linke Bildungspolitik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 06 Aug 2021 19:42:54 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png linke Bildungspolitik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Eine Replik auf die Pseudo-Kritik von Pichard/Schmutz: Hier wird das Geschäft der Rechten betrieben. https://condorcet.ch/2021/08/eine-replik-auf-die-pseudo-kritik-von-pichard-schmutz-hier-wird-das-geschaeft-der-rechten-betrieben/ https://condorcet.ch/2021/08/eine-replik-auf-die-pseudo-kritik-von-pichard-schmutz-hier-wird-das-geschaeft-der-rechten-betrieben/#comments Fri, 06 Aug 2021 19:41:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=9138

Am 18. Juli stellte der Redaktor des VPOD-Bildungsmagazins, Johannes Gruber, seine Idee einer linken Bildungspolitik vor (Warum «linke Bildungspolitik» vonnöten ist und warum sie nicht ausreicht). In Ihrer Replik vom 25. Juli kritisierten die Condorcet-Autoren Schmutz und Pichard den Beitrag und warfen ihm sogar Falschaussagen vor. Nun reagiert Thomas Ragni, im SECO tätig und freier Mitarbeiter von VPOD-Bildungspolitik, auf die Kritik und wirft den Autoren seinerseits eine verzerrende Darstellung der Aussagen von Johannes Gruber vor. Wir freuen uns auf Ihre Reaktion und erhoffen uns einen fruchtbaren Austausch.

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Thomas Ragni, ehemals Lehrer an Handels-, Berufsschule und Gymnasium, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am SECO, verantwortlich für Konjunkturprognosen und Sozialpolitik, freier Mitarbeiter der Zeitschrift VPOD-Bildungspolitik.

Ich möchte im Folgenden nicht Stellung nehmen auf die inhaltlichen Einwände, die Alain Pichard und Felix Schmutz (nachfolgend: die Autoren) im Namen ihrer ‚ideologiefreien‘ und ‚pragmatischen‘ Bildungspolitik gegen Johannes Grubers Beitrag vorbringen, wieso eine ‚linke‘ Bildungspolitik vonnöten sei. Ich könnte – selbstverständlich aus meiner ganz eigenen ‚Perspektive‘ (Friedrich Nietzsche) – einige (m.E. überzeugende) Argumente vorbringen, wieso ihre Einwände unbegründet oder falsch sind (z.B. Kompetenzziele als angeblich besonders leichte Einfallstüren für schulische Indoktrination; ein angeblich fundamentaler Widerspruch zwischen ‚égalité‘ und ‚liberté‘ der Französischen Revolution, die eine angeblich bloss zeitbedingte Bedeutung hatten; ein grundlegend falsches, ‚verschwörerisches‘ Verständnis der Bourdieu’schen Theorie der ‚feinen Unterschiede‘, welche erklärt, wieso das Bildungswesen dazu beiträgt, einmal etablierte Privilegienstrukturen stabil zu halten – und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil in ihm das ‚meritorische‘ Selbstverständnis eines strikt geltenden ‚Leistungs‘-prinzips vorherrscht).

Keine echte Kritik

Weil die Autoren meistens keine echte Kritik an den Aussagen von Johannes Gruber (nachfolgend: JG) vorbringen, kann auch ich darauf nicht in kritischer Weise inhaltlich-argumentativ antworten. Trotzdem möchte ich nicht im gleichen Stil wie sie reagieren, sondern kühl-analytisch darlegen, was an ihrer Pseudo-Kritik alles schiefläuft.

Das Ziel der Autoren ist offenbar nicht, in einem konstruktiven offenen Debattenstreit mit Informationen und Argumenten gemeinsam zu präzisieren Erkenntnissen und neuen Einsichten zu gelangen.

Das Ziel der Autoren ist offenbar nicht, in einem konstruktiven offenen Debattenstreit mit Informationen und Argumenten gemeinsam zu präzisieren Erkenntnissen und neuen Einsichten zu gelangen. Sie wollen ihr prinzipiell überlegenes, weil schon vollkommenes Wissen demonstrieren. So erkläre ich mir, wieso ihre ‚Replik‘ nur an ganz wenigen Stellen wenigstens echte Kritik ist, auch wenn sie selbst dann durchwegs schlecht, weil grob pauschalisierend ist. Meistens jedoch handelt es sich bloss um Pseudo-Kritik.

Wenn man den Text von JG liest, erkennt man schnell, dass das gezeichnete Bild der Autoren einfach nur grotesk verzerrend ist.

Felix Schmutz, Baselland: Die Kritik ist diffamierend und grob verzerrend.

Wenn man den Text von JG liest, erkennt man schnell, dass das gezeichnete Bild der Autoren einfach nur grotesk verzerrend ist. Praktisch alle Textstellen von JG, auf die sie sich explizit in meist bloss scheinbar kritischer Weise beziehen, lesen die Autoren auf möglichst verzerrende Weise. Der Grund ist, dass sie ihre ‘Replik’ dazu missbrauchen, ihr dogmatisch einbetoniertes Wissen den LeserInnen vor die Füsse zu werfen. Dabei entgeht ihnen offenbar völlig, dass sie mit ihrer Pseudo-Kritik das Geschäft jener ‘Rechten’ betreiben, die die universelle Geltung der egalitären Menschenrechte grundsätzlich bestreiten. Das wirklich ärgerliche Ergebnis ihrer Pseudo-Kritik ist aber, dass sie damit gute Chancen haben, das zarte Pflänzchen der Debattenkultur sofort wieder auszutilgen.

Einige Beispiele ihrer fast ausnahmslos mutwillig verzerrenden Interpretation des Textes von JG:

  • In ihrem zweiten Hauptpunkt präsentieren die Autoren ein Paradebeispiel einer Pseudo-Kritik: Ihre scheinbare argumentative Entgegnung ist einfach nur eine Darlegung ihres Credos, was gute Schule ist und wie sie in der Schweiz ihrer Meinung nach realisiert ist – ohne jeden Bezug zum Text von JG. Ihre Einsichten kulminieren im Satz, die Schule sei «politisch ein kaleidoskopartiges Abbild der politischen Landschaft». – Ja schön, wenn man dieser Überzeugung ist, deren inhaltliche Aussage aber sehr nebulös bleibt, so dass sie auch nicht irgendwie belegbar ist. Aber das ist auch nicht ihr Zweck. Vielmehr soll sie einen möglichst drastisch aussehenden Gegensatz aufzeigen zu einer gerade anschliessenden, in Zitatzeichen gesetzten wörtlichen Wiedergabe einer Textstelle von JG, der behaupte, dass die Schule «einseitig gesellschaftliche Verhältnisse zementieren hilft». Das Problem ist nur, dass sich dieses scheinbar wörtliche Zitat im Text von JG nirgends finden lässt. Ich will einfach nicht glauben, dass die Autoren hier eine böswillige Manipulation vorgenommen haben. Ich hoffe, sie haben die auf irreführende Weise kolportierte Textstelle von JG als eine harmlose, nicht wörtliche, aber sinngleiche Paraphrase interpretiert, und dass sie mit den Zitatzeichen bloss ihre eigene frühere Textstelle wörtlich zitieren wollten, die bereits auf den Text von JG auf nicht wörtliche Weise Bezug genommen hatte. Man sieht, ich muss hier recht virtuos herumturnen, um ihnen weiterhin ‘bona fide’ unterstellen zu können …
Brachliegende Ressourcen?
  • In ihrem dritten Hauptpunkt setzen die Autoren selber wieder in Zitatzeichen, was sich so wörtlich im Text von JG nirgends finden lässt: Die von Linken mitgestaltete Bildungspolitik lasse nichts unversucht, die «brach liegenden menschlichen Ressourcen» der wenig privilegierten Schichten zu mobilisieren. An diesem Massstab gemessen, bewerten die Autoren die vielen schweizerischen Reformbemühungen der Schulstrukturen der letzten 50 Jahre auf sehr positive Weise. Ich will einmal davon absehen, dass sie sich damit in einen klaren Widerspruch zu ihrer eigenen Behauptung bringen, wonach gemäss einer breit angelegten Studie, auf die sie sich vorbehaltlos zustimmend beziehen, «die Schulstruktur einen kleinen Einfluss auf die Wirksamkeit von Schule ausübt». (Ich habe hier korrekt wörtlich zitiert.) Entscheidend ist hier vielmehr, dass die Autoren das angeblich wörtliche Zitat, das sie aber auf nicht wörtliche Weise korrekt paraphrasieren (wörtlich spricht JG davon, «dass es Ressourcenverschwendung ist, Bildungspotentiale brachliegen zu lassen»), völlig aus dem Zusammenhang reissen und so eine eklatante Sinnverzerrung begehen, die ich leider nicht anders als einen mutwilligen Winkelzug verstehen kann. JG spricht an dieser Stelle von der bildungsökonomischen Denkweise, die Chancengleichheit eben nicht aus normativen Gründen verbessern will, sondern weil damit die ökonomische Effizienz unseres Wirtschaftssystems weiter optimiert werden soll. Wenn diese beiden Ziele nie in einen Zielkonflikt gerieten, wäre aus Sicht auch der ‘linken’ Bildungspolitik nichts gegen ökonomische Effizienzoptimierung einzuwenden. Doch gerade hier liegt ein Kernanliegen ‘linker’ Bildungspolitik: Chancengleichheit unter rein ökonomistischen Gesichtspunkten herzustellen, bedeutet bloss, dass es ein ‘Instrument’ unter vielen anderen ist, den Erwerb von Humankapital weiter zu optimieren. Eine ganz andere Art von Chancengleichheit ist gemeint, wenn es um eine essentielle Voraussetzung für egalitäre Chancen zu einer emanzipierend wirkenden Bildung geht, die für eine menschenwürdige freie Lebensgestaltung essentiell ist. Eine solche Art von Bildung kann nicht in einer platten instrumentellen Logik ‘optimiert’ werden. Der entscheidende Punkt ist, dass eine emanzipierende Bildung ganz unter die Räder fallen muss, wenn sich das öffentliche Bildungswesen unter Anleitung der Mainstream-Bildungspolitik bloss noch als Zudienerin zu den unwägbar wechselnden ‘Bedürfnissen’ der Wirtschaft versteht und damit die rein ‘technischen’ Fragen des möglichst effizienten Erwerbs von Humankapital allein noch im Fokus der Bildungspolitik ist. (Früher war das mal der Ansatzpunkt für eine Kritik der ‘technokratischen’ Optimierungslogik.)
Johannes Gruber, Redaktor VPOD-Bildungspolitik: Seine nüchtern analytischen Aussagen wurden bewusst verzerrt oder falsch zitiert.
  • Einen traurigen Höhepunkt an deplatzierter Polemik erleben wir im vierten Hauptpunkt ihrer angeblichen Kritik. Wieder ohne jeden Bezug zum nüchtern-ausgewogenen Text von JG lassen sich die Autoren ausführlich über das «ideologisch geprägte( ) Zerrbild» vom Menschen aus (eines «aus Ton formbaren prometheischen Geschöpfes»), das sie bei den ‘Linken’ diagnostizieren zu können glauben und das sie ‘daher’ auch JG unterstellen – wie gesagt ohne jeden Textbeleg. Auch hier kann ich nicht anders als den Autoren zu unterstellen, dass sie den Text von JG mutwillig krass verzerrend dargestellt haben. Was nur ist ihre Motivation? Wollen sie, dass man ebenso haltlos polemisch auf ihre Pseudo-Kritik reagiert? Was versprechen sie sich von offenbar herbeigewünschten unversöhnlich geführten ideologischen Grabenkämpfen? Etwa eine wertvolle gemeinsame Lernerfahrung, die einer besseren Bildungspolitik dienen kann?

