Kompetenz - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 20 Jan 2024 08:45:47 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Kompetenz - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 “Heute bedeutet ‘Abitur’ betreutes Denken” https://condorcet.ch/2024/01/heute-bedeutet-abitur-betreutes-denken/ https://condorcet.ch/2024/01/heute-bedeutet-abitur-betreutes-denken/#comments Sat, 20 Jan 2024 08:45:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=15720

Der Biologie-Professor Hans-Peter Klein zählt zu den profiliertesten Stimmen in der deutschen Bildungsdiskussion. Im Interview mit Mathias Brodkorb spricht er im Cicero über die katastrophalen Ergebnisse der PISA-Studie, bildungsferne Migranten und die Abschaffung des Leistungsprinzips.

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Mathias Brodkorb: Herr Klein, kürzlich wurden die Ergebnisse der PISA-Studie veröffentlicht. Die Leistungen von Deutschlands Schülern in Mathematik, Deutsch und Naturwissenschaften sind schlechter als jemals zuvor. Wie bewerten Sie die Ergebnisse?

Hans-Peter Klein: Die sind natürlich eine Katastrophe. Vor mehr als 20 Jahren gab es den PISA-Schock. Deutschland erwies sich damals bloß als Mittelmaß. Nach all den politischen Ankündigungen und Reformen der letzten beiden Jahrzehnte muss man feststellen: Das hat alles nichts gebracht, es ist sogar noch schlimmer geworden.

Die PISA-Forscher weisen allerdings darauf hin, dass die Ergebnisse auch der Corona-Pandemie geschuldet sind. Die Schulen waren viele Monate geschlossen, es fand kaum Unterricht statt. Da ist es doch nicht verwunderlich, dass die Leistungen einbrechen. Kann man aus den Daten trotzdem auf eine grundsätzliche Bildungskrise schließen?

Natürlich hat auch Corona einen gewissen Einfluss gehabt. Aber wer sich mit diesem Argument begnügt, sucht nach Ausreden. Fakt ist: Die Leistungen deutscher Schüler sind spätestens seit dem Jahr 2015 stark rückläufig. Corona hat den Abwärtstrend nur beschleunigt. Ja, Deutschland steckt in einer robusten Bildungskrise. Und ich sehe nicht, dass sich das auf absehbare Zeit ändern könnte.

Hans-Peter Klein ist Biologe. Bis 2018 lehrte er Didaktik der Biowissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Aber es gab ja nicht nur Corona, sondern auch die Migrationskrise 2015. Das ist ein weiterer Faktor, der Einfluss auf die Leistungen der Schüler haben dürfte. Je weniger Schüler in einer Klasse Deutsch sprechen, um so größer ist die Herausforderung für die Lehrer und desto unwahrscheinlicher werden Spitzenleistungen.

Das stimmt, widerlegt aber nicht meine These, dass das deutsche Bildungssystem längst auf einer Rutschbahn angekommen ist. Die Migrationskrise begann erst 2015 und trotzdem waren bereits die Leistungsergebnisse desselben Jahres rückläufig. Dieser Leistungsrückgang ist durch die Migrationskrise schlicht nicht erklärbar. Sie erklärt höchstens, warum es nach 2015 noch schlimmer geworden ist.

Und wie erklären Sie sich den Abwärtstrend?

Die Ursachen sind komplex und deshalb muss man weit ausholen. Da wäre erstens Corona, klar. Aber das war nur ein einmaliges Ereignis. Man kann daraus höchstens schlussfolgern, wie sehr sich Deutschlands Politik durch absurde Schulschließungen an seinem eigenen Nachwuchs vergangen hat. Im internationalen Vergleich gibt es jedenfalls Länder, die trotz Corona keinen solchen Leistungseinbruch aufweisen. Dann wäre da zweitens der Lehrermangel. Der hat erst begonnen und wird in diesem Jahrzehnt noch ganz andere Ausmaße annehmen. Schon heute werden selbst Panzerfahrer als Grundschullehrer beschäftigt.

Der dritte Faktor ist die Migrationskrise. Es ist doch klar: Wenn von heute auf morgen eine Vielzahl an nicht Deutsch sprechenden Schülern in das System strömt, bleibt das nicht ohne Folgen. Zugleich hat sich dadurch vor allem in den Grundschulen der Lehrermangel extrem verschärft. Und viertens, und das ist mir das Wichtigste: Selbst wenn es all diese Probleme nicht gäbe, wären Deutschlands Schulen trotzdem auf dem absteigenden Ast. Der Grund dafür hat nichts mit Geld zu tun, sondern mit den seit PISA 2000 verfolgten Konzepten.

Das ist jetzt irritierend. Es ist ja eigentlich umgekehrt: Die erste PISA-Studie hat einen politischen Schock und anschließende Bildungsreformen ausgelöst. Und diese Innovationen sollen jetzt einen Niedergang provoziert haben?

