Lehrpläne - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 24 Feb 2024 08:41:57 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Lehrpläne - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Warum der Pisa-Studienleiter mit Deutschlands Lehrern hart ins Gericht geht https://condorcet.ch/2024/02/warum-der-pisa-studienleiter-mit-deutschlands-lehrern-hart-ins-gericht-geht/ https://condorcet.ch/2024/02/warum-der-pisa-studienleiter-mit-deutschlands-lehrern-hart-ins-gericht-geht/#comments Sat, 24 Feb 2024 07:35:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=15990

Schleicher-Schelte und kein Ende. OECD-Bildungsdirektor Schleicher leitet die Pisa-Studie – und nimmt sich die Lehrer in Deutschland vor: Sie seien gut bezahlt, unterrichteten aber weniger als der Durchschnitt. Er stellt einen zentralen Unterschied zu Lehrkräften in Ländern mit größerem Erfolg fest. Auch von China könne man lernen. Die Welt-Journalistin Sabine Menkens führte mit Andreas Schleicher ein Interview, das wir hier gerne aufschalten.

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Seit 2002 leitet Andreas Schleicher als Bildungsdirektor die Pisa-Studie, die alle drei Jahre im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt wird. Der 59-Jährige gilt als scharfer Kritiker des deutschen Bildungssystems.

WELT: Herr Schleicher, Sie sind als Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) der Erfinder und Leiter der internationalen Schulleistungsstudie Pisa. Der Deutsche Philologenverband fordert jetzt, die Teilnahme Deutschlands an Pisa auszusetzen, solange Sie die Studie leiten. Grund ist Ihre scharfe Kritik am Berufsstand der Lehrer. Was ist da los?

Gastautorin Sabine Menkens, Journalistin WELT

Andreas Schleicher: Festzuhalten ist: Die Resultate für Deutschland sind sehr enttäuschend. Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, sonst wird sich auch in Zukunft nichts verbessern. Kein Bildungssystem kann besser sein als seine Lehrkräfte.

WELT: Sie haben unter anderem beklagt, dass zu viele Lehrer nur Befehlsempfänger seien, die stumpf den Lehrplan abarbeiten und daran scheitern, Schülern das selbstständige Denken beizubringen. Warum diese pauschale Lehrerschelte?

Schleicher: Bleiben wir doch zunächst bei den Beobachtungen. Wir sehen, dass der Lehrerberuf in Deutschland sehr gut bezahlt ist und die Arbeitsbelastung im Mittelfeld der OECD Staaten liegt. Lehrkräfte in Deutschland unterrichten nicht mehr, sondern weniger Stunden als im OECD-Durchschnitt.

Gleichzeitig sehen wir, dass Schüler in Deutschland oft gut sind bei der Reproduktion von Fertigwissen, aber es schwer haben, ihr Wissen kreativ auf neue Themenfelder anzuwenden. Das zählt heute aber. Und da braucht man ein Unterrichtsdesign, das kreativer, interessanter und spannender ist als bisher. Stattdessen arbeiten wir immer noch nach alten Lehrplänen. Das funktioniert heute so nicht mehr. Die Google-Welt belohnt uns nicht mehr für Antworten, sondern fürs Fragenstellen.

Andreas Schleicher (Bild: picture alliance/photothek/Janine Schmitz)

 

WELT: Provokant gefragt: Sind deutsche Lehrer dümmer, fauler oder weniger innovativ als in anderen Ländern?

Schleicher: Dazu macht Pisa keinerlei Aussagen, wir schauen dort auf die Schülerleistungen. Und da sehen wir große Leistungsdefizite und eine sehr ungerechte Verteilung von Bildungschancen. Das hat viele Gründe, aber das, was im Unterricht passiert, ist Teil dieser Baustelle.

WELT: Sind aus Ihrer Sicht also die Lehrkräfte daran schuld, dass die deutschen Schüler bei Pisa so schlecht abschneiden?

Schleicher: Noch einmal, wir sehen bei Pisa das Gesamtergebnis, das von vielen Faktoren beeinflusst wird, es geht also nicht um Schuldzuweisungen. Aber natürlich hat das, was Schüler können und wissen, damit zu tun, was im Klassenzimmer passiert. Ich will das keinem einzelnen Lehrer vorwerfen. Man muss objektiv sehen, dass Lehrkräfte in Deutschland weniger Gestaltungsfreiheit haben als zum Beispiel in Dänemark oder den Niederlanden.

Ich glaube aber auch, dass sie ihre vorhandenen Freiräume nicht so intensiv nutzen wie die Kollegen in anderen Ländern. Die Arbeitsorganisation ist in Deutschland immer noch sehr vertikal ausgerichtet. In Ländern wie Estland, Singapur oder Dänemark sitzen die Kollegen anschließend noch im Team zusammen und beraten gemeinsam über bestimmte Schülergruppen und lernen auch voneinander. Sie kennen ihre Schüler meist auch besser.