Ist das alles nur der Reflex realitätsblinder und überambitionierter Eltern und der Hirngespinste der Kinder?

  • Die Autoren wollen bei JG einen «etwas altmodischen Bildungsdünkel» ausgemacht haben, wenn er auf die herkunftsabhängige Selektivität zu den allgemeinbildenden weiterführenden Schulen hinweist. Schlichte Gegenfrage: Wie ist es zu erklären, dass Eltern, je wohlhabender desto häufiger, ihre Schützlinge immer früher in ‘privaten’ Förderunterricht schicken (eine ausgesprochene Boombranche in allen reichen Ländern weltweit)? Und wie ist es zu erklären, dass ihre Sprösslinge selbst immer öfter davon überzeugt sind, die erhofften Lebenschancen und -perspektiven definitiv aufgeben zu müssen, wenn sie nicht in sog. ‘höhere’ Schulen selegiert werden? Ist das alles nur der Reflex realitätsblinder und überambitionierter Eltern und der Hirngespinste der Kinder? Wenn ja, dann frage ich mich, wie die Entstehung dieser Überambitioniertheit und dieser Hirngespinste zu erklären ist. – Anstatt hier JG «Bildungsdünkel» und eine «ideologische Brille» zu unterstellen und sich in wilden Mutmassungen über die Unterschichtung durch immer neue Migrationswellen und «die Nachfrage nach neuen ‘Arbeitssklaven’» zu ergehen (wo wird bei JG auf Migration im Kontext der Bildungsmobilität Bezug genommen?), sollten einfach mal die unzähligen Belege der ‘intergenerationellen Bildungsmobilität’ zur Kenntnis genommen werden, mit welcher das Ausmass der herkunftsbestimmten Selektivität in der ‘Schulkarriere’ empirisch zu messen ist. (Ich habe in der VPOD-Bildungspolitik Nr. 222 von Juni 2021 auf S. 7 bis 10 ein paar eigene entsprechende empirische Auswertungen für die Schweiz präsentiert.) – Aber klar, das ist natürlich auch wieder nur «eine einseitige Interpretation von statistischen Daten», die sie schon JG pauschal vorgeworfen haben.
  • Die Autoren haben sicher Recht, wenn sie ‘einwenden’, gerade in der Schweiz hätten Berufsleute (vorläufig noch!) auch ohne Matura einer allgemeinbildenden Schule intakte Chancen, dank berufsbezogenen Qualifikationen und Weiterbildungen gute bis sehr gute Einkommen während ihrer Berufskarriere zu erzielen. Trotzdem erzielen, statistisch belegbar, ‘Akademiker’ im Mittel halt immer noch signifikant höhere Einkommen, und vor allem: Sie geniessen ein markant höheres gesellschaftliches Prestige als (hoch) qualifizierte Berufsleute ohne ‘akademischen’ Abschluss (z.B. ein Assistenz- oder Oberarzt ohne Leitungsfunktion an einem x-beliebigen Spital im Vergleich zu einem Techniker oder Ingenieur mit Abschluss an einer höheren technischen Fachschule). Aber auch der rein ökonomische (Geldeinkommens-) Wert höherer Berufsbildungsabschlüsse wird in Zukunft immer mehr erodieren, wenn auch in der Schweiz die Tertiärabschlussquote sich jener im Ausland annähern wird, was schon heute klar absehbar ist (was auch mit statistischen Indkatoren belegbar ist).
  • Jean-Marie de Condorcet: Bildung hat das Ziel der Mündigkeit.

    Weiter beziehen sich die Autoren auf eine Textstelle von JG, wonach sich Mündigkeit nicht in der Aneignung von Wissen erschöpfe, sondern auch das Vermögen beinhalte, Anerzogenes und Gelerntes in Frage zu stellen. Die Autoren halten diese sehr allgemeine Definition von JG allerdings für noch zu eng gefasst. Denn sie müsse auch für «die von den Linken so vehement verteidigten Kompetenzziele» gelten, welche aber, «als Kompetenzen beurteilt und gemessen, in eine schulische Indoktrination führen mit diktatorischen Ansprüchen.» Wie kommen die Autoren nur dazu, sich zunächst mit der Mündigkeitsdefinition von JG einverstanden zu erklären, dann aber zu bemängeln, JG schliesse nicht die «holistischen Kompetenzziele» in seine Definition ein, nur um in einer weiteren logischen Volte heftig gegen die Aufnahme von Kompetenzzielen in die Lehrpläne zu polemisieren. Ich vermute, den Autoren geht es hier primär darum, ihre Aversion gegen Kompetenzziele zu zelebrieren, die nota bene JG in seinem Text mit keinem Wort erwähnt. Auch bei dieser ‘Replik’ der Autoren kann es sich darum nur um eine Pseudo-Kritik handeln.

Diese international vergleichbare ILO-Kennzahl betrug 2019 nicht 2.2%, sondern 8.0%.

  • Zum glaubensdogmatisch verhärteten Streit um die PISA-Ergebnisse Finnlands will ich an dieser Stelle nichts beitragen, sondern nur auf ein (vermutlich nicht absichtlich) irreführend präsentiertes Faktum hinweisen, das die Autoren im Kontext des angeblich «etwas altmodischen Bildungsdünkel(s)» von JG als Gegenargument mobilisieren: «Und eine Zahl gibt enorm zu denken: Die Jugendarbeitslosigkeit in Finnland betrug 2019 fast 19% (Schweiz 2.2%).» Fakt ist, dass die von den Autoren zitierte Jugendarbeitslosigkeit der Schweiz im Jahr 2019 von 2.2% falsch ist, wenn sie mit der finnischen von 19% verglichen wird. Für internationale Vergleiche muss gemäss spezifisch schweizerischer Terminologie die ILO-harmonisierte ‘Jugenderwerbslosigkeit’ herangezogen werden (die in Österreich und Deutschland ‘Jugendarbeitslosigkeit’ genannt wird). Diese international vergleichbare ILO-Kennzahl betrug 2019 nicht 2.2%, sondern 8.0%, und 2018 betrug sie 7.9%. Die in der Schweiz so genannte ‘Arbeitslosigkeit’ (2.5% im Jahr 2018, 2.2% im Jahr 2019) ist eine Schweizer Besonderheit, die international nicht vergleichbar ist. (Sie zählt die bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren [RAV] als ‘stellensuchend’ gemeldeten Personen, die sich nicht in einer sog. arbeitsmarktlichen Massnahme oder in einem lohnsubventionierten Zwischenverdienst befinden. Bei stellensuchenden Jugendliche ist die Meldequote bei den RAV besonders tief.) Deshalb ist auch ihre an anderer Stelle aufgestellte Behauptung schon rein faktisch falsch: «Das duale Bildungssystem bewirkt eine gegenüber dem Ausland rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen nach Ende der Schulzeit.» Aus der frei zugänglichen Datenbank der OECD lässt sich zeigen, dass die Schweiz bei der Jugendarbeitslosigkeit (nach spezifisch schweizerischem Wording: bei der ‘Jugenderwerbslosigkeit’) unter den 33 reichen westlichen OECD-Ländern ‘bloss’ den 7. Rang im Jahr 2018 eingenommen hat. Keine Rede also von einer «rekordverdächtig geringe(n) Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen» in der Schweiz im Vergleich zum Ausland. Die zitierte Aussage der Autoren ist aber nicht nur rein faktisch falsch, sondern sie taugt auch nicht als Gegenbeispiel zu Finnland, weil dieses Land, wie erwähnt, auch ein duales Bildungssystem wie die Schweiz kennt, welches erst noch durchlässiger ist als das schweizerische. Damit erweist sich auch ihre kausal gemeinte Behauptung als unbelegte Spekulation, das duale Bildungssystem ‘bewirke’ eine rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit. Das stimmt weder für die Schweiz noch für Finnland.

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Replik: Bildungspolitik für die Kinder unterprivilegierter Schichten muss pragmatisch sein https://condorcet.ch/2021/07/replik-bildungspolitik-fuer-die-kinder-unterprivilegierter-schichten-muss-pragmatisch-sein/ https://condorcet.ch/2021/07/replik-bildungspolitik-fuer-die-kinder-unterprivilegierter-schichten-muss-pragmatisch-sein/#respond Sun, 25 Jul 2021 12:03:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=9025

Die beiden Codorcet-Autoren, Alain Pichard und Felix Schmutz, antworten auf den Artikel von Johannes Gruber (https://condorcet.ch/2021/07/warum-linke-bildungspolitik-vonnoeten-ist-und-warum-sie-nicht-ausreicht/er). Dabei gehen sie mit Johannes Gruber einig, dass Chancengerechtigkeit, Durchlässigkeit und der Einsatz für die unterprivilegierten Schichten unverzichtbare Prämissen unseres bildungspolitischen Handelns sein müssen. Sie zeigen aber auch auf, dass in Grubers Argumentation die wirklichen Zustände verzerrt und zum Teil auch falsch dargestellt werden, und legen den Finger auf eine unangenehme linke Wahrheit: ihr Bündnis mit neoliberalen Werten.

