Mädchen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 15 May 2023 16:29:53 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Mädchen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die eklatante Schwäche von Mädchen in Mathematik – und ihre weitreichenden Folgen https://condorcet.ch/2023/05/die-eklatante-schwaeche-von-maedchen-in-mathematik-und-ihre-weitreichenden-folgen/ https://condorcet.ch/2023/05/die-eklatante-schwaeche-von-maedchen-in-mathematik-und-ihre-weitreichenden-folgen/#comments Tue, 09 May 2023 05:32:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=13857

Der Kampf gegen Geschlechterstereotype in den Schulen wird seit Jahren geführt. Jetzt zeigen neue Zahlen: Bei den mathematischen Leistungen geht die Kluft zwischen Jungen und Mädchen sogar noch weiter auf. Das hat laut einer Studie auch mit den Familien zu tun. Ein Bericht der WELT-Journalistin Sabine Menkens.

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Eigentlich hatte man gehofft, diese Form von Geschlechterstereotypen zu überwinden: dass Jungs angeblich besser rechnen können und Mädchen besser reden, dass männliche Jugendliche sich eher für Mathe und Physik interessieren und weibliche für Deutsch und Gesellschaftswissenschaften. Es gibt Girls Days, MINT-Mädchenförderkurse und Initiativen wie „Komm, mach MINT“.

Sabine Menkens, Gastautorin und WELT-Journalistin

Und trotzdem bleiben Frauen in den Berufen, die sich mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – kurz: mit MINT-Fächern – befassen, aller guten Verdienstmöglichkeiten zum Trotz unterrepräsentiert. Schlimmer noch: Schon in der Grundschule öffnet sich die Kluft zwischen Jungen und Mädchen im Fach Mathematik.

Dieser Trend hat sich sogar noch verschärft. Laut dem MINT-Nachwuchsbarometer der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Joachim Herz Stiftung haben die Geschlechterunterschiede bei den mathematischen Leistungen in den vergangenen zehn Jahren sogar noch erheblich zugenommen: Hatte der Abstand zwischen Jungen und Mädchen der vierten Klasse im Jahr 2011 noch bei neun Lernwochen gelegen, blieben die Mädchen 2021 bereits 15 Lernwochen zurück.

„Der Befund offenbart, dass es den beteiligten Akteuren in der Grundschule trotz des inzwischen vorhandenen Problembewusstseins nicht gelingt, die Benachteiligung der Mädchen im Fach Mathematik zu überwinden“, heißt es im Nachwuchsbarometer. Überdies zeigten Mädchen ein geringeres Selbstvertrauen und Interesse gegenüber Mathematik als Jungen.

Ein Teil der deutschen Grundschüler ist auffällig schlecht in Mathematik – und zwar nicht erst seit der Corona-Zeit.

Bei der Motivation seien die Geschlechterdifferenzen sogar noch größer als bei den Leistungen, hält der Bericht fest. „Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich Jungen eher überschätzen und Mädchen sich in Bereichen, die nach traditionellem Rollenbild nicht zu ihrer Identität passen, stärker unterbewerten.“ Ein Teufelskreis.

Ein Mädchen präsentiert dem deutschen Bundeskanzler anlässlich des Girls Day eine Windkraftanlage.

Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) und Studienleiter des Nachwuchsbarometers, stuft die sich weiter öffnende Kluft zwischen den Leistungen von Mädchen und Jungen als „beunruhigend“ ein. Durch die Covid-Krise und die zeitweisen Schulschließungen habe sich der Trend noch verstärkt, sagt Köller. „Das liegt auch daran, dass die Jugendlichen im Homeschooling eher die Dinge gemacht haben, die sie können und an denen sie Spaß haben. Die Mathematik kam dabei vor allen bei den Mädchen eher zu kurz. Geschlechterstereotype konnten sich so weiter ausprägen.“

Während es in der Schule keine Gewichtung von Fächern und keine geschlechterbezogene Priorisierung des Angebots gebe, würden Stereotype in den Familien möglicherweise sogar noch unterstützt. „Und in der Tat interessieren sich Mädchen nach wie vor eher für lebensnahe Disziplinen wie Biologie und Medizin, während die Jungen eher in den abstrakten, alltagsfernen Disziplinen zu Hause sind. Darin spiegeln sich auch Sozialisation und Erziehung.“

