Klassenlehrerin - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 19 Oct 2023 18:40:16 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Klassenlehrerin - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wahre Inklusion https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/ https://condorcet.ch/2023/10/wahre-inklusion/#respond Fri, 13 Oct 2023 10:53:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=15104

Die Primarlehrerin mit einem Pädagogikstudium. Die Primarlehrerin, die eine Klasse als Gemeinschaft führt und es kann. Die Primarlehrerin, die die derzeit praktizierte Individualisierung für einen Irrweg hält. BAZ-Journalist Sebstian Briellmann besuchte die Condorcet-Autorin an ihrem Arbeitsort, dem Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze.

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Draussen ist es unwirtlich, der Himmel präsentiert sich in allen Grautönen, die es auf der Farbpalette gibt, es regnet, unaufhörlich, aber was solls, muss man anfügen, denn das Drinnen, das in solchen Situationen normalerweise dann ja herbeigesehnt wird: Es muss erst recht die Hölle sein, zumindest gefühlt.

BAZ-Journalist Sebastian Briellmann: Man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein.

Dieser beklemmende Gedanke kann einem zumindest kommen, wenn man sich auf den Weg macht ins Schulhaus Lysbüchel, St.-Johann-Quartier, kurz vor der französischen Grenze. Strukturschwach, hoher Ausländeranteil.

Kann das gut gehen?, fragt man sich, die verstörenden Bilder einer «Reporter»-Dokusendung des Schweizer Fernsehens noch im Kopf, über Basler Primarschulklassen, die nicht mehr unterrichtbar sind – und die Worte des Erziehungsdirektors Conradin Cramer, der in der BaZ durchaus alarmiert gesagt hat: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell.» Ein «umfassendes» Massnahmenpaket ist auf dem Weg.

Ein Profi am Werk

Dann klingelt die Uhr im Lysbüchel, es ist kurz vor acht Uhr morgens, in den Gängen ist emsiges Treiben, es wird geschwatzt und gelacht, während die Lehrerinnen in den Klassenzimmern die letzten Vorbereitungen treffen.

Eine von ihnen ist Christine Staehelin, seit 36 Jahren unterrichtet sie an verschiedenen Basler Schulen, sie ist Mitglied des Erziehungsrats, Nationalratskandidatin auf der Liste «Bildung» der Basler Grünliberalen. Kurz: Da ist ein Profi am Werk. Staehelin hat eingeladen zu diesem Unterrichtsbesuch, weil sie natürlich auch mitbekommen hat, wie kontrovers dieser SRF-Film diskutiert worden ist, in der Politik, in der BaZ, in den Kommentarspalten. Und sie will aufzeigen, wie Primarschule funktionieren kann, immer noch, demografischen Veränderungen zum Trotz – ohne dabei verklärend oder sozialromantisch zu wirken.

Loben, korrigieren, ermahnen

So unterrichtet sie auch, ruhig, abgeklärt – und man ist fast schon überrascht: Sie tut das allein. Und es geht problemlos. 22 Kinder gehen in ihre dritte Klasse, alle sind an diesem Montagmorgen da. Zuerst wird geschrieben, dann gerechnet, dann gelesen – alle für sich –, ist ein Auftrag erledigt, kontrolliert Christine Staehelin das Resultat, lobt, korrigiert, motiviert, ermahnt sanft.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Condorcet-Autorin: Als Klasse, nicht als 22 Individuen

Nach 25 Minuten gibt es einen kurzen Französisch-Exkurs, da das «Tageskind» an die Tafel schreibt, welcher Wochentag, welches Datum und Jahr wir haben; dann Singen, drei Lieder auf Deutsch und Englisch, und schliesslich beginnt der Sachunterricht im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft. Die Drittklässler lernen gerade den menschlichen Körper kennen. Heute: Was passiert eigentlich mit dem Essen nach der Nahrungsaufnahme?

Grosse pädagogische Kunst

Alle bekommen zur Veranschaulichung einen Zwieback, eine Hälfte darf man essen, die andere wird in einem Plastiksäggli so lange zerdrückt, dass veranschaulicht wird, was im Magen denn genau so passiert. So nähert man sich dem Thema «Verdauung» altersgerecht an.