WELT: Wie kommen solche Unterschiede zustande?

Schleicher: Viel hat schon mit dem Rollenverständnis zu tun. Lehrkräfte sind heute auch viel mit sozialen Problemen konfrontiert. Man hört dann oft den Vorschlag, dass die Schulen mehr Sozialarbeiter brauchen.

Lernerfolg und Disziplin im Klassenzimmer sind immer auch eine Folge der Qualität von Beziehungen.

 

In vielen erfolgreichen Ländern begreifen sich die Lehrkräfte nicht nur als Wissensvermittler, sondern auch als Coach, Mentor und Sozialarbeiter. Sie verbringen mehr Zeit mit ihren Schülern außerhalb des Klassenverbandes. Dadurch kennen sie ihre Schüler besser und wissen, wie sie sie auf ihrem Weg begleiten können. Das macht sehr viel aus. Lernerfolg und Disziplin im Klassenzimmer sind immer auch eine Folge der Qualität von Beziehungen.

WELT: Viele Lehrkräfte beklagen, dass Schule nicht der Reparaturbetrieb der Gesellschaft sein kann. Sie behaupten offensichtlich das Gegenteil. Warum?

Schleicher: Die Anforderungen und Erwartungen an das Schulsystem und den Lehrerberuf verändern sich – so wie das in jedem anderen Job auch der Fall ist. Schulen sind die Institutionen, die sich die Gesellschaft geschaffen hat, um junge Menschen auf diese Welt vorzubereiten. Das müssen sie auch leisten, und in diesen Bemühungen muss sie das Bildungssystem entsprechend unterstützen.

WELT: Dazu bräuchte es aber vermutlich auch mehr Personal. Wie soll das gehen beim derzeitigen Lehrermangel?

Schleicher: Wenn Deutschland beim Personal schlechter gestellt wäre als leistungsfähigere Bildungssysteme, würde ich sofort zustimmen. Dem ist aber nicht so. Der Lehrerberuf ist einer der anspruchsvollsten Berufe überhaupt, und er ist auch schwieriger geworden.

Die Schulen mit den größten Herausforderungen sollten die besten Lehrkräfte bekommen. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt.

 

Aber einfach nur mehr vom Gleichen wird es nicht bringen. Wir müssen wie in allen anderen Berufen gut überlegen, wie wir Zeit und Personal effizient einsetzen. Das bedeutet vor allem: Die Schulen mit den größten Herausforderungen sollten die besten Lehrkräfte bekommen. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt.

WELT: Hier landen die besten Lehrer an den Gymnasien in den bürgerlichen Vierteln…

Schleicher: Ganz genau. Deshalb brauchen wir hier mehr Steuerung und attraktive Anreize, um Ressourcen effizient einzusetzen. Die internationalen Vergleiche zeigen, dass es Bildungssysteme gibt, die mit Herausforderungen wie der Zuwanderung besser umgehen als wir. In Kanada lernen Flüchtlingskinder innerhalb von zwei Jahren Englisch und Französisch.

WELT: Der Philologenverband kritisiert unter anderem, Sie lobten die Schulsysteme autoritärer Staaten wie China und redeten so dem Missbrauch schulischer Bildung durch totalitäre Systeme das Wort. Was entgegnen Sie?

Schleicher: Das ist absolut nicht der Fall. Wir schauen auf die Bildungssysteme mit guten Leistungen und schauen, was sie erfolgreich macht. Da können wir von Bildungssystemen wie China und Singapur ebenso lernen wie von Estland und Portugal.

Darf man schulische Bildung durch totalitäre Systeme wie jenes in China auch als Vorbild nehmen?

WELT: Was machen die Lehrkräfte in den Staaten, die bei Pisa gut abschneiden, denn besser?

Schleicher: Zum einen wenden die Lehrkräfte meist viel mehr Zeit dafür auf, ihre Schüler richtig kennenzulernen. Die Qualität der Schüler-Lehrer-Beziehung ist ein wichtiger Faktor. In den leistungsfähigsten Bildungssystemen definieren die Lehrkräfte ihr Rollenverständnis so, dass sie dafür da sind, Schülern aller sozialer Schichten zu helfen. Sie glauben fest daran, dass alle Kinder lernen können. In diesen Systemen gelingt es auch, die besten Lehrkräfte für die schwierigsten Schulen zu gewinnen, indem sie Anreize und Karrierepfade schaffen, um diese Leute zu motivieren, die schwersten Herausforderungen anzunehmen.

WELT: Mehr Geld also?