„Mädchen interessieren sich eher für lebensnahe Disziplinen“

Auch Köller zerbricht sich manchmal den Kopf darüber, ob sich solche Zuschreibungen überhaupt auflösen lassen. Bisher sei das jedenfalls nicht geglückt – trotz des großen Interesses der MINT-Unternehmen, auch aus dem Pool der jungen Frauen stärker Begabungsreserven zu schöpfen, um den Fachkräftemangel zu beheben. „Wir haben noch nicht den Königsweg gefunden, wie wir mehr Mädchen für MINT-Ausbildungen oder MINT-Studiengänge gewinnen können“, gesteht Köller.

Lieber Medizin statt Chemie, um den den Bezug zur Lebenswelt zu haben

Und für die Mädchen bestehe auch kein Leidensdruck, da sie auch in anderen Disziplinen höchst erfolgreich Karriere machen könnten. „Sie werden eben Industriekauffrau statt Kfz-Mechatronikerin oder studieren Medizin anstelle von Chemie, weil sie dort den Bezug zur Lebenswelt haben.“

„Wir müssen Lehrerinnen und Lehrer dafür sensibilisieren, mit welchen mathematischen Aufgabenstellungen man Mädchen kognitiv aktivieren kann.“

Olaf Köller, Studienleiter des Nachwuchsbarometers

 

Im lebensweltlichen Bezug von mathematischem und naturwissenschaftlichem Unterricht sieht der Bildungsforscher deshalb auch den entscheidenden Hebel für Lehrkräfte, die Mädchen doch noch für MINT-Fächer zu begeistern. „Wir müssen Lehrerinnen und Lehrer dafür sensibilisieren, mit welchen mathematischen Aufgabenstellungen man Mädchen kognitiv aktivieren kann“, sagt Köller. „Das sind typischerweise Kontexte aus dem sozialen Umfeld der Mädchen, wo sie lernen, dass sie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen, am besten im Team mit anderen.“

„Historische Krisensituation“

Auch weibliche Role Models könnten hilfreich sein – allerdings nur, wenn sie nicht zu abgehoben sind und ihre Karrieren erreichbar scheinen. „Die erfolgreiche 28-jährige Start-up-Unternehmerin, die innerhalb von drei Jahren Millionärin geworden ist, wirkt auf die meisten Mädchen eher demotivierend.“

„Jeder zweite Jugendliche mit Migrationshintergrund geht in Deutschland nach der Sekundarstufe 1 nicht in eine berufliche Ausbildung, sondern ins Übergangssystem.”

Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN)

Derzeit jedenfalls sind junge Frauen in den MINT-Berufen noch in der Minderzahl. In der MINT-Ausbildung ist nur eine Frau unter acht Auszubildenden, im dualen MINT-Studium beträgt der Frauenanteil 20 Prozent. Immerhin: In klassischen MINT-Studiengängen stieg ihr Anteil leicht auf 31 Prozent.

Derzeit sind junge Frauen in den MINT-Berufen noch in der Minderzahl.

Und auch bei ausländischen Studierenden sind diese Studiengänge an deutschen Hochschulen beliebt. Die Zahl ausländischer Studienanfänger ist laut Nachwuchsbarometer um rund zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. „Viele ausländische Studierende kommen aus Osteuropa und Asien, wo die Ingenieurswissenschaften eine hohe Wertschätzung erfahren“, sagt Köller. „Sinnvoll wäre es, diese Menschen hier auch anschließend zu halten.“

Dramatische Folgen

Bildungsforscher Köller sieht Deutschland in einer „historischen Krisensituation“. Durch die demografische Entwicklung gingen derzeit nur recht kleine Kohorten in den Ausbildungsmarkt. Gleichzeitig gebe es viel zu viele Unqualifizierte, weil große Gruppen schon in der Schule verloren gingen, so Köller. „Jeder zweite Jugendliche mit Migrationshintergrund geht in Deutschland nach der Sekundarstufe 1 nicht in eine berufliche Ausbildung, sondern ins Übergangssystem. Wenn es dort gut läuft, endet das in einer wenig qualifizierenden Ausbildung, wenn es schlecht läuft, gleich auf dem Sozialamt.“

