich seine Welt

Die Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg evaluierte den Lernfortschritt der Kinder unter dem Einfluss des sogenannten Passepartout-Lehrplans. Obligatorische Grundlage bildet das Lehrmittel „Mille feuilles“. „Passepartout“ heisst der Zusammenschluss der sechs Kantone, welche die Unterrichtsmittel für die Primarschule generierten.

Das Sprachmodell „Passepartout“ basiert auf einem konstruktivistischen Lernverständnis. Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich jedes Subjekt lernend seine Welt konstruiert. Gerade für jüngere Lernende sei das schwer umsetzbar, weil es ein hohes Mass an Selbstorganisation und selbstverantwortetem Lernen verlange, erklärt der Studienleiter Professor Thomas Studer.[4]

Warum nicht offenlegen, dass die Grammatik, vor allem die Morphosyntax, schwierig ist – und gerade darum ein systematisches Lernen und Üben der massgebenden Grundstrukturen notwendig wird?

Das Sprachbad ist illusionär

Das Konzept von „Mille feuilles“ verfolgt die Didaktik des Sprachbads. Die Kinder probieren die Sprache spielerisch aus. Sie tauchen in die Sprache ein. Im Direktkontakt mit französischen Texten und Sachthemen sollen sie Wortschatz und Grammatik lernen – sozusagen en passant. Auf den systematischen Aufbau grammatikalischer Strukturen wird im Lehrmittel bewusst verzichtet; das Konjugieren der Verben „être“ und „avoir“ beispielweise kommt nicht vor.

Die Studienergebnisse erstaunen darum nicht. Ob die Probleme aber am richtigen Ort gesucht werden? Warum nicht offenlegen, dass die Grammatik, vor allem die Morphosyntax, schwierig ist – und gerade darum ein systematisches Lernen und Üben der massgebenden Grundstrukturen notwendig wird? Das Sprachbad mit drei Wochenlektionen bleibt eine Illusion. Viele Schülerinnen und Schüler lernen erfolgreicher mit Anschluss an bereits Bekanntes, also Deutsch. Sie verfügen über einen eher analytischen Zugang zur Sprache. Das wissen viele Lehrerinnen und Lehrer. Sie lassen ihre Schulkinder die Sprache so lernen – aber sie bleiben nicht dabei stehen. Wenn die Strukturen gefestigt sind, kann man die Kenntnisse kommunikativ einbetten, möglichst unter Einbezug der vier Sprachkompetenzen. Dazu braucht es Zeit. Und die steht in der Primarschule neben all den vielen andern Fächer kaum bereit.

BUND-Artikel 2017

Die Behörden beschwichtigen

Die Studie der Universität Freiburg war bekannt, das enttäuschende Resultat ebenfalls. Und doch liess die grüne Berner Erziehungsdirektorin Christine Häsler die Öffentlichkeit wissen, man befände sich beim Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg.

50 Millionen Projektinvestitionen in das neue Sprachenkonzept Passepartout wiegen wohl schwerer als die Wahrheit – und das Können der Kinder. Oder darf über die entscheidenden Sinntiefen offenbar gar nicht debattiert werden?

 

[1] Stefan von Bergen, Die geheime Frühfranzösisch-Studie, in: Tages-Anzeiger, 28. September 2019.

[2] Eva Wiederkeller, Peter Lenz (2019), Kurzbericht zum Projekt ,Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen’, durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg.

[3] Ebda, S. 4, 9.

[4] von Bergen, a.a.O.

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Das unrühmliche Schicksal von Passepartout https://condorcet.ch/2019/09/das-unruehmliche-schicksal-von-passepartout/ https://condorcet.ch/2019/09/das-unruehmliche-schicksal-von-passepartout/#comments Tue, 17 Sep 2019 04:58:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=2228

Condorcet-Autor Felix Schmutz beschreibt in seinem Beitrag wohl das nahende Ende eines der düsterten Kapitels "neureformerischer" Irrläufer, das Passepartout-Konzept.

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Felix Schmutz, BL

Geringes Medienecho zum Abschluss

Mit überraschend geringem Medienecho endete das sechskantonale Fremdsprachenprojekt Passepartout, mit dem ganz neue Unterrichtskonzepte samt den dazu entwickelten Lehrmitteln Mille feuilles, Clin d’oeil und New World obligatorisch implementiert wurden. Der Abschlussbericht des Projektleiters Reto Furter[1] fand ebenso wenig Beachtung wie die umfangreiche und lang angekündigte Evaluation des IfM (Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg) von 2019[2].