Schleicher: Auch das, ja. Man kann durchaus anerkennen, dass nicht jeder den gleichen Job macht. Es gibt aber noch einen dritten Punkt. In den leistungsfähigsten Bildungssystemen ist die soziale Rolle des Lehrers in der Gesellschaft eine andere. Meistens gibt es viele Bewerbungen auf eine Lehrerstelle, weil es ein spannender Beruf ist, der in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat. Das rührt daher, dass die Lehrkräfte auch außerhalb der Schule sichtbar sind, weil sie regelmäßigen Kontakt mit den Eltern haben und auch in die Erziehungsarbeit eingebunden sind. Meist ist die Ausbildung hier auch praxisnäher. In Finnland zum Beispiel werden die Studierenden in der Praxisphase ausgesiebt.

In den leistungsfähigsten Bildungssystemen ist die soziale Rolle des Lehrers in der Gesellschaft eine andere.

 

WELT: Woran liegt es, dass Lehrkräfte in Deutschland keine so hohe Wertschätzung in der Gesellschaft haben? Wird in den Verbänden zu viel gejammert?

Schleicher: Die Lehrerverbände tun sich damit jedenfalls keinen Gefallen. Wer seinen eigenen Berufsstand ständig infrage stellt, wird sein Ansehen kaum heben.

WELT: Philologen-Verbandschefin Susanne Lin-Klitzing sagt, sie habe kein Vertrauen mehr in die seriöse Interpretation der Pisa-Daten durch Sie. Sie hätten der empirischen Bildungsforschung Schaden zugefügt.

Schleicher: Die Pisa-Daten sind frei verfügbar, jeder kann sich damit auseinanderzusetzen. Möglicherweise kann man sie auch unterschiedlich interpretieren. Dieser Diskurs ist sehr wichtig. Aber es ist ein großer Vorteil, dass wir diese Diskussion heute nicht mehr auf Grundlage von Ideologie oder persönlichen Meinungen führen müssen, sondern aufgrund von empirischen Daten.

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Geschichte: ein Schulfach unter Druck https://condorcet.ch/2023/05/geschichte-ein-schulfach-unter-druck/ https://condorcet.ch/2023/05/geschichte-ein-schulfach-unter-druck/#respond Thu, 18 May 2023 10:35:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=14006

Der aktuell betriebene Geschichtsunterricht steht in der Kritik. Mehrere Autoren wiesen in unserem Condorcet-Blog auf die schwindende Bedeutung dieses Faches hin und skizzierten mögliche Folgen. Im Kanton Zürich wurden in dieser Sache sogar zwei verschiedene parlamentarische Initiativen eingereicht. Nun meldet sich auch unser Doyen und Germanist Professor Mario Andreotti zu Wort. Er betont die staatspolitische Bedeutung dieses Faches.

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Französische Revolution, Entstehung des modernen Bundesstaates, Erster und Zweiter Weltkrieg: Immer mehr Schülerinnen und Schüler wissen darüber – nichts. Das gilt selbst für die Zeit des Kalten Krieges, dessen Krisen mehr und mehr im Nebel des Vergessens in eine diffuse Vergangenheit verschwinden. Es droht weitverbreitete Geschichtsvergessenheit.

Gastautor Mario Andreotti, Germanist

Daran ist unser Bildungssystem nicht unschuldig, kommt doch das Fach Geschichte, wenn es denn überhaupt noch unterrichtet wird, an den meisten Schulen zu kurz. In einigen Kantonen wird gerade noch eine Wochenlektion für Geschichte gewährt. Der fatale Niedergang dieses Fachs dürfte vor allem vier Gründe haben: Zum einen ist die Vermittlung von Fakten im Unterricht, wie sie im Fach Geschichte nun einmal essenziell ist, bedingt durch die neuen, auf Kompetenzen basierenden Lehrpläne, immer weniger gefragt. Und zum andern haben die zunehmende Ausrichtung unserer Bildungspolitik auf die MINT-Fächer, auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, und die Schaffung neuer Fächer, wie die Frühfremdsprachen und “Medien und Informatik”, das Fach Geschichte an den Rand gedrängt.

Und nicht zuletzt ist es der Lehrplan 21, in dem Geschichte als eigenständiges Fach verschwunden ist und durch das schwammige Sammelfach “Räume, Zeiten, Gesellschaften” ersetzt wurde, das alles Mögliche an Realien umfasst. Schliesslich wird Geschichte in vielen Schulen nicht mehr chronologisch, sondern in Längsschnitten zu Themen, wie etwa “Armut und Reichtum”, “Kolonialismus” oder “Krisenherde”, unterrichtet. Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht damit einem Durcheinander, in dem es keine Epochen mehr gibt. Dringend benötigtes Überblicks- und Orientierungswissen geht so verloren.

Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht damit einem Durcheinander, in dem es keine Epochen mehr gibt.