Die Unternehmen würden daher erhebliche Probleme bekommen, prognostiziert der Bildungsforscher. „Die Kopplung von demografischer Entwicklung und niedrigen Kompetenzniveaus gerade in den MINT-Fächern wird uns in der wirtschaftlichen Entwicklung stark dämpfen. Die volkswirtschaftlichen Folgen werden dramatisch sein.“

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Die vergessenen Baustellen der Berner Bildung https://condorcet.ch/2022/11/die-vergessenen-baustellen-der-berner-bildung/ https://condorcet.ch/2022/11/die-vergessenen-baustellen-der-berner-bildung/#comments Sun, 20 Nov 2022 07:40:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=12332

Der Lehrkräfte-Mangel überlagert die akuten Probleme der Berner Bildung. Sie produziert zu wenig Fachkräfte. Sie favorisiert an der Laufbahn-Schnittstelle die Mädchen. Sie integriert die Benachteiligten in grosse Klassen und verheizt damit ihr Personal. Und sie hält titanisch am Frühfranzösisch fest, obwohl der Dampfer längst gesunken ist. Condorcet-Autor Andreas Aebi schreibt über die Baustellen im Berner Bildungssystem.

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Res Aebi, Sekundarlhrer, Publizist, Fussballtrainer und Buchautor

Bernhard Pulver war nicht nur ein rhetorisches Genie à la Habeck, er besass auch ein feines Gespür für das Machbare. Sein Mantra lautete: Die heissen Suppen friert man besser ein. Zu diesen Suppen gehörten die Abschaffung der Noten (eine Forderung von links), die Reform des Sek-Übertritts (ein Postulat der Bürgerlichen), die Entlastung der Klassenlehrpersonen (ein Hilfeschrei von Bildung Bern) und die staatspolitisch heikle Französisch-Frage.

Der Drang der Mädels zur Akademie

An internationalen Konferenzen singen unsere Bildungsminister gerne das Hohelied des Dualsystems. In der Realität verschiebt sich das Gleichgewicht aber immer mehr Richtung Akademie. Bürgerliche Politiker:innen schreiben das auch einem Konstruktionsfehler im Selektionsverfahren für die Oberstufe zu. Der Sek-Übertritt begünstige die Mädchen, die nachher alle studieren gingen. Das sind zwei pauschale Aussagen, deren kausale Verknüpfung erst einer Prüfung unterzogen werden muss.

Solange die Wirtschaft nicht bereit ist, sogenannte «Frauenberufe» aufzuwerten, werden diese Mädchen die Flucht Richtung Uni antreten.

Als Selektionsfächer für die Stufe Sek 1 dienen Mathematik und die Sprachfächer Deutsch und Französisch. Misst man die Fächer an ihrer Dotation, muss Französisch zwingend durch das weitläufigere Fach Natur, Mensch und Gesellschaft ersetzt werden. Dass die Jungs anteilsmässig von dieser Minireform profitieren, halte ich für möglich. Gewinnen wir damit mehr Fachkräfte? Nein. Die stärksten Mädchen schaffen es auch mit NMG locker ins Sek-Niveau. Und solange die Wirtschaft nicht bereit ist, sogenannte «Frauenberufe» aufzuwerten, werden diese Mädchen die Flucht Richtung Uni antreten. Es ist die Flucht vor Diskriminierung und Niedriglohn.

Langnau, Hauptort im Emmental

Ist die Quoten-Debatte ein Tabu?