Auch wenn es niemand hören will: Genauso ist es. Aber auch das ist wieder etwas komplizierter. PISA ist ein international angelegtes Testformat der OECD. Und da beginnen die Probleme. Sie können Mexiko, Algerien und Deutschland nicht miteinander vergleichbar machen, ohne von konkreten Inhalten abzusehen. Es hätte ja zum Beispiel keinen Sinn, weltweit Aufgaben zu Theodor Fontane zu stellen. Die deutschen Schüler wären dann im Vorteil und der internationale Vergleich wertlos.

Die Lösung dieses testtheoretischen Problems heißt: Kompetenzorientierung. Es wird in den Tests also überwiegend gar kein Wissen abgefragt. Die Schüler erhalten stattdessen leicht verständliche Gebrauchstexte, die bereits alle Antworten auf die gestellten Fragen beinhalten. Die Schüler müssen nichts anderes machen, als Sinn entnehmend zu lesen. Und dann kommt noch etwas Zweites hinzu: Weil die Auswertung komplexer Texte zu aufwendig wäre, besteht PISA vor allem aus Ankreuzaufgaben. Die Antwortbögen können dann problemlos über Scanner von Computern verarbeitet werden.

Wie bei “Wer wird Millionär?”

Mathias Brodkorb war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern und gehört der SPD an.

Die Schüler bekommen also einen Text, der alle Informationen zur Lösung der gestellten Aufgaben bereits enthält. Sie lesen ihn und kreuzen dann die richtigen Antworten an. Stellen Sie sich das einfach vor wie bei „Wer wird Millionär?“ von Günther Jauch – nur dass Sie sich vorher sogar noch einen Zettel durchlesen können, in dem alle Antworten auf die gestellten Fragen schon drinstehen.

Selbst wenn Sie auch dann noch keine Ahnung haben, welche Antwort richtig ist, liegen Sie bei vier Antworten trotzdem mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent richtig. Und mit etwas Glück können Sie die falschen Antworten als falsch erkennen, obwohl Sie in der Sache die richtige Antwort gar nicht kennen. Genau das ist „Kompetenzorientierung“, genau das ist PISA.

Früher galt als kompetent, wer etwas von einer Sache versteht. Heute gilt als kompetent, wer sich trotz mangelnden Wissens erfolgreich durchmogeln kann. Und das alles verdanken wir PISA. Und Politikern, die gar nicht wissen, was sie tun.

Moment mal: Was Sie zu den Testformaten von PISA sagen, bezieht sich ja zunächst nur auf eine methodisches Untersuchungsdesign. Man muss daraus ja nicht gleich ein Unterrichtskonzept machen.

Stimmt, aber genauso ist es in den letzten 20 Jahren trotzdem passiert. Nicht einmal die Mitarbeiter in den Ministerien verstehen diesen Unterschied. Und die Lehrer in den Schulen haben sowieso keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. PISA hat also ein völlig rudimentäres Modell für Bildung entwickelt. PISA testet nicht Bildung und Wissen, sondern bloß Vorstufen dazu. Das hatte finanzielle und testökonomische Gründe. Aber in den Ministerien und Schulen wurde das dann als Vorbild für moderne Bildung verstanden und wird seit fast 20 Jahren in unseren Schulen praktiziert. Die Ergebnisse kann man in der aktuellen PISA-Studie bewundern.

Können Sie dafür auch ein konkretes Beispiel bringen?

Kein Problem. Wir haben eine Abiturprüfung in Biologie aus NRW von einer 9. Klasse bearbeiten lassen. Das Ergebnis hat selbst mich überrascht: Von 27 Schülern haben nur vier nicht bestanden. 14 erreichten ein ausreichend, fünf ein befriedigend, drei ein gut und ein Schüler erreichte sogar eine 1. Nochmal: Das waren 9.-Klässler, die sich auf diese Abiturprüfung überhaupt nicht vorbereitet hatten und noch gar nicht über Abiturwissen verfügen konnten. Man brauchte also überhaupt kein eigenes Fachwissen. Man musste nur Texte lesen, sie verstehen und ein bisschen schlussfolgern können.

Früher waren das die Kompetenzen, über die ein guter oder mittelmäßiger Realschüler verfügte. Es hat ja auch seinen Grund, warum die Universitäten heute immer mehr Nachhilfekurse für Studienanfänger anbieten müssen. Sagen wir einfach, wie es ist: Früher war das von Wilhelm von Humboldt erfundene deutsche Abitur ein Qualitätsmerkmal. Das ist heute aber Geschichte.

Übertreiben Sie nicht etwas? Kann es nicht sein, dass das, was Sie schildern, bloß Anlaufschwierigkeiten bei der Umsetzung der PISA-Idee waren?

Das würde mich wirklich freuen. So ist es aber nicht. Auch in aktuelleren Abiturprüfungen sieht es nicht besser aus. Da gibt es zum Beispiel eine Aufgabe zur Miesmuschel und der eingewanderten Pazifischen Auster. Ich will Sie damit nicht langweilen, aber die läuft nach demselben Muster: Langer Text, in dem alle Antworten schon drinstehen. An der fachlichen Korrektheit des Textes zweifelnd habe ich die Aufgabe einem Fachkollegen des Alfred-Wegener-Instituts auf Sylt zur Begutachtung vorgelegt. Sein Urteil war vernichtend. Nicht einmal die Fakten in dem Aufgabentext stimmten.