Wieso diese Zurückhaltung? Furter schreibt dazu im Abschlussbericht:

Im Frühling 2018 beschloss die Steuergruppe, keine gemeinsame Medienkonferenz zum Abschluss des Projekts durchzuführen. Es sei zu exponiert, zu stark in der Kritik, um öffentlich eine positive Bilanz zu ziehen. Zudem liegen die Ergebnisse im Rahmen der ÜGK (der EDK) nicht wie geplant bereits im Juni vor. Eine Verschiebung zu kommunizieren wäre Wasser auf die Mühlen der kritischen Medien giessen. (Furter, S. 26)

Kritische Stimmen wurden stets auf die Evaluation vertröstet. Die Verantwortlichen nahmen an, dass damit der Erfolg der neuen Methode und die Tauglichkeit der Lehrmittel bewiesen und alle Befürchtungen der Unzufriedenen beseitigt werden könnten. Blind vertrauten sie darauf, mit dem neuen Unterrichtskonzept markante Verbesserungen zu erzielen. In einem ersten Schritt wurden deshalb 2017 die Kenntnisse nach vier Jahren Primarschulunterricht in Französisch evaluiert, und zwar in Kombination mit der EDK-Überprüfung der Grundkompetenzen in der ersten Fremdsprache (ÜGK).

Während die Ergebnisse des EDK-Tests im Mai 2019 ausführlich kommuniziert wurden, blieb es um die gleichzeitig veröffentlichten, ergänzenden Resultate der IfM-Studie auffällig still. Die Passepartout-Steuergruppe beschloss sogar im Juni 2019 endgültig, die Evaluation der Sekundarstufe, deren Ergebnisse für 2021 angekündigt waren, gar nicht mehr durchführen zu lassen. Man begnüge sich mit der dann fälligen Überprüfung der gesamtschweizerischen Grundkompetenzen der EDK, ohne die Passepartout-Didaktik und das Lehrmittel Clin d’oeil speziell zu untersuchen.

Der Glaube an die Wirksamkeit ist ins Wanken geraten

Der Verdacht liegt nahe, dass der kleinlaute Umgang mit der Evaluation und der Verzicht auf weitere IfM-Studien ein Zeichen dafür sind, dass der tiefe Glaube an die Wirksamkeit der «neuen Didaktik» doch etwas ins Wanken geraten ist. Offen zugeben kann man das noch nicht, es gilt, das Gesicht zu wahren, besonders auch wegen des vielen Geldes, das man in das Projekt gesteckt hat.

Ergebnisse stellen das Unterrichtskonzept in Frage

Warum wurde nun aber der Bericht zur Evaluation des IfM nicht breiter bekannt gemacht? Zu lesen war lediglich von den Ergebnissen der EDK-Überprüfung der Grundkompetenzen, denn das war die gute Nachricht: 62% schafften die Grundkompetenz A1.2 im Lese-, 88% im Hörverstehen. Für die Passepartout-Kantone galt allerdings als Grundanforderung nach 4 Jahren Französisch das Niveau  A2.1. Dort sah es nicht mehr so rosig aus: Nur 33% schafften das Leseverstehen und 57% das Hörverstehen. Richtig niederschmetternd waren hingegen die nur vom IfM geprüften Sprechkompetenzen: Ganze 42,5 % schafften das Niveau A1.2 und gar nur 11 % das von Passepartout anvisierte Niveau A2.1.

Eine gigantische Materialschlacht die jedes Jahr im Müll landet!

Eine Didaktik, die sich dezidiert der Förderung der Kommunikation und den Strategien des Leseverstehens verschrieben hat, ist als gescheitert anzusehen, wenn sie nach 4 Jahren Unterricht mit einem derart bescheidenen Resultat aufwarten muss.

Das IfM, das streng die Fragen klärte, die von der Projektleitung gestellt wurden, rührt noch an einem weiteren Credo der neuen Didaktik, der «Sprachbewusstheit», mit anderen Worten: am Kern der Mehrsprachigkeitstheorie, der besagt, dass «Die Sprachen … nicht mehr isoliert gelernt [werden]. Es werden Bezüge zwischen Deutsch, Französisch und Englisch hergestellt, damit die Kinder von bereits Gelerntem profitieren und schon erworbene Lernstrategien anwenden können.»[3]. Dazu das IfM:

Wichtig ist jedoch zu sagen, dass der Zusammenhang zwischen der Arbeit an der Sprachbewusstheit und dem Aufbau der kommunikativen Sprachkompetenzen ungeklärt ist, d.h. dass mehr Arbeit an der Sprachbewusstheit sicherlich ein spezifisches Ziel für sich sein kann, dass sie aber nicht zwingend zu besseren rezeptiven und/oder produktiven Sprachkompetenzen führt.[4]

Damit weist das IfM auf das Problem hin, wie deklaratives (theoretisches) Sprachwissen in prozedurales (automatisch abrufbares) Sprachwissen überführt werden kann. Empirisch wurde nachgewiesen, dass dies nur mit grossem Übungsaufwand möglich ist.

Das IfM untersuchte per Fragebogen auch Motivation und Interesse an Französisch. Die Ergebnisse sind wiederum enttäuschend:

Ein Vergleich der Motivation zum Lernen der ersten Fremdsprache auf Basis der Schülerfragebogenitems über die Sprachregionen hinweg zeigt deutlich, dass die Motivation zum Französischlernen im Passepartout-Raum generell eher tief ist. Der Umstand, dass nur knapp die Hälfte der Schüler/innen die Themen und Texte bzw. die Aufgaben (tâches) im Lehrmittel (eher) interessant findet, kann durchaus eine Rolle für die Motivation spielen.