Mit schöner Regelmässigkeit werden in den Medien die ungleichen Bildungschancen unserer Schüler:innen gerügt. Die Chancen auf eine Mittelschul-Laufbahn seien in der Stadt höher als auf dem Land, monieren sie dann. Tatsächlich schaffen es mehr Stadt- als Landkinder ans Gymnasium, aber das ist natürlich nicht eine Frage der Intelligenz, sondern der Quotenwillkür, welche wiederum von unterschiedlichen Kulturen abhängt. Ich war sechs Jahre Schulleiter an einer Land- Sekundarschule mit dem (Auslauf-)Modell 1. Von unseren Schulabgänger:innen beschritten 55 Prozent eine Berufslaufbahn, 35 Prozent gingen in eine Mittelschule und 10 Prozent ergriffen ein Brückenangebot. Eine Mittelschulquote von 35 Prozent also? Nein, nur die Hälfte! Denn in der Statistik fehlen die Realschüler:innen, die in unserer Wohngemeinde 50 Prozent ausmachten und etwa zur Hälfte ein 10. Schuljahr absolvierten oder eine Berufslehre. Die Fifty-fifty-Zuteilung war ein Erfolgsmodell für Sekundar- und Realschule: gutes Niveau hüben wie drüben und ein Laufbahnprozess, der dem Anspruch der dualen Berufsbildung gerecht wurde.

Städtische Kolleg:innen beklagen sich heute darüber, dass ein Berufswahlprozess bei ihnen gar nicht gefragt sei. Im Fokus stehe vielmehr die Wahl der Mittelschule.

In den Städten ist das Vergangenheit. In vielen Quartieren schraubten sich die Sek-Quoten so lange in die Höhe, bis die Realschule das Sammelbecken benachteiligter Bevölkerungsgruppen war. Und mit der steigenden Zahl Sekschüler:innen wuchs die Selbstverständlichkeit der Eltern, ihr Kind an eine Mittelschule zu schicken. Städtische Kolleg:innen beklagen sich heute darüber, dass ein Berufswahlprozess bei ihnen gar nicht gefragt sei. Im Fokus stehe vielmehr die Wahl der Mittelschule. Müssen wir uns also bei den inflationären Sek- und Mittelschulquoten über die Verflachung des Niveaus und das Fehlen von Fachkräften wundern? Und müsste der Kanton nicht endlich eine Debatte über eine maximale Bandbreite der Übertrittsquoten führen – oder diese gar plafonieren?

Integration vom Discounter

Integrative Schulmodelle funktionieren ganz gut – in kleinen Klassen.

Landauf, landab wenden sich die Berner Schulen integrativen Schulmodellen zu. Die konkrete Umsetzung wird aber zum Verheizungsmotor für Lehrpersonen. Statt Kinder mit besonderem Förderbedarf partiell in die Regelklassen zu integrieren, setzen viele Gemeinden gleich auf volle Heterogenität. Zum Spagat mit Leistenbruch-Garantie wird die Umstellung dann, wenn sie zum Billigtarif vorgenommen wird. In unserer Schullandschaft gibt es Gemeinden, die ihrem Personal gemischte 20er-Grundklassen Sek/Real mit integrierten KbF-Kindern zumuten und dieser Mixtur zwei Sporttalente und ein ukrainisches Flüchtlingskind beifügen. Dabei müsste jedem kommunalen Bildungsrat bekannt sein: Integrative Schulmodelle funktionieren ganz gut – in kleinen Klassen. Schraubt man die Klassengrösse in die Höhe, steht die Lehrperson im Unterricht vor einer unlösbaren Aufgabe. Sie macht dann entweder eine Triage – oder brennt aus.

 

«Bei uns spricht der Franzlehrer Deutsch»

Die Französisch-Lehrer:innen an den Gymnasien verzweifeln; punkto Sprechen und Schreiben beginnen sie praktisch bei null. Schon einfache Quervergleiche deuten an, dass unsere Schüler:innen nach sieben Jahren Französisch nicht weiter sind als die Ostschweizer:innen nach fünf Jahren. Dass die Volksschule ihren Auftrag nicht erfüllt, wurde bisher zu Recht, aber auch zu einseitig, den Passepartout-Lehrmitteln zugeschrieben. Die Malaise beginnt natürlich beim fehlenden Fachpersonal. Wiederholt berichten Schulleiter:innen, sie müssten die Französisch-Lektionen einer Lehrperson zuteilen, die die Sprache noch gar nicht im Köcher habe. Aus der Französisch-Sackgasse führt also nur ein Ausweg: Wir machen es kürzer, aber intensiver. C’est-à-dire: Wir stoppen Frühfranzösisch und konzentrieren die kompetenten Lehrpersonen auf fünf Jahre. Wir erhöhen die Französisch-Dotation in der 5./6. Klasse. Und wir steigen aus den Passepartout-Lehrmitteln aus. Die andern können’s besser.