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Felix Schmutz, Baselland: Einseitigkeit hift nicht.
Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1: Der Einsatz für die Kinder unterprivilegierter Schichten muss eine Prämisse unseres bildungspolitischen Engagements bleiben.

Die Schulpolitik der Schweiz, eine Standortbestimmung

Soziologe Johannes Gruber möchte mit seinem Beitrag die Diskussion um eine «linke» Bildungspolitik anstossen. Dabei zeigt sich, dass er mit der Welt der Schul- und Bildungspolitik der letzten 50 Jahre offensichtlich wenig vertraut ist. Könnte er sonst der Schule unterstellen, sie sei darauf angelegt, gesellschaftliche Verhältnisse zu zementieren statt den Unterprivilegierten zu gerechten Chancen zu verhelfen?

Kann eine einseitige Interpretation von statistischen Daten wirklich echte Befunde liefern, um Grundlage einer zukunftsgerichteten Bildungspolitik zu sein? Zweifel sind angebracht. Ein paar Gedanken der Reihe nach:

  1. Es ist fast naiv zu meinen, mit dem Zitieren von «Liberté, Egalité, Fraternité» sei der absolute Massstab für soziale Gerechtigkeit gefunden. Es ging damals in erster Linie um Emanzipation von den feudalen Strukturen. Nicht nur die französischen Revolutionäre waren sich nicht einig über die Auslegung der Begriffe, auch die Philosophie beantwortet die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit seit dem Altertum auf sehr unterschiedliche Weise. Aristoteles hatte keine Mühe damit, dass Menschen in der Gesellschaft ungleich gestellt waren. Für ihn bedeutete soziale Gerechtigkeit und erstrebenswertes Glück eine Situation, in der jeder Mensch die Stellung einnimmt, für die er am besten geeignet ist.1 Auch der aufklärerische Pädagoge Pestalozzi wollte nicht etwa dem Bauernstand zu mehr politischem Einfluss verhelfen, sondern die Kinder anleiten, die Zusammenhänge, in denen sie leben, besser zu verstehen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.2 Es ist geschichtlich falsch, die Kant’sche Forderung, «aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herauszutreten», als politische Kampfansage an die herrschenden Machtträger zu deuten. Diese klassenkämpferische Auslegung ergab sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Folge der Auswüchse der industriellen Revolution und des ungebändigten Kapitalismus.

Die Schule steht jedoch seit je unter der Aufsicht politischer Gremien, die Lehrpersonen erhalten eine umfassende pädagogische Ausbildung.

  1. Die staatliche Schule hat seit ihren Anfängen ein doppeltes Ziel: Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft, indem sie wissenschaftliches und kulturelles Grundlagenwissen und Können vermittelt, sowie Beurteilung der Leistung in Hinblick auf den weiterführenden Bildungsweg. Dass hier die Gefahr besteht, einseitige Förderung oder politische Indoktrination zu betreiben, kann keinesfalls bestritten werden. Die Schule steht jedoch seit je unter der Aufsicht politischer Gremien, die Lehrpersonen erhalten eine umfassende pädagogische Ausbildung. Auch ist die Schule einem ständigen Wandel unterworfen, und zwar sowohl in Bezug auf Inhalte, die sie vermittelt, als auch in Bezug auf Methoden, die sie anwendet, in Bezug auf Berechtigungen, die sie vergibt, und in Bezug auf die Werte, die sie lebt. An diesen Prozessen sind linke und bürgerliche Kräfte beiderseits beteiligt. Damit ist die Schule politisch ein kaleidoskopartiges Abbild der politischen Landschaft. Dass sie «einseitig gesellschaftliche Verhältnisse zementieren hilft», ist im Gegensatz zu Gesinnungsschulen (z.B. konfessionell geprägten Schulen) oder Schulen in Einparteienstaaten unter demokratischer Kontrolle nicht möglich.
  2. Dass die von Linken mitgestaltete Bildungspolitik nichts unversucht lässt, die «brach liegenden menschlichen Ressourcen» der wenig privilegierten Schichten zu mobilisieren, zeigen die ständigen Reformen der letzten 50 Jahre: Aufweichung der Bedingungen für Gymnasialeintritte in urbanen Regionen (Genf, Basel), sprachliche Frühförderung, Einführungsklassen zur Abfederung des Primarschuleintritts, Erweiterung des Schulobligatoriums von 8 auf 11 Jahre, Übergangsklassen für solche, die in eine höhere Schulstufe übertreten wollen, kooperative Schulen, Gesamtschulen, Digitalisierung, Inklusion der Lernenden mit besonderem Bildungsbedarf in die Regelklassen, Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten im nachobligatorischen Schulbereich (Fachhochschulen, höhere Fachschulen, Berufsmatur, Passerelle). Die Erfolge lassen sich durchaus sehen: Das duale Bildungssystem bewirkt eine gegenüber dem Ausland rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen nach Ende der Schulzeit.

Die Erfolge lassen sich durchaus sehen: Das duale Bildungssystem bewirkt eine gegenüber dem Ausland rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen nach Ende der Schulzeit.

Berufsmatur: Massive Aufstriegschancen und geringe Jugendarbeitslosigkeit

Die von Gruber zitierte Statistik (Becker/Schoch)3 berücksichtigt nicht, wie sehr initiale Bildungsnachteile von Unterprivilegierten noch im nachobligatorischen Bereich kompensiert werden können und den Betroffenen zum beruflichen und sozialen Aufstieg verholfen haben. Es fehlt also der langzeitliche Aspekt, der die Entwicklung der Schulabgehenden und der nachfolgenden Generationen und deren gesellschaftlichen Aufstieg im Blick hätte. Tatsächlich scheint das Problem zu sein, dass die Aufsteigenden die Positionen der Bessergestellten einnehmen, so dass neue Schichten (Migranten) gewonnen werden müssen, um die schlechter bezahlten und bildungsmässig anspruchsloseren Arbeiten zu übernehmen. D.h., je mehr Aufsteigende es gibt, desto dringender wird die Nachfrage nach neuen “Arbeitssklaven”, wobei deren Kinder natürlich wieder als Secondos bei Null beginnen.

Linke setzen sich also mit den Neoliberalen ins gleiche Boot, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven.

Ferner entgeht Gruber, dass die Idee von der Mobilisierung der brach liegenden Begabungsressourcen schon in den 60er Jahren von der OECD angestossen wurde. Nur geht es der OECD, welche zur Verbesserung der Schulen die PISA-Studie verantwortet, nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern um den Erhalt des Motors des Kapitalismus: Mehr und besser Gebildete ermöglichen mehr wirtschaftliches Wachstum. Linke setzen sich also mit den Neoliberalen ins gleiche Boot, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Das Change Management-Konzept des Kantons Thurgau wurde von einem Sozialdemokraten entworfen. Es entstammt aus der Denkschule von McKinsey.

  1. Gruber geht grundsätzlich von dem Bild aus, dass alle Menschen von Natur aus gleich konzipiert seien und nur durch eine ungerechte Gesellschaft in sozial und wirtschaftlich unterschiedliche Schubladen gedrückt würden. Er glaubt, eine inklusive Gesamtschule könne diese Ungerechtigkeiten ausbügeln. Allerdings ist diese Vorstellung vom Menschen ein ideologisch geprägtes Zerrbild. Die Herkunft aus Familien mit unterschiedlichem Bildungsstand, aus unterschiedlichen Kulturen, die jedem eigentümliche genetische Anlage, die unterschiedlichen Begabungen sind nicht einfach durch eine Einheitsschule zum Verschwinden zu bringen. Menschen sind keine beliebig aus Ton formbaren prometheischen Geschöpfe.4

Schulstrukturen haben wenig Einfluss

John Hattie: Die Unterrichtsqualität entscheidet.

Metastudien von Moser und Hattie zeigen auf, dass die Schulstruktur einen kleinen Einfluss auf die Wirksamkeit von Schule ausübt. Die breit angelegte BIJU-Studie in Deutschland hat dagegen aufgezeigt, dass Gesamtschulen insgesamt (also auch bei Begabten) zu einem generellen Niveauverlust führen.5 Euphorisch begrüsste Reformen (z.B. Fremdsprachenunterricht mit Passepartout) haben oft den Effekt, dass die Leistungsschere zwischen Privilegierten und Nicht-Privilegierten noch mehr aufgeht, weil Privilegierte den schulischen Unsinn durch Eigeninitiative unterlaufen können, die Nicht-Privilegierten jedoch als Reformopfer auf der Strecke bleiben. Die hervorragenden PISA-Resultate der Asiaten sind nicht den Gesamtschulen zu verdanken, sondern dem intensiven Nachhilfeunterricht, der den Kindern jeweils nach dem staatlichen Schulbesuch abends zugemutet wird.

Beide folgen dem Glauben an die Machbarkeit, an die Herstellung von Individuen, die in ihrem Sinne geartet sind und die sie wie Marionetten für ihre ideologischen Vorstellungen tanzen lassen können.

Die Herstellung von «Gleichheit», wie es sich Linke gerne ausmalen, trifft sich im Übrigen auffällig mit der neoliberalen Sicht eines auf «Kompetenzen» ausgerichteten Lehrplans: Beide folgen dem Glauben an die Machbarkeit, an die Herstellung von Individuen, die in ihrem Sinne geartet sind und die sie wie Marionetten für ihre ideologischen Vorstellungen tanzen lassen können. Dabei geht der erste Begriff der französischen Revolution vergessen: la Liberté. Damit sei auch darauf hingewiesen, dass Egalité und Liberté in einem fundamentalen Widerspruch zueinander stehen, wenn sie nicht im einschränkenden Sinn der Auflehnung gegen adlige Privilegien gesehen werden.