Die Abwertung des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen bleibt nicht ohne Folgen. Wie sollen junge Leute um den hohen Wert der Demokratie wissen, den es um jeden Preis zu erhalten gilt, wenn sie im Schulunterricht nie erfahren haben, mit welchen Mühen und Opfern die Entstehung der modernen westlichen Demokratien mit ihrer Sicherung der Freiheitsrechte verbunden war. Gerade heute, wo Staaten wie Russland und China eine neue, autokratische Weltordnung anstreben, in der Freiheitsrechte keinen Platz mehr haben, ist ein solches Wissen unumgänglich. Und wie lässt sich das Stimmrechtsalter 16, über das wir in der Schweiz bald abstimmen können, staatspolitisch rechtfertigen, wenn Jugendliche, vor allem solche ohne Mittelschulbildung, kaum wissen, auf welchen geschichtlichen Pfeilern unser Staatswesen ruht und wie es funktioniert.

Auch eine Aufgabe der Politik

Keine Frage: Geschichte, dessen staatspolitische Bedeutung in einer Demokratie erheblich ist, muss im Kanon der Schulfächer als eigenständiges Fach einen festen Platz einnehmen und von fachlich dazu ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden. Es ist Aufgabe der Politik und nicht nur der Bildungsräte, dafür zu sorgen, dass das Fach Geschichte bessere Rahmenbedingungen, vor allem genügend Wochenlektionen und verbindliche Bildungsinhalte, erhält. Gerade im Hinblick auf die bevorstehenden Feiern zum 175-jährigen Bestehen unserer Bundesverfassung sei einmal mehr daran erinnert.

Prof. Dr. Mario Andreotti, ehem. Gymnasiallehrer und heute Dozent für Neuere deutsche Literatur, ist ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungslandschaft. 2019 veröffentlichte er im Verlag FormatOst dazu das vielbeachtete Buch «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache».

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Baselland als Pionierkanton beim Geschichtsunterricht https://condorcet.ch/2023/04/baselland-als-pionierkanton-beim-geschichtsunterricht/ https://condorcet.ch/2023/04/baselland-als-pionierkanton-beim-geschichtsunterricht/#respond Wed, 26 Apr 2023 08:05:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=13722

Dem Schulfach Geschichte fehlt schweizweit ein überzeugendes Profil. Verpackt im Sammelfach RZG und ohne verbindlichen inhaltlichen Aufbau, gilt Geschichte an vielen Schulen als unattraktiv. Wie der Geschichtsunterricht sein verstaubtes Image abschütteln und das Interesse für politische Fragen wecken kann, steht im Zentrum des nachfolgenden Gastbeitrags von Hanspeter Amstutz.

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Landauf, landab wird gegenwärtig auf das grossartige Schweizer Verfassungswerk von 1848 hingewiesen. Während damals in allen umliegenden Ländern die Versuche scheiterten, mit demokratischen Strukturen ein neues politisches Zeitalter einzuleiten, hat unser kleines Land diese Revolution ohne grosses Blutvergiessen vollzogen. Die neue Verfassung war die solide Basis für weitere bedeutende Schritte zu einem modernen Rechtsstaat, wie wir ihn heute kennen.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Dieser Weg war oft steinig und führte auch an Abgründen vorbei. Einige Meilensteine wie der aufwühlende Generalstreik von 1918, die militärische Krise von 1940 oder die überfällige Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 markieren den Werdegang unseres Landes. Eigentlich könnten wir trotz kritischer Einwände durchaus ein wenig stolz sein über diese Entwicklung.

Doch leider ist es bei unseren Volksschulabgängern mit dem Basiswissen über die modernere Schweizer Geschichte nicht weit her. Mit anderthalb Wochenstunden Geschichte, die in Basel-Stadt noch mit Medienkunde und Informatik geteilt werden müssen, lassen sich kaum vertiefte Einblicke in wesentliche Epochen unserer Geschichte vermitteln. Das Fach fristet im Stadtkanton und den meisten andern Deutschschweizer Kantonen nur noch ein Mauerblümchendasein. Die aktuelle Didaktik sucht zwar Auswege aus der Zeitnot, indem über selbständiges Erarbeiten einzelner geschichtlicher Themen der Unterricht organisiert wird.

Das Fach fristet im Stadtkanton und den meisten andern Deutschschweizer Kantonen nur noch ein Mauerblümchendasein.

Doch das Verständnis für das Werden unseres Staates wächst kaum, wenn auf einen geschichtlichen Aufbau verzichtet werden muss. Zudem ist es ein schwieriges Unterfangen, Jugendliche anhand von historischen Dokumenten im Selbststudium zu begeistern. Nur allzu oft hört man von Teenagern die Klage, Geschichte sei ein langweiliges Fach.