Dieser Artikel ist zuerst im Organ des LEBE  “Bildung Bern” erschienen.

 

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Knaben als Bildungsverlierer: Ist die Feminisierung dran schuld? https://condorcet.ch/2021/11/knaben-als-bildungsverlierer-ist-die-feminisierung-dran-schuld/ https://condorcet.ch/2021/11/knaben-als-bildungsverlierer-ist-die-feminisierung-dran-schuld/#respond Sat, 20 Nov 2021 11:53:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=9841

Die Schule ist möglicherweise zu einer fremden Umgebung für Buben geworden. Das dürfte jedoch weniger an den Lehrerinnen liegen. Nach Margrit Stamm könnten die Ursachen auch in den kontraproduktiven Bildungsreformen liegen.

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Margrit Stamm: Der Ruf nach mehr Männern in der Schule ist wahrscheinlich nicht die richtige Antwort.

Knaben sind die Sorgenkinder des Bildungssystems. Schon im Kindergarten kommen ihre Bedürfnisse zu kurz. Auch in der Primarschule werden Mädchen von den überwiegend weiblichen Lehrkräften bevorzugt. Sie ignorieren die Anliegen und Eigenarten der Knaben weitgehend. Wird diese Entwicklung nicht gestoppt, wächst eine Generation von männlichen Bildungsversagern heran. Soweit die verbreitete Meinung.

Doch diese These zur «Feminisierung der Schule» ist zu gewagt. Unberücksichtigt bleibt, dass nicht alle Knaben Sorgenkinder und nicht alle Mädchen auf der Überholspur sind. Genauso wird kaum zur Kenntnis genommen, dass die Unterschiede innerhalb der Geschlechter grösser sind als zwischen ihnen, Knaben aber in allen Bereichen die weniger homogene Gruppe sind.

Trotz der Tatsache, dass im Kindergarten der Frauenanteil 98 Prozent beträgt, in der Primarschule 86 Prozent und 57 Prozent in der Sekundarstufe 1: Männliche Lehrkräfte wirken sich nicht positiver auf die Schulnoten der Knaben aus.

Das weibliche Geschlecht ist nicht schuld

Internationale empirische Studien kommen im Gegensatz zur obigen These zum Schluss, dass Knaben bei Lehrern weder bessere Leistungen zeigen noch bessere Schulnoten in Mathematik, Deutsch oder Fremdsprachen bekommen – und auch keine höhere Chance aufs Gymnasium haben als bei Lehrerinnen. Das weibliche Geschlecht ist nicht schuld an der Knabenkrise – auch wenn sich die Schule feminisiert hat. Trotz der Tatsache, dass im Kindergarten der Frauenanteil 98 Prozent beträgt, in der Primarschule 86 Prozent und 57 Prozent in der Sekundarstufe 1: Männliche Lehrkräfte wirken sich nicht positiver auf die Schulnoten der Knaben aus.

Mädchen sind öfters gewissenhafter und selbstdisziplinierter.

Verhaltensunterschiede führen dazu, dass Knaben schneller als defizitär eingestuft werden.

Das Lernverhalten ist zentral

Warum verlaufen die Schulkarrieren von vielen Knaben trotzdem weniger erfolgreich? Das dürfte massgeblich mit ihrem Lernverhalten zusammenhängen. Mädchen sind öfters gewissenhafter und selbstdisziplinierter. Dies sind wichtige, für schulisches Lernen förderliche Kompetenzen. Knaben tun hingegen im Durchschnitt weniger für die Schule. Sie orientieren sich eher am Prinzip des minimalen Aufwands, um mehr Zeit für die aus ihrer Sicht spannenderen Freizeitaktivitäten zu haben.