Schwachstellen in Johannes Grubers Argumentation

Im zweiten Teil sei auf einige Falschinterpetationen von Johannes Gruber hingewiesen.

Gruber schreibt: Hinsichtlich der gymnasialen Maturität vermerkt die Studie für Akademikerkinder eine 7 Mal höhere Chance, «die gymnasiale Maturität zu erwerben, als Kinder von geringer gebildeten Eltern, und eine 2,9 Mal höhere Chance als Kinder von Eltern mit mittlerem Bildungsniveau». (SWR 2018, S. 48)

Die Frage sei erlaubt: Ist die Gymnasial- bzw. die Abiturquote das Mass aller Dinge, oder handelt es sich hier um den etwas altmodischen Bildungsdünkel, dass nur ein Maturitätsabschluss den Eintritt in ein finanziell sorgenloses und selbstbestimmtes Leben führen kann. Die Studie der Universität Lausanne (https://sgab-srfp.ch/verdient-man-mit-der-matura-wirklich-besser-als-mit-einer-berufslehre/9) ergibt hier ein differenziertes Bild. Und auch Rudolf Strahm betont, dass Berufsmatur und Fachhochschulen sowie lebenslanges Lernen (da gehen wir mit Gruber einig) sich als sehr lohnwirksam auswirken können.

Gruber schreibt: Die finnischen Schüler*innen, die neun Jahre lang bis zum Alter von 15 eine Gemeinschaftsschule besuchen, schneiden bei internationalen Leistungsvergleichen überdurchschnittlich gut ab.

Keine Frage: Unsere finnischen Kollegen und Kolleginnen haben in der Vergangenheit vieles sehr gut gemacht. Die Lesekompetenz, und nur das misst PISA, ist beachtlich. Die Ursachen für Finnlands Spitzenleistungen in diesem Bereich darf man nicht verkürzt oder aus einer ideologischen Brille betrachten. https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/warum-der-finnische-pisa-erfolg-nichts-mit-dem-gesamtschulsystem-zu-tun-hat-15035526.html)  In der Zwischenzeit sind die Messresultate nach Jahren der Spitzenplätze rückläufig. Und eine Zahl gibt enorm zu denken: Die Jugendarbeitslosigkeit in Finnland betrug 2019 fast 19%. (Schweiz 2,2%) Das zeigt, dass eine hohe Maturitätsquote keineswegs automatisch auch zu einem selbstbestimmten, autonomen Leben führt.

Gruber schreibt: Mehr Ressourcen – Linke Bildungspolitik fordert, dass bei der Bildung unserer Kinder weder Kosten noch Mühen gescheut werden …

Gemäss Statistik des Bundesamtes haben sich die Bildungsausgaben von 16,9 Milliarden Franken (1990) auf 38 Milliarden Franken (2020) mehr als verdoppelt. Und auch gemäss dem Bruttoinlandprodukt haben sich die Ausgaben um über 24% gesteigert! https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen/oeffentliche bildungsausgaben.assetdetail.14367421.html

Aus dem Tagi, 21.7.21

Man kann sich natürlich fragen, ob die Entschädigung für einen sozialdemokratischen Schulbezirkspräsidenten in Zürich (Jahreslohn 187’000 Fr.) von  650’000 Fr. bei eigener Kündigung auch zu den Bildungsausgaben gehört. Zu denken geben sollte dabei, dass diese Mehrausgaben um rund 130% weder zu besseren PISA-Resultaten noch zu mehr statistisch relevanter Bildungsgerechtigkeit geführt haben.

Gruber schreibt:  Weil vom gemeinsamen Lernen alle profitieren, unterstützt linke Bildungspolitik auch eine früh beginnende Schulpflicht (bzw. die Einführung des obligatorischen Kindergartens.

 Hierzu gibt es wenig Evidenzen: Der Kanton Tessin hat schon in den 1980er Jahren damit begonnen, seine Kinder sehr früh einzuschulen. Laut PISA-Ergebnissen belegt der Kanton Tessin in der interkantonalen Statitisk den vorletzten Platz und hat auch eine deutlich grössere Jugendarbeitslosigkeit als der Rest der Schweiz. Frankreich, das seine Kinder traditionell schon mit 3 Jahren einschult, erzielt nicht nur miserable PISA-Ergebnisse, sondern hat auch eines der ungleichsten Schulsysteme in Europa.

Gruber schreibt: [Mündigkeit] erschöpft sich nicht in der Aneignung von Wissen, sondern beinhaltet auch das Vermögen, das Anerzogene und Gelernte in Frage zu stellen. Selbständige Urteils- und Handlungsfähigkeit als oberstes Bildungsziel.

Einverstanden: Gruber umschreibt den Begriff der Mündigkeit. Die Aussage gilt aber für alle Lerninhalte, auch für die holistischen Kompetenzziele «Klimarettung», «Nachhaltigkeit», «Vielfalt», «Diversität» usw. Die von der Linken so vehement verteidigten Kompetenzziele «Kann mit Vielfalt umgehen», «Kann sich situationsgemäss ausdrücken» oder «Kann sein Konsumverhalten kritisch hinterfragen» können, als Kompetenzen beurteilt und gemessen, in eine schulische Indoktrination führen mit diktatorischen Ansprüchen.

Yasemin Dinekli, Gymnasiallehrerin in Zürich, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs, entwickelt ein Konzept für die fächerübergreifende Sprachförderung von Migrantenkinder im Gymnasium.

Grundsätzlich sind Grubers und unsere Ziele identisch. Die Autoren dieser Zeilen haben sich ihr ganzes Berufsleben hindurch für die Kinder unterprivilegierter Schichten eingesetzt. Und es wird in dieser Hinsicht auch weiterhin enorm viel getan. So entwickelt unsere Condorcet-Autorin Yasemin Dinekli zusammen mit anderen engagierten Lehrpersonen ein fächerübergreifendes Sprachförderkonzept für Migrantenkinder im Gymnasium, das – richtig umgesetzt – einiges bewirken dürfte. Darin liegt z.B. ein Schlüssel für die Erreichung dieser Ziele. Wir stehen für eine ideologiefreie Bildungspolitik, die von den Gegebenheiten ausgeht, die sie antrifft, die Kinder und Jugendliche in ihren Anlagen und Interessen fördert, jedoch anerkennt, dass gewisse Bedingungen nicht leicht beeinflussbar sind, die jedoch viele Möglichkeiten der Kompensation auch im nachschulischen Bereich anbietet. Und wir sind überzeugt, dass solche Ansätze einer Bildungspolitik vorzuziehen sind, die sich an Zielen orientiert, die ausserhalb der Möglichkeiten des Unterrichts stehen und zudem mit massiven Glaubenssätzen belegt sind.

 

 

 

1 Aristoteles, Politik, Erstes Buch. Betrachtungen über die Gerechtigkeit des Herrschens und Dienens.

2 Dietrich Brenner, Friedhelm Brüggen, Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 2011: «Pestalozzis Schulgründungen sind weder aus dem Geiste der Revolution abgeleitet noch gegen die Revolution gerichtet, sondern zielen auf eine Sicherung elementarer Voraussetzungen, die für die Führung eines ökonomisch, sittlich und politisch mündigen Lebens grundlegend sind und die ein unmündiges Volk sich weder aus eigener Kraft verschaffen noch ein Staat seinem Volk von oben herab verordnen kann.», S. 195

3 Rolf Becker und Jürg Schoch, Soziale Selektivität: Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR; Expertenbericht von Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR; Bern 2018

4 Thomas Kerstan, Ist die Schule gerecht?, DIE ZEIT, 28.6.2012 Nr. 27 «Selbst der längere gemeinsame Schulbesuch von Kindern unterschiedlicher Sozialschichten, auf den viele ihre Hoffnung setzen, vermag den Einfluss der Herkunft nicht zurückzudrängen.»

5 Urs Moser, Schulsystemvergleich: Gelingensbedingungen für gute Schulleistungen. Expertise über die Bedeutung von Schulmodellen der Sekundarstufe I für die Entwicklung der Schulleistungen, Zuhanden der Bildungsdirektion des Kantons Zürich, Bildungsplanung, Zürich 2008

John Hattie, Visible Learning, A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement, 2009

Jürgen Baumert/Olaf Köller, Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter (BIJU). Längsschnittuntersuchung in repräsentativen Stichproben in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Berlin (Ost und West) ab 1991. Pädagogik, 50. Jahrgang, Heft 6/1998

 

 

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Warum «linke Bildungspolitik» vonnöten ist und warum sie nicht ausreicht. https://condorcet.ch/2021/07/warum-linke-bildungspolitik-vonnoeten-ist-und-warum-sie-nicht-ausreicht/ https://condorcet.ch/2021/07/warum-linke-bildungspolitik-vonnoeten-ist-und-warum-sie-nicht-ausreicht/#comments Sun, 18 Jul 2021 09:37:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=8962

Immer wieder widmet sich der Condorcet-Blog mit grundsätzlichen Beiträgen der Bildungspolitik. Johannes Gruber, Redaktor von vpod-Bildungspolitik, fasst in seinem Artikel die wesentlichen Ziele linker Bildungspolitik zusammen. Dieser Artikel erschien zuerst in dem Gewerkschaftsmagazin "vpod-Bildungspolitik".

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Johannes Gruber, Redaktor vpod-Bildungspolitik sowie Fachsekretär interkulturelle Bildung

Was «linke Bildungspolitik» ist, darüber sollte wieder mehr gestritten werden. Gerne will ich hierzu ein paar Gedanken beitragen. Für eine systematische begriffliche Klärung der einzelnen Bestandteile «links», «Bildung», «Politik» und «Bildungspolitik» ist hier wohl nicht der richtige Ort, doch zumindest auf zwei historische Bezüge möchte ich eingangs nicht verzichten.