Pädagogisch ist das, von aussen betrachtet, grosse Kunst, die Kinder haben fürs Unruhestiften gar keine Zeit, so sehr sind sie mit ihrer Aufgabe beschäftigt, gleichzeitig stellt ihnen Staehelin immer wieder Sachfragen. Auffällig: Alles passiert miteinander, nichts erinnert an die Super-Separation einzelner Klassenmitglieder, die nicht nur im eigenen Zimmer, sondern nicht selten im ganzen Schulhaus verteilt werden.

Was macht Staehelin anders? Zunächst vielleicht ein Blick ins Klassenzimmer, das durchaus ähnlich ist wie :jenes, das man einst selber besucht hat. Okay, ein Sitzsack, in den man sich fläzen kann, wäre noch nicht : vorstellbar gewesen (gabs das überhaupt schon?) – und ja, dass in einer Ecke auch ein Dutzend Kopfhörer liegen, die man bei grossem Lärm benutzen könnte: Das ist dann wohl tatsächlich eine Folge der oft kritisierten Entwicklung. Immer mehr Kinder sind weniger gut unterrichtbar, brauchen Sondersettings, sprechen weniger gut Deutsch.

Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, verzeichnete man im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen».

Das sind riesige Herausforderungen, die aber ziemlich klein wirken, wenn da eine Lehrerin steht, mit all ihrer Erfahrung, die 22 Schüler noch so unterrichtet, wie man sich das eigentlich mal vorgestellt hat: als Klasse, nicht als 22 Individuen. Wahre Inklusion.

Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Staehelin sagt: «Ich unterrichte eine Klasse, das ist mein Auftrag, und das schätze ich. Die Tendenz, das will ich aber nicht verneinen, geht in Richtung kleinere Gruppen, überall verteilt. Die zunehmende Individualisierung finde ich nicht gut. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.»

Hier läuft das anders. Man erhält an diesem Morgen den Eindruck: Vielleicht tut die Individualisierung auch den Kindern nicht gut – weil eine Klasse, die noch wirklich eine ist, sich als wunderbarer Rahmen präsentiert. Es liegt drin, wenn die Gspänli manchmal kichern, da sie eine Aufgabe schon fertig gelöst und etwas freie Zeit haben.

Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt.

Und es ist eine erzieherische Massnahme, die von allen registriert wird und so ihre Wirkung entfalten kann, wenn ein Bub eine abschätzige Geste macht, da ein Mädchen sich zu ihm und anderen auf die Sitzbank setzen soll: Er wird von Staehelin, nun streng, zurechtgewiesen. Nachher wird sie mit ihm im Gang über sein Fehlverhalten sprechen. Auch das bekommt die ganze Klasse mit, logisch, wenn die Lehrerin ein paar Minuten nach draussen geht.

Ein bisschen später, für einen Montagmorgen ist das Konzentrationsniveau erstaunlich hoch, wird das anschaulich besprochene Thema «Verdauung» in einer Schreibübung weitergeführt. Alle müssen die wichtigsten Erkenntnisse, zusammengefasst in zehn Sätzen, abschreiben. In Schnürlischrift.

Hier offenbaren sich grosse Unterschiede. Während eine Schülerin (mit Migrationshintergrund!) nach fünf Minuten als Erste fertig ist – wie zuvor schon bei allen anderen Aufgaben –, haben andere noch keinen Satz fertig. Lieber gehen sie nochmals den Bleistift spitzen. Gespitzt wird in dieser Phase auffällig oft und auffällig gern …

War das nicht schon immer so?

Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will.

Dass das die Leistungsfähigkeit weit auseinanderdividiert, ficht auch Staehelin nicht an. Aber war das nicht schon immer so? Und es wird aufgefangen durch das Gemeinsame, den Klassengeist, wenn man so will. Wer auf die Blätter spienzelt und sieht, wer beim Schreiben (oder mit der Konzentrationsfähigkeit) Mühe hat, der erkennt, dass nicht wenige von den schwächeren Schülern zuvor im praxisnahen Unterrichtsgespräch viel gesagt, am aktivsten mitgemacht hat. Das ist viel wert – und nur im Verbund möglich.