Im Gegensatz dazu stecken Mädchen viel Zeit und Energie ins Lernen und setzen auch für die Hausaufgaben viel Zeit ein, was jedoch eine erhöhte Stressanfälligkeit zur Folge haben kann.

Mädchen investieren viel Zeit und Energie ins Lernen.

Solche Verhaltensunterschiede führen dazu, dass Knaben schneller als defizitär eingestuft werden und Lehrkräfte – Männer wie Frauen – ihre Mitarbeit und ihre Leistungen schlechter beurteilen. Verhalten sich Knaben im Unterricht ähnlich wie Mädchen, bekommen sie bei vergleichbarem Leistungsvermögen und einer guten Mitarbeit identische Noten, und zwar von Lehrerinnen und Lehrern. Mit anderen Worten: Mädchen, die sich geschlechtstypisch, und Knaben, die sich geschlechtsatypisch verhalten, haben besonders gute Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein.

Möglicherweise haben die Bildungsreformen die Schulkrise von Knaben mitprovoziert.

«Gendering der Schule»

Damit stellt sich die Frage, ob das vorherrschende Bild von Männlichkeit weniger zum System Schule passt als dasjenige von Weiblichkeit. Ist die Schule heute zu einer fremden Umgebung für das männliche Geschlecht geworden? Möglicherweise.

Doch um dies zu ergründen, müssen wir davon wegkommen, Lehrerinnen für den Misserfolg eines Teils der Knaben verantwortlich zu machen. Statt sich auf die Feminisierungsthese einzuschwören, sollte sich die bildungspolitische Diskussion eher auf verdeckte Problembereiche konzentrieren.

Beispielsweise auf Bildungsreformen, die vielleicht die Schulkrise von Knaben mitprovoziert haben. Gemeint ist das, was unter dem Stichwort «Gendering in der Schule» zusammengefasst wird, etwa die sprachlastigen und auf Sozialkompetenzen fokussierten Lehrpläne, der Fokus auf Kommunikation oder Teamarbeit bei gleichzeitigem Wegfall von wettbewerbsorientierten und für Knaben eher förderlichen Unterrichtssequenzen sowie die nach wie vor eher auf Mädchen ausgerichtete Sichtbarkeit der Geschlechter in Schulbüchern.

Was ist eine männliche Vorbildwirkung?

Der Ruf nach mehr Männern in der Schule ist wahrscheinlich nicht die richtige Antwort, um von der «Knabenfeindlichkeit» der Schulen wegzukommen. Vor allem auch deshalb nicht, weil nicht jeder Lehrer mit seinem Männerbild ein geeignetes Vorbild für Knaben sein dürfte. Was eine «gute» männliche Vorbildwirkung ist – darüber ist unsere Gesellschaft sehr gespalten.

Zur Person

Magrit Stamm ist Professorin emerita, Forscherin, Institutsleiterin und Autorin. Sie hat sich vom Elfenbeinturm der Universität emanzipiert und mischt sich heute in Debatten als unabhängige Expertin ein. Sie möchte, dass Wissenschaft der Allgemeinheit zugänglicher wird.

Dieser Artikel ist zuerst im Nebelspalter erschienen.

 

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Hindernisse als Chance zum Abheben: Skaten in Afghanistan https://condorcet.ch/2021/01/hindernisse-als-chance-zum-abheben-skaten-in-afghanistan/ https://condorcet.ch/2021/01/hindernisse-als-chance-zum-abheben-skaten-in-afghanistan/#respond Tue, 05 Jan 2021 19:27:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=7451

Unser Bildungssystem strebt als Ziel die Mündigkeit der heranwachsenden Jugendlichen an. Das Skateboarden übersetzt nach Ulf Poschardt (Chefredakteur von «Die Welt» in seinem Buch «Mündigkeit») das Konzept der Mündigkeit ins Körpersprachliche. Erfunden in Dogtown (einem Vorort von Los Angeles) und nun von jungen Mädchen in Afghanistan betrieben. Alain Pichard über einen Fotoband, der ihm die Sprache verschlägt.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Maximale Freiheit

Ich konnte nie Skatebooarden. Ich konnte passabel Schlittschuh fahren, spielte Eishockey, fuhr die alten Rollschuhe auf Rädern, die ich wohl bald wieder anschnallen werde, um meinem Grosskind diese Kunst beizubringen.