Die Zielsetzungen der Wokisten laufen stattdessen auf die Abschaffung des Leistungsprinzips hinaus. Nach deren Mantra ist Leistung angeblich diskriminierend, sogar rassistisch, weil sie andere, die eben nichts leisten wollen oder können, ausgrenzt.

Als ich die Aufgabe in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung öffentlich machte, rief mich ein Ministeriumsmitarbeiter an und sagte ungefähr: „Herr Klein, Sie haben das mit der Kompetenzorientierung immer noch nicht verstanden. Uns geht es nicht um Fachwissen, sondern um den Umgang mit Wissen.“ Das heißt: Abiturienten der Zukunft brauchen selbst nichts mehr zu wissen, sondern sollen bloß mit dem Wissen anderer arbeiten können. Heute bedeutet „Abitur“ so etwas wie betreutes Denken.

Angenommen, Sie haben Recht: Welche Vorschläge würden Sie Deutschlands Bildungspolitikern unterbreiten?

Es ist mir fast peinlich, das zu sagen, aber es ist wohl trotzdem nötig: Der Kern von Bildung ist Fachwissen. Wahre Kompetenz bedeutet, dass man die Fakten und Methoden eines Faches beherrscht. Die Zielsetzungen der Wokisten laufen stattdessen auf die Abschaffung des Leistungsprinzips hinaus. Nach deren Mantra ist Leistung angeblich diskriminierend, sogar rassistisch, weil sie andere, die eben nichts leisten wollen oder können, ausgrenzt. Gleichheit für alle gibt es aber nur auf dem untersten Niveau. Die fachlichen Anforderungen müssen stattdessen klar und hoch sein. Nur so entsteht ein angemessenes Leistungsniveau.

Es braucht qualifizierte und genügend Lehrkräfte

Als zweiten Punkt müsste die Politik den Lehrermangel in den Griff bekommen. Ohne qualifizierte Lehrkräfte geht es einfach nicht. Schluss also mit dem pädagogischen Firlefanz und stattdessen Konzentration auf das Kerngeschäft Unterricht. So lustig intersektionale und diverse Schüler-AGs auch sein mögen: Die Lage ist zu ernst, als dass wir uns solche Spielereien noch leisten könnten.

Und drittens, auch wenn das manche Weltenretter nicht gerne hören: Wenn der unregulierte Zustrom von bildungsfernen Migranten nicht zeitnah gestoppt wird, kommt es zu einem Kollaps des deutschen Bildungswesens und später auch der deutschen Wirtschaft. Die Schule kann nicht die Reparaturanstalt für politische Fehlentscheidungen sein. Und sie darf nicht als Abladeplatz für eine verfehlte Migrationspolitik missbraucht werden. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind die Lehrer und die Kinder aus dem sozial benachteiligten Milieu. Deren Eltern können sich Privatschulen schlicht nicht leisten.

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Kompetenz ohne Bildung https://condorcet.ch/2023/05/kompetenz-ohne-bildung/ https://condorcet.ch/2023/05/kompetenz-ohne-bildung/#comments Sat, 06 May 2023 15:39:50 +0000 https://condorcet.ch/?p=13817

Kompetenzorientierung, selbstorganisiertes Lernen und integrative Förderung dominieren die Volksschule. Auf der Strecke bleibt das humanistische Bildungsideal. Ein Gastbeitrag von Béatrice Di Pizzo.

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In der vordersten Bankreihe einer zweiten Sekundarklasse am Zürichberg sitzen, isoliert und dichtgedrängt, ein Eritreer, ein langsam Lernender und ein Bosniake. Die Klasse ist gut gelaunt und heiter in dieser Frühstunde in Geografie, denn der Lehrer unterrichtet ­offensichtlich sein Lieblingsfach. Er scherzt und ermuntert die Jugendlichen zu Höchstleistungen.

Sie halten sich geduckt, fallen nicht auf und kritzeln irgendwas auf die ausgeteilten Arbeitsblätter.

Bloss: Niemand spricht mit den Dreien, eine ganze geschlagene Lektion lang. Sie halten sich geduckt, fallen nicht auf und kritzeln irgendwas auf die ausgeteilten Arbeitsblätter. “Integrative Förderung”, seufzt der Lehrer, “die Stadt will das so.”

Gastautorin Béatrice Di Pizzo, Erziehungswissenschaftlerin

Die Schule soll für Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen, so ihr demokratischer Auftrag, indem die staatlich finanzierte Ausbildung junge Menschen ihren Begabungen gemäss für die Marktwirtschaft qualifiziert.

“Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist.” So legitimierte noch im ausgehenden 18. Jahrhundert Wilhelm von Humboldt Schulbildung als Mittel zur Selbstermächtigung, ganz ohne Anspruch auf messbaren Bildungsoutput. Sich zu bilden hiess zunächst, sich zu formen, Gestalt anzunehmen, der Gesellschaft als verantwortungsbewusstes und aufgeklärtes Individuum entgegenzutreten. Ist dieser Anspruch überholt?