Mit mehreren Initiativen das Sammelfach RZG verhindert

Besser machen es da die Baselbieter. Die Starke Schule beider Basel (SSbB) hat sich mit mehreren Volksinitiativen tüchtig ins Zeug gelegt, um für das Fach Geschichte die guten Rahmenbedingungen zu erhalten. Das eigenständige Fach hat mit zwei Wochenstunden einen festen Platz in der Stundentafel und wird auch in der Baselbieter Bildungspolitik als jugendgerechte staatspolitische Grundlage gesehen. Durch ein erfüllbares Bildungsprogramm in Form eines viel beachteten Mini-Lehrplans wurde das Fach Geschichte klar aufgewertet. Die Idee einer verdichteten Gesamtschau der Entstehung der modernen Schweiz im unruhigen europäischen Umfeld gehört in den Baselbieter Sekundarschulen wieder zu den verbindlichen Bildungsinhalten.

Es ist ein schwieriges Unterfangen, Jugendliche anhand von historischen Dokumenten im Selbststudium zu begeistern.

Der jetzige Zustand beim Sammelfach RZG (Räume Zeiten Gesellschaften) in Basel-Stadt und den meisten anderen Kantonen ist völlig unbefriedigend. Der mit Kompetenzzielen völlig überladene Lehrplan ist keine Orientierungshilfe für einen auf grundlegende Bildungsinhalte ausgerichteten Geschichtsunterricht. Die wenigsten Bildungspolitiker sind sich bewusst, dass die Lehrplantheorie und die Schulrealität im Fach Geschichte bedenklich weit auseinanderklaffen. Da man sich bei den Bildungsstäben bisher auch nicht mit einer Evaluation des geschichtlichen Basiswissens befasst hat, sind illusionäre Vorstellungen über den täglichen Geschichtsunterricht die Regel. Die offenkundige Tatsache, dass ein Grossteil unserer Jugend am Ende der Volksschulzeit über die Entwicklung unserer modernen Demokratie nicht im Bild ist, hätte dennoch die Bildungspolitik längst aufschrecken müssen.

Wenn politisch bedeutende Themen ausgewählt werden, lassen sich Kinder und Jugendliche von lebendiger, auf Fakten basierender Erzählkunst begeistern.

Schweizer Geschichte im Umfeld des europäischen Donnerrollens kann unerhört spannend sein. Doch es gilt, das Fach vom verstaubten Image des irrelevanten Rückblicks auf längst vergangene Tage und vom Ausfüllen unzähliger Arbeitsblätter in ereignislosen Unterrichtsstunden zu befreien. Das Fach Geschichte braucht in der Schulrealität vielerorts erst einmal ein neues Profil. Wenn politisch bedeutende Themen ausgewählt werden, lassen sich Kinder und Jugendliche von lebendiger, auf Fakten basierender Erzählkunst begeistern. Sie wollen das geschichtliche Geschehen in geschilderten Bildern und dramatischen Verstrickungen erleben. Dabei geht es um Einblicke in das Schicksal von Völkern wie auch des einzelnen Menschen.

Lebendiger Geschichtsunterricht fördert das Interesse in allen Schulklassen 

So bietet beispielsweise die Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs äusserst attraktiven Stoff, um die Situation eines Kleinstaats im Ring feindlicher Grossmächte schildern zu können. Die nicht immer gelungene Abgrenzung gegenüber dem Nazitum, der Wille unserer Bevölkerung zum Überleben und die gewagte Reduit-Strategie stossen bei Jugendlichen auf grosses Interesse.

Richtig vermittelt, bietet lebendiger Geschichtsunterricht Diskussionsstoff für alle Schulklassen in Hülle und Fülle.

Kritische Fragen zur restriktiven Flüchtlingspolitik oder zu unserer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Achsenmächten sind dabei ebenso anzusprechen wie die täglichen Sonderleistungen der Frauen während der Kriegsjahre. Richtig vermittelt, bietet lebendiger Geschichtsunterricht Diskussionsstoff für alle Schulklassen in Hülle und Fülle.

Zwei politische Vorstösse in Zürich fordern eine Stärkung des Geschichtsunterrichtes 

Baselland hat mit dem Verzicht der Einführung des Sammelfachs RZG, welche den Geschichtsunterricht abgewertet hätte, ein klares Zeichen gesetzt. Man hat die kulturelle Bedeutung des Fachs in Erinnerung gerufen und klar verbesserte Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Geschichtsunterricht festgelegt. In Zürich scheint man unterdessen auf die Baselbieter aufmerksam geworden zu sein, denn gleich zwei politische Vorstösse verlangen eine Besserstellung des Fachs Geschichte im Rahmen des Lehrplans. Vielleicht reagieren die Baselstädter ja noch schneller, indem sie entschlossen die richtigen Lehren aus den gemachten Fehlern ziehen.

Hanspeter Amstutz

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Schule neu denken https://condorcet.ch/2023/03/schule-neu-denken/ https://condorcet.ch/2023/03/schule-neu-denken/#comments Sat, 25 Mar 2023 07:50:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=13479

In der Vergangenheit habe ich die Bildungspolitik in Baden-Württemberg während des letzten Jahrzehnts damit verteidigt, dass der größte Blödsinn entweder noch von Frau Schavan zu verantworten war (Abschaffung LK, Einführung G8 und GTR) oder von Einrichtungen wie der KMK oder dem IQB. Damit ist jetzt wohl Schluss. Denn: Wir müssen Schule neu denken.