Üben, üben,üben

Aber einer unserer Söhne – nur er – entdeckte das Skateboarden sehr früh. Ich – der überzeugte Mannschaftssportler – nervte mich zu Beginn über seine unzähligen Versuche, kleine Abhebeversuche über Treppen und Geländer zu üben. Üben, nicht achtmal, wie es ein PH-Direktor kürzlich meinte, nein, hundertmal, Hunderte Male. Immer wieder reizte er den Sprung ins Ungewisse aus, auf dem Weg zur physischen Weltbeherrschung.

Das war nicht immer lustig für seine Eltern. Als er den Bözingerberg (unser Hausberg) hinunterfuhr, kam er mit einem Loch im Kopf nach Hause und landete im Spital.. Es ist eben alles ein Versuch.

Er nutzte den öffentlichen Raum, Trottoire, Geländer, Treppen auf dem Weg zur Schule.

Das Velo? Etwas für die Normalos! Er nutzte den öffentlichen Raum, Trottoire, Geländer, Treppen auf dem Weg zur Schule. Vorbei an tristen Bausünden überholte er nicht selten die Velofahrer und im Stau stehende Fahrzeuge.

Skateboard ist das Gegenteil von Mannschaftssport. Er ist individuell, meditativ, ganz auf Selbstbeherrschung aus. Dazu gehören Härte, Disziplin und Schmerzunempfindlichkeit.

Fotoband von Jessica Fulford-Dobson: Das Bild auf der Titelseite gewann den Pressepreis.

Viele Jahre später entdeckte ich in einer Buchhandlung den Fotoband Skate Girls of Kabul von Jessica Fulford-Dobson. Der Band enthält Bilder, die mir die Sprache verschlugen. Mädchen aus dem Slums von Afghanistan skaten in einer Halle am Rande der afghanischen Hauptstadt. Die Photographin schrieb im Vorwort: «Ich traf so beeindruckende junge Mädchen und heranwachsende Frauen, die sich nicht als Opfer sehen wollen sondern Freiheitswillen und Lebensfreude ausstrahlten. Ich war glücklich unter ihnen.»

All diese Mädchen gehen in die Schule, die laut Jessica Fulford-Dobson von strengen, entschlossenen jungen Frauen geführt wird. Hier werden ihnen die Kulturtechniken beigebracht, die sie einmal benötigen werde, wenn sie selber Lehrerinnen oder Ingenieurinnen werden wollen. Dankbarkeit, Freude und Optimismus leuchten aus den Augen dieser Mädchen. Nach der Schule rennen sie in die Skaterhalle, vorbei an sie bewachenden Soldaten, aber scheinbar ohne Angst.

 

In einer Welt voller Einschränkungen intensivieren diese Mädchen ihre Bewegungsfreiheit maximal und demonstrieren dabei ihren Willen zur Freiheit.

Zuerst in streng geführten Schulen…
… dann in die Skaterhalle

Warum entdecken junge Mädchen im Kerker einer mädchenfeindlichen Umgebung in Afghanistan, ständig bedroht durch die Taliban, diesen Sport und nicht zum Beispiel den Fussball?

Vielleicht ist es ein Aufbegehren gegen die Tyrannei in einer ganz individuellen Form. In einer Welt voller Einschränkungen intensivieren diese Mädchen ihre Bewegungsfreiheit maximal und demonstrieren dabei ihren Willen zur Freiheit.

Wenn ich mich heute in meinem Auto ankette, das ständige Piepsen über mich ergehen lasse, meine Frau sich auf die automatische Bremsung und  Spurensicherung verlässt, dann denke ich ab und an den Eskapismus meines Sohnes.

Noch mehr aber bewundere ich diese jungen Mädchen, die – wahrscheinlich ohne es zu wissen – uns Menschen im Westen einen Wert vorleben, den wir vielleicht vergessen haben: Freiheit maximal zu erleben, trotz aller Hindernisse.

Alain Pichard

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