Wilhelm von Humboldt: Schulbildung als Mittel zur Selbstermächtigung

Ganz im Gegenteil. Die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung unserer Arbeitswelt führt unweigerlich zur Entwicklung von Berufsfeldern, in denen eine reflexive Handlungsfähigkeit das Ziel aller Kompetenzentwicklung ist. Die bewusste, kritische und verantwortliche Einschätzung und Bewertung eigener Handlungen auf der Basis von Erfahrungen und Wissen zielt auf die Eigenschaften eines eigenständigen Individuums, das seine Arbeitspraxis in einen gesellschaftlichen oder beruflichen Kontext stellt. Gerade der Einsatz künstlicher Intelligenz in vielen, auch komplexen Arbeitsfeldern zeigt uns: Der Computer ist uns im Prozessdenken überlegen – er ist schneller, ausdauernder und exakter. Umso wichtiger wird ganzheitliches, auf humanistischen Werten basierendes Denken.

“Während manche junge Menschen aufgrund der jahrelangen, ­gezielten Indivi­dualisierung ihre Selbstinszenierung ­professionalisieren, zerbrechen andere am permanenten ­Vergleich.”

Einfache, messbare ­Leistungen

Unglücklicherweise wurde aufgrund eines Paradigmenwechsels in der pädagogischen Forschung der 1990er-Jahre das humanistische Bildungsideal der Kompetenz­orientierung geopfert, womit nun die Didaktik, also die Unterrichtstechnik, die Bildungsinhalte bestimmt. Der ­zunehmend multikulturelle Hintergrund der Lernenden interessiert kaum, ebenso wenig wird eine ganzheitliche Förderung angestrebt. Die Kompetenzorientierung fordert einfache, messbare Leistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen, auch im angesprochenen Geografieunterricht. Die Pädagogische Hochschule bereitet das Lehrpersonal darauf vor, die Individualisierung des Unterrichts ist dabei ihr Mantra. Da jeder individuell in den basalen Kompetenzen gefördert werden soll, tut man dies am effizientesten mit smarter Bildungssoftware.

Einfache Aufgaben nach Schema empfindet die Generation Z als Zumutung

Und das geschieht denn auch. Entsprechend zeichnet sich unsere jüngste Generation Z durch digitale Kompetenzen aus. In Wohlstand aufgewachsen, wollen diese jungen Menschen etwas bewirken; sie suchen Sinn und erwarten Rahmenbedingungen, in denen sie sich entfalten können. Einfache Aufgaben nach einem vorgegebenen Schema abzuarbeiten, empfinden sie als Zumutung. Doch aufgrund der geltenden pädagogischen Konzepte fehlt ­ihnen der Durchhaltewille jener, die sich Wissen und ­Fähigkeiten über die Auseinandersetzung mit Vorbildern aneigneten. Sie sind sich der gesellschaftlichen Dimension ihres Tuns nicht bewusst und können sich an keinen Werten orientieren.

“Für Vorstellungskraft, Kreativität und echten Austausch bleibt wenig Raum im outputorientierten ­Bildungssystem.”

Während manche von ihnen aufgrund der jahrelangen, gezielten Individualisierung ihre Selbstinszenierung professionalisieren, zerbrechen andere am permanenten Vergleich. Viele von ihnen würden gerne zeigen, was sie können, und ihre eigenen Lösungsansätze präsentieren. Doch für Vorstellungskraft, Kreativität und echten Austausch bleibt wenig Raum im outputorientierten Bildungssystem. Die humanistische Bildung hat sich derweil ins ­Private zurückgezogen. Werte werden nur noch in kulturellen Blasen verhandelt. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass dadurch die Chancengerechtigkeit schwindet.

Die Volksschulen integrieren zu wenig

Dieserart eindimensionale und messbare Leistungsziele, sprich Kompetenzen, erreicht man nur mit würdelosem, preussischem Drill. Die Pädagogische Hochschule propagiert deshalb – und in Anbetracht der Heterogenität der Klassen – selbstorganisiertes Lernen (SOL), bei dem sich jedes Kind eigenständig und intrinsisch motiviert die Lernziele je nach Stufe anhand von Arbeitsblättern oder komplexeren Dossiers selbst erarbeitet und überprüft. Doch das gelingt nur sehr Intelligenten oder Fleissigen, die sich zudem nicht scheuen, die vielbeschäftigten Lehrpersonen auf sich aufmerksam zu machen. Untereinander herrscht Konkurrenzkampf, weshalb alle Kinder auf den Einsatz ihrer Eltern angewiesen sind.

Am anderen Ende der Leistungsskala macht sich funktionaler Analphabetismus oder Illettrismus breit, was aktuell nahezu 20 Prozent der Volksschulabsolventinnen und -absolventen betrifft. Berufsbildner in der Schweiz beklagen sich über Lehrabbrüche, Hochschulen über die mangelnde schriftliche Ausdrucksfähigkeit der Studierenden. Es sind Zeichen einer mangelnden Integrationsfähigkeit unseres Bildungssystems.