Es überrascht deshalb nicht, wenn Staehelin sagt: «Die sogenannte integrative Schule hat das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt. Sie ist nicht für alle, sondern sie bringt immer weniger, denn immer mehr Kinder brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.»

Also wird viel Geld für die Sondersettings aufgewendet, um an dieser schönen Idee festhalten zu können. Oder eher an einer Illusion? Staehelin sagt: «Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu.»

Oberflächliche Reformen haben das Selbstverständnis der Schule erschüttert.

Es Ist ein Gang in die Individulisierung, in die Isolierung auch.

Es ist ein Gang in die Individualisierung, in die Isolierung auch. Staehelin sagt, dass die Schüler «alleingelassen werden», wenn sie ihre Lernziele selbst wählen können. Dass das überfordert, kann nicht erstaunen. «Und dann wundert man sich», sagt die erfahrene Lehrerin, «dass immer mehr als förder- und therapiebedürftig eingestuft werden». Staehelin nennt diesen Zustand mittlerweile «tragisch», die «oberflächlichen Reformen», die die heutige Lage verursacht haben, hätten «das Selbstverständnis der Schule erschüttert».

Im Klassenzimmer von Christine Staehelin sind diese systemischen Probleme weit weg, und die (eigene) Gefühlslage aufgehellt, da kann es draussen so stark regnen, wie es will, hier agiert ein Kollektiv mit klaren Hierarchien. Die Lehrerin ist die Chefin, die Schüler haben zu folgen, werden aber für voll genommen.

Heute werde dies als «Frontalunterricht diskreditiert», sagt Staehelin, «die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden».

Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Job gut können

In dieser 3. Klasse ist das anders, und es lässt sich nun wirklich nicht feststellen, dass auch nur ein Kind zu kurz käme, jedes hat in dieser Doppellektion mit der Lehrerin gesprochen, weiss, woran es ist, und macht so Fortschritte. Ob es nun stärker ist oder schwächer, besser Deutsch kann oder schlechter.

Das ist bildungspolitisch nicht die Hölle, sondern dem Himmel ziemlich nah, weil es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die ihren Job gut können, die pädagogische Profis sind. Warum will man ihnen Systeme überstülpen, die ihnen das Leben so schwer machen?

Eine Lehrerin wie Christine Staehelin mag das aushalten. Viele weitere auch. Andere verlassen (frühzeitig) den Beruf.

Und den Schaden tragen am Ende sehr oft die Kinder. Unsere Zukunft.

 

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Der Klassenlehrer, die Klassenlehrerin – früher das Ziel, heute gemieden https://condorcet.ch/2022/07/der-klassenlehrer-die-klassenlehrerin-frueher-das-ziel-heute-gemieden/ https://condorcet.ch/2022/07/der-klassenlehrer-die-klassenlehrerin-frueher-das-ziel-heute-gemieden/#respond Sun, 24 Jul 2022 06:23:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=11090

Condorcet-Autor Alain Pichard war die überwiegende Zeit seines Lehrerdaseins Klassenlehrer. Aber das war nicht immer so. Er musste lange warten, bevor man ihm die Verantwortung für eine Klasse übertrug. Im folgenden Beitrag schildert er, wie aus der seinerzeitigen Wunschfunktion "Klassenlehrer" ein schwierig zu besetzender Aufgabenbereich wurde.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Erst nach 12 Jahren wurde ich Klassenlehrer.

