Home-Schooling - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 30 Apr 2020 12:26:04 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Home-Schooling - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Das Schulzimmer – Resonanzraum oder Digitalareal? https://condorcet.ch/2020/04/das-schulzimmer-resonanzraum-oder-digitalareal/ https://condorcet.ch/2020/04/das-schulzimmer-resonanzraum-oder-digitalareal/#comments Wed, 29 Apr 2020 10:58:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=4792

Homeoffice heisst die neue Betriebsform, auch in den Schulen. Unterricht erhält einen digitalen Schub. Die Euphorie ist gross; vergessen geht, dass Bildung auch Beziehungsgeschehen ist. Zeit für eine pädagogische Reflexion – meint Condorcet-Autor Carl Bossard

The post Das Schulzimmer – Resonanzraum oder Digitalareal? first appeared on Condorcet.

]]>
Arbeitsplatz einer Schülerin während der Fernschulung.

Die Non-Stopp-Gesellschaft ist unerwartet ins Stottern und Stocken gekommen, in vielem gar zum Stillstand. Auch der Präsenzunterricht steht still. Angesagt sind sogenannte „Corona-Ferien“. Die rund 1.3 Millionen Schulkinder in der ganzen Schweiz sollen aber weiterhin für die Schule lernen, oder sogar fast wie in der Schule, ohne aber in die Schulstube zu kommen. Sie arbeiten zu Hause, betreut und begleitet von ihren Lehrerinnen und Lehrern – über digitale Kanäle mit Informationstexten, Arbeitsaufgaben oder Push-Nachrichten, über ganze Websites oder Apps, beim Videocall, mal über postalisch versandte Unterlagen, mal per gutes altes Telefon oder gar mit Einzelgesprächen im Schulhaus.

Lernen erfordert positive Beziehungen

Der flächendeckende Fernunterricht ist ein unerforschtes Gelände. Erfahrungen gibt es wenig. Entsprechend unterschiedlich funktioniert er – vielerorts optimal, da mal besser, dort mal weniger gut, hier und da vielleicht gar nicht. „Beim Fernunterricht überzeugten nicht alle Lehrer“, titelte darum die Sonntagszeitung in grossen Lettern.[1] Nicht ohne Unterton.

Diesem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule ist eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen.

Hartmut Rosa: Bildung ist ein Resonanzprozess.

Damit hätte man längst ernstmachen sollen, lauten nun die Vorwürfe an die Schule. Die digitale Entwicklung sei schlicht verschlafen worden, heisst es; das räche sich jetzt. Schrill schallt darum das Schlagwort nach intensivierter, ja radikaler Digitalisierung des Unterrichts durchs Land. Doch diesem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule ist eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Es gibt einen triftigen Grund, warum die Kinder nicht längst mit irgendeiner Lernsoftware alleine gelassen werden: Weil wir, verkürzt gesagt, Menschen sind,[2] weil Lernen positive Beziehungen erfordert. Schule und Unterricht sind in vielem ein Resonanzprozess, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen.[3] Bildung entfaltet sich „in dichten Interaktionsprozessen (mit Menschen und Dingen)“,[4] analysiert der Soziologe Hartmut Rosa.

Der Mensch ist kein Robinson Crusoe

Viele Kinder wünschen sich den normalen Unterricht zurück.

Es zählt darum zu den anthropologischen Grundkonstanten, dass der Mensch ein Gegenüber braucht, um sich selbst zu erkennen. Martin Buber, Pädagoge und Religionsphilosoph, hat diese Einsicht zu einer Kernaussage verdichtet: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“[5] Darum darf dieses Gegenüber nicht fehlen; auch das beste Digitalprogramm kann das menschliche Vis-à-Vis nicht ersetzen. Das zeigt sich auch in diesen Corona-Tagen mit dem Fernunterricht. Unzählige Kinder vermissen das Zusammensein mit den Klassenkameraden und ihrer Lehrperson; umgekehrt suchen viele Pädagogen den direkten und persönlichen Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern.

Der Mensch ist eben keine Kaspar-Hauser-Figur, und nur ganz wenige taugen zum modernen Robinson Crusoe. Auf sich allein gestellt, verlieren sie sich in einer Welt ohne Halt und Orientierung. Menschen brauchen ein Du, um sich entwickeln zu können.

Wesentliches liegt im Zwischenmenschlichen

Viele Forschungen zeigen es, viele Expertisen bestätigen es: Von frühester Kindheit an gibt es zwei Bedürfnisse in uns Menschen; die beiden Grundanliegen ergänzen sich gegenseitig: Einerseits wollen wir uns sicher und geborgen fühlen, anderseits wollen wir Neues entdecken und erfahren. Für dieses Gefühl des Geborgenseins wie fürs Entdecken von Neuem aber braucht es Mitmenschen, denen wir vertrauen, die uns positiv verstärken und uns auch korrigieren. Das erleichtert und verstärkt das Lernen.

Lehrkräfte müssen an die Heranwachsenden glauben, ihnen Beachtung schenken, sie ermutigen, sie anerkennen und ihnen vertrauen.

Diese resonanten Zuwendungen sind elementar – gerade bei jüngeren Kindern. Lehrkräfte müssen an die Heranwachsenden glauben, ihnen Beachtung schenken, sie ermutigen, sie anerkennen und ihnen vertrauen. Auch fördernde und korrektive Feedbacks spielen eine entscheidende Rolle; wer lernt, muss wissen, was oder wie man etwas besser machen könnte. Das alles sind Beziehungselemente. Sie liegen im Zwischenmenschlichen, im „Dazwischen“, im Divergenten. Physische Präsenz und vitales Interesse am Kind intensivieren diese zwischenmenschlichen Prozesse.