Die Unterscheidung der politischen «Linken» und «Rechten» hat ihren Ursprung in der ersten französischen Nationalversammlung 1789. Zur rechten Seite des Parlamentspräsidenten sass der Adel, zur linken das Bürgertum. Bis heute sind die Ideale der französischen Revolution «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» zentrale Bezugspunkte der politischen Gruppierungen, die sich als «links» bezeichnen. Wer linke Politik betreibt, der engagiert sich dafür, dass alle Menschen die gleichen Rechte und Lebenschancen haben, unabhängig von nationalen, ethnischen, geschlechtlichen Zugehörigkeiten.

1784, wenige Jahre vor der französischen Revolution, hatte der Philosoph Immanuel Kant in seinem bekannten Aufsatz «Was ist Aufklärung?» die Frage mit der Herausbildung der Fähigkeit beantwortet, «sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen». Sowohl eine Grundbedingung dafür, als einzelner Mensch sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, als auch als Gesellschaft demokratische Entscheidungen zu treffen.

Die Institutionalisierung der öffentlichen Schulen im 19. Jahrhundert waren diesem aufklärerischen Programm verpflichtet, Menschen zu bilden und zu verbessern.

 

Institutionalisierung der Schule: Selbständige Urteils- und Handlungsfähigkeit als oberstes Bildungsziel

Die Institutionalisierung der öffentlichen Schulen im 19. Jahrhundert waren diesem aufklärerischen Programm verpflichtet, Menschen zu bilden und zu verbessern. Bis heute prägt es den Kern dessen, was wir unter Bildung verstehen. Diese erschöpft sich nicht in der Aneignung von Wissen, sondern beinhaltet auch das Vermögen, das Anerzogene und Gelernte in Frage zu stellen. Selbständige Urteils- und Handlungsfähigkeit als oberstes Bildungsziel – angesichts des derzeitigen beschleunigten technologischen Wandels sowie kultureller und sozialer Umbrüche geradezu ein unerhört aktuelles Bildungsverständnis.

Doch mit dem Zeitalter der Aufklärung und der französischen Revolution wurden gesellschaftliche Ungleichheiten nicht aufgehoben, weiterhin blieb Bildung erst einmal ein Privileg, von dem die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung – Bauern, Arbeiter sowie die meisten Frauen – ausgeschlossen waren. Dies änderte sich nur sehr langsam: Wichtige Wegmarken waren hier die Einführung von öffentlichen Schulen und Schulpflicht im 19. Jahrhundert sowie der schrittweise Auf- und Ausbau eines differenzierten öffentlichen Bildungssystems im 20. Jahrhundert. Bis heute bestehen viele Bildungsungleichheiten fort. Ein Grundmotiv linker Bildungspolitik ist es, dies zu ändern.

Bildung – Mittel oder Gegenmittel zur Reproduktion von Ungleichheiten?

Seit Jahrzehnten legen bildungssoziologische Studien dar, dass weiterhin soziale Herkunft für den Schulerfolg entscheidend ist. Verortete die empirische Bildungsforschung in den 1960er Jahren das «katholische Arbeitermädchen vom Lande» als die im Bildungssystem am meisten benachteiligte Gruppe, so ist es heute der «Knabe ausländischer Herkunft»: In den Regelklassen der Schweizer Volksschule betrug 2018/19 der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit 27 Prozent, dagegen 49 in den Einführungsklassen und 55 in den anderen Sonderklassen – jeweils mehrheitlich Knaben (BFS 2020, S. 9).

Herkunft beeinflusst Schulerfolg

Die Studie «Soziale Selektivität» des Schweizerischen Wissenschaftsrates von 2018 zeigt eindrücklich auf, dass im Schweizer Bildungssystem die Faktoren tiefer sozio-ökonomischer Status, Migrationshintergrund / Fremdsprachigkeit, Bildungsferne / tiefer Bildungsstand der Eltern die Schullaufbahn der Kinder stark beeinflussen. Zu primären Herkunftseffekten wie schlechtere Leistungen kommen sekundäre: Auch bei gleichen oder sogar besseren Leistungen werden Schüler*innen je nach Herkunft schlechter bewertet. Die soziale Selektivität des Schweizer Bildungssystems vergrössert sich von Bildungsstufe zu Bildungsstufe. Hinsichtlich der gymnasialen Maturität vermerkt die Studie für Akademikerkinder eine 7 Mal höhere Chance «die gymnasiale Maturität zu erwerben, als Kinder von geringer gebildeten Eltern, und eine 2,9 Mal höhere Chance als Kinder von Eltern mit mittlerem Bildungsniveau» (SWR 2018, S. 48).

Bourdieu kommt zu dem Schluss, dass eine solche «Reproduktion sozialer Ungleichheit» sogar die zentrale Funktion des Bildungssystems sei.

Pierre Félix Bourdieu, 1930-2002, französischer Soziologe und Sozialphilosoph

Bereits zu Beginn der 1970er Jahre hatte Pierre Bourdieu in seinen Studien zum französischen Bildungssystem aufgezeigt, dass «Chancengleichheit» nicht nur eine Illusion ist, sondern dass diese Illusion zudem auch eine wichtige ideologische Funktion hat. Indem so getan wird, als ob alle Schüler*innen die gleichen Chancen hätten und fair bewertet würden, wird dem Schulerfolg die Legitimität zugeschrieben, über den weiteren Lebensverlauf der Schüler*innen – den Zugang zu beruflichen Karrieren, höheren Einkommen und sozialer Wertschätzung – zu entscheiden. Bourdieu kommt zu dem Schluss, dass eine solche «Reproduktion sozialer Ungleichheit» sogar die zentrale Funktion des Bildungssystems sei.

Wie aber kann linke Bildungspolitik gegen solche Strukturmechanismen gute Bildungsmöglichkeiten und -erfolge für alle erreichen?

Für eine Schule ohne Selektion

Je mehr Zeit die Kinder und Jugendlichen überwiegend im sozialen Umfeld ihrer Herkunftsfamilie verbringen, desto stärker reproduzieren sich die herkunftsbedingten Ungleichheiten.

Linke Bildungspolitik engagiert sich deshalb für die Einführung von Gesamtschulen, in denen keine Selektion nach Leistungsvermögen stattfindet.

Auf Ebene des Bildungssystems fordert linke Bildungspolitik deshalb seit jeher eine möglichst lange gemeinsame Beschulung von Kindern aus verschiedenen sozialen Milieus. Bestätigt wird sie darin von Befunden wie denen des SWR-Berichts, der darauf verweist, dass in hierarchisch gegliederten Bildungssystemen die soziale Herkunft den Bildungs- und Lebensweg von Kindern und Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten besonders stark präge. Im Schweizer Schulsystem seien zudem der «früh vorgenommene erste Übergang im Bildungssystem und die dabei stark ausgeprägte leistungsbezogene Allokation auf die Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I […] weitere institutionelle und strukturelle Schlüsselfaktoren für soziale Ungleichheit». (SWR 2018, S. 45). Linke Bildungspolitik engagiert sich deshalb für die Einführung von Gesamtschulen, in denen keine Selektion nach Leistungsvermögen stattfindet. Die Pisa-Ergebnisse zeigen, dass dies auch insgesamt zu besseren Leistungen führen kann: Die finnischen Schüler*innen, die neun Jahre lang bis zum Alter von 15 eine Gemeinschaftsschule besuchen, schneiden bei internationalen Leistungsvergleichen überdurchschnittlich gut ab.

Inklusion ist Kernanliegen linker Bildungspolitik

Besonders stark profitieren von einer vielfältigen und damit anregungsreichen sozialen Zusammensetzung von Schulen und Schulklassen auch Kinder und Jugendliche mit Handicaps. Dementsprechend ist auch Inklusion von Kindern mit Behinderungen in die Regelschule ein Kernanliegen linker Bildungspolitik. Mit dem Behindertengleichstellungsgesetz 2004, dem

Inklusion als Kernanliegen linker Bildungspolitik

Sonderpädagogik-Konkordat von 2013 und der 2014 durch die Schweiz erfolgten Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention wurde hierzulande eine Entwicklung hin zu einem inklusiven Bildungssystems aufgegleist – damit diese jedoch auch stattfindet, braucht es tatsächliche Strukturreformen, die bis jetzt noch nicht abzusehen sind. Linke Bildungspolitik fordert hier entsprechende Massnahmen und Ressourcen.

Es spricht vieles dafür, dass gemeinsames Lernen ganztags stattfinden sollte. Der derzeit in einigen Kantonen laufende Ausbau der Tagesstrukturen hin zu einer Tagesschule ist deshalb zu begrüssen. Aus Sicht einer linken Bildungspolitik wäre jedoch eine öffentliche Ganztagsschule zu bevorzugen, in der Schule und Betreuung konzeptuell aufeinander abgestimmt sind und Kinder in festen Teams ganztägig unterrichtet und gefördert werden.

Frühes Schuleintrittsalter: Obligatorium nötig

Frühes und lebenslanges Lernen ermöglichen

Weil vom gemeinsamen Lernen alle profitieren, unterstützt linke Bildungspolitik auch eine früh beginnende Schulpflicht (bzw. die Einführung des obligatorischen Kindergartens), die entsprechend dem HarmoS-Konkordat (ab dem 4. Lebensjahr) bereits jetzt für eine Mehrheit der Kantone Standard ist. Ohne Obligatorium wären wohl – aus finanziellen und kulturellen Gründen – gerade die Kinder nicht erfasst worden, die nun am meisten von den zwei zusätzlichen Schuljahren profitieren. Dies bestätigt ein Blick in den Bereich frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE), in dem in der Schweiz gerade im internationalen Vergleich erhebliche Defizite bestehen. Linke Bildungspolitik fordert auch hier einen Ausbau der wenigen existierenden öffentlichen Angebote und Programme.

Da die Notwendigkeit zu lernen in einer modernen Gesellschaft wie der Schweiz weder mit der obligatorischen Schule noch mit Abschluss eines Studiums endet, braucht es auch öffentliche Weiterbildungsangebote, die für wirklich alle Bevölkerungsgruppen zugänglich sind. Das in der Schweiz vorhandene Weiterbildungsgesetz (WeBiG) ist hier kaum hilfreich, da es stark von der Vorstellung privatwirtschaftlich organisierter und marktorientierter Weiterbildung geprägt und zudem inhaltlich auf Nachholbildung beschränkt ist. So jedenfalls wird das Gesetz seinem eigenen Anspruch nicht gerecht, «lebenslanges Lernen» zu fördern. Linke Bildungspolitik dagegen fordert, dass Weiterbildung weder an mangelnden Angeboten noch an zu geringen finanziellen Mitteln der Bildungsinteressierten scheitern darf.