1977, im Jahr meiner Patentierung, herrschte ein plötzlicher Lehrkräfteüberschuss. Der sogenannte Pillenknick machte sich bemerkbar und liess landein, landab die Zahl der Klassen eingehen. Dennoch strömten aus den Lehrämtern und Seminarien relativ grosse Jahrgänge auf den Markt. Die Behörden im Kanton Bern erinnerten sich daran, dass das Pflichtpensum eines Lehrers bei 28 Lektionen lag. Und sie sahen, dass viele alteingessene Lehrkräfte, vor allem auf der Oberstufe bis zu 36 Lektionen unterrichteten. Das waren an die 8 Lektionen Überstunden. Sie beschränkten die Zahl der Überstunden auf 32. Aus den anfallenden Lektionen bastelten die Oberlehrer (so hiessen damals die Schulleiter) sogenannte Teilpensen. Die gestandenen Klassenlehrer waren natürlich wenig erbaut, dass ihnen das Einkommen um bis zu 15% reduziert wurde, denn Hypothekarzinsen lagen damals bei über 7%. Und einen Diskurs über Unterrichtsqualität gab es nur im Ansatz. So gaben sie ihre unbeliebtesten Fächer ab. Dazu gehörten Singen (so hiess damals das Fach Musik), Werken, Naturkunde, Religionsunterricht usw. Sie liessen sich am Samstagmorgen einen freien Halbtag ins Pensum schreiben (Samstagmorgen wurde damals noch unterrichtet) und die jungen Lehrkräfte wurden mit unmöglichen Fächerkombinationen als «Wanderlehrer» in die Brennöfen der Realität geschickt. Man kann sich nur vage vorstellen, wie der Schulalltag für die Junglehrerinnen und -lehrer ausgesehen hat. Viele von ihnen scheiterten und stiegen in andere Berufe um oder wechselten mit einer Zusatzausbildung die Schulstufe. Das wurde gerne notiert, denn es entlastete den Arbeitsmarkt.

Es entstand daraufhin eine Zweiklassengesellschaft innerhalb der Lehrerschaft. Der damalige bernische Lehrerverein (BLV) schützte vor allem die definitiv angestellten Lehrkräfte (die zu jener Zeit als Beamte galten) und sah die «provisorisch gewählten Lehrkräfte», die sich vornehmlich aus den jungen Wanderlehrkräften

Die linke VPOD-Lehrergruppe wurde damals die Gewerkschaft der provisorisch angestellten Lehrkräfte.

rekrutierten, als Puffer an. Ausserdem herrschte bei den Behörden ein stricktes Anciennitätsprinzip. Definitiv angestellte Lehrkräfte konnten auch bei krassesten Vergehen nicht entlassen werden. 1978 gründeten wir die VPOD-Lehrergruppen. Der VPOD war die Gewerkschaft der Staatsangestellten innerhalb des Gewerkschaftsbundes und damit auch ein Teil der Arbeiterbewegung. Für uns linke Lehrkräfte war dies ein ideologisch begründeter Schritt. Zulauf aus der eher unpolitischen Junglehrerschaft bekamen wir vor allem wegen dieser unmöglichen Arbeitssituation.

Es entstand daraufhin eine Zweiklassengesellschaft innerhalb der Lehrerschaft.

Ich selbst blieb meinem Beruf trotz der schwierigen Situation treu. Neben ideellen Motiven brauchte ich auch das Geld, weil ich mein Studium teilweise selbst finanzieren musste und auch bald einmal mit meiner Frau für eine Familie zu sorgen hatte. Unser Bestreben war damals klar: 100% arbeiten und eine Klasse übernehmen. Allerdings waren meine Frau, die auch Lehrerin war, und ich nicht unglücklich, dass wir vorübergehend auch Teilzeit arbeiten und uns die Betreuung unserer Kinder aufteilen konnten.

Eine drastische Änderung bei den Anstellungsbedingungen verbesserte unsere Situation. Die Erziehungsdirektion schaffte den Beamtenstatus ab und ersetzte ihn durch eine öffentlich-rechtliche Anstellung.

Eine drastische Änderung bei den Anstellungsbedingungen verbesserte unsere Situation. Die Erziehungsdirektion schaffte den Beamtenstatus ab und ersetzte ihn durch eine öffentlich-rechtliche Anstellung. Von nun an konnte man sich einfacher von unfähigen Lehrkräften trennen und es gab lediglich noch unbefristete und befristete Anstellungen. Die befristeten Anstellungen mussten aber spätestens nach einem Jahr in ein unbefristetes Anstellungsverhältnis überführt werden. Das gab innerhalb der beiden Lehrerverbände zu reden. Die linken Ideologen sahen darin eine Verschlechterung der Arbeitsplatzsicherheit, die pragmatischen erkannten darin auch die Chance, diese unmögliche Konstellation zu überwinden. Ich konnte schliesslich meinen VPOD davon überzeugen, diesen Deal einzugehen.