Kompetenzen pauken gelingt nur sehr intelligenten oder fleissigen Schülerinnen und Schülern.

Die integrative Förderung, wie sie die Stadt Zürich seit 2009/10 praktiziert, funktioniert nicht. Schulklassen und Lehrerkollegien sind an den meisten Schulen zu gross, um eine Verbindlichkeit herzustellen. Ausserdem hat sich das Jobprofil verändert: Keine Lehrperson widmet sich einer Aufgabe, für die sie nicht zuständig respektive bezahlt ist. Über Pensenzuteilungen verfügen Schulleitungen nach Gutdünken; oft werden Lehrpersonen mehrjährig im Jahresvertrag beschäftigt und Fachlehrpersonen nur stundenweise eingesetzt. Die Personalfluktuation ist entsprechend gross.

Professionalisierte Gleichgültigkeit

Kinder, nicht nur aus Einwandererfamilien, sind auf die Ressourcen und finanziellen Möglichkeiten ihrer Familien und allenfalls ­ihrer Subkulturen zurückgeworfen, denn nur diese bieten verlässliche Beziehungen und einen normativen Kontext. Im Kontakt mit der schweizerischen Zivilgesellschaft hingegen erleben sie professionalisierte Gleichgültigkeit.

Bildung ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe, sie lässt uns Zusammenhänge erkennen und ein gegenseitiges Verständnis entwickeln. Ohne geteiltes Wissen schreitet die Segregation der Gesellschaft voran, zentrifugale Kräfte werden verstärkt, und die Chancengleichheit schwindet. Wir müssen die eindimensionale Kompetenzorientierung überwinden und gemeinsam ein humanistisches Bildungsideal stärken, denn nur dieses ermöglicht eine ganzheitliche Förderung junger Talente.

Dieser Bericht erschien zuerst in derZeitschrift “Schweizerischer Monat”: https://schweizermonat.ch/kompetenz-ohne-bildung/

 

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Die Schule als Turing-Test-Anstalt https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/ https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/#comments Sat, 11 Mar 2023 08:31:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=13391

Was kann der Computer? Was kann der Mensch? In Zeiten der ChatGTP und KI fordern diese Fragen vor allem das Bildungssystem heraus. Laut Physiker und Philosoph Eduard Käser droht das gegenseitige Vertrauen von Lehrer und Schüler zu erodieren.

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Eduard Käser, Physiker, Philosoh und Jazzmusiker: Die Liebe zur Sprache wiederentdecken.

KI-Systeme imitieren unsere kognitiven Fähigkeiten immer besser. Und je besser sie das tun, desto deutlicher rückt ein Unterschied in den Fokus, den man aus der Linguistik kennt: zwischen Kompetenz und Performanz. Ich kann zum Beispiel einige Sätze Italienisch sprechen. Diese Performanz ist natürlich kein Beleg für meine Italienisch-Kompetenz. Eher lässt sich sagen: I’m faking it, not making it. Und das scheint mir auch eine treffende Kurzcharakterisierung der Künstlichen Intelligenz (KI) zu sein.

I’m faking it, not making it.

KI-Systeme demonstrieren schon heute eine eindrückliche Performanz. Jüngst der Textgenerator ChatGPT von OpenAI. Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz «antwortet» er: Kompetenz ist das Vermögen, etwas erfolgreich zu tun, während Performanz die aktuelle Demonstration dieses Vermögens ist.

Man prüft nicht den Schüler, sondern den Hybrid.

Bündiger kann man das nicht formulieren. Aber was für ein Vermögen demonstriert denn eigentlich der Textgenerator? Schreibt ChatGPT wirklich? Liegt seine Kompetenz nicht schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren? Na und? Nenne man das nun «schrei­ben» oder auch nicht. Wenn man die «intelligente» Maschinenleistung – Problemlösen – auf vielen Gebieten nicht mehr von der menschlichen Leistung unterscheiden kann, weshalb dann nicht die Gänsefüsschen bei «intelligent» streichen?

Man schreibt der Maschine ein Vermögen zu, das sich aus einer Schwäche des Menschen ableitet.

Mit solchen Fragen stecken wir mitten in einem dornigen Problemnest. Es ist so alt wie die KI selbst. Einer ihrer theoretischen Pioniere, der Mathematiker Alan Turing, stellte vor gut 70 Jahren die Frage: Können Maschinen denken? Turing gab keine direkte Antwort, sondern schlug ein sogenanntes Imitationsspiel vor, in dem eine Jury prüft, ob die Maschine den Menschen so imitieren kann, dass dieser zur Überzeugung gelangt, sie denke. Je weniger dies dem Menschen gelingt, als umso intelligenter kann man die Maschine betrachten. Der definitorische Trick ist offensichtlich: Man schreibt der Maschine ein Vermögen zu, das sich aus einer Schwäche des Menschen ableitet: seiner Neigung, gefoppt zu werden.