Zudem findet nur ca. die Hälfte der Schüler/innen den Französischunterricht interessant. [5]

Damit stellt das IfM das didaktische Konzept von Passepartout in drei zentralen Punkten in Frage:

  1. Leseverstehen und vor allem Sprechen werden mit dieser Didaktik zu wenig gefördert.
  2. Die Betonung von Sprachvergleichen und das gleichzeitige Lernen mehrerer Sprachen fördert die Kommunikationskompetenz nicht.
  3. Der Fokus auf Inhalte und Sprachverwendung wirkt sich auf die Motivation der Lernenden nicht förderlich aus.

Grundsätzliche Kritik zu wenig ernst genommen

Ob diese Feststellungen bei den Verantwortlichen gehört werden, ist aber fraglich. Der Umgang mit Kritik scheint ein Kernproblem des Passepartout-Projektes zu sein. Es gilt dabei zu unterscheiden zwischen grundsätzlichen Zweifeln am neuen Konzept und den in der Praxis festgestellten Mängeln der Lehrmittel:

Der Umgang mit Kritik scheint ein Kernproblem des Passepartout-Projektes zu sein.

Auf Letztere wurde zeitnah reagiert, indem Zusatzressourcen geschaffen wurden, die zum Teil noch immer in Arbeit sind: Differenzierungshilfen für Lernschwächere, Alltagswortschatz, Wörterbücher, Grammatik zum Nachschlagen, zusätzliche Übungsmaterialien, Umsetzungshilfen, On-Line-Angebote, Überarbeitung der Bände 5 und 6 von Mille feuilles, etc.

Clin d’oeil Schülerbox, Kostenpunkt: 35 CHF

Hingegen zeigten die Verantwortlichen keinerlei Musikgehör gegenüber der Kritik an der neuen Didaktik. Die theoretischen Grundlagen der Lehrmittel gelten bis heute als sakrosankt und unfehlbar, als stünden diese in keinem ursächlichen Zusammenhang mit den Mängeln der Lehrmittel und den nun offenkundig enttäuschenden Ergebnissen der Evaluation. Da man die Projektverantwortlichen als intelligente Menschen ernst nehmen möchte, erstaunt es doch sehr, dass sie sich nicht selbst die Frage stellen, ob die «neue Didaktik» nicht zumindest teilweise für die Beanstandungen an den Lehrmitteln mitverantwortlich sein könnte.

Auch wissenschaftliche Beiträge, die das Konzept seit 2016 in Zweifel zogen, werden in Furters Bericht schlicht übergangen. So die Clearing-House-Studie zur Frage, wie sich das Lernen mehrerer Fremdsprachen im Primarschulalter unter definierten Bedingungen auswirkt[6], die Untersuchung von Simone Pfenninger zum Nutzen des Frühenglischen[7] oder die Masterarbeit von Susanne Zbinden, die in einer mit summa cum laude bewerteten Vergleichsstudie zwischen Passepartout und dem Vorgängerlehrmittel Bonne Chance das signifikant schlechtere Abschneiden der Lernenden mit dem neuen Französischlehrmittel offenlegte und bereits die Empfehlungen abgab, welche die IfM-Evaluation zum Teil auch aufgegriffen hat:

  • Wortschatz- und Grammatikkenntnisse sind entscheidend fürs Leseverständnis
  • Strategien sind vor dem Niveau C1 wirkungslos für das Leseverständnis
  • Authentische Texte sind als didaktischer Einstieg nicht geeignet [8]

Theorie bestimmt Praxis oder «It’s the didactics, stupid!»

Die Passepartout-Verantwortlichen schienen nicht zu bemerken, dass mit den Zusatzmaterialien bereits tüchtig an der «reinen Lehre» gekratzt wurde:

  • Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten benötigen für die Konsolidierung mehr Bearbeitungszeit, mehr Lernzeit, mehr Übung und mehr Wiederholung;
  • Die Lernenden sind auf eine gute Vorentlastung angewiesen. Es fehlt oftmals das Vorwissen für die Themen bzw. Inputs in den Lehrmitteln. Deshalb werden für die Texterschliessung zusätzliche Lernaufgaben zur Verfügung gestellt;
  • Für das Verstehen der Aufträge in den «activités» brauchen die Lernenden Sprachunterstützung und eine Verringerung des Abstraktionsgrads, damit sie autonomer arbeiten können;
  • Für die Sprechanlässe werden zusätzliche Sprachmittel zur Verfügung gestellt;
  • Für die Schreibaufträge werden zusätzliche Strukturierungshilfen angeboten. (Furter, S.14/15)

 Dies sind didaktisch-methodische Prinzipien, die jeder Lehrperson, unabhängig vom Fach, als professionelle Verfahren geläufig sind. Passepartout tat mit diesen Korrekturen nichts anderes, als die neuen Lehrmittel schrittweise den bewährten alten anzunähern.