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Das müssen wir nicht erst seit heute. 2017 hat die BILD-Zeitung die Schule neu gedacht.

  • Daten-Brillen für Virtual Reality (VR) ermöglichen Exkursionen in den Dschungel, die Tiefsee oder historische Zeiten
  • Haben die Schüler die Lernstationen absolviert, können sie auf Sofas und Sitzsäcken lümmeln, relaxen und Kraft tanken
  • Handys sind die neuen Bücher!
  • Alle Schüler gehören auf eine Schule!
  • Schulfächer gehören abgeschafft!

Natürlich haben Sie dabei Experten befragt:

Franz Lemmermeyer, Mathematiker und bissiger Kolumnist

Bildungsexperte Hurrelmann: „Lehrer müssen vom Pauker zum Trainer werden: Sie geben Vorgaben, überwachen die lernende Schülerschaft und greifen nur ein, wenn es nötig wird.“

„Hunderte von Stunden verbringen viele Schüler und Lehrer jährlich in Räumen, die erschweren, was eigentlich ermöglicht werden soll: gut zu lehren und zu lernen“, sagt der Pädagoge Joachim Kahlert von der Uni München.

Der Forscher hat an einer bayerischen Grundschule den idealen Klassenraum konzipiert. Ergebnis nach vielen Tests: Dreieckige Tische, warme Farben, Pflanzen, viel Tageslicht und Raumtrenner, die je nach Lerninhalt eingesetzt und schnell umgebaut werden können.

Dreieckige Tische sind also der Schlüssel zur Qualität im Bildungswesen.

 

Auch die FDP will die Schule neu denken:

Nur 26,2 % unserer Schülerinnen und Schüler des Sekundarbereichs I haben Zugang zu WLAN

Um unseren Kindern die besten Zukunftschancen zu ermöglichen, brauchen wir mehr digitale Bildung.

Digitale Bildung mit einem analogen Gehirn. Mehr Optimismus!

Und jetzt denkt die Landeschefin der Grünen, Lena Schwelling, die Schule neu. An G8 will sie im Gegensatz zu den Nachbarländern festhalten. Zwar gibt es “zu viel Unterrichtsstoff”, aber dieses Problem löst man nicht durch Rückkehr zu G9, sondern durch Entrümpelung der Lehrpläne:

Wir müssen Lehrpläne entrümpeln und weniger Faktenwissen pauken lassen, das ohnehin auf dem Smartphone verfügbar ist.

Und wer nichts weiss, muss alles glauben, was auf dem Smartphone an Faktenwissen verfügbar ist. Das ist eine ganze Menge.

Vieles, was die Gemeinschaftsschulen heute machen, bewährt sich. Das müssen wir auf andere Schularten übertragen.

Wer nichts weiss, muss alles glauben, was auf Smartphones an Faktenwissen verfügbar ist.

Wie man dem Bericht über die Vergleichsarbeiten von 2022 entnehmen kann, ist das richtig. Jedenfalls wenn das Ziel die Entrümpelung der Lehrpläne ist:

Achtklässler in BW verfehlen laut den jüngsten Vergleichsarbeiten häufig Mindeststandards in Rechtschreibung und im Rechnen. Besonders auffällig sind die Gemeinschaftsschulen.

 

Rechtschreibung und Rechnen wird überbewertet. Wozu hat man Smartphones.

Frau Schwelling muss dabei keine Expertin fragen, sie ist selbst eine. Abitur auf der Waldorfschule, Studium von Germanistik und Geschichte, danach hat sie in der Stabstelle für Digitalisierung beim öffentlich-rechtlichen IT-Unternehmen Komm.ONE gearbeitet. Man fragt sich, ob sie in ihrem Germanistikstudium etwas über IT gelernt hat, aber wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Komm.ONE das Unternehmen ist, das die eine Woche vor Einführung wegen technischer Probleme abgeschaffte digitale Bildungsplattform Ella zu verantworten hat, dann ahnt man, dass die Antwort auf diese Frage wohl “Nein” heißt. Danach hat sie in einem Zweitstudium einen Master (heißt das nicht Mistress?) in irgendwas mit Verwaltung gemacht. Weil Faktenwissen plötzlich nützlich ist, wenn man Oberbürgermeisterin von Ulm werden will.

Franz Lemmermeyer

 

Franz Lemmermeyer ist Mathematiker, Mathematiklehrer und Mathematikhistoriker in Ellwangen (D). Er schrieb ein Buch über die Geschichte von Reziprozitätsgesetzen in der Zahlentheorie, Reciprocity Laws. From Euler to Eisenstein (2000)., Mathematik.