Kernauftrag durch Informationstechnologie herausgefordert

Seither investieren Computerwissenschaftler, Kognitionsforscher und Philosophen eine Menge Hirnschmalz in die Aufgabe, den Output künstlicher Hirne zu «entlarven». Und vermehrt sehen Lehrerinnen und Lehrer ihren Kernauftrag durch die Imitationstechnologie herausgefordert. Wir befinden uns auf der Schwelle zu einer neuen technischen Ära. Die KI-Systeme sind nicht mehr bloss Werkzeuge. Schüler und Studenten sollen Kompetenzen lernen. Nun begleiten sie ständig lernende Artefakte, die vielleicht sogar gelehriger sind als Menschen. Sie «emanzipieren» sich vom Hilfsmittel zum künstlichen Schüler. Sie wollen «erzogen» werden. Das heisst, Grundeinheit des Unterrichtens ist heute Schüler-plus-Chatbot – ein Hybrid aus Mensch und Maschine. Man prüft nicht den Schüler, sondern dieses Hybrid. Einen Aufsatz schreiben? Einen Roman zusammenfassen? Einen Text auf logische Stringenz überprüfen? «There’s an app for that»..

In der ganzen Entwicklung liegt eine tiefe Ironie.

Das hat Folgen, die man noch kaum bedenkt, bedenken kann. In der ganzen Entwicklung liegt eine tiefe Ironie. Mittel- und Hochschulen feierten die digitalen Medien als Initiatoren für selbstgesteuertes Arbeiten. Nun stellt sich die Frage: Wer oder was ist dieses Selbst? Prüfungs-, Matura-, Seminar-, Masterarbeiten – von wem stammt der geschriebene Text, vom Schüler oder vom ChatGPT? Wem attestieren wir welche Kompetenzen? Wie unterscheiden und verteilen wir sie? Fragen, die wohl über kurz oder lang zum Standard des Unterrichts gehören dürften. Die Schule mutiert von der Lehranstalt zur Turing-Test-Anstalt.

Es droht ein digitales Katz- und Maus-Spiel

Wie immer gibt es die vorschnelle technische Lösung. Schon arbeitet OpenAI an Test-Programmen, die in den ausgegebenen Wortfolgen von ChatGPT heimliche statistische Muster und andere Indizien ihrer Künstlichkeit entdecken. Ein Programm zur «Entlarvung» von Programmen. Inwieweit ist darauf Verlass? Die Testläufe zeigen mässigen Erfolg.[1] Ein nicht unwahrscheinliches Szenario zeichnet sich ab: Der Schüler rüstet sich mit immer raffinierterer Schreib-Software aus, der Lehrer mit entsprechend ausgeklügelter Entlarvungs-Software. Eine digitale Katz-und-Maus-Schleife, in dem nicht unbedingt der Lehrer obenaus schwingen wird. Bis er sich die fatale Frage stellt, ob es sich überhaupt noch lohne, Schreiben zu unterrichten.

Erodiert der vitale Boden des Unterrichtens?

Nun war die Schule ja schon immer das Übungsfeld von Schummelei. Zum herkömmlichen Verdachtsmoment des Plagiats tritt jetzt das neue der technischen Imitation hinzu. Und damit erodiert der vitale Boden des Unterrichtens: das gegenseitige Vertrauen von Lehrer und Schüler. «Ein Rückgriff auf konventionelle Arbeits- und Prüfungsformen scheint derzeit die einzige Möglichkeit zu sein», schreibt der Deutschlehrer Andreas Pfister kürzlich: «Dazu gehören die 45-Minuten-Prüfung, der 90-Minuten-Aufsatz, die Mündlichprüfung. Denn wer möchte Schülerarbeiten mit dem grundsätzlichen Misstrauen begegnen, es habe ein Co-Autor mitgeschrieben?» [2]

Den Blick auf die menschlichen Kompetenzen neu kalibrieren

Es gibt eine optimistischere Perspektive. Sie lässt sich zusammenfassen mit dem Motto «Wiederentdeckung verdrängter Selbstverständlichkeiten». Wozu ist Sprache da? Welche Kompetenzen fördert man mit ihr eigentlich? Das heisst, wir sollten unsere Aufmerksamkeit von der Maschine lösen und sie auf den Menschen richten. Gerade weil die Maschine so gut menschliche Kompetenzen performen kann, hält sie uns an, den Blick auf unsere Kompetenzen neu zu kalibrieren. Was ist daran das genuin Menschliche? Eigentlich sollten wir dem Computer danken dafür, dass er uns die Möglichkeit verschafft, eine solche Frage zu stellen; unser Können in der «Kommunikation» mit der Maschine wieder kennen zu lernen oder vielleicht erst zu entdecken.