Warum haben die Autoren diese selbstverständlichen Grundsätze nicht von Anfang an berücksichtigt? Ganz einfach, weil sie im Widerspruch zu den Theorien der neuen Didaktik standen. So sollte «der Hauptakzent auf der kommunikativen Handlungsfähigkeit» liegen. «Entscheidend ist, dass die Kommunikation funktioniert und gelingt». «In Zukunft sollte der Unterricht stark anwendungs- und inhaltorientiert sein.» «Sinnvolle und motivierende Aufgaben sind der Motor des Lernens und dienen dem Kompetenzaufbau.» (Furter, S. 5)

Diese Aussagen spiegeln deutlich die konstruktivistische Hypothese, dass sich der Spracherwerb autogenetisch und ohne die bewährten didaktischen Hilfestellungen einstellen werde. Die neue Didaktik propagierte den Spracherwerb zunächst idealistisch als Selbstläufer.

Grammatik wurde als Popanz aufgebaut

Verhängnisvoll wirkte sich dabei aus, dass die «funktionale Mehrsprachigkeit» von Anfang an Mühe im Umgang mit der Grammatik und dem Wortschatz bekundete. Grammatik wurde als Popanz aufgebaut. Neu sollten «Grammatik, Wortschatz und Orthografie … kein Selbstzweck [sein], sondern Mittel zur Bewältigung sprachlicher Herausforderungen. Sie … ergeben sich aus den Aufgaben und sprachlichen Aktivitäten.»[9] Das heisst, ein systematischer Aufbau der sprachlichen Mittel ist nicht vorgesehen. Stattdessen werden bei jeder Aufgabe die jeweils benötigten Wörter und Strukturen als Liste angeboten, aus der sich die Lernenden ihr Sprachhandeln ad hoc zusammenstellen. Diese eklektische Methode ist allerdings lerntechnisch viel zu anspruchsvoll unter den zeitlich begrenzten, schulischen Bedingungen.

Die in ideologischem Eifer geschmähte «Korrektheit» ist in Wahrheit konstituierend für das Gelingen der Kommunikation.

Bei der Arbeit an Themen, die nach Furter «interessant, wichtig und bedeutsam sind», und für «sinnvolle und motivierende Aufgaben»[10] braucht es sehr schnell einen entsprechend elaborierten Sprachcode, der sich nicht einfach nebenbei ergibt. Sprache ist ein komplexes symbolisches Zeichensystem mit interner Struktur. Diese Struktur ist bedeutungstragend, historisch gewachsen und konventionell vereinbart. Struktur und Kommunikation sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Deshalb ist ein systematischer Aufbau der Sprachmittel aus lerntechnischen Gründen ebenso notwendig wie die Anwendung in kommunikativen Situationen, wenn die Sprachkompetenz transferierbar und ausbaufähig sein soll. Die in ideologischem Eifer geschmähte «Korrektheit» ist in Wahrheit konstituierend für das Gelingen der Kommunikation.

Diese weiteren Beispiele von Grundwidersprüchen (Didaktisierung der Kurse und Umgang mit sprachlichen Mitteln) zeigen zusammen mit den vorher genannten, warum die Lehrmittel von Anfang an nicht praxistauglich waren. Die verfehlte Theorie stand dem didaktisch Notwendigen im Weg. Oder in Abwandlung des Spruches von Bill Clinton an seinen Vorgänger: It’s the didactics, stupid!

Gescheitert sind nicht die Lehrkräfte, gescheitert sind FachhochschuldozentInnen

Gescheitert sind nicht die Primarschullehrkräfte, die sich ohne fachliche Ausbildung in die Vorbereitung stürzten und viele Stunden Weiterbildung auf sich nahmen. Gescheitert sind nicht die Autorinnen und Autoren, die nach den Vorgaben Lehrmittel ausbrüteten, die jetzt nicht genügen, sondern die Fachhochschuldozentinnen und  -dozenten, die Konzepte entwickelten, die von der internationalen Spracherwerbsforschung längst widerlegt oder relativiert wurden, die empirisch nicht abgesichert sind oder auf Fehlinterpretationen der Hirnforschung beruhen.[11] Auf Reto Furters Einsicht in diese Zusammenhänge muss man aber noch lange warten, liest man sein Kapitel mit dem Ausblick, was bei künftigen Projekten besser zu machen wäre und wie man die neue Didaktik noch radikaler und effizienter gegen renitente Ungläubige an der Sekundarstufe durchstieren solle.

 

Zitierte Literatur:

Reto Furter (2018): Abschlussbericht zum Projekt Passepartout, Freiburg, August 2018
https://nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/Passepartout%20Schlussbericht_2019.pdf

Eva Wiedenkeller, Peter Lenz (2019): Schlussbericht zum Projekt ‚Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘ durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone
https://www.nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/upload/190513_Passepartout-Evaluation_Schlussbericht_def.pdf

Eva Wiedenkeller, Peter Lenz (2019): Kurzbericht zum Projekt ‚Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘
https://www.nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/upload/190513_Passepartout-Evaluation_Kurzbericht_def.pdf

Dyssegaard, C.B., Egeberg, J. de H., Sommersel, H.B., Steenberg, K., & Vestergaard,  (2015) A systematic review of the impact of multiple language teaching, prior language experience and acquisition order on student’s language proficiency in primary and secondary school. Copenhagen: Danish Clearinghouse for Educational Research, Department of Education, Aarhus University

Simone E. Pfenninger (2014): The literacy factor in the optimal age discussion:
a five-year longitudinal study, International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, DOI: 10.1080/13670050.2014.972334

Susanne Zbinden (2017): Leseverstehen mit altem und neuem Lehrmittel im Vergleich: Eine empirische Studie über das Verstehen von französischen Texten auf der Sekundarstufe 1, Masterarbeit, Universität Freiburg (CH).