Mehr Ressourcen für schülerorientierten Unterricht

Linke Bildungspolitik fordert nicht nur Reformen auf Ebene des Bildungssystems, sondern auch auf Schul- und Unterrichtsebene. Oft höre ich von Lehrpersonen, dass hierarchische und bürokratische Strukturen an den Schulen eine Unterrichtsentwicklung verhindern, die sich an der Logik und Dynamik des Lernens orientiert. Immer mehr Zeit müsse darauf verwendet werden zu überwachen, wo welche Schüler*in wann steht und den Eltern entsprechende Rückmeldungen zu geben, diese Zeit fehle dann für die Gestaltung des Unterrichts.

Je besser der Unterricht, je kleiner die Auswirkung der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg.

Generell sollte der Unterricht weniger notenorientiert erfolgen und individuell auf die jeweilige Schüler*in hin ausgerichtet sein. Oft scheitert dies jedoch bereits an den vorhandenen Ressourcen.

Für eine hohe Bildungsqualität braucht es zuallererst gute Arbeitsbedingungen für Lehrpersonen, kleinere Schulklassen und mehr Möglichkeiten individueller Förderung. Jedenfalls gilt: Je besser der Unterricht, je kleiner die Auswirkung der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg. Deswegen braucht es einen massiven Ausbau des öffentlichen Bildungssystems respektive die dafür nötigen finanziellen Ressourcen. Linke Bildungspolitik fordert, dass bei der Bildung unserer Kinder weder Kosten noch Mühen gescheut werden, damit diese unabhängig von ihrer Herkunft ihren Weg gehen und zu einem selbstbestimmten Leben in unserer Gesellschaft befähigt werden.

Linke Bildungspolitik zu betreiben, bedeutet auch sich klar darüber zu sein, dass mit Bildung alleine die gesellschaftlichen Unfreiheiten und Zwänge, Ausbeutung und Diskriminierung nicht überwunden werden können.

Linke Bildungspolitik weiss um ihre eigenen Grenzen

Seit dem Reüssieren der Humankapitaltheorie in den Wirtschaftswissenschaften ist das Fordern nach mehr Investitionen in den Bildungsbereich nicht länger ein Alleinstellungsmerkmal linker (Bildungs)Politik. Inzwischen ist es bildungsökonomisches Allgemeingut, dass es Ressourcenverschwendung ist, Bildungspotentiale brachliegen zu lassen und deshalb die Chancengleichheit im Bildungssystem verbessert werden muss.

Der Ansatz linker Bildungspolitik ist jedoch ein anderer. Es geht ihr um mehr, als «nur» die Chancen von benachteiligten Gruppen im schulischen Wettbewerb zu verbessern. Als linke Politik will sie die Freiheitsräume von Individuen erweitern – und nicht lediglich Sieger und Verlierer im schulischen Wettbewerb leistungsgerechter ermitteln. Auch die Praxis, die Gewinner privilegierten und die Verlierer prekären Segmenten des Arbeitsmarktes zuzuweisen, muss linke Bildungspolitik infrage stellen. Linke Bildungspolitik zu betreiben, bedeutet auch sich klar darüber zu sein, dass mit Bildung alleine die gesellschaftlichen Unfreiheiten und Zwänge, Ausbeutung und Diskriminierung nicht überwunden werden können. Hierfür braucht es eine linke Sozial- und vor allem Wirtschaftspolitik, die über mehr Umverteilung eine tatsächliche Angleichung von Lebensbedingungen bewirkt. Vermutlich würde dies, wenn auch indirekt, stärker zur Bildungsgerechtigkeit beitragen, als alle bildungspolitischen Reformen zusammen.

*Johannes Gruber ist promovierter Soziologe. Für die Gewerkschaft VPOD gibt er die (Link:) Zeitschrift «vpod bildungspolitik» heraus und ist für den Bereich «Migration» verantwortlich.

 

Literatur

BFS (2020): Statistik der Sonderpädagogik. Schuljahr 2018/19

SWR (2018): Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR. Expertenbericht von Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR

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Zur 76sten Ausgabe von WIDERSPRUCH: Jugendliche stellen Ordnung in Frage https://condorcet.ch/2021/05/zur-76sten-audgabe-von-widerspruch-jugendliche-stellen-ordnung-in-frage/ https://condorcet.ch/2021/05/zur-76sten-audgabe-von-widerspruch-jugendliche-stellen-ordnung-in-frage/#comments Sun, 09 May 2021 07:48:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=8501

Julia Klebs ist Lehrerin in Basel und Redakteurin der Zeitschrift Widerspruch. Der Widerspruch sieht sich seinerseits als ein wichtiger Ort kritischer Reflexion und gesellschaftlicher Analyse. Er bezeichnet sich als eine konstante Stimme in der Diskussion für eine soziale und gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Julia Klebs, im Condorcet-Blog keine Unbekannte, stellt in diesem Beitrag die neuste Ausgabe, das Heft 76 vor. Es geht um die Jugend, um ihre Perspektiven, ihre Herausforderungen und um Bildungspolitik. Dabei sind auch kritische linke Töne zu den aktuellen Schulreformen rund um PISA zu vernehmen.

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Julia Klebs, Lehrerin, Redaktorin von Widerspruch: Wir brauchen mehr Protest.

«Das Traurige ist, dass wir uns beim Heranwachsen nicht nur an die Gesetze der Schwerkraft gewöhnen. Wir gewöhnen uns gleichzeitig an die Welt selber.» (Gaarder, Sophies Welt, 1993, 12)

Nummer 76 der Zeitschrift Widerspruch trägt den Titel «Jugend – aufbrechen, scheitern, weitergehen». Das Heft fragt nach Lebensrealitäten, Wünschen und Ängsten heutiger Jugendlicher in einer Zeit grosser Ein- und Umbrüche unter dem Vorzeichen multipler Krisen: Klimakrise, Coronakrise, Finanzkrise etc. Krisen sind Situationen der Entscheidung und dies beinhaltet auch das Nachdenken über Möglichkeiten: über das, was kommt und kommen soll, über die Zukunft und ihre Bedeutung für heutige Jugendliche.

Jugend, das ist traditionell der Übergang zwischen zwei Welten: Wir verlassen die Kindheit und werden zu Erwachsenen. Es ist eine Phase, in der Jugendliche aufbrechen, Erfahrungen machen, sich selbst definieren wollen. Mitunter befinden sie sich in einer sensiblen und turbulenten Phase. Die Adoleszenz kann alle bisherigen Sicherheiten über den Haufen werfen und zu mannigfaltigen Bruchlinien führen, im eigenen Körper wie im familiären und sozialen Umfeld (Bischof). Gegenwärtig treffen persönliche Sensibilitäten und Stimmungsschwankungen auf gesellschaftliche Unwägbarkeiten.

Unter Verknappungsbedingungen besteht indessen die Gefahr, dass Jugendliche – bei all ihrer Kreativität und Unbekümmertheit – das Primat des Geldverdienens relativ früh verinnerlichen.

Die aktuellste Ausgabe des Widerspruch beschäftigt auch mit der Bildungspolitik

Jugendliche Entwicklungswege lassen sich auch als Wagnis verstehen, Neues wird ausprobiert, es wird viel lustiger Blödsinn gemacht und nebenbei sollen Weichen für die Zukunft gestellt werden. Unter Verknappungsbedingungen besteht indessen die Gefahr, dass Jugendliche – bei all ihrer Kreativität und Unbekümmertheit – das Primat des Geldverdienens relativ früh verinnerlichen. Selbsterkundungen, Umwege und Ausprobieren können riskant werden, denn Fehler oder Misslingen haben mitunter schwer zu korrigierende Auswirkungen. Mit diesem Druck gehen Jugendliche in der Schweiz unterschiedlich um. Gemäss der Juvenir-Studie 2015 berichten 46 Prozent der Lernenden von Stress, Leistungsdruck und Überforderung, der in Schule und Ausbildung entstehe. Noch werden Jugendliche in der Schweiz von keiner Jugendpolitik unterstützt, die über die Bedingungen nachdenken und die Zeit und den Vertrauensvorschuss einfordern würde, die für das Ausbilden von eigenständigen Persönlichkeiten notwendig sind (Düggeli).

Stellenwert der Berufslehre

Schweizer Jugendpolitik müsste auch eine Diskussion um den Stellenwert der Berufslehre umfassen. Sie ermöglicht das praktische und theoretische Erlernen von komplexen Fähigkeiten und Kompetenzen, steht gegenwärtig aber unter dem Druck eines enger werdenden Arbeitsmarktes und einer auf breiter Basis wirksamen Aufwertung akademischer Ausbildungsgänge. Für die Lehre gilt gegenwärtig genau so wenig wie für die vorangehende Schule, dass sie unter humanistischen Vorzeichen der Selbstverwirklichung stehen würde. Stattdessen müssen sich die Bedürfnisse der Subjekte denjenigen des Arbeitsmarktes unterordnen, was auch die individuelle Bewältigung struktureller Problematiken (Diskriminierungen, Weiterbildungsdruck oder ein durch Covid-19 erschwerter Einstieg ins Berufsleben) umfasst (Racine / Ziltener).

Diese doppelte Ausrichtung führt zu Widersprüchen zwischen integrativ gedachten Schulen und den Erfordernissen einer auf Konkurrenz beruhenden Leistungsgesellschaft.