Neue Aussichten auf die Bildung eröffnen sich. Der ChatGPT bietet sich geradezu als ein massgefertigtes Tool an. Aber nicht im Sinn von «Text auf Knopfdruck». Vielmehr andersrum: Das Leichte ins Schwierige verkehren. Das Leichte ist das Generieren eines Textes. Das kann ausserhalb des Unterrichtens stattfinden. Der Schüler eignet sich individuell sein Wissen und seine Kompetenzen an, mit welcher KI-Technologie auch immer. Aber was er abliefert, ist nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat: im realen Gespräch mit dem Lehrer und den anderen Schülern, von Angesicht zu Angesicht. Das ist das Schwierige.

Trivialitäten gewinnen im Rahmen eines massiv technisierten Unterrichts an pädagogischem Gewicht.

Die verdrängte Selbstverständlichkeit, die hier zum Vorschein kommt, lautet: Schreiben ist mehr als Textgenerieren – Schreiben ist ein Handwerk. Es verlangt das Erlernen und Einüben von Routinen; Geduld, Disziplin und Liebe im Umgang mit der Sprache; das vertiefte Studium eines Themas; das Einschätzen von Behauptungen; das Zusammenfügen von Wissensgebieten; den Ausdruck von Ideen in klarer, kohärenter Sprache. Daraus entwickelt sich im besten Fall eine innere Bindung an den Text. Das klingt trivial, aber genau solche Trivialitäten gewinnen im Rahmen eines massiv technisierten Unterrichts an pädagogischem Gewicht. Der Philosoph Odo Marquard hat vom «Homo compensator» gesprochen. Der «ausgleichende» Mensch, der in all dem, was heute die Maschinen für ihn tun, sich selber, seine eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen wiederentdeckt und neu bewertet. Und die Schule definiert sich als Ort dieses Ausgleichens.

Wohin geht der Homo sapiens?

Wir treten ein in eine neue Runde der Selbstbegegnung. Was kann der Computer, was kann der Mensch? Diese Unterscheidungsfrage wird zu einer vordringlichen Bildungsaufgabe. Und sie hechelt der Technologie hinterher.

[1] https://www.nzz.ch/wissenschaft/chat-gpt-erfinder-praesentieren-eine-programm-das-erkennen-soll-ob-texte-von-maschinen-geschrieben-wurden-ld.1724050

[2]  https://www.nzz.ch/meinung/chatgpt-wird-das-bildungswesen-auf-eine-harte-probe-stellen-ld.1721909

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10 vor 10 berichtet über umstrittene KV-Reform https://condorcet.ch/2021/08/10-vor-10-berichtet-ueber-umstrittene-kv-reform/ https://condorcet.ch/2021/08/10-vor-10-berichtet-ueber-umstrittene-kv-reform/#respond Sun, 01 Aug 2021 23:55:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=9074

Am 28.7. berichtete 10v10 über die umstrittene KV-Reform. Zwei Kontrahenden kreuzen dabei die Klingen. Einer von ihnen Konrad Kuoni, frischgebackener Condorcet-Autor und CO-Präsident des ZLB (Zürcher Verband der Lehrkräfte in der Berufsbildung).

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Ein Passepartout, der Tore schliesst statt öffnet https://condorcet.ch/2019/12/ein-passepartout-der-tore-schliesst-statt-oeffnet/ https://condorcet.ch/2019/12/ein-passepartout-der-tore-schliesst-statt-oeffnet/#respond Sun, 08 Dec 2019 14:53:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=3187

Condorcet-Autor und Schulleiter Andreas Aebi ist ein leidenschaftlicher Französischlehrer. Er sprach bei der Einführung von Frühfranzösisch von einer völligen Fehlinvestition und prophezeite bei der Einführung der Passepartout-Lehrmittel: "Das wird nicht gutgehen." Nach sieben Jahren zieht er Bilanz.

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Schauplatz Genf: Meine SiebtklässlerInnen sind unterwegs in der Stadt. Sie haben den Auftrag, das Ziel im Parc des Bastions selbständig zu finden und unterwegs eine Umfrage durchzuführen. Zielpublikum: junge Leute wie sie. Und weil sie die Umfrage mit Handy dokumentieren, kann ich mir zuhause die Resultate anhören. Die sind brisant: Die Hälfte der Kurzinterviews beginnt auf Französisch und endet auf Englisch.

Schüleraustausch in Genf: Interviews beginnen in Französisch und enden auf Englisch.

Französisch hatte es schon immer schwer. Mit der zunehmenden Anglifizierung unseres Lebens droht der Franzunterricht aber zum Kampf gegen Windmühlen zu mutieren. Zwei Dinge bräuchten die Schulen, um in diesem Umfeld Erfolge zu erzielen: gute SprachlehrerInnen, die Französisch lieben und beherrschen, und ein starkes Lehrmittel. Beide Bedingungen sind im Kanton Bern nicht erfüllt, und die Hauptschuld trägt das Konzept Passepartout.