Den Condorcet-Leserinnen und Lesern wird er vor allem durch seine bissigen Kommentare aufgefallen sein, die er gelegentlich unter einzelne Artikel in unserem Blog absetzt. Was wir nicht wussten: Herr Lemmermeyer betreibt nebenbei noch einen Blog (http://schule-mathematik.blogspot.com). Auf diesem Blog veröffentlicht Herr Lemmermeyer seine ziemlich bissigen Kolumnen und Analysen zur deutschen Bildungspolitik. Mit seiner freundlichen Genehmigung dürfen wir Ihnen -liebe Condorcet-Leserinnen und Leser – ab und zu einen Text aus seiner Werkstatt vorstellen.

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Vorbild Finnland? Die Wahrheit über das einst beste Schulsystem der Welt https://condorcet.ch/2023/03/vorbild-finnland-die-wahrheit-ueber-das-einst-beste-schulsystem-der-welt/ https://condorcet.ch/2023/03/vorbild-finnland-die-wahrheit-ueber-das-einst-beste-schulsystem-der-welt/#respond Sun, 12 Mar 2023 13:33:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=13414

Finnische Schulen waren die besten der Welt. Ihre Schüler landeten in internationalen Vergleichen ganz oben. Inzwischen jedoch werden sie seit 20 Jahren kontinuierlich schlechter. Experten erkennen vor allem zwei Gründe – und haben eine Warnung für Deutschland parat. Tobias Kaiser, Journalist der Zeitung "Die Welt", berichtet über einen phänomenalen Abstieg.

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Es gibt Befunde, die können Politiker kaum beschönigen. „Wir sind nicht länger das Land mit der besten Bildung. Unsere jungen Menschen sind nicht mehr die schlausten.“ Mit diesen Worten kommentierte Anita Lehikoinen, Staatssekretärin im finnischen Bildungsministerium, die Befunde einer Studie ihres Ministeriums. Mit dem Eingeständnis hat die Politikerin in ihrem Land eine hitzige nationale Debatte über die Probleme an finnischen Schulen befeuert.

Für deutsche Beobachter kommt die Diskussion überraschend. Hierzulande und anderswo in der Welt gilt das finnische Schulsystem immer noch als eines der besten weltweit, wenn nicht gar als das Beste. Dieser Nimbus rührt von den exzellenten Ergebnissen finnischer Schüler im sogenannten Pisa-Vergleich der OECD.

Vom Pisa-Musterknaben zum gefallenen Engel…

Die erste Veröffentlichung des internationalen Vergleichs Ende 2001 sorgte in Deutschland wegen der mediokren Ergebnisse deutscher Schüler für heftige Diskussionen und in einzelnen Bundesländern zu Reformen. Hierzulande wie anderswo galt Finnland beim Pisa-Vergleich als „Testsieger“. Die Schüler dort erzielten im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Ergebnisse beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Bildungsexperten aus aller Welt pilgerten in den Folgejahren nach Finnland, um vor Ort herauszufinden, warum die finnischen Schulen so erfolgreich sind.

Das Land leiste sich „im hohen Maße eine Vergeudung menschlicher Potenziale“, kritisiert ein renommierter Bildungsforscher

Die Bildungsrendite der Mittelschicht steht auf dem Spiel

Dabei gelten die heimischen Schulen in Finnland selbst trotz allen Stolzes über das globale Renommee inzwischen als Problemfall. „Die Leistungen des finnischen Schulsystems verfallen seit 20 Jahren und der Abstieg hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt“, sagt Jaakko Salo, Leiter des Bereichs Bildungspolitik bei der finnischen Lehrergewerkschaft OAJ. „Das sieht man deutlich in den nationalen Evaluationen, aber auch im internationalen Pisa-Vergleich. Egal ob Lesen, Schreiben oder Mathematik, das Bild ist überall das gleiche.“

Dass Gewerkschafter die Bedingungen an Schulen beklagen, ist erwartbar. Aber internationale Experten bestätigen den Befund. „Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich. Diesen Trend beobachten wir in den internationalen Vergleichsdaten seit einigen Jahren und er betrifft alle Leistungsbereiche“, sagt Andreas Schleicher. Der Bildungsforscher koordiniert die Pisa-Studie, eine exponierte Stellung, die ihm den Beinamen Mister Pisa eingebracht hat.

“Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich.”

Andreas Schleicher, Bildungsforscher

 

Das finnische Schulsystem ist im internationalen Pisa-Vergleich immer noch gut, aber es ist nicht mehr exzellent. Auch das Leistungsbarometer der OECD für Finnland illustriert, dass die einstigen Vorzeige-Schulen mit Problemen kämpfen. Das durchschnittliche Kompetenzniveau in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften sinkt demnach seit der Jahrtausendwende und der Anteil leistungsstarker Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften nahm in den vergangenen zwanzig Jahren stark ab.