Ökonomisch gerahmter Kompetenzdiskurs

Ein weiteres dem Thema Jugend zugehöriges Feld ist die Bildungspolitik. Mit dem 2004 in einer Abstimmung angenommenen Bildungsartikel wurden das Schuleintrittsalter, die Dauer und die Ziele der Bildungsstufen gesamtschweizerisch harmonisiert. Die Abstimmung stand unter dem Vorzeichen zweier übergeordneter Entwicklungen. Zum einen sind das die Bestrebungen nach Inklusion und Integration, den beiden Leitbegriffen moderner Pädagogik. Folgt man ihnen, so zeigt sich, dass eine frühe schulische Selektion zu einer Benachteiligung unterprivilegierter Schüler*innen führt. Sie bewirkt unterschiedlich förderliche Lern- und Sozialisationsbedingungen entlang von (De-) Privilegierungsfaktoren wie soziale und ethnische Herkunft, finanzielle und kulturelle Ressourcen des Elternhauses oder Geschlecht (Sagelsdorff / Simons). Die andere Entwicklungslinie bezieht sich auf den ökonomisch gerahmten Kompetenzdiskurs, der im Zuge von internationalen Schulleistungs-

Hysterisierte Analysen, widersprüchliche Wirkung

Vergleichsstudien, namentlich den PISA-Studien, auf zentrale Prüfungen und Testergebnisse sowie auf eine primäre Anbindung von Bildung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes setzt. Diese doppelte Ausrichtung führt zu Widersprüchen zwischen integrativ gedachten Schulen und den Erfordernissen einer auf Konkurrenz beruhenden Leistungsgesellschaft (Crain). Letztlich produzieren die Widersprüche auch Bildungsverweiger*innen, die erkennen, dass schulische Anstrengung sich für sie ohnehin nicht lohnt, und deren Rebellion das Schulsystem zu überfordern droht. Immer wieder finden sich unter den Jugendlichen aber auch widerständige Persönlichkeiten, die sich trotz widriger Umstände ihren Weg bahnen, mitunter indem sie die Ränder des Berufsbildungssystems, etwa zahlungspflichtige, berufsbildende Privatschulen, für sich zu nutzen wissen (Preite).

Solche Ordnungen stellen Jugendliche weltweit in Frage, radikaler und risikobereiter als Erwachsene.

Massive Politisierung der Jugend

Die unsichere Grundstimmung führt aber nicht nur zu Ängsten und Ohnmachtserfahrungen. Sie birgt auch Fragen nach dem Werden und den Möglichkeiten sowie ein grosses Mobilisierungspotential. Nicht nur vor unserer Haustüre erleben wir eine massive Politisierung von Jugend, sondern mehr noch im globalen Massstab. In den letzten Jahren fand dies in weltweiten Protesten Ausdruck. Aufstände, an deren Spitze Jugendliche stehen, erstrecken sich von Chile bis Hongkong, vom Libanon und von Algerien bis Haiti (Zellhuber). Sie richten sich gegen eine Realpolitik, die die Realität, nämlich die Dringlichkeit des Wandels, ignoriert und einer Machbarkeits- und Verwertungslogik verhaftet bleibt. Solche Ordnungen stellen Jugendliche weltweit in Frage, radikaler und risikobereiter als Erwachsene. Wie sähen Gesellschaften aus, die mit weniger Rohstoffverbrauch und ohne Ausbeutung von Mensch und Natur ein gutes Leben für alle ermöglichen würden? Junge Menschen werden in unseren Breitengraden oft für ihre Radikalität belächelt. Es fragt sich jedoch, wie lange noch. Die Worte einer 21-jährigen Klimaaktivistin erinnern daran, dass Grundsätzliches zu verändern ist: «Wir wollen und müssen anecken. Bitten, Fordern und jene Wege gehen, welche die institutionelle Politik anbietet, reicht offensichtlich nicht aus, um echte Veränderung herbeizurufen. Wir brauchen deshalb nicht nur mehr Geschichten und mehr Demokratie, sondern auch mehr Protest.» (Hess)

200 Seiten, 14.8 × 21.0 cm, Broschur. ISBN 978-3-85869-921-3, 1. Auflage

CHF 25.-, EUR 18.-

Zu bestellen unter:

 

 

 

 

 

 

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Von diffusen Ängsten und mutiger Klarheit https://condorcet.ch/2019/07/von-diffusen-aengsten-und-mutiger-klarheit/ https://condorcet.ch/2019/07/von-diffusen-aengsten-und-mutiger-klarheit/#respond Sun, 28 Jul 2019 12:35:16 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1721

Dem Gegner diffuse Ängste vorzuwerfen, ist ein altes Muster der Diskursstrategie, wenn die eigenen Argumente nicht überzeugen. In den Auseinandersetzungen um den Lehrplan 21 ist dieser rhetorische Zweihänder oft angewendet worden. Ein Blick zurück und der Vergleich mit der heutigen Situation ist reizvoll. Condorcet-Autor Alain Pichard erinnert sich und dreht den Spiess um!

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Hans Hess, Präsident von Swissmem

Hans Hess, Präsident von Swissmem (Verband für KMU und Grossfirmen der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie) zog im Vorfeld der Lehrplan-Abstimmungen über die Lehrplangegner her: «Insgesamt ist die am Lehrplan 21 geäusserte Kritik schwer fassbar, wenig fundiert und ergibt in der Sache keinen roten Faden.» (18.5.2014) Und René Will, Ressortleiter Bildung von Swissmem, doppelte am 30.11.2016 nach: «Hier werden unbegründete und diffuse Ängste geschürt.»

Assistiert wurden diese Aussagen u. a. von linker Gewerkschaftsseite. Im Magazin VPOD-Bildungspolitik schrieb Thomas Ragni, VPOD- und Denknetz-Mitglied sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter im SECO (Staatssekretariat für Wirtschaft): «Pichard /Kissling drücken an diversen Stellen ihr diffuses Unbehagen aus» und einige Zeilen weiter psychiatrisierte er die Gegner: «Entscheidend ist, dass die Angst selber real ist und sich ein Objekt Freudscher Rationalisierung suchen muss». (VPOD-Bildungspolitik, April 2015, S. 22).

Gestandene Wirtschaftsleute und Altmarxisten vereint

Es ist eine Konstellation, an die man sich mittlerweile gewöhnt hat. Gestandene Wirtschaftsleute und Altmarxisten im bildungsfernen Beamtenstatus loben die Kompetenzorientierung und diffamieren ihre Gegnerschaft mit den Worten: «Diffuse Angst»!

Wer hat hier eigentlich Angst?

Es ist im Vergleich durchaus interessant, die real existierenden Bedingungen der Leute zu beleuchten, welche zur Zielscheibe dieser bewährten Allianz geworden sind und von den eingangs erwähnten Herren mit dem Etikett «diffus» und «ängstlich» belegt werden. Hier ein paar Müsterchen aus den letzten Monaten:

Poster im Lehrerzimmer des OSZ-Orpund
Bild: api

Lehrer P. hängte im Lehrerzimmer seiner Schule in einer bernischen Gemeinde einen Artikel von mir am Wandbrett auf. Meine Kolumne wurde von seinem Schulleiter umgehend entfernt, P. wurde ins Büro zitiert. Es folgte ein dreistündiges Mitarbeitergespräch mit der freundlichen Empfehlung, dass man – wenn man mit dem Gang der Dinge nicht mehr einverstanden sei – ja auch einen anderen Arbeitsort suchen dürfe. Wie entscheidet sich ein 57-jähriger Familienvater, der in der Nachbargemeinde beheimatet ist und dort auch ein Haus erworben hat? In diesem Fall meldete er sich bei mir und drohte seinem Vorgesetzten, den Druckversuch an die Öffentlichkeit zu bringen. Bestraft wurde er mit einer unattraktiven Lektionenzuteilung und einem miserablen Stundenplan. Er unterrichtet heute noch an der Schule, achtet aber darauf, sich professionell nichts zu Schulden kommen zu lassen. Wer hat hier Angst? Lehrer P., der die Entwicklung mit der Kompetenzorientierung mit Sorge betrachtet, oder der Schulleiter, der eine schulinterne Diskussion mit dem Mittel der Repression unterbinden wollte?

Den Lehrkräften der Gemeinde Wigoltingen, die das Projekt «Lernlandschaften» nicht mittragen wollten, wurde unter Androhung personalrechtlicher Konsequenzen untersagt, mit dem Disput an die Öffentlichkeit zu gehen. Trotzdem entschieden sie sich zu einem offenen Brief und brachten den Konflikt an die Öffentlichkeit. Wer hat hier Angst? Die Lehrkräfte, die dem behördlichen Druck standhielten, oder die Schulpflege, die den öffentlichen Diskurs mit einem Redeverbot unterdrücken möchte?

In der Gemeinde Buttikon kündigten 15 Lehrkräfte, weil sie die von oben verordnete Vision 2025 (die ebenfalls Lernlandschaften vorsieht) nicht mittragen wollen. Auch hier ging ein rüder Rechtsstreit mit Redeverbot voraus. Wer hat in diesem Fall Angst? Die Lehrkräfte, welche sich eine andere Stelle suchen, – und dies im völligen Bewusstsein, fortan den Nimbus des «Neinsagers» im Portefeuille zu wissen – oder die Schulleitung, welche auch hier jeglichen Dialog ablehnte und auf ihre Steuerungskompetenz verwies?

Beurteilungsbogen der Kindergärten in St. Gallen, Seite 9 von insgesamt 12 Seiten

Die 12 Lehrerinnen, die sich in der Stadt Basel gegen die Vermessungsorgie ausgesprochen hatten und dies in einem öffentlichen Schreiben (BAZ) kundtaten, wurden vom Erziehungsdepartement ebenfalls zitiert. Es wurde ihnen klar gemacht, dass sie mit personalrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten, sollte sich dergleichen wiederholen. Wer hat hier Angst? Die Primarlehrerinnen, welche sich weigern wollten, diese fragwürdigen Kompetenzbögen auszufüllen, oder die Behörde, welche von ihren Untergebenen bedingungslose Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber einfordert!

Auffallend ist die völlige Absenz der Personalverbände

Auffällig bei diesen Mosaikteilchen des gegenwärtigen bildungspolitischen Sittenbildes ist die völlige Absenz der jeweiligen Gewerkschaften, deren Aufgabe es ja eigentlich wäre, ihre Mitglieder zu verteidigen. Aber auch aus den Personalverbänden hört man immer mehr den Tenor:  Angestellte einer Bildungsinstitution hätten gegenüber dem Arbeitgeber eine Loyalitätspflicht.