Rod Ellis, Understanding Second Language Acquisition, Second Edition, Oxford 2015, Kindle-Edition

 

[1] Reto Furter (2018): Abschlussbericht zum Projekt Passepartout, Freiburg, August 2018
https://nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/Passepartout%20Schlussbericht_2019.pdf

[2] Eva Wiedenkeller, Peter Lenz (2019): Schlussbericht zum Projekt ‚Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘ durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone
https://www.nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/upload/190513_Passepartout-Evaluation_Schlussbericht_def.pdf

[3] Furter, S. 5

[4] Evaluation IfM, S. 52

[5] Evaluation IfM, S. 91

[6] Dyssegaard, C.B., Egeberg, J. de H., Sommersel, H.B., Steenberg, K., & Vestergaard, S. be cited as (2015)  A systematic review of the impact of multiple language teaching,  prior language experience and acquisition order on student’s language proficiency in primary and secondary school. Copenhagen: Danish Clearinghouse for Educational Research, Department of Education, Aarhus University

[7] Simone E. Pfenninger (2014): The literacy factor in the optimal age discussion: a five-year longitudinal study, International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, DOI: 10.1080/13670050.2014.972334

[8] Susanne Zbinden (2017): Leseverstehen mit altem und neuem Lehrmittel im Vergleich: Eine empirische Studie über das Verstehen von französischen Texten auf der Sekundarstufe 1, Masterarbeit, Universität Freiburg (CH).

[9] Furter, S. 5

[10] ebd.

[11] Dazu Rod Ellis (2015) Understanding Second Language Acquisition, der alle Theorien und die empirische Forschung dazu unter die Lupe nimmt.

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Das Passepartout-Projekt – Mahnmal einer expertokratischen Schulreform https://condorcet.ch/2019/04/das-passepartout-projekt-mahnmal-einer-expertokratischen-schulreform/ https://condorcet.ch/2019/04/das-passepartout-projekt-mahnmal-einer-expertokratischen-schulreform/#respond Thu, 25 Apr 2019 11:37:48 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=968

Es gibt wohl kaum jemanden, der sich so intensiv und mit viel Sachkenntnis mit der Mehrsprachendidaktik und den neuen Lehrmitteln befasst hat, wie der Sekundarlehrer Philipp Loretz. Dass der Kanton Basel-Land in Bälde über eine Lehrmittelfreiheit abstimmen wird, ist nicht zuletzt sein Verdienst.

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Erklärungen als Übergriff

«Das ist Luigi, unser neuer Hund. Ich habe meinen Mann übergezeugt, dass wir brauchen einen treuen Freund in der Familie. Er hat sich schon gut einlebt», rief mir die Expat aus Sussex zu. Ich liess mir wegen der lustigen Verbformen nichts anmerken, fragte mich allerdings, ob ich meiner déformation professionelle nachgeben und meine Bekannte auf die korrekte Bildung des Partizips 2 aufmerksam machen oder vielleicht doch besser auf diesen «Übergriff» verzichten sollte.

Wie hätten Sie sich entschieden? Hätten Sie der sprachaffinen Engländerin erklärt, wie sie erkennen kann, warum man ein-ge-kauft, aber ver-kauft und nicht ver-ge-kauft sagt? Oder hätten Sie die Dame ganz im Geiste der Didaktik der Mehrsprachigkeit dazu angehalten, die Regel selber herauszufinden, sie mit ihrem Mann zu diskutieren und am nächsten Barbecue gemeinsam zu «offizialisieren»[1]?

Torpedierung der Methodenfreiheit

It depends, pflegen die Engländer zu sagen. Nicht so die Promotoren der Didaktik der Mehrsprachigkeit, die sich seit der Lancierung des sechskantonalen Fremdsprachenkonzepts Passepartout anmassen, sämtlichen Fremdsprachenlehrpersonen vorschreiben zu wollen, wie «zeitgemässer» Unterricht auszusehen habe und welche bewährten Methoden aus dem didaktischen Repertoire zu streichen seien.

Exotische Didaktik ohne Wirksamkeitsausweis

Mit der Einführung einer im internationalen Vergleich exotischen Didaktik ohne Wirksamkeitsnachweis, gepaart mit einem strikten Lehrmittelobligatorium, wurde die Methodenfreiheit dramatisch eingeschränkt. Eine kleine Gruppe von «Experten» hat es unter Mitwirkung reformfreudiger Akteure aus Politik und Verwaltung «geschafft», einen heftigst umstrittenen Schulversuch zu initiieren, der tausende Lernende als Versuchskaninchen einsetzt und die Lehrpersonen sowohl bevormundet wie belastet.