Pädagogisch steht Frühfranzösisch auf schwachen Füssen

Sein erster Pfeiler war die Einführung von Frühfranzösisch. Sie geht auf einen Entscheid des Grossen Rates zurück, der für einen zweisprachigen Kanton nachvollziehbar erschien. Pädagogisch steht er aber auf schwachen Füssen, denn es gab und gibt zu wenig FranzlehrerInnen. Also engagieren die Primarschulen jetzt ErwachsenenbildnerInnen, pensionierte LehrerInnen oder Romand(e)s, die in ihrer Gemeinde wohnen. Diese erweisen sich häufig als taugliche Notlösung, aber den Personalbedarf decken sie nicht. Darum werden zum Französisch auch Lehrpersonen verknurrt, die weder Flair noch Kompetenz aufweisen. Im schlimmsten Fall sprechen sie im Unterricht konsequent Deutsch.

Passepartout-Lehrmittel beruhen auf Ideologie

Der zweite Pfeiler waren die Lehrmittel «Mille feuilles» (Primarstufe) und «Clin d’Oeil» (Sek 1). Aber das pädagogische Konzept des «Sprachbads», das diesen Lehrmitteln zu Grunde liegt, zielt an der Stundentafel der Volksschule vorbei (2-3 Wochenlektionen Französisch) – und am jungen Menschen. Die AutorInnen gingen nämlich davon aus, dass die Drittklässlerin und der Neuntklässler immer und automatisch Appetit auf Französisch haben, solange man ihnen nur die dicke Menükarte zureicht, aus der sie ihre Leckerbissen auswählen sollten. Indem sie den jungen Menschen idealisierten (und Entwicklungsphasen wie die Pubertät ignorierten), schufen sie eine Ideologie. Mit ihrer Beliebtheits-Pädagogik erreichten sie Beliebigkeit.

Nach fünf Jahren ziehe ich eine enttäuschende Bilanz.

Clin d’oeil gibt keinen Halt

Ich unterrichte Französisch auf der Oberstufe. Nach fünf Jahren Praxis mit «Clin d’oeil» muss ich eine enttäuschende Bilanz ziehen. Die 5 Prozent der Hochbegabten, die vom klassischen Lehrmittel unterfordert sind, lernen besser Französisch als je zuvor. Die 20 Prozent der Sprachfreaks und die 30 Prozent der Immerfleissigen kommen knapp über die Runden. Alle anderen hängen früher oder später ab, weil «Clin d’oeil» keinen Halt in Form von Sprachaufbau und Strukturen bietet. So versuchen Sprachlehrkräfte wie ich verzweifelt, mit Material aus dem persönlichen Notfallkasten die Löcher zu stopfen. Mit einem «Vocabulaire extra». Mit einem Sprachaustausch in der 9. Klasse. Mit Brücken zum realen Leben, zur Berufswelt, zur Landeskultur. Dort ist Französisch nämlich noch immer ein Thema und kann sogar Spass bereiten. Aber für den Spass musst du zuerst ein paar Wörter in der Festplatte haben und nicht nur im Google-Translator. Die Funktion «Speichern» gibt es bei «Clin d’oeil» leider nicht. Eine nachhaltige Unterrichtseinheit übers Einkaufen, übers Essen, über die Mode, übers Flirten? Fehlanzeige.

Die ersten Evaluationen der Wissenschaft sind schonungslos: Passepartout-AbsolventInnen haben zwei Jahre länger Französisch und können weniger als ihre VorgängerInnen. Passepartout, mit seinen aufwändigen Lehrmittelkursen und seinen Einweg-Lehrmitteln, ist eines der teuersten Projekte der Berner Schulgeschichte.

Das teuerste Lehrmittel der Berner Schulgeschichte

Die ersten Evaluationen der Wissenschaft sind schonungslos: Passepartout-AbsolventInnen haben zwei Jahre länger Französisch und können weniger als ihre VorgängerInnen. Passepartout, mit seinen aufwändigen Lehrmittelkursen und seinen Einweg-Lehrmitteln, ist eines der teuersten Projekte der Berner Schulgeschichte. Für den Schulverlag und den Kanton ist es zu einem finanziellen Klumpenrisiko geworden. So nimmt unser Franz seinen teuren Lauf. Mutige Schulen schaffen heimlich das Ostschweizer Lehrmittel «Dis donc!» an, ängstliche fahren die Lernziele zurück. Und ein renommierter Verlag lanciert per 2021–2022 sein neues Lehrwerk mit der Frage: «Suchen Sie eine Alternative zu Ihrem Französisch-Lehrmittel?» Die Gymnasien und Berufsschulen lassen derweil den ganzen Grundwortschatz und die Verbformen nachbüffeln. Im zweiten Ausbildungsjahr beginnt die Aufholjagd zur Matur oder zum Sprachdiplom.

Passepartout – ça ne passe pas!

Passepartout – ça ne passe pas. Wir müssen das Tor zur Romandie öffnen, nicht schliessen. Au boulot. Andreas Aebi

Andreas Aebi ist Schulleiter und Sprachlehrer an der Sekundarschule Langnau. Er war einer der ErstunterzeichnerInnen des «Offenen Briefes zum Passepartout-Debakel an die Erziehungsdirektionen der sechs Passepartout-Kantone» vom 15. Oktober 2019. Dieser Beitrag erschien im Forum der Tageszeitung Bund am 7. 12.19

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