Die famose Vorladung des Erziehungsdirektors

Zum ersten Mal vernahm ich solche Voten im Jahr 2003. Ich war damals neben Res Aebi, dem Langnauer Sekundarlehrer, einer der bekanntesten Lehrkräfte, welche die neue Beurteilung (SCHÜBE) im Kanton Bern bekämpften. Ich tat dies auch in der Öffentlichkeit, was mir eine Vorladung des damaligen Erziehungsdirektors Annoni nach Bern einbrachte.

Die Veröffentlichung dieser Karikatur des Autors brachte das Fass zum Überlaufen

Mein Schulkommissionspräsident, so hörte ich später, hätte mich am liebsten entlassen. Meine damalige Schulleitung befürwortete zwar die neue Beurteilung, wandte sich aber entschieden gegen eine Entlassung. Der Kommissionspräsident war aber an jener Sitzung ebenfalls anwesend. Und so sass ich einer breiten Allianz von Politik, Wissenschaft und Bildungsverwaltung gegenüber (insgesamt 8 Personen). Damals war ich noch VPOD-Mitglied, und so sicherte ich mir die Begleitung von Nico Lutz, der an meiner Seite sass, und mich verteidigen sollte.

Nico Lutz, heute Gewerkschaftssekretär der Unia Bild Unia

Er hatte eine delikate Situation zu lösen, denn der Vorstand der VPOD-Lehrergruppe unterstützte die behördliche Vermessungsorgie ohne vorherige Absprache mit der Basis. Der heutige UNIA-Sekretär löste seine Aufgabe mit Bravour. Ich ging erhobenen Hauptes aus der Auseinandersetzung hervor, zumal eine von Res Aebi organisierte Unterschriftensammlung ein vernichtendes Urteil zeitigte und die ganze Sache noch einmal überarbeitet werden musste. Doch muss ich zugeben, dass ich vor dieser Verhandlung eine schlaflose Nacht hatte. Als Organisator eines Lehrerstreiks und aktiver Gewerkschafter im linken VPOD wäre eine Anstellung in einer anderen Gemeinde kein leichtes Unterfangen gewesen. Für einen dreifachen Familienvater keine einfache Situation.

Staatsschule versus öffentlich-rechtliche Anstellung

15 Jahre nach dieser Auseinandersetzung scheint sich der Loyalitätszwang und damit die Staatsschule durchgesetzt zu haben. Das Anstellungsverhältnis an einer Staatsschule (wie auch an einer Privatschule) verlangt eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber. Doch die öffentlich-rechtliche Anstellung verpflichtet Lehrerinnen und Lehrer gleichzeitig zu einer Loyalität gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Daraus entstehen Dilemmata, früher wie heute. Diesen Grauzonen pädagogischen Wirkens möchte die Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft mit der Implementierung neuer Führungsstrukturen entgegenwirken. Ziele sind mehr Steuerung, mehr Kontrolle und eine leichtere Vollzugsgewalt.

Rinks und lechts – was soll’s?

Dass die Wirtschaftsleute Hess und Will eine solche Hierarchisierung begrüssen, ja diese sogar propagieren, ist nicht weiter erstaunlich, entspricht sie doch dem Selbstverständnis des Unternehmers. Nicht ganz überraschend findet man aber auch Sympathien für solche Zentralkomitee-artige Verfügungsgewalt und Zentralismusbestrebungen bei den Linken.

Und damit wären wir wieder bei unserem eingangs erwähnten rhetorischen Kampfbegriff. Genau die Implementierung dieser Führungsstrukturen war eine jener «diffusen Ängste», welche mich und meine MitstreiterInnen damals umtrieb. Womit wir beim zweiten «Totschlagargument» der Lehrplanbefürworter angelangt wären.

Wer ist hier eigentlich «diffus»?

Dass die Herren Hess und Will unsere Kritik am Lehrplan 21 als konfus empfanden, kann man durchaus nachvollziehen. Ihr Bildungsideal orientiert sich an der Berufsbildung. Klar formulierte Kompetenzen, auf Anwendbarkeit ausgerichtete Bildung, effizient geplant, möglichst standardisiert, outputorientiert, Bildung nach dem Prinzip der Produktion von Kühlschränken in einer modernen Produktionsstätte. Diesen Leuten das Humboldt’sche Bildungsideal entgegenzuhalten, ist natürlich vermessen.

Ob allerdings die im Lehrplan enthaltenen Kompetenzziele immer den Wunsch nach Verständlichkeit und Klarheit erfüllen, darf bezweifelt werden. So hat auch das Kompetenzziel im Fach Musik: «… kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren …»  durchaus ein gewisses «Diffusitätspotential».

Beat Kissling und die Autoren in der lehrplankritischen Broschüre «Einspruch» können natürlich nicht für alle Lehrplangegner die Hand ins Feuer legen. Aber ihre Kritik an der Vermessung, am Ansinnen, mit den überfachlichen Kompetenzen Gesinnung zu erzeugen, ihre  Befürchtung, dass die Idee des selbstgesteuerten Lernens grossflächig in die Schulen unseres Landes implementiert werden soll (notabene mit fatalen Konsequenzen für die Kinder der unterprivilegierten Schichten), die Warnungen vor der neuen Top-down-Steuerungsphilosophie, vor dem Abzweigen beträchtlicher Summen im Bildungsbereich für den Überbau, vor der Einschränkung der Methoden- und Lehrfreiheit und die Behauptung, dass Bildung zu Ausbildung werden soll, sind eigentlich klar formuliert. Man muss sie nicht teilen, aber unverständlich oder diffus waren und sind diese Befürchtungen nicht.

Interessant war vielmehr, dass die Lehrplangegner, allen voran der Pädagogikprofessor Roland Reichenbach, immer wieder eine Prüfung für all die Behauptungen unserer Reformeiferer anmahnten. Das ist das Gegenteil von diffus, es ist nachvollziehbar.

Diffus sind hingegen viele der ausgeklügelten Kompetenzraster, diffus ist die neue Mehrsprachendidaktik, diffus die Begründung für das Frühfranzösisch, diffus sind die vielen personalen Kompetenzen im Kindergarten.

Diffus ist das bildungspolitische Standing der Linken

Richtig diffus wird es allerdings, wenn wir die linken intellektuellen Purzelbäume und Verrenkungen der vergangenen Jahre betrachten. Schrieb die SP in ihrer Bildungsoffensive 2007 noch: «Die SP-Schweiz fordert schweizweit verbindlich definierte Bildungsstandards. Mittels standardisierter Tests sollen transparente und messbare Leistungsziele und darauf aufbauend Zertifikate vergeben werden»! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Die SP forderte damals nichts weniger als standardisierte Tests, welche sogar über Zugänge zu Bildungswegen entscheiden können (oder was um Gottes Willen bedeuten Zertifikate denn sonst?).

Heute, elf Jahre später, fordert der VPOD in seinem Bildungsmagazin (Nr. 207, Juli 2018, S. 29): «An der Schule wollen wir keine Leistungschecks.» (Beatrice Messerli, Grossrätin Basta).

Unsere Warnung vor einer Ökonomisierung der Schule bezeichnete eingangs zitierter Thomas Ragni noch als «Phantomschmerz der Linken» (VPOD-Bildungspolitik, 196, 2016, S. 20-22).

Zwei Jahre später schreibt Genosse Ragni: «Der selektive Erfolg des Mainstreams der Bildungsökonomik erklärt sich aus den strukturellen Investitions- und Finanzierungszwängen im Bildungsbereich, denen kapitalistische Gesellschaften unterworfen sind. Ihre Basisannahmen reflektieren entsprechend die Erfolgsbedingungen der Kreislauf- und Akkumulationsprozesse im Kapitalismus. Ausgangspunkt muss auf Investitionsseite die Mainstream-Theorie des ‹Humankapitals› sein, die Wissen und Können als ein in den Individuen verkörpertes Asset behandelt.» (VPOD-Bildungspolitik Nr. 207. 2018 S.20)

Abgesehen von diesem reichlich abgehobenen neumarxistischen Slang, den junge Lehrkräfte heute kaum noch verstehen, ist schwer nachzuvollziehen, weshalb führende Mitglieder des VPOD sich heute so leichtfertig ins Boot der Wirtschaft setzen, wenn es um die aktuellen Schulreformen geht. Wenn diffus heisst: unklar, konturlos, verschwommen (Duden), dann kann man den Begriff heute durchaus als Beschreibung linker Bildungspositionen anwenden.

Die Wirklichkeit ist viel profaner

Wahrscheinlich ist die Wirklichkeit viel profaner. Es sind damals wie heute zwei Welten, die da aufeinanderprallen. Hier eine bildungsbürokratische Wunschprosafabrik, die von Potentialen und Chancen spricht, die unbegrenzte Möglichkeiten sieht, welche ohne Belastungsfolgen thematisiert werden. Dort die Praktiker, welche gelernt haben, Rhetorik und Praxis zu unterscheiden. Und in der Tat sind auch Ängste im Spiel. Hüben wie drüben. Sorge um die Entwicklung der Schule und auch Angst vor der Veränderung auf der einen, Angst vor dem Gesichts- und Auftragsverlust auf der anderen Seite. Mut kann man nur haben, wenn man die Angst überwindet. Das zeigen uns die Lehrkräfte in Basel, Wigoltingen oder Buttikon. Das zeigt uns auch Diane Ravitsch mit Ihrem Buch «Reign of Error» mit der eindrücklichen Selbstkritik «Ich bekenne, ich habe mich geirrt»!

Wir haben eigentlich keine Wahl. Wir haben Angst und müssen mutig sein (Hans Dieter Hüsch). Die Schule hat Kämpfer nötig heute mehr denn je. Es ist wichtig, all diese Reformruinen, die uns eine ausser Rand und Band geratene Bildungsbürokratie in die Gegend stellt, gar nicht erst entstehen zu lassen, statt hinterher über sie zu weinen. Es braucht mehr Leute vom Format eines Herrn P. oder der Wigoltinger Lehrkräfte, denn Mut ist in dieser Anpassungsgesellschaft eine Tugend von grosser Sprengkraft geworden.

 

 

 

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