Der Anteil leistungsschwacher Schüler steigt dagegen kontinuierlich. Finnische Studien sprechen davon, dass finnische Schüler in den vergangenen Jahrzehnten das Leistungsäquivalent von ein bis zwei Schuljahren verloren haben.

Blick in den Rückspiegel

„Die finnischen Pisa-Ergebnisse, die die ganze Welt beeindruckt haben, waren tatsächlich ein Blick in den Rückspiegel und haben von Anfang an ein falsches Bild vom Zustand des Schulsystems gezeichnet“, sagt Bildungsexperte Salo. „Als die tollen Pisa-Ergebnisse damals direkt nach der Jahrtausendwende veröffentlicht wurden, befand sich das finnische Schulsystem bereits im Abstieg.“

Zur am besten ausgebildeten Altersgruppe zählen laut Studie Finnen, die im Jahr 1978 geboren wurden, Mitte der 1990er-Jahre die Schule abgeschlossen haben und heute 44 oder 45 Jahre alt sind. Nachfolgende Altersgruppen hätten dieses Bildungsniveau nie wieder erreicht, heißt es in der Untersuchung.

Die Ursachen für die Malaise des finnischen Bildungssystems werden unter Experten schon länger diskutiert. „Migration und die dadurch zunehmende Vielfalt der Schülerschaft ist ganz klar ein Grund für den Leistungsabfall des finnischen Schulsystems“, sagt OECD-Koordinator Schleicher.

Experte: Migration hat Schulsystem überrascht

Die nordischen Staaten seien von der Migration nach 2015 noch stärker betroffen gewesen als Deutschland. „Die Flüchtlingsmigration hat das finnische Schulsystem überrascht“, sagt Schleicher. „Es hatte zum einen nicht die nötigen Kapazitäten, zum anderen kamen dazu Sprachprobleme und der andere kulturelle Hintergrund. Das hat Finnland kalt erwischt.“

Diese Entwicklung müsse auch Deutschland ernst nehmen, sagt der Bildungsforscher. Bei der schulischen Integration von Migrantenkindern gilt Deutschland als schlecht aufgestellt. Deutsche Bildungspolitiker könnten von Kanada, Norwegen und anderen Ländern mit guten Erfahrungen lernen, sagt Schleicher.

Er warnt allerdings vor überzogenen Erwartungen. „Schweden war früher mal ein Vorbild, aber dort sind die Schulen von Migranten geradezu überrannt worden und das Bildungssystem kommt nicht mehr mit.“ Vor dieser Herausforderung stehe Deutschland auch. „Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig; ich kenne kein Land, das damit besonders gut umgehen kann“, sagt Schleicher. Lediglich Kanada leiste bei der Bildungsintegration fantastische Arbeit.

“Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig.”

Andreas Schleicher, Bildungsforscher

 

Eine andere Ursache der finnischen Misere liefert Bildungspolitikern weltweit eine weitere Warnung: Eine ambitionierte und überstürzte Reform der finnischen Lehrpläne hat die Lehrer verunsichert und vielfach überfordert. Das Bildungsministerium hat vor einigen Jahren eine radikale Wende vollzogen vom Unterricht mit festen Lehrinhalten hin zum Lernen, das sich an Phänomenen orientiert. Dabei werden nicht mehr einzelne Schulfächer unterrichtet. Stattdessen unterrichten die Lehrer Themenkomplexe, die aus unterschiedlichen Fachrichtungen besprochen werden.

„Auf das an Phänomenen orientierte Lernen war das finnische Schulsystem nicht richtig vorbereitet“, sagt OECD-Experte Schleicher. Inzwischen werde gegengesteuert und die Lehrpläne orientierten sich wieder mehr am traditionellen Lernen.

Die Chancengleichheit in finnischen Klassenzimmern ist zurückgegangen.

Die OECD-Daten zeigen auch, dass die Chancengleichheit im finnischen Schulsystem in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist – ein Befund, der in Finnland besonders schmerzen dürfte. Die Fähigkeit, auch Kinder mit schlechten Bildungsvoraussetzungen so zu fördern, dass sie zu privilegierteren Kindern aufschließen können, galt immer als eine der größten Leistungen der finnischen Schulen. Auch das hat sich geändert.

Ein Grund: Weniger Geld für Bildung. In der finnischen Banken- und Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahre und in den Jahren danach hat die finnische Regierung die Bildungsausgaben stark gekürzt. „Die Bildungsausgaben sind um ein Viertel gefallen und haben nie wieder das vorangegangene Niveau erreicht“, sagt Regierungsberater Aleksi Kalenius.

Die Folge: Schulen und Gemeinden fehlt Geld für teure individuelle Förderung. „Jetzt haben wir einige Kinder, die aus der Grundschule kommen und weder schreiben, lesen noch rechnen können“, sagt OAJ-Experte Salo. „Das war noch vor 15 Jahren undenkbar.“

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