Kinder langweilen sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine zwischenmenschliche Energie animiert.

Lernen ist kein Start-Ziel-Lauf

Langeweile, wenn keine zwischenmenschliche Resonanz vorhanden ist.

Die Digitalisierung aber geht davon aus, dass der Unterricht ein kontrollierbarer und damit planbarer Prozess sei – sozusagen ein linearer und konvergenter Start-Ziel-Lauf, präzis berechenbar und von Algorithmen gesteuert. Das Divergente kommt kaum vor. Darum bringen Kinder wenig Ausdauer auf, über längere Zeit einem digitalisierten Unterricht zu folgen. Sie langweilen sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine zwischenmenschliche Energie animiert. Es ist dieses „Dazwischen“, das den jungen Menschen die unentbehrlichen analogen Resonanzerfahrungen vermittelt, betont der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer.[6]

Im Unterricht muss darum eine Lehrperson spürbar sein und vital präsent. Sie ist mehr als ein „guide at the side“.[7] Sie muss da sein fürs Feedback, für einen humorvollen Witz, für Anerkennung und Anregung, für Widerstand und Widerrede. Schülerinnen und Schüler brauchen die verstehende Zuwendung ihrer Lehrerin; sie müssen sich vom Lehrer wahr- und ernstgenommen fühlen.

Nicht alle Kinder haben die gleichen Chancen eines lernfreundlichen Elternhauses.

Der persönliche Kontakt ist unentbehrlich

Was bedeutet das für die jetzige Situation? Für die Notlage mit dem Fernunterricht, wenn die Kinder allein zu Hause lernen müssen? Es zeigt sich, wie wichtig der direkte menschliche Kontakt ist – und was mit der Präsenz der Lehrerinnen und Lehrern beim gemeinsamen Lernen im Klassenzimmer nun plötzlich fehlt. Viele Eltern versuchen das auszugleichen. Das gelingt nicht überall. Nicht alle Kinder haben die gleichen Chancen eines lernfreundlichen Elternhauses.

Die Notlage zeigt noch etwas: Pädagogik vor Technik müsste selbstverständlich sein. Das vergessen viele unkritische Digitalisierer und Promotoren einer virtuellen Lernwelt.

Baldige Rückkehr in den Resonanzraum des Schulzimmers

Die Notlage zeigt noch etwas: Pädagogik vor Technik müsste selbstverständlich sein. Das vergessen viele unkritische Digitalisierer und Promotoren einer virtuellen Lernwelt. Der Einsatz digitaler Medien ist für die Schülerinnen und Schüler meist unproblematisch. Was sie für ein gutes Lernen aber brauchen, ist ein engagiertes persönliches Gegenüber. Lernen braucht positive Beziehungen. Darum sind digitale Medien – vor allem in der Primarschule – ein Zusatz des Unterrichts von Person zu Person, betont der Psychologe und Psychotherapeut Allan Guggenbühl. Denn die menschliche Evolution ist nicht gleichzusetzen mit der technischen Revolution. Auch im Digitalzeitalter wird der Mensch am Menschen zum Menschen. Bald kehren die Primarschulkinder und ihre Lehrerinnen und Lehrer wieder in den Resonanzraum des Schulzimmers zurück. Das ist aus vielerlei Gründen begrüssenswert.

 

[1] Nadja Pastega, Beim Fernunterricht überzeugten nicht alle Lehrer, in: Sonntagszeitung, 12.04.2020, S. 8.

[2] Fridtjof Küchemann, Warum es so schwierig ist, ohne Lehrer zu lernen, in: FAZ, 20.03.2020.

[3] Jens Beljan (2019), Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung: Weinheim: Juventus Verlag, S. 375.

[4] Hartmut Rosa (2016), Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, S. 403.

[5] Vgl. Martin Buber (1997), Ich und Du. 13. Aufl. Gerlingen: Verlag Lambert Schneider.

[6] Joachim Bauer (2019), Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Karl Blessing Verlag, S. 205.

[7] Ewald Terhart (2018), Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.

 

The post Das Schulzimmer – Resonanzraum oder Digitalareal? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/04/das-schulzimmer-resonanzraum-oder-digitalareal/feed/ 1
Bildungspolitische Plauderstunde beim ECHO der Zeit – Ein Protokoll https://condorcet.ch/2020/04/bildungspolitische-plauderstunde-beim-echo-der-zeit-ein-protokoll/ https://condorcet.ch/2020/04/bildungspolitische-plauderstunde-beim-echo-der-zeit-ein-protokoll/#comments Tue, 14 Apr 2020 10:40:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=4686

Gestern noch Kontrahenten spannen Felix Schmutz und Alain Pichard bei der Analyse des ECHO-Interviews "Chinesen kommen am besten durch die Krise" zusammen. Dabei entlarven die beiden Condorcet-Autoren die Substanzlosigkeit und die völlige Absenz kritischer Nachfragen. Der intelligente, aber keineswegs neutrale Bildungsexperte und PISA-Verantwortliche Andreas Schleicher wird in diesem Interview kaum gefordert und setzt sein "Framing" souverän um. Lesen Sie den Kommentar zu dieser bildungspolitischen Plauderei.

The post Bildungspolitische Plauderstunde beim ECHO der Zeit – Ein Protokoll first appeared on Condorcet.

]]>

Selbstporträt

«Echo der Zeit» ist die weltoffene, politische