Eine kleine Gruppe von «Experten» hat es unter Mitwirkung reformfreudiger Akteure aus Politik und Verwaltung «geschafft», einen heftigst umstrittenen Schulversuch zu initiieren, der tausende Lernende als Versuchskaninchen einsetzt und die Lehrpersonen sowohl bevormundet wie belastet.

Drängende Fragen

  1. Wie war es möglich, dass ein renommierter Verlag wie «Klett und Balmer» ein Passepartout-konformes Englischlehrmittel produzierte, das im Widerspruch zur Firmentradition steht?
  2. Warum konnte der «Schulverlag plus» es sich leisten, die Kritik an seinen Lehrmitteln Mille feuilles und Clin d’oeil sechs Jahre lang zu ignorieren?
  3. Wie konnte es sein, dass der Lehrerschaft eine Didaktik verordnet wurde, auf die sich international erfolgreiche Verlage wie Oxford Press oder Macmillan Education nicht im Traum einlassen würden?

Marketing und vollmundige Versprechungen

Die Didaktik der Mehrsprachigkeit mit den Lehrmitteln New World, Mille feuilles und Clin d’oeil wurden mittels eines bis dato ungekannten Marketings beworben. Den Auftrag für die professionelle Website sicherten sich die Firmen «nemuk AG»[2], Agentur für digitales Marketing, und «wortgewandt», zuständig für «kluge Texte» und «ehrliche Kommunikation»[3].

Damit war die Bahn frei für das mit Steuergeldern finanzierte Promoten angeblich überlegener Lehrmittel, deren Einsatz «den Fremdsprachenunterricht an der Volksschule von Grund auf […] erneuern» solle[4]. Fortan würden die Kinder die Fremdsprache wie ihre Muttersprache lernen: mühelos, ganz ohne Vokabeln büffeln und Regeln lernen zu müssen.[5]

Pauschales Bashing

Gleichzeitig zeichneten Passepartout-Verfechter öffentlich ein Zerrbild des bestehenden Fremdsprachenunterrichts: Fehlende Handlungsorientierung, einseitige Fokussierung auf Grammatik, sinnentleertes Auswendiglernen, ja selbst die Zerstörung des Selbstvertrauens der Lernenden wurden angeprangert.

Man tat so, als ob vielfältige Wortschatzspiele, kreative Memorisierungstechniken oder variantenreiche Präsentationen niemals zuvor zu einem anregenden Fremdsprachenunterricht gehört hätten. Man redete den Status quo bewusst schlecht, um dem eigenen Konzept leichter zum Durchbruch zu verhelfen.

Flächendeckende Umerziehungskur

Sämtliche Fremdsprachenlehrpersonen verpflichtete man zu überdimensionierten «Fortbildungen». Wer sich weigerte, dem drohte gar der Entzug der Lehrberechtigung!

Sämtliche Fremdsprachenlehrpersonen verpflichtete man zu überdimensionierten «Fortbildungen». Wer sich weigerte, dem drohte gar der Entzug der Lehrberechtigung!

Angesichts dieses übergriffigen Vorgehens blieb den Betroffenen nichts anderes übrig, als sich von Kursleitungen, die teilweise nicht einmal über stufenspezifische Unterrichtserfahrungen verfügten, die Kuriosiäten der neuen Didaktik erklären zu lassen, und zwar rekordverdächtige 24 Halbtage lang.

Zum Einstieg wurde gestandenen Lehrkräften beispielsweise Texte vorgelegt, in denen behauptet wurde, der Unterricht habe sich seit den Schriften von Comenius kaum verändert, er sei statisch und militärisch geblieben. Nun müsse endlich alles anders werden, schliesslich sei Lernen wie Sex, solle also aufregend und vergnüglich sein.

Wesen der Didaktik der Mehrsprachigkeit

Vorsicht: Realsatire! Die Hauptmerkmale der magischen Didaktik lassen sich anhand der folgenden Beispiele erläutern:

  1. Ein Balljunge darf an einer Exhibition gegen Rafael Nadal spielen. Passt sich die Nummer 1 an oder zieht er voll durch mit der Begründung, Anfänger würden besonders gut Tennis spielen lernen, wenn sie sich von Beginn an mit authentischen Situationen konfrontiert sähen?
  2. Deb Roy konnte mit dem Human Speechome Project[6] aufzeigen, welche Wörter Kinder zuerst erwerben. Gehören good, tree, cat dazu oder doch eher engloutit, moulachou, prestidigitateur[7]?
  3. Wie lernen Kinder Rad fahren? Mit einem an ihre Körpergrösse angepassten Laufvelo oder einem Bike für Erwachsene mit 29-Zoll-Rädern und 27 Gängen?
  4. Warum wurde David Garrett zum Starviolinisten? Weil er täglich ausgiebig übte oder ab und zu spielerisch ein paar ausgewählte Töne ausprobierte?
  5. Was sagen Eltern zu ihrem Dreijährigen, der im Zoo auf einen Tiger zeigt und «Löwe» ruft? «Das ist ein Tiger, den erkennt man am orangen Fell mit schwarzen Streifen» oder «Genau, sehr gut, das ist ein gestreifter Löwe»?

Was sagen Eltern zu ihrem Dreijährigen, der im Zoo auf einen Tiger zeigt und «Löwe» ruft? «Das ist ein Tiger, den erkennt man am orangen Fell mit schwarzen Streifen» oder «Genau, sehr gut, das ist ein gestreifter Löwe»?

Sie ahnen es: Die Hardcore-Verfechter der Didaktik der Mehrsprachigkeit müssten sich stets für die zweite Option entscheiden – falls sie ihre Theorie selber in Alltagssituationen anwenden würden. Das tun sie jedoch nicht, wie mir eine Kursleiterin versicherte, denn im Kurs gehe es um den modernen Fremdsprachenerwerb, nicht um den Alltag. Ja, wie nun?

Angesichts solch verquerer Logik erstaunt es nicht, dass der Abschlussbericht der flächendeckenden Baselbieter Fachhearings mit Primar- und Sekundarlehrpersonen[8] die von verschiedener Seite seit Jahren geübte Kritik an besagter Didaktik bzw. den Passepartout-Lehrmitteln vollumfänglich bestätigte:

  1. Missachtung des universalen Prinzips vom Einfachen zum Schwierigen
    «Die Orientierung an authentischen [also nicht didaktisierten] Inhalten wird als wenig zielführend wahrgenommen», diese «Texte stellen oft zu hohe Ansprüche […], thematisch seien sie wegen des fehlenden Alltagsbezugs […] wenig ansprechend.»
  2. Exotischer Wortschatz
    «Alltagstauglicher Wortschatz» fehle, ein «aufbauender und verbindlicher Wortschatz wird nicht gezielt angelegt.»
  3. Kein geführter, systematischer Aufbau der Grundstrukturen
    «Grammatische Strukturen werden […] nicht sichtbar gemacht und […] nicht als solche erkannt […], bei der Anwendung können die Lernenden nicht auf gefestigtes Vorwissen aufbauen.»
  4. Sight-Seeing-Didaktik
    «Die grosse Mehrheit […] ist sich einig, dass Festigungs- sowie Vertiefungsmöglichkeiten fehlen. Etliche Themen werden in den Lehrmitteln nur angetippt und dann als gefestigt vorausgesetzt.»
  5. Fetisch Fehlertoleranz
    Im Zusammenhang mit der passepartoutspezifischen Fehlerkultur «tauchte die Frage auf, warum nicht sofort die korrekte Schreibung eingeübt» werde.[9] Kommentar: Wenn jemand behauptet, «dass Fehler das spätere Erlernen der richtigen Form in keiner Weise beeinträchtigen», dann fordern Sie diese Person dazu auf, nicht an einen rosaroten Elefanten zu denken und fragen Sie sie dann, was sie sehe.

Weitere Kuriositäten

In der mini-grammaire lassen die Lehrmittelautorinnen Kinder (nicht etwa studierte Linguisten!) auf einer Metabene mehr als 40 Sprachen – von Isländisch über Vietnamesisch bis zum Inuktikut – reflektieren, die sie noch nicht einmal ansatzweise kennen.

In der mini-grammaire lassen die Lehrmittelautorinnen Kinder (nicht etwa studierte Linguisten!) auf einer Metabene mehr als 40 Sprachen – von Isländisch über Vietnamesisch bis zum Inuktikut – reflektieren, die sie noch nicht einmal ansatzweise kennen.

Dozierende der PH FHNW propagieren gar das Code Switching – das beständige Wechseln zwischen mehreren Sprachen – als Unterrichtsziel für die Volksschule und demonstrieren damit Abgehobenheit und Realitätsferne.

Beschwichtigen, Diffamieren, Ignorieren und die Macht des Faktischen

Bereits 2015 machte Philippe von Escher, Stufenpräsident Sek I des Berner Lehrerverbandes, auf die Unzulänglichkeiten aufmerksam: «Es muss sich wohl um einen Systemfehler handeln, dass nach vier Jahren Frühfranzösisch […] die Top-300-Wörter […] in einem isolierten Satz nicht verstanden werden».[10] Umfragen der Verbände aus den Kantonen GR, BE, SO und BL zeichneten allesamt ein negatives Bild.

Die bernischen Gymnasien strichen den Grammatikteil aus der Aufnahmeprüfung, man nicht prüfen könne, was nicht vorhanden sei. In Solothurn wurde das geplante Obligatorium der Passepartout-Lehrmittel für die Sek P rückgängig gemacht. Susanne Zbinden wies in ihrer Masterarbeit nach, dass das Leseverständnis von Clin d’oeil-Lernenden signifikant schlechter ist als dasjenige von SchülerInnen, die mit didaktisiertem Material Französisch gelernt hatten.

Trotz erdrückender Faktenlage lenkten die Verantwortlichen nicht ein. Im Gegenteil: Sie beschwichtigten, vertrösteten, stellten mahnende Stimmen bloss. Sie erklärten prämierte Studien wie jene von Simone Pfenninger für qualitativ ungenügend. Sie verwehrten Kritikern den Unterrichtsbesuch und schüchterten aufmüpfige Eltern ein. «TeleBasel» musste Stimmen verändern und Gesichter verpixeln, damit Betroffene sich getrauten, Klartext zu sprechen.

Die Verantwortlichen verwehrten Kritikern den Unterrichtsbesuch und schüchterten aufmüpfige Eltern ein. «TeleBasel» musste Stimmen verändern und Gesichter verpixeln, damit Betroffene sich getrauten, Klartext zu sprechen.

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Dank Aldous Huxley wissen wir, dass Tatsachen nicht aufhören zu existieren, nur weil sie ignoriert werden. Im März 2018 sah sich Gesamtprojektleiter Reto Furter zu einer Stellungnahme veranlasst. Offenbar lagen die Nerven blank. Anders ist es nicht zu erklären, dass er sich auf SRF4 zu dieser Aussage verstieg: «Ein Geschichtslehrmittel, das den Holocaust leugnet, muss man verbieten, aber sicher nicht zwei Französischlehrmittel und ein Englischlehrmittel.»[11] Dieser «Vergleich» stellt eine Assoziation her zwischen Rechtsextremismus und dem Entscheid des Baselbieter Landrats, den Ausstieg aus Passepartout gutzuheissen. Einer sachlichen Auseinandersetzung ist das nicht zuträglich.

Die Realität sieht so aus: Viele praxiserfahrenen Lehrpersonen – ihrem Berufsethos und dem Lernerfolg ihrer SchülerInnen verpflichtet – greifen längst korrigierend ein und halten sich nicht an krude Theorien von «Experten», die am finanziellen Tropf des teuersten Fremdsprachenprojekts aller Zeiten hängen.

Ausweg aus der Sackgasse

Dass es auch anders geht, bewies Monica Gschwind in Baselland: Sie nahm die Kritik ernst, holte alle Anspruchsgruppen an den runden Tisch und handelte: Die Fortbildung wurde gekürzt, die Einschränkung der Methodenfreiheit revidiert, das Ergebnis der Fachhearings[12] transparent veröffentlicht, der «schulverlag plus» unmissverständlich dazu aufgefordert, die Lehrmittel grundlegend zu überarbeiten.

Damit in allen Passepartout-Kantonen Ruhe einkehren kann, müssen Selbstverständlichkeiten wieder selbstverständlich werden:

Lehrplan
Lernziele können am besten erreicht werden, wenn die Stoffinhalte konkret definiert sind. Mit schwammigen Kompetenzformulierungen lässt sich kein stufenübergreifend aufbauender Fremdsprachenunterricht realisieren.

Lehrmittelfreiheit
Staatlich protektionierte Lehrmittelmonopole sind träge, einschränkend und teuer. Für beide Sprachen gibt es ausgereifte, weitgehend selbsterklärende Lehrmittel, welche international gesicherte didaktische Erkenntnisse umsetzen.

Methodenfreiheit
Richtziel eines jeden Sprachunterrichts ist der Transfer, die Anwendung in der Zielsprache. Der Weg dorthin ist lediglich Mittel zum Zweck. Es gibt daher weder die Lehrmethode noch die Fremdsprachendidaktik.

Passepartout als Präzedenzfall?

In speziellen Schulungen lernen Piloten, sich den Autoritätsgehorsam wegzutrainieren, damit Ungereimtheiten im Cockpit schnell und offen angesprochen werden können[13]. Genau dieses Selbstverständnis benötigen wir Lehrpersonen im Umgang mit praxisfernen «Experten».

Philipp Loretz

 

Quellennachweis

[1] Clin d’oeil, Bienvenue dans le futur, fil rouge, p. 17

[2] https://nemuk.com

[3] https://www.wortgewandt.ch/de.html

[4] https://www.passepartout-sprachen.ch/ueber-passepartout/worum-geht-es/

[5] https://www.passepartout-sprachen.ch/informationen-fuer/eltern/worum-geht-es/

[6] http://www.ted.com, http://www.ted.com/talks/deb_roy_the_birth_of_a_word

[7] Mille feuilles 3.1, Le monstre de l’alphabet, S. 15 ff.

[8] Ergebnisbericht: Fachhearings Französisch, https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/regierungsrat/dossiers/passepartout

[9] Ergebnisbericht: Fachhearings Französisch, https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/regierungsrat/dossiers/passepartout

[10] https://www.lvb.ch/docs/magazin/2015_2016/02_Dezember/10_Diese-Didaktik-schuettet-das-Kind-mit-dem-Bade-aus_LVB_1516-02.pdf

[11] Reto Furter, SRF, 27.3.2018, https://www.srf.ch/sendungen/4×4/der-kanton-basel-land-will-aus-passepartout-aussteigen

[12] Ergebnisbericht: Fachhearings Französisch, https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/regierungsrat/dossiers/passepartout

[13] Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, «The authority bias»

Weitere Artikel, die sich kritisch mit der sogenannten «Mehrsprachigkeitsdidaktik»und dem expertokratischen Passepartout-Projekt auseinandersetzen, finden Sie hier.

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