1990 wurde mir erstmals die Verantwortung für eine Klasse übergeben. Ich tat dies mit einer Kollegin zusammen. Wir konnten nun endlich zeigen, wie wir eine Klasse führen können, und es erfüllte uns mit Freude, am Entstehen einer Gemeinschaft mitzuwirken.

Grundsätzlich war es immer noch schwierig, 100% zu arbeiten. Das gab die Stellensituation noch nicht her. Ausserdem blieb das Anciennitätsprinzip vorrangig. Die Älteren und die Klassenlehrkräfte wurden bei der Pensenzuteilung privilegiert behandelt.

Die ehemaligen «Wanderlehrer» wurden wegen ihrer Erfahrung und ihrer Befähigung, praktisch alle Fächer zu unterrichten, zu gefragten Lehrpersonen.

Gegenüber der heutigen Situation gab es noch einen entscheidenden Unterschied. Meine Kollegin und ich waren beide sogenannte Realschullehrkräfte, seminaristisch ausgebildet. Das heisst, wir verfügten über ein Generalpatent, das uns befähigen sollte, alle Fächer zu unterrichten. Natürlich war dies mit Abstrichen bei der Unterrichtsqualität verbunden. Aber in den damaligen Realklassen, die sich immer mehr mit Kindern aus prekären sozialen Verhältnissen füllten, erwies sich die Reduktion auf wenige verantwortliche Lehrkräfte als Vorteil. Ab 1996 begann die Spezialisierung der Lehrkräfte vor allem auf der Sekundarstufe 1. Die Seminare wurden abgeschafft und durch die Pädagogischen Hochschulen ersetzt. Auch ich begann mich zu spezialisieren und konzentrierte mich in einem Nachdiplomstudium auf Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer. Die ehemaligen «Wanderlehrer» wurden wegen ihrer Erfahrung und ihrer Befähigung, praktisch alle Fächer zu unterrichten, zu gefragten Lehrpersonen.

Die Bilanz der vielen Reformen war zwiespältig. Aber die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte erhöhte sich.

Die vielen Schulreformen erhöhten die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte, vor allem aber die der Klassenlehrer. Das führte zu einer vollkommenen Umkehr der Verhältnisse. Heute stehen wir vor dem Problem, dass viele Lehrkräfte keine 100%-Stelle mehr wünschen und sich schon gar nicht als Klassenlehrkräfte anstellen lassen wollen. Im Kanton Zürich sind dies 80% der Lehrkräfte, die im Schnitt 69% arbeiten. Zurzeit haben wir einen Arbeitnehmermarkt. Junge Lehrkräfte können sich vieles wünschen und tun dies auch. Auch finanziell scheint ein Grossteil der Lehrkräfte es nicht mehr nötig zu haben, in Vollzeit zu arbeiten. Die Vereinbarkeit von Familienbetreuung und Arbeit ist vorrangig und kann in der Schule recht gut abgedeckt werden. Zudem gibt es ausgestiegene Lehrkräfte, die in der Privatwirtschaft oder als Künstler nicht genug verdienen, und sich gerne noch in der Schule einen Zusatzverdienst holen, sich also nur bedingt mit dem Beruf des Lehrers identifizieren. Der wichtigste Fakt aber ist, dass  die Belastung des Lehrberufs für jüngere Lehrkräfte kaum machbar ist, wenn sie mit einem 100%-igen Arbeitsvolumen einsteigen müssen. Dies gilt vor allem in den Unterstufen und den Brennpunktschulen unseres Landes.

Das Problem, mit dem sich die Schulleitungen derzeit befassen müssen, ist der schmelzende Kern des Personals, der die Schulen unseres Landes und ihren Schulalltag trägt. Denn die Schule ist auf Lehrkräfte angewiesen, die sich mit ihrem Arbeitsort identifizieren, ihn mittragen, bei den Schulanlässen und Schulverlegungen dabei sind, Bibliotheken betreuen, Projekte begleiten, die Schulentwicklung prägen u.v.m.

In einem nächsten Beitrag werde ich aufzeigen, was das Klassenlehramt zu einer Königsdisziplin der Pädagogik macht, welche Aufgaben da anstehen und wie diese Funktion wieder etwas attraktiver gemacht werden könnte.

 

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