Maturaprüfungen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 13 Sep 2022 18:05:36 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Maturaprüfungen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Zur inneren Logik mündlicher Prüfungen im Fach Mathematik: Teil 2 https://condorcet.ch/2022/09/zur-inneren-logik-muendlicher-pruefungen-im-fach-mathematik-teil-2/ https://condorcet.ch/2022/09/zur-inneren-logik-muendlicher-pruefungen-im-fach-mathematik-teil-2/#comments Tue, 13 Sep 2022 18:05:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=11540

Sie lesen hier den 2. Teil des Beitrags des Basler Gymnasiallehrers Dr. Mario Gerwig, der sich mit dem Sinn und Unsinn der mündlichen Mathematikprüfung beschäftigt. Während es im 1. Teil um die Analyse der rechtlichen und pädagogischen Rahmenbedingungen der mündlichen Maturprüfung ging, schildert Mario Gerwig heute Beispiele aus der Praxis und zieht daraus seine Schlussfolgerungen.

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Dr. Mario Gerwig, Jg. 1984, ist seit 2011 Lehrer für Mathematik und Chemie am Gymnasium Leonhard Basel. Er ist Schulbuchautor und Länderberater ( Mathematik Neue Wege, Westermann Schweiz) sowie Experte für Maturprüfungen in Mathematik (Kantone BS und BL) und Diplomprüfungen in den Bildungs- und Sozialwissenschaften (PH Luzern). 2021 erschien das Buch Der Satz des Pythagoras in 365 Beweisen (Springer Spektrum, Berlin).

Drei Erfahrungsberichte aus der schweizerischen Praxis

„Acht Tennisbälle, drei Schubladen. Wie viele Verteilungen sind möglich?“

Die Maturprüfung beginnt um 8 Uhr, sie dauert 15 Minuten. Es werden zwei Themen im etwa gleichen zeitlichen Umfang geprüft. Der Schüler hat keine Vorbereitungszeit. Er betritt den Raum, wird von Prüfer und Experte knapp begrüsst, erblickt den ihm angedachten Platz, zieht seine Jacke aus und möchte sich setzen. Noch während ein Arm in der Jacke hängt, erhält er die erste, nur mündlich formulierte Aufgabenstellung: „Acht Tennisbälle werden auf drei Schubladen verteilt. Auf wie viele Arten geht das?“ Der Schüler, sichtlich erstaunt über den unvermittelten Beginn der Prüfung, befreit seinen Arm aus der Jacke und setzt sich, während er murmelnd nachdenkt: „Tennisbälle – wie viele? Und wie viele Schubladen?“ – „Acht und drei“, antwortet der Prüfer kurz und knapp, um nach nur einer Sekunde Wartezeit nachzuhaken: „In welchem Gebiet sind wir denn hier?“ – „Ich denke, es geht um Kombinatorik“, antwortet der Schüler, schafft es aber nicht, in der gegebenen Zeit von wenigen Sekunden die anfangs gestellte Frage zu beantworten.

Der Prüfling hat sich dem Fragenbombardement tapfer gestellt, aber konnte er auch zeigen, was er beherrscht?

So geht es weiter, 15 Minuten lang. Der Prüfer stellt eine Frage nach der nächsten, Zeit zum Nachdenken bleibt kaum – die Prüfungszeit sei schliesslich knapp und es solle doch so viel wie möglich abgeprüft werden, so die später vorgebrachte Begründung des Prüfers für die schnelle Abfolge der vielen Fragen. Für den Prüfling, der mit jeder Frage nervöser zu werden schien, gibt es am Ende eine knapp genügende Note. Er hat sich dem Fragenbombardement tapfer gestellt, aber konnte er auch zeigen, was er beherrschte?

Im Rückblick erscheint die Prüfung als eine gewaltige Stresssituation für alle: Der Prüfer formulierte, getrieben von der tickenden Uhr, eine Frage nach der anderen, in der Überzeugung, nur so das Wissen des Prüflings angemessen einschätzen und bewerten zu können. Der Prüfling versuchte, so gut es ging, auf die Flut an Fragen und Aufgaben zu reagieren. Zeit zum Nachdenken und Argumentieren blieb kaum. Er musste, so schnell es geht, reagieren und wurde ebenso schnell unterbrochen, wenn seine Antwort nicht genau dem entsprach, was vom Prüfer intendiert war. Schliesslich war die Situation auch für den Experten überaus anspruchsvoll: Er kannte die Fragen nicht, hörte sie im selben Moment wie der Prüfling, musste Frage und Antwort angemessen protokollieren und gleichzeitig einschätzen, inwieweit die gegebene, teils unfertige Antwort korrekt war. Das Tempo der gestellten Fragen und Aufgaben war indes so hoch, dass ein angemessenes Protokollieren nahezu ausgeschlossen war.

Das Urnenmodell in der Kombinatorik: Es gibt zahlreiche Stellen, an denen man falsch abbiegen kann.

Was ist in dieser Prüfung nun tatsächlich geprüft worden? Betrachten wir die Einstiegsfrage zunächst fachlich. Die Frage, auf wie viele Arten acht (nicht unterscheidbare) Tennisbälle auf drei (unterscheidbare) Schubladen verteilt werden können, zielt auf das Urnenmodell in der Kombinatorik. Bei diesem Modell handelt es sich um ein wirksames Instrument zur Lösung von Zählproblemen, die – wie in diesem Fall – durch Enumeration, d.h. durch Abzählen und Auflisten, nicht oder nur sehr aufwendig zu lösen sind. Die Grundidee ist, das jeweilige Problem in ein Modell zu übersetzen, bei welchem aus einem Gefäss (einer Urne), das n (unterscheidbare) Kugeln enthält, k Kugeln gezogen werden. Eine mögliche Übersetzung für den hier gegeben Fall wäre die folgende: Aus einer Urne mit drei unterscheidbaren, d.h. bspw. nummerierten Kugeln, welche den drei Schubladen entsprechen, wird achtmal eine Kugel gezogen. Nach jedem Zug wird die Nummer der Kugel notiert, bevor sie zurück in die Urne gelegt und ein weiteres Mal eine Kugel gezogen wird. So erhält man schliesslich eine achtstellige Zahl, etwa 11322312, welche einer möglichen Verteilung der Kugeln entspricht – in diesem Fall lägen in der ersten Schublade drei, in der zweiten ebenfalls drei und in der dritten Schublade zwei Tennisbälle, was einer möglichen Verteilung der Bälle entspricht. Von den vier möglichen Fällen, die das Urnenmodell umfasst, handelt es sich also um eine „Kombination mit Wiederholung“ („Kombination“, da die Reihenfolge der gezogenen Kugeln nicht relevant ist, „mit Wiederholung“, da eine Kugel mehrfach gezogen bzw. eine Schublade mehr als einen Ball aufnehmen kann). Mit der entsprechenden Berechnungsformel lässt sich nun ermitteln, dass insgesamt 45 solcher Verteilungen möglich sind.

Die im ersten Moment harmlos klingende Frage beinhaltet zahlreiche zu bewältigende Schwierigkeiten.

Diese Überlegungen hätte der Prüfling wohl so oder so ähnlich in der Prüfung verbalisieren sollen. Dazu braucht es Ruhe und Zeit. Zunächst muss erkannt werden, in welchem Teilgebiet der Mathematik man sich befindet (Kombinatorik). Dann müssen die für die Fragestellung relevanten Inhalte dieses Teilgebiets identifiziert werden (vier Fälle des Urnenmodells), schliesslich müssen die gegebenen Informationen analysiert werden, um den entsprechenden Fall auswählen (Kombination mit Wiederholung) und die Berechnung durchführen zu können (45 Verteilungen). Es gibt zahlreiche Stellen, an denen man falsch abbiegen kann. So ist bspw. eine entscheidende Information, dass nämlich die Bälle nicht, die Schubladen aber sehr wohl unterscheidbar sind, vom Prüfer gar nicht genannt worden – eine zusätzliche Schwierigkeit. Dann wäre es naheliegend, nicht die Schubladen, sondern die Bälle in die Urne zu legen und diese nacheinander zu ziehen. Erst wenn man das Urnenmodell für diesen Fall durchdenkt, erkennt man, dass auf diese Weise jedoch nicht entschieden werden kann, welcher Ball in welche Schublade gelegt werden soll. Der Fehler liegt also nicht auf der Hand, ihn zu erkennen braucht wiederum Zeit. Schliesslich muss für die Berechnung auch noch die entsprechende Berechnungsformel, die nicht ohne weiteres herzuleiten ist, angewendet werden. Da die vier Formeln des Urnenmodells recht ähnlich sind, besteht hier die Gefahr, diese im Prüfungsstress durcheinander zu bringen. Kurzum: Die im ersten Moment harmlos klingende Frage beinhaltet zahlreiche zu bewältigende Schwierigkeiten.

Die Frage ist als Einstieg in eine Prüfung, zu der es keinerlei Vorbereitungszeit gab, schlichtweg ungeeignet.

Es kann keine Ruhe einkehren, der hektische Einstig zerstört schon zu Beginn eine angemessene Prüfungsatmosphäre.

Unter welchen Rahmenbedingungen wäre es für einen Prüfling möglich, den oben skizzierten Gedankengang in einer mündlichen Prüfung zu entwickeln, und welche alternativen Einstiege in die Prüfung sind denkbar, wenn kombinatorisches Wissen geprüft werden soll? Zum ersten beginnt die Prüfung völlig unvermittelt. Die Prüfungssituation ist noch gar nicht hergestellt, der Prüfling richtet sich noch ein, sitzt noch nicht am Tisch, als die erste Frage gestellt wird. Ein solcher Beginn vermindert die Objektivität der Prüfung, was auch für die Tatsache gilt, dass ein angemessenes Erstellen des Prüfungsprotokolls bei einer so hohen Fragedichte kaum möglich ist. Es kann keine Ruhe einkehren, der hektische Einstig zerstört schon zu Beginn eine angemessene Prüfungsatmosphäre. „Eile verdirbt alles“ (Wagenschein 1976, S. 106). Zum zweiten ist die Einstiegshürde fachlich gesehen sehr hoch: Bei dem Fall „Kombinatorik mit Wiederholung“ handelt es sich erfahrungsgemäss um den schwierigsten der vier Fälle des Urnenmodells. Möglicherweise, weil die Herleitung der entsprechenden Berechnungsformel im Gegensatz zu den übrigen drei Formeln einen schwer nachvollziehbaren, nur hier anwendbaren Trick beinhaltet,[1] vielleicht, weil es zunächst nicht naheliegend zu sein scheint, Schubladen statt Tennisbälle aus der Urne zu ziehen. Kurzum: Die Frage ist als Einstieg in eine Prüfung, zu der es keinerlei Vorbereitungszeit gab, schlichtweg ungeeignet.

Ist keine Vorbereitungszeit vorhanden, muss die Prüfung mit einer möglichst kleinen Hürde beginnen.

Kann der Prüfling die Frage beantworten, zeugt das nicht zwangsläufig von einem hohen Kenntnisstand, schlimmer: Kann sie oder er sie nicht beantworten, kann keineswegs gefolgert werden, dass die Kenntnisse im Bereich der Kombinatorik mangelhaft sind. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist daher mindestens dieser Teil der Prüfung, möglicherweise sogar die Prüfung in toto nicht valide. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, im Laufe der Prüfung – nicht zu Beginn – zu einer Frage wie der genannten zu kommen. Die erste Möglichkeit besteht in der Einrichtung einer ausreichenden Vorbereitungszeit, in welcher der Prüfling den oben skizzierten Lösungsweg entwickeln und mit mehr Ruhe durchdenken kann. Ist keine Vorbereitungszeit vorhanden, muss die Prüfung mit einer möglichst kleinen Hürde beginnen, etwa: „Mit welcher Art von Problemen beschäftigt sich die Kombinatorik?“ – „Ein wichtiges Modell in der Kombinatorik ist das Urnenmodell. Erläutern Sie dessen Grundidee.“ Oder: „Wählen Sie einen Fall des Urnenmodells aus und erläutern Sie diesen an einem selbstgewählten Beispiel“. Von diesen Fragen ausgehend kann, anschliessend an die Antworten des Prüflings, ein Gespräch entwickelt werden, bei welchem auch die Frage nach den Tennisbällen und den Schubladen angesprochen werden könnte, bei dem aber vor allem das Gebiet der Kombinatorik so durchstreift wird, dass am Ende das Wissen des Prüflings (und nicht dessen Nicht-Wissen) sichtbar werden kann, was sowohl der Validität als auch der Fairness zuträglich wäre.

 

„Es hat zwei Aufgaben. Lesen Sie mal und fangen Sie dann einfach an.“

Geprüft wird eine Abschlussklasse der FMS (Fachmaturitätsschule, die Abschlussprüfungen finden am Ende der 10. Klasse statt, der Abschluss entspricht in Deutschland der Mittleren Reife). Das Prüfungsarrangement sieht vor, dass die Prüflinge zu Beginn einer Prüfung zwei voneinander unabhängige Aufgaben – bei mindestens einer Aufgabe handelt es sich um eine reine Rechenaufgabe – erhalten, die sie vorher nicht kannten und auf die sie spontan reagieren müssen, da es keine Vorbereitungszeit gibt. Als Hilfsmittel zur Verfügung stehen eine Formelsammlung und ein Taschenrechner. Die Themen, die geprüft werden, sind per Zufallsprinzip auf die Prüflinge verteilt. Es geht ums lineare Gleichungssystem, um Prozentrechnung, den Satz des Pythagoras, Proportionalität, Kreisberechnung, lineare Funktionen sowie einfache Exponentialfunktionen. Jede Prüfung beginnt mit der Aushändigung des Prüfungsblatts, welches beide Aufgaben enthält. Der Prüfer kommentiert dies stets mit demselben Satz: „Es hat zwei Aufgaben. Lesen Sie beide mal durch und fangen Sie dann einfach an.“

Der Prüfer kommentiert: „Bis jetzt höre ich nur die Vögel zwitschern.“

Es folgt Stille. Für jede Prüfung ist eine Dauer von 15 Minuten vorgesehen. Mindestens die ersten zwei Minuten werden jedoch vom Prüfling dazu benötigt, beide Aufgaben zu lesen, Text und etwaige Graphiken zu verstehen, die Thematik einzuordnen, Lösungsansätze zu entwickeln. Dieser Prozess nimmt selbstredend einige Zeit in Anspruch, was der etwas ungeduldige Prüfer bisweilen mit Sätzen wie diesem kommentiert: „Bis jetzt höre ich nur die Vögel zwitschern.“ Nach einer ersten Orientierungsphase beginnen die Prüflinge damit, die Aufgabe zu lösen. Versuchen sie dies schweigend, werden sie vom Prüfer aufgefordert, „laut zu denken“. Meist versuchen die Prüflinge direkt, die Angaben aus der Aufgabe in eine Gleichung zu übersetzen. Dies ist sinnvoll, gelingt aber nicht immer problemfrei, so dass sich der Prüfer dazu angehalten sieht, auch jeden noch so kleinen Fehler, bspw. ein im Prüfungsstress vergessenes Vorzeichen, in einem sehr kleinschrittigen Gespräch vom Prüfling selbst entdecken und korrigieren zu lassen. Eine fehlerfreie und vom Prüfling korrekt notierte Rechnung am Ende der 15 Minuten scheint oberstes Ziel zu sein. Dazu verlangt der Prüfer sogar, Ausdrücke mit dem Taschenrechner auszurechnen („Tippen Sie es mal ein“) und auf zwei Nachkommastellen runden zu lassen. Dass die ungerundeten Ausdrücke das Resultat viel genauer angeben als die Dezimalzahlen, scheint für den Prüfer weniger Gewicht zu haben als die vermeintliche Kompetenz aufseiten des Prüflings, den Taschenrechner korrekt bedienen zu können.

Vorbereitungszeit würde dazu führen, dass die Prüfungszeit deutlich effizienter genutzt werden könnte.

Der Ablauf einer solchen Prüfung wirft eine Reihe von Fragen auf. So ist es bspw. unklar, warum es zu Beginn wichtig sein soll, dass die Prüflinge zwei Aufgaben direkt erhalten, wo doch nur mit einer begonnen werden kann. Es scheint, als solle dem Prüfling die Auswahl überlassen werden und die Reihenfolge der Bearbeitung nicht vom Prüfer selbst festgelegt werden. Dies entspricht dem Sachverhalt bei einer schriftlichen Prüfung, in welcher die Aufgaben prinzipiell in jeder beliebigen Reihenfolge bearbeitet werden können. Auch in einer mündlichen Prüfung kann dies aus psychologischen Gründen sinnvoll sein, sofern für eine angemessene Sichtung und Abwägung ausreichend Zeit zur Verfügung stünde. Dies ist jedoch nicht der Fall, was die nächste Frage aufwirft: Warum haben die Prüflinge keine Zeit, sich auf die Prüfung vorzubereiten? Es ist unklar, warum nicht jeder Prüfling zunächst 15 Minuten Zeit erhält, um die Aufgaben zu sichten, Lösungsansätze zu entwickeln, sich die geprüfte Thematik in Erinnerung zu rufen. Natürlich würde dies dazu führen,

Warum haben die Prüflinge keine Zeit, sich auf die Prüfung vorzubereiten?

dass die Prüfungszeit deutlich effizienter genutzt werden könnte: Die stillen Minuten zu Beginn würden entfallen, ein Lösungsansatz wäre schon entwickelt und könnte unmittelbar diskutiert werden, Zeit zum Nachschlagen von Formeln und dem Berechnen von Lösungen mit dem Taschenrechner entfiele, so dass insgesamt ein Teilgebiet geprüft werden könnte, das für das gesamte Gebiet oder gar die gesamte unterrichtete Mathematik deutlich repräsentativer wäre, als es in einem Arrangement ohne Vorbereitungszeit der Fall ist. Die Validität der Prüfung, deren Berücksichtigung primäres Ziel sein sollte, würde enorm steigen. Denn insgesamt stellt sich natürlich die grundlegende Frage, was ein Prüfling in einer Prüfung, die wie oben geschildert abläuft, eigentlich zeigen konnte, was er hätte zeigen können und was genau geprüft worden ist. Wie ist es bspw. zu bewerten, wenn ein Schüler es schafft, im gesamten ersten, fast zehn Minuten dauernden Teil der Prüfung nur den Umfang eines Halbkreises mit dem Radius  zu berechnen? Sollte die Tatsache, dass am Ende eine korrekte, auf zwei Nachkommastellen gerundete Lösung auf dem Blatt steht, nicht in Relation gesetzt

werden mit dem Sachverhalt, dass das Entwickeln dieser sehr simplen Rechnung rund zehn Minuten in Anspruch genommen hat? Die Grundfragen der Thematik wurden damit nicht berührt, stattdessen wurde ein so kleiner, noch dazu recht unbedeutender Ausschnitt des Themas Kreisberechnung behandelt, dass eine Aussage darüber, ob und wenn ja, inwieweit der Schüler sich in dieser Thematik bewegen kann, eigentlich nicht getroffen werden kann. Die Validität der Prüfung steht damit massiv infrage und die Bewertung einer solchen Prüfung wird zu einem gewaltigen Problem.

 

„Ich habe für Sie das Thema X ausgesucht. Wollen Sie mal starten?“

Die zu prüfende Maturklasse besteht aus 22 Schülerinnen und Schülern. Sie haben keine Vorbereitungszeit, haben keinerlei Schwerpunkte für die Prüfung wählen können, „sie müssen alles können und mit allem rechnen“, kommentiert der Prüfer vor Beginn der ersten 15-minütigen Prüfung das Arrangement lakonisch. Ich fühle mich erinnert an einen meiner alten Chemie-Professoren aus dem Studium, der vor einer Prüfung auf die Bitte nach einer etwas konkreteren Angabe der Lernziele folgendermassen reagierte: „Lernen Sie alles, vergessen Sie nichts.“

Die Unterbrechung ist nur dann logisch, wenn der Prüfer eine ganz konkrete Sache im Kopf hat, auf die er hinaus möchte.

Die erste Prüfung startet nach einer kurzen Begrüssung, als alle Platz genommen haben. Sie wird eröffnet mit der Frage: „Ich habe für Sie das Thema Integralrechnung ausgesucht. Wollen Sie mal starten?“ Die Schülerin beginnt: „In der Integralrechnung geht es um Flächen –“, kann den Satz aber nicht vervollständigen, da sie vom Prüfer unterbrochen wird: „Um was für Flächen? Etwas genauer bitte.“ Sie kontert: „Um Flächen unter Kurven.“ – „Jetzt aber mal konkret“, fordert der Prüfer auf, als sei bisher schon sehr viel Unkonkretes geäussert worden. Unklar bleibt daher, an welcher Stelle der von der Schülerin geäusserte Halbsatz nun konkretisiert werden soll. Der spontane Antwortversuch der Schülerin wird nach nur wenigen Worten vom Prüfer unterbrochen – wie hätte sie antworten sollen, um nicht unterbrochen zu werden? Die Unterbrechung ist nur dann logisch, wenn der Prüfer eine ganz konkrete Sache im Kopf hat, auf die er hinaus möchte, einen bestimmten Teilbereich, ein Stichwort, und er schon nach nur sieben Wörtern bemerkt, dass dieses Ziel nicht erreichbar ist. Das Thema Integralrechnung ist allerdings so gross, dass es als äusserst unwahrscheinlich erscheint, als dass der Prüfling hier auf Anhieb das richtige Stichwort liefern wird. In jedem Fall ist die Unterbrechung zu einem derart frühen Zeitpunkt psychologisch äusserst ungeschickt, und sie ist auch fachlich nicht zu rechtfertigen, der Antwortversuch der Schülerin war nämlich durchaus vielversprechend. Zudem: Wenn die Prüfung doch in Wahrheit gar nicht so offen ablaufen wird, wie die Eröffnungsfrage suggeriert, und stattdessen auf einen ganz bestimmten Sachverhalt hinauslaufen soll, warum beginnt die Prüfung dann nicht gleich mit diesem?

Die Reliabilität der Einstiegsfrage steht massiv infrage, da eine unüberblickbare Vielzahl an Antworten möglich ist – wie soll man das bewerten?

Kein Prüfling kann auch nur einen vollständigen Gedanken formulieren, ohne unterbrochen zu werden.

Die erwähnte Eröffnungsfrage gehört an diesem Tag zum festen Ritual einer jeden Prüfung. Immer ist dies der erste Satz: „Ich habe für Sie das Thema X [Integralrechnung, Kombinatorik, Folgen und Reihen, Trigonometrie usf.] ausgesucht. Wollen Sie mal starten?“ Benevolent könnte man konstatieren, dass diese Art der Eröffnung eine völlige Offenheit signalisiert. Das Gebiet, über das nun gesprochen werden soll, möge vom Prüfling doch erst einmal oberflächlich beschritten werden. Es wäre aber auch möglich, sofort eine Besonderheit oder eine Verbindung zu einer anderen Thematik zu erwähnen und über diese zu sprechen, ebenso könnte ein eigenes Beispiel konstruiert werden, welches etwas Wesentliches des entsprechenden Themas illustriert – die Formulierung „wollen Sie mal starten“ würde wörtlich verstanden gar eine Verneinung samt Bitte zulassen, das Themengebiet zu wechseln: „Nein, lieber nicht dieses Thema, ich würde lieber über Y reden.“ In jedem Fall wird augenscheinlich die Steuerung der Prüfung in die Hände des Prüflings gelegt. Das ist sicherlich gut gemeint, doch der Volksmund weiss, dass „gut gemeint“ in der Regel das Gegenteil von „gut“ ist. Die Reliabilität der Einstiegsfrage steht massiv infrage, da eine unüberblickbare Vielzahl an Antworten möglich ist – wie soll man das bewerten? In diesem konkreten Fall kann der Prüfer zudem das anfängliche Versprechen eines offenen Einstiegs in die Prüfung kein einziges Mal einhalten. Denn er hat bei dieser Frage immer schon einen konkreten Sachverhalt im Kopf, über den er gerne sprechen möchte. Dies führt dazu, dass der erste Teil eines Antwortversuchs unmittelbar unterbrochen wird, wenn dieser nicht in die gewünschte aber vom Prüfling nicht vorhersehbare Richtung geht. Das gelingt eigentlich nie, so dass jeder Prüfling nach meist nur einem halben Satz mit weiteren Fragen konfrontiert wird. Kein Prüfling kann auch nur einen vollständigen Gedanken formulieren, ohne unterbrochen zu werden. Es ist eine bekannte Faustregel für Interviews jeglicher Art: Je konkreter die Frage, desto konkreter die Antwort. Umgekehrt heisst dies, dass eine offene Frage immer nur unkonkret beantwortet werden kann, da man sich für eine Antwort entscheiden muss und immer unendlich viele andere Dinge nicht gesagt werden können. Gerade dieser Umstand macht das Beantworten einer offenen Frage auch zu einer anspruchsvollen Aufgabe, insb. dann, wenn seitens des Prüfers ohnehin eine spezielle Antwort gewollt ist und eigentlich kein echtes Interesse an der Antwort besteht. Die Chance, dass die gegebene Antwort die Prüfung in die vom Prüfer intendierte Richtung lenkt, ist verschwindend gering.

Natürlich kann eine Prüfung durchaus mit einer offenen Frage beginnen. Dies setzt allerdings zwei Dinge voraus: erstens ein ehrliches Interesse an der gegebenen Antwort, auf der das weitere Prüfungsgespräch aufbauen soll, und zweitens das Vorhandensein von weniger Prüfungsdruck und ausreichend Zeit.

Abermals fragen wir nach möglichen alternativen Prüfungsarrangements: In einer Pause konfrontiere ich den Prüfer mit meiner Beobachtung und bringe die Option ein, die erste, offene Frage auszulassen und stattdessen mit einer sehr viel konkreteren Frage zu beginnen, immerhin wisse er doch schon, auf welchen konkreten Sachverhalt die Prüfung hinauslaufen solle. Der Kern der Prüfung stehe doch bereits fest, warum diesen also nicht gleich zu Beginn offenlegen? Der Prüfer ist nicht überzeugt und bleibt bei seiner Art, die Prüfungen zu beginnen. Und natürlich kann eine Prüfung durchaus mit einer offenen Frage beginnen. Dies setzt allerdings zwei Dinge voraus: erstens ein ehrliches Interesse an der gegebenen Antwort, auf der das weitere Prüfungsgespräch aufbauen soll, und zweitens das Vorhandensein von weniger Prüfungsdruck und ausreichend Zeit. D.h. dass auch in diesem Fall das Einrichten einer Vorbereitungszeit die Validität der Prüfung steigern könnte, was darüber hinaus auch aus pädagogischen und psychologischen Gründen sinnvoll wäre. Denn eine Frage wie die folgende unvorbereitet und zufriedenstellend zu beantworten, dürfte auch für viele Mathematik-Lehrpersonen eine Herausforderung sein: „Erläutern Sie den Kern der Integralrechnung an einem geeigneten Beispiel.“

Kernprobleme

  • Fehlende Übung der Prüfenden

Die gesetzlichen und schulischen Vorgaben zur Abnahme mündlicher Prüfungen legen die vor allem juristisch relevanten Rahmenbedingungen fest. Werden diese eingehalten, wird die Chance eines etwaigen Rekurses seitens des Prüflings minimiert. Dieser Fakt ist daher insb. für die Prüfenden und die Prüfungsleiter, d.h. in der Regel die Schulleiter, ein entscheidendes Kriterium, es ist aber kein pädagogisches. Denn das Ziel einer fairen und gerechten Prüfung ist damit bei weitem noch nicht erreicht, wie die drei Beispiele im vorhergehenden Abschnitt zeigen: Alle drei haben die jeweils gegebenen Rahmenbedingungen berücksichtigt.

Es ist nichts anderes als eine Zumutung, dass eine Schülerin, ein Schüler, nur ein einziges Mal in ihrem bzw. seinem Schulleben eine mündliche Mathematikprüfung ablegen muss, bei der es sich auch noch um die Abschlussprüfung handelt.

Insb. in den Sprachfächern ist das Durchführen mündlicher Prüfungen eine Selbstverständlichkeit. Lehrpersonen, die regelmässig mündliche Prüfungen abnehmen, befassen sich praktisch ununterbrochen mit den Schwierigkeiten und Chancen dieser Prüfungsart. Gleichzeitig ist eine mündliche Matur- bzw. Abiturprüfung für die Prüflinge in diesen Fächern schlichtweg eine weitere mündliche Prüfung, wenngleich ihre Bedeutung im Vergleich zu einer regulären Prüfung im laufenden Schuljahr natürlich höher einzuschätzen ist. In Mathematik verhält es sich jedoch völlig anders: Mündliche Prüfungen stellen hier eine grosse Ausnahme dar. Es ist nichts anderes als eine Zumutung, dass eine Schülerin, ein Schüler, nur ein einziges Mal in ihrem bzw. seinem Schulleben eine mündliche Mathematikprüfung ablegen muss, bei der es sich auch noch um die Abschlussprüfung handelt. Dies zu betonen scheint redundant, aber es ist der bedauerliche Normalfall.

Dabei ist es Mathematiklehrpersonen nicht untersagt, auch im regulären Unterricht gewisse Themengebiete mündlich zu prüfen. Auch besteht die Möglichkeit, die Schülerinnen und Schüler wählen zu lassen, ob sie zu einem bestimmten Thema entweder mündlich oder schriftlich geprüft werden möchten. Beides geschieht allerdings höchst selten. Die klassische schriftliche Prüfung am Ende eines Themas ist nach wie vor der Normalfall. Daher ist es auch nur folgerichtig, dass sich Lehrpersonen, die – sofern sie eine Abschlussklasse unterrichten – nur einmal im Schuljahr eine mündliche Prüfung abnehmen, mit den Gütekriterien mündlicher Prüfungen kaum auseinandersetzen. Der Bedarf fehlt. Dies generiert nun aber offenkundig einen entsprechenden Weiterbildungsbedarf.

  • Fehlende Vorbereitungszeit für die Geprüften

Ausgehend von der Annahme, dass Fairness das anzustrebende Ideal einer jeden Leistungsüberprüfung ist, dass diese eine gerechte Beurteilung von Lernerfolgen zum Ziel hat und dass auch eine mündliche Prüfung die Leistung der Geprüften gültig, zuverlässig und objektiv abbilden muss, stellt sich die Frage, ob die Einrichtung einer Vorbereitungszeit auch bei einer mündlichen Maturprüfung hilfreich sein könnte. Dass dies im Fach Mathematik in der Schweiz nicht der Normalfall ist – in anderen Fächern ist die Vorbereitungszeit sakrosankt, in Deutschland auch in Mathematik sogar gesetzlich vorgeschrieben – ist oben bereits angesprochen worden. Doch gibt es auch inhaltliche Argumente?

Die Note ist nicht Kern der Prüfung, sie ist deren numerisches Resultat, das am Ende ermittelt werden muss, ob man will oder nicht. Eigentlich geht es um etwas anderes: Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Objektivität und damit zusammenhängend Fairness, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung.

Wenn sich ein Prüfling 15 oder 20 Minuten lang auf eine mündliche Prüfung vorbereiten kann, minimiert dies den Prüfungsstress, sofern die ihm gestellten Aufgaben klar formuliert sind, deren Anzahl insgesamt nicht zu hoch ist und mindestens die Einstiegsaufgabe ein niedriges bis mittleres Schwierigkeitsniveau hat. Der Prüfling hat Zeit, sich auf das Fach und das entsprechende Teilgebiet einzulassen, kann in der Formelsammlung blättern und gewisse Schwerpunkte rekapitulieren. Die Prüfung kann mit der Darlegung seiner Überlegungen beginnen, er kann, sofern die Aufgabenstellung dies zulässt, die Schwerpunkte selbst setzen, indem er bspw. mit eigenen Beispielen einen Sachverhalt erläutert, die ihrerseits anschlussfähig sind für das weitere Prüfungsgespräch. Die Validität der Prüfung steigt. Natürlich bleibt die Leitung der Prüfung in den Händen der prüfenden Lehrperson, wenngleich das Führen eines solchen Prüfungsgesprächs anspruchsvoller sein dürfte als die Durchführung einer Prüfung mit mehrheitlich abfragendem Charakter. Ein häufiges Gegenargument ist, dass im Gegenteil die Vorbereitungszeit den Prüfungsstress erhöhen könnte, wenn bspw. die Aufgabenstellung vom Prüfling nicht oder nur unzureichend verstanden wird. Diese Gefahr besteht zweifelsfrei, jedoch wäre in einem solchen Fall auch die Aufgabenstellung nicht unschuldig, da möglicherweise die Einstiegshürde zu hoch ist. Ein Auftrag wie „beschreiben Sie das Diagramm“ – nicht: „interpretieren Sie“ – darf einen Maturanden, eine Maturandin nicht überfordern. Die Einstiegsaufgabe muss immer so formuliert sein, dass sie von jedem Prüfling in der Vorbereitungszeit verstanden und bearbeitet werden kann. Ein weiteres Gegenargument könnte sein, dass es keine Evidenz dafür gibt, dass die Prüfungen durch die Einrichtung einer Vorbereitungszeit besser würden. Das könnte tatsächlich sein, doch geht dieses Argument am Kern der Sache vorbei. Denn die Beurteilung steht nicht im Zentrum. Die Note ist nicht Kern der Prüfung, sie ist deren numerisches Resultat, das am Ende ermittelt werden muss, ob man will oder nicht. Eigentlich geht es um etwas anderes: Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Objektivität und damit zusammenhängend Fairness, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung. Diese Dinge werden durch den Verzicht auf eine Vorbereitungszeit praktisch ignoriert, der Fokus liegt dann vor allem auf dem Resultat sowie der scheinbar bequemeren Prüfungsvorbereitung und -durchführung. Das Ideal Fairness rückt in weite Ferne.

Ausblick

Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass der Schreibende in den rund 250 Maturprüfungen, die er als Experte begleiten durfte, sowie in den rund 120 Diplomprüfungen, auch sehr gelungene Prüfungen beobachten konnte: Eine Lehrerin etwa, welche die wichtigsten Fragestellungen wie in einem Leitfadeninterview notiert hatte und diese dem Prüfling im Verlauf des Prüfungsgesprächs vorlegte, so dass sich auf Basis dieser Fragen ein angenehmes, fast schon lockeres und doch ernstes Gespräch entwickeln konnte. Der Prüfling konnte zeigen, was er wusste, die Lehrerin reagierte behutsam auf die Äusserungen, korrigierte nur, wo es unbedingt nötig war und brachte von Zeit zu Zeit einen neuen Aspekt in das Thema ein. Diese Art der Prüfung gelang sowohl bei den starken als auch bei den eher schwachen Prüflingen, weil das Niveau der Prüfungen diesen entsprach und bei Bedarf im Verlauf des Gesprächs angepasst wurde, was pädagogisch und psychologisch in hohem Masse sinnvoll ist. Bei der Bewertung orientierte sie sich an einem Raster der erwartbaren Antworten, welches sie für jede Prüfung vorbereitet hatte. Es gibt alles in allem keine Gründe daran zu zweifeln, dass diese Prüfungen gültig, zuverlässig und objektiv durchgeführt wurden.

Hoffnung macht das Projekt „Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität“ (WEGM).

Sicherlich gibt es weitere gelingende Prüfungskonzepte, die an der ein oder anderen Schule von diversen Lehrpersonen im Fach Mathematik durchgeführt werden. Das mit grossem Abstand am häufigsten anzutreffende Konzept ist hingegen das oben beschriebene, welches nicht selten zu Entwicklungen führt, die in den drei Erfahrungsberichten angesprochen wurden und in höchstem Masse zu kritisieren sind. Eine Abkehr von dieser Art der Maturprüfungen im Fach Mathematik scheint aus vielerlei Gründen angezeigt.

Hoffnung macht das Projekt „Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität“ (WEGM), welches in der Schweiz 2018 angelaufen ist und sich bis Ende September 2022 in der Vernehmlassung befindet. Gegenstand der Vernehmlassung ist der Revisionsentwurf der Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (Maturitäts-Anerkennungsverordnung, MAV) vom 15. Februar 1995 und der Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) über die Anerkennung von Maturitätszeugnissen vom 16. Januar/15. Februar 1995. Die existierenden Vorlagen sehen eine Reihe von teils radikalen Reformen vor, sie betreffen u.a. eine Erweiterung des Fächerkatalogs, eine Erweiterung der Maturprüfungsfächer, eine mögliche Anpassung der Bestehensnorm, die Einführung einer Prüfung zur „Zulassung zur Maturität“ – insgesamt erscheinen die Vorschläge eine noch stärkere Atomisierung der Bildung zu begünstigen.[2] Eine zukunftsweisende Weiterentwicklung dürfte anders aussehen. Die Prüfungsform etwa wird nicht angesprochen. Weder wird die Möglichkeit diskutiert, bestimmte Fächer schriftlich oder mündlich zu prüfen, noch gibt es Überlegungen bzgl. der Rahmenbedingungen zur Durchführung mündlicher Prüfungen an sich. Vielleicht sollen Entscheidungen wie diese ja auch in die Hoheit der Kantone gelegt werden. Die Hoffnung stirbt bekanntermassen zuletzt – aber sie stirbt.

 

 

[1] „An idea which can be used only once is a trick. If you can use it more than once it becomes a method.” (Polyà/Szegö 1972, viii)

[2] Bei der genauen Lektüre der vorgeschlagenen Änderungen fühlt man sich erinnert an eine Passage aus dem Bericht „A Nation at Risk“ (ANAR; 1989), der in den USA als Antwort auf die Ende der 1980er Jahre immer lauter werdenden Rufe nach einer umfassenden Schulreform geschrieben worden ist. Er fasst die damalige Situation knapp, prägnant und gut verständlich zusammen und gilt heute als Beginn der standardbasierten Schulreform (vgl. Gerwig 2017). Die in dem Bericht vorgeschlagenen Massnahmen waren allerdings vor allem pädagogischer Natur, die mit den später tatsächlich umgesetzten und in dem Gesetz „No Child Left Behind“ (2001) festgeschriebenen Massnahmen, die auch die Schulentwicklungen in Deutschland und der Schweiz massiv beeinflussten, nur noch wenig zu tun haben. In ANAR heisst es: „Secondary school curricula have been homogenized, diluted, and diffused to the point, that they no longer have a central purpose. In effect, we have a cafeteria-style curriculum in which the appetizers and desserts can easily be mistaken for the main courses.“ (NCEE 1983, S. 18)

 

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Der Basler Gymnasiallehrer Dr. Mario Gerwig hat 250 mündliche Mathematikprüfungen abgenommen, eine nicht unerhebliche Stichprobengrösse. Seinen Erfahrungen als Prüfungsexperte fliessen in den Beitrag, der für Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Objektivität und damit zusammenhängend Fairness, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung plädiert. Und er zeigt einige Schwachstellen der gegenwärtigen Praxis auf. Aufgrund der Länge des Beitrags veröffentlichen wir ihn in zwei Teilen. In diesem ersten Teil geht es um die Analyse der rechtlichen und pädagogischen Rahmenbedingungen der mündlichen Maturprüfung.

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Einführung

Im folgenden Beitrag soll die innere Logik mündlicher Prüfungen im Fach Mathematik mit dem Fokus auf die schweizerische Maturprüfung untersucht werden. Meine Ausführungen gründen dabei auf einer vor allem anekdotischen und weniger empirischen Basis. Doch auch wenn bekanntermassen «Daten» nicht der Plural von Anekdote ist, so ist die Stichprobengrösse, die meiner Analyse zugrunde liegt, nicht unerheblich: Seit elf Jahren unterrichte ich an einem Balser Gymnasium Mathematik und – in einem erheblich geringeren Umfang – Chemie. In dieser Zeit habe ich rund 250 Maturprüfungen (alle in Mathematik) abgenommen. Daneben bin ich seit sieben Jahren als Experte[1] für Mathematik an verschiedenen Gymnasien und Fachmaturitätsschulen (FMS) in unterschiedlichen Schweizer Kantonen im Einsatz und habe damit etwa ebenso viele Prüfungen bei über einem Dutzend verschiedener Prüferinnen und Prüfer begleiten und protokollieren können. Hinzu kommt meine Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Luzern, wo ich als Experte für Allgemeine Didaktik und Pädagogische Psychologie bei den Diplomprüfungen in den Bildungs- und Sozialwissenschaften in den letzten sechs Jahren rund 120 Prüfungen begleitet habe.

Es wird sich zeigen, dass ein solcher Versuch äusserst notwendig ist.

Zweifelsfrei gibt es Lehrpersonen und Experten bzw. Expertinnen, die in ihrer Berufskarriere mehr Prüfungen abgenommen bzw. begleitet haben. Gleichwohl scheinen mir 250 eigene und 250 beobachtete Maturitäts- und FMS-Prüfungen sowie 120 Diplomprüfungen eine ausreichende Basis für den Versuch zu sein, die innere Logik einer Abschlussprüfung im Fach Mathematik zu rekonstruieren und sie damit an den pädagogischen Ansprüchen, die an eine mündliche Prüfung gestellt werden, zu messen. Es wird sich zeigen, dass ein solcher Versuch äusserst notwendig ist.

 

Dr. Mario Gerwig, Jg. 1984, ist seit 2011 Lehrer für Mathematik und Chemie am Gymnasium Leonhard Basel. Er ist Schulbuchautor und Länderberater (Mathematik Neue Wege, Westermann Schweiz) sowie Experte für Maturprüfungen in Mathematik (Kantone BS und BL) und Diplomprüfungen in den Bildungs- und Sozialwissenschaften (PH Luzern). 2021 erschien das Buch Der Satz des Pythagoras in 365 Beweisen (Springer Spektrum, Berlin).

 

Pädagogische und rechtliche Voraussetzungen einer mündlichen (Matur-)Prüfung

  1. Gütekriterien mündlicher Prüfungen

Das anzustrebende Ideal einer jeden Leistungsüberprüfung sollte maximale Fairness sein, abzielen sollte sie auf die gerechte Beurteilung von Lernerfolgen. Das bedeutet, dass Prüfungen jeglicher Art die Leistung der Geprüften gültig, zuverlässig und objektiv abbilden sollten. Es geht also im Kern immer darum, Beurteilungsfehler zu vermeiden, was insbesondere bei mündlichen Prüfungen schwieriger umzusetzen ist, als es zunächst erscheinen mag. Denn Urteilsverzerrungen und Fehlschlüsse sind menschlich, der interaktive Echtzeitcharakter und der damit einhergehende Handlungsdruck sind eine besondere Herausforderung. Gleichzeitig liegt die Vermeidung mancher Fehler nicht in der Hand des Prüfers, was insb. individuelle Faktoren der Beurteilten wie den Einfluss der Tagesform oder mögliche externe Störfaktoren im Prüfungsumfeld betrifft. Andere Fehler hingegen sind vermeidbar.

Als Prüfer und Prüferin muss man sich der möglichen Fehlerquellen bewusst sein, um sie vermeiden zu können.

Von besonderer Bedeutung bei mündlichen Prüfungen sind (vgl. Bohl 2009) der Sozialgruppeneffekt (Sprache der Aufgabenstellung wird von bestimmten Personengruppen schlechter verstanden), der Nähe-Fehler (Prüfungen nach einer schwachen Prüfung werden tendenziell zu gut bewertet und andersherum), der Reihungsfehler (mehrere Prüfungen nacheinander dienen als Referenzpunkte, obwohl sie unabhängig voneinander beurteilt werden sollten) und der Wissen-um-die-Folgen-Fehler (wenn die möglichen Konsequenzen einer Bewertung bekannt sind, bspw. das Nichtbestehen der Maturität bzw. des Abiturs, wird eine Prüfung oft milder beurteilt). Als Prüfer und Prüferin muss man sich der möglichen Fehlerquellen bewusst sein, um sie vermeiden zu können. Dazu ist es hilfreich und sinnvoll, sich an den Gütekriterien der Validität, Reliabilität und Objektivität einer Leistungsbeurteilung zu orientieren, denn die Wahrscheinlichkeit sinkt, einen der genannten Fehler zu begehen, je besser diese eingehalten werden. Die Erfahrungsberichte im folgenden Kapitel zeigen, zu welchen Auswüchsen es in mündlichen Prüfungen kommen kann, wenn gegen eines oder mehrere der Gütekriterien in beträchtlichem Masse verstossen wird.

Prüfungen jeglicher Art sollten die Leistung der Geprüften gültig, zuverlässig und objektiv abbilden.

Die Validität einer Prüfung ist dann gegeben, wenn das, was überprüft werden soll, auch tatsächlich überprüft wird. Dies ist deshalb eine besondere Herausforderung, weil etwa eine bestimmte Fähigkeit meist nicht direkt zu beobachten ist. Soll bspw. überprüft werden, ob ein Schüler das Urnenmodell der Kombinatorik verstanden hat, müssen Annahmen darüber getroffen werden, woran sich dieses „Verstehen“ festmachen lässt. Das Anwenden einer der vier Fälle des Modells auf ein bestimmtes, vorgegebenes Beispiel (vgl. den ersten Erfahrungsbericht des folgenden Abschnitts), vermag eine solche Feststellung sicherlich noch nicht rechtfertigen. Gelingt es dem Schüler hingegen, das Konzept mit eigenen Worten zu erläutern und an einem Beispiel zu illustrieren, kann eher davon ausgegangen werden, dass das Konzept weitreichend verstanden ist. Entscheidend für die Validität sind daher gut begründete Annahmen, in diesem Fall läge der Bewertung die Annahme zugrunde, dass ein Sachverhalt nur dann mit eigenen Worten wiedergegeben werden kann, wenn er auch verstanden wurde. Wird hingegen eine einzige Beispielrechnung korrekt notiert, kann davon noch nicht zwangsläufig ausgegangen werden. Wir werden bei den im folgenden Abschnitt dargestellten Erfahrungsberichten sehen, dass insb. die Validität einer Prüfung häufig ein Problem darstellt.

Die Prüfung muss stets sorgfältig zusammengesetzt sein. Aufgaben mit einem mittleren Schwierigkeitsindex ergeben in der Regel eine höhere Reliabilität der Prüfung, daher empfiehlt es sich, nicht eine zu grosse Anzahl Aufgaben hoher Schwierigkeit einzubauen.

In einer mündlichen Prüfung sollte es vor allem darum gehen, im Prüfungsgespräch auf die Äusserungen des Prüflings einzugehen und einen bestimmten Sachverhalt zu diskutieren.

Die Reliabilität einer Prüfung ist dann gegeben, wenn ein Messinstrument, bspw. eine Aufgabe, bei wiederholter Anwendung dieselben Resultate liefert. Dieses Gütekriterium ist nicht ohne weiteres einzuhalten, denn dazu müssten eigentlich die eingesetzten Aufgaben im Vorfeld der Prüfung untersucht werden, was statistisch aufwendig und für eine Lehrperson im Rahmen einer mündlichen Abschlussprüfung schlichtweg nicht zu leisten ist. Aus theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen ergeben sich jedoch einige Heuristiken, mit deren Hilfe eine mündliche Prüfung möglichst reliabel erstellt und durchgeführt werden kann (vgl. Lienert/Raatz 1998): Die Prüfung muss stets sorgfältig zusammengesetzt sein. Aufgaben mit einem mittleren Schwierigkeitsindex ergeben in der Regel eine höhere Reliabilität der Prüfung, daher empfiehlt es sich, nicht eine zu grosse Anzahl Aufgaben hoher Schwierigkeit einzubauen. Zufallsabhängige Aufgaben, insb. Multiple-Choice-Aufgaben mit nur zwei Antwortalternativen, vermindern die Reliabilität. In einer mündlichen Prüfung sollte es nun aber vor allem darum gehen, im Prüfungsgespräch auf die Äusserungen des Prüflings einzugehen und einen bestimmten Sachverhalt zu diskutieren. Um die Reliabilität zu steigern ist es dennoch sinnvoll, zentrale Fragen, welche das Prüfungsgespräch leiten und strukturieren, schriftlich vorzubereiten. Am wirksamsten verbessert man die Reliabilität über die Länge einer Prüfung, denn durch das Hinzufügen von Fragen kann diese erhöht werden. Dabei kann im Sinne der Ökonomie einer Prüfung diese natürlich nicht unbegrenzt verlängert werden, zumal diesbzgl. strikte Rahmenbedingungen einzuhalten sind. Doch wenn bspw. eine Prüfung schon bei einer ersten, eher einfachen Einstiegsaufgabe stecken bleibt, sind grosse Zweifel bzgl. der Reliabilität (und damit auch bzgl. der Validität) angezeigt, auch wenn diese Anfangsaufgabe am Ende korrekt gelöst werden sollte (vgl. den zweiten Erfahrungsbericht im folgenden Kapitel).

Eine nicht-objektive Prüfung ist niemals reliabel oder valide, eine nicht-reliable Prüfung kann objektiv sein, ist aber niemals valide. Gleichzeitig ist eine objektive und reliable Prüfung nicht zwangsläufig valide.

Die Objektivität einer Prüfung ist dann gegeben, wenn verschiedene Massnahmen angewendet werden, um den Prüfungsprozess zu standardisieren und damit Ursachen für Messfehler zu reduzieren. Dazu gehört bspw. das Herstellen einer Atmosphäre, die eine konzentrierte und gleichzeitig entspannte Prüfung ermöglicht, das Einrichten einer Sitzordnung, bei der man nicht zu weit auseinander- aber auch nicht zu nah beieinandersitzt sowie eine ruhige und optimistische Ansprache, wenn man die Prüflinge begrüsst, sie in den Raum hineinbittet und das Prozedere der Prüfung erläutert. Die Objektivität leidet deutlich, wenn (vgl. den ersten Erfahrungsbericht im folgenden Kapitel) der Prüfling kaum begrüsst und stattdessen schon die erste Frage gestellt bekommt, wenn dieser noch nicht einmal seinen Platz eingenommen hat. Natürlich steht in einem solchen Fall auch die Validität infrage, da ein solcher Beginn zu Prüfungsstress führt und der Prüfling seine eigentliche Leistung möglicherweise nicht mehr abrufen kann. Zur Steigerung der Objektivität ist es zudem empfehlenswert, die Leistungsmessung von der Leistungsbeurteilung zu trennen. Nach einer Prüfung könnten dazu anhand eines Kriterienrasters zunächst Punkte vergeben werden, bevor darauf basierend eine Note ermittelt wird. Die Objektivität steigt zudem deutlich, wenn die Prüfung möglichst von einer externen Fachperson protokolliert wird, die ihrerseits ebenfalls die Prüfung beurteilt (in der Schweiz fällt diese Aufgabe dem Experten bzw. der Expertin zu). So können etwaige Unterschiede im Anschluss diskutiert und eine gemeinsame Bewertung unter Einbezug des Protokolls argumentativ ausgehandelt werden.

Die Gütekriterien der klassischen Testtheorie können ein sinnvolles Orientierungsraster sein, um eine Prüfung möglichst fair und gerecht zu gestalten.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Gütekriterien der klassischen Testtheorie ein sinnvolles Orientierungsraster sein können, um eine Prüfung möglichst fair und gerecht zu gestalten, d.h. um eine gültige, zuverlässige und objektive Leistungsmessung zu realisieren. Die Validität einer Prüfung ist dabei primäres Ziel. Für diese ist die Reliabilität der Beurteilung eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Objektivität schliesslich ist eine notwendige, aber ebenfalls nicht hinreichende Bedingung für eine reliable Prüfung. Mit anderen Worten: Eine nicht-objektive Prüfung ist niemals reliabel oder valide, eine nicht-reliable Prüfung kann objektiv sein, ist aber niemals valide. Gleichzeitig ist eine objektive und reliable Prüfung nicht zwangsläufig valide. Es ist daher entscheidend, das Zusammenspiel der Kriterien zu beachten und für die möglichst gute Einhaltung alle drei Gütekriterien zu sorgen.

 

2. EDK und KMK

Die rechtlichen Grundlagen für die schulischen Abschlussprüfungen in Deutschland und der Schweiz verweisen ihrerseits nicht auf die oben genannten Gütekriterien. Sie legen kaum inhaltliche Massstäbe fest, definieren dafür unterschiedlich streng die einzuhaltenden Rahmenbedingungen.

Die etwaige Einrichtung einer Vorbereitungszeit direkt vor der mündlichen Prüfung ist nicht einheitlich geregelt und kann zwischen den Kantonen, sogar zwischen einzelnen Schulen und Fächern und bisweilen sogar innerhalb einer Fachgruppe variieren.

In der Schweiz wird dies in der durch den schweizerischen Bundesrat in Kraft gesetzte „Verordnung über die schweizerische Maturitätsprüfung“ vom 7. Dezember 1998 geregelt. Sie legt u.a. die Zuständigkeiten fest (Art. 2), skizziert den Prüfungszweck (Art. 8), definiert Richtlinien (Art. 10) und bestimmt die Prüfungsfächer (Art. 14). Über die Prüfungsart informiert Art. 18, in dem es heisst: „In den Grundlagenfächern (…) und Mathematik (…) wird schriftlich und mündlich geprüft“ (EDK 1998, S. 1420). Mündliche Mathematikprüfungen im Rahmen der schweizerischen Maturität sind somit obligatorisch. Die konkrete Ausgestaltung wird jeweils von den Kantonen festgelegt, in der Regel dauern die schriftlichen Prüfungen zwischen drei und vier Stunden, die mündlichen Prüfungen mindestens 15 und höchstens 20 Minuten. Die etwaige Einrichtung einer Vorbereitungszeit direkt vor der mündlichen Prüfung ist nicht einheitlich geregelt und kann zwischen den Kantonen, sogar zwischen einzelnen Schulen und Fächern und bisweilen sogar innerhalb einer Fachgruppe variieren. Ist eine Vorbereitungszeit in aller Regel bei Prüfungsfächern wie Deutsch, Spanisch oder Französisch eine Selbstverständlichkeit, so ist es andersherum ebenso selbstverständlich, dass die mündlichen Maturprüfungen in Mathematik ohne eine solche abzulegen sind. Es sei angemerkt, dass es schwierig sein dürfte, eine pädagogische Begründung für diesen Umstand vorzubringen.

In Deutschland regelt die „Vereinbarung über die Abiturprüfung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“ die Organisation der Abiturprüfungen. Auch hier wird u.a. ein Rahmen für die mündlichen (§7) und schriftlichen Prüfungen (§5) sowie deren Korrektur, Beurteilung und Bewertung definiert (§6), der von den einzelnen Bundesländern auszugestalten und von den Schulen umzusetzen ist. Interessant ist die Tatsache, dass für alle mündlichen Prüfungen, die im Rahmen der Abiturprüfung abgelegt werden müssen, eine Vorbereitungszeit fest vorgeschrieben wird. In §7.5 heisst es: „Die Aufgabenstellung einschliesslich der Texte wird dem Prüfling schriftlich vorgelegt. Während der Vorbereitung unter Aufsicht darf sich der Prüfling Aufzeichnungen machen. Die Vorbereitungszeit beträgt in der Regel 20 Minuten.“ (KMK 2008, S. 5)

[1] Ein externer Experte bzw. eine externe Expertin ist in der Schweiz für alle mündlichen Maturprüfungen vorgeschrieben. Er bzw. sie protokolliert die Prüfung, achtet auf ein angemessenes Niveau sowie eine Vergleichbarkeit der Bewertungen innerhalb einer Klasse. Die Expertentätigkeit wird im Art. 12.2 der „Verordnung über die schweizerische Maturitätsprüfung“ vom 7. Dezember 1998 (geändert am 22. April 2009) definiert: „Die Experten und Expertinnen nehmen an den mündlichen Prüfungen in den verschiedenen Fächern teil und nehmen Einsicht in die schriftlichen Arbeiten. Anhand der Leistungen in den schriftlichen und mündlichen Prüfungen nehmen sie eine Gesamtbeurteilung der Kandidaten und Kandidatinnen vor“ (EDK 1998, S. 1750).  Mit der zweiten Teilprüfung sind die Maturprüfungen in den fünf Prüfungsfächern gemeint, zur ersten Teilprüfung gehören die übrigen Fächer, welche ohne Maturprüfung abgeschlossen werden, deren Noten aber ebenfalls im Maturzeugnis aufgeführt werden.

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Quo vadis, Gymnasium? oder Abzocke auf bernisch https://condorcet.ch/2020/07/quo-vadis-gymnasium-oder-abzocke-auf-bernisch/ https://condorcet.ch/2020/07/quo-vadis-gymnasium-oder-abzocke-auf-bernisch/#respond Thu, 16 Jul 2020 15:50:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=5763

Eigentlich eine unfassbare Geschichte aus dem Kanton Bern: Da werden für Maturaprüfungen von den Eltern horrende Gebühren erhoben und, obwohl diese nicht stattgefunden haben, als Aufwandsentschädigung verbucht. Dass es im Kanton Bern überhaupt solche Gebühren gibt, wusste nicht einmal unser Condorcet-Autor Alain Pichard, der doch Kinder hat mit einer Berner Matur in der Tasche.

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Alain Pichard:
Es droht der sozialökonomische Filter.

Kurz vor den Ferien meldete sich bei mir eine Mutter einer sehr begabten und fleissigen Tochter. Diese hatte den Sprung ans Gymnasium auf Empfehlung geschafft. Die Familie war sehr stolz, weil soeben auch ihre Zwillinge das FMS-Diplom erhalten hatten (Fachmittelschule). Dieses Diplom erhielten sie ohne die obligate Abschlussprüfung. Denn wie die Maturprüfungen waren auch die FMS-Prüfungen abgesagt worden. Die Schülerinnen nahmen dies relativ locker. Nicht so die Eltern. Diese mussten nämlich für die Prüfung, die gar nicht stattgefunden hatte, eine Prüfungsgebühr von 250 Fr. bezahlen. Das macht für diese Familie mit ihren Zwillingen 500.- Fr. Zu meinem grossen Erstaunen vernahm ich, dass der Kanton Bern seit vielen Jahren für die Matur- und die FMS-Prüfungen eine Gebühr erhebt. Sie blieb lange unverändert. Vor etwa zehn Jahren war sie im Rahmen einer Überprüfung aller Gebühren von 200 CHF auf 250 CHF angehoben worden. Marcel Cuttaz, Generalsekretär der Berner Erziehungsdirektion erklärte gegenüber dem Condorcet-Blog: «Die Gebühren decken so immer noch nicht die vollen Kosten für die Prüfungskommissionen und den Einsatz der Expertinnen und Experten.»

 

Der Kanton Bern: Ziemlich allein

Der Kanton Bern scheint diesbezüglich ein Alleinstellungsmerkmal zu besitzen: Auf Anfrage erklärten unsere Mitarbeiter in den Kantonen Solothurn, Basel, Baselland, Aarau und Zürich, dass es in diesen Kantonen keine solche Gebühr gebe.

Eine weitere Mutter wehrte sich. Sie fragte, ob sie, da diese Prüfungen ja gar nicht stattgefunden hätten, die bereits bezahlten Gebühren zurückerstattet bekomme. Sie erhielt einen abschlägigen Bescheid. Generalsekretär Cuttaz begründete ihn folgendermassen:

«Der Grund dafür, dass auch dieses Jahr die Gebühr erhoben wird, liegt darin, dass das Abschlussverfahren auch dieses Jahr stattfindet. Alle Maturandinnen und Maturanden und FMS-Schülerinnen und -Schüler, welche das Verfahren bestehen, bekommen ein vollwertiges Abschlusszeugnis. Alle Vorbereitungsarbeiten für die Prüfungen erfolgten vor dem Entscheid des Bundesrates vom 29. April 2020. Zudem sind nur die Schülerinnen und Schüler von den Prüfungen dispensiert, welchen aufgrund der Erfahrungsnoten der Maturitätsausweis bzw. der Fachmittelschulausweis ausgestellt werden kann. Die anderen Schülerinnen und Schüler sowie die Absolvierenden der Fachmaturität und der Passerelle müssen zur Prüfung antreten.»

Frau Nancy Bogec, Sachbearbeiterin bei der bernischen Erziehungsdirektion, formulierte es folgendermassen: «Ein grosser Teil der Vorbereitungsarbeiten war also nötig, einige Arbeiten fallen weg, andere kommen in diesem Jahr aber dazu, damit die Prüfungskommission letztlich die Maturitätszeugnisse ausstellen kann.»

Der Schreiber kann sich allerdings noch an eine Zeit erinnern, in welcher die Lehrkräfte auf die Barrikaden gegangen wären, um das Prinzip der Unentgeltlichkeit des Unterrichts zu verteidigen.

Kommentar: Gebühren für etwas zu verlangen, wofür gar keine Leistung erbracht wurde, ist Abzockerei.

Somit bezahlen ca. 2000 Maturandinnen und Maturanden für eine nicht stattfindende Prüfung je 250 Fr.  Aufwandsentschädigung, was fast eine halbe Million Franken in «die Kassen» (in welche?) spült. Der Begriff «Aufwandsentschädigung» ist natürlich nebulös. Eine nicht stattfindende Prüfung hat enorm kostensenkende Konsequenzen. Experten ein- und wieder auszuladen, das Schreiben von Zeugnissen usw. kann doch nicht solch horrende Summen rechtfertigen. Und mit Gebühren andere Prüfungen quer zu subventionieren, ist schlicht gesetzeswidrig. Für Familien mit relativ gutem Einkommen ist das alles zwar bezahlbar, aber nicht nachzuvollziehen. Für Familie H., die für ihre Zwillinge 500 Fr. Prüfungsgebühren bezahlen musste, stellt diese Summe eine deftige finanzielle Belastung dar.

Michael Ritter, Grossrat GLP, Kt. Bern: Motion eingereicht, welche die Gebühr abschaffen soll.

Grundsätzlich sind solche Gebühren für einen Kanton, der von seinen Bürgerinnen und Bürgern ohnehin schon ziemlich hohe Steuern abverlangt, fragwürdig. Das sah auch der GLP-Grossrat Michael Ritter so und lancierte nach Bekanntwerden dieser Vorgänge eine überparteiliche Motion: «Der Regierungsrat wird wie folgt beauftragt, die Gebühren für Abschlussprüfungen an Mittelschulen (Maturitätsschulen, Fachmittelschulen und weitere Schulen, die primär auf den Übertritt an eine Hochschule vorbereiten) abzuschaffen, ggf. vorbehältlich Gebühren bei Prüfungsabmeldungen ohne triftigen Grund.»

Der Besuch eines Gymnasiums belastet die Eltern ohnehin schon zu Genüge. Neben den Lehrmitteln, den Schulreise- und Exkursionskosten erhielt Familie «Zwilling» ein Schreiben des Gymnasiums für die jüngste Tochter, die ab August – wie erwähnt –  ins Gymnasium Biel-Seeland eintritt. Es wurde dringendst empfohlen, für sie einen Laptop anzuschaffen, der den hohen Ansprüchen der Schule entspricht. Markenangaben und detaillierte Anforderungen wurden mitgeliefert: Kostenpunkt 1’400 Fr. Gleichzeitig ist in diesen Tagen in unserem Hochsteuerkanton die erste Rate der Steuern fällig. Irgendwann einmal – wenn dies nicht schon jetzt der Fall ist – setzt ein sozialökonomischer Filter ein, den wir in Sonntagsreden immer wieder wortreich bekämpfen. Der Schreiber kann sich allerdings noch an eine Zeit erinnern, in welcher die Lehrkräfte auf die Barrikaden gegangen wären, um das Prinzip der Unentgeltlichkeit des Unterrichts zu verteidigen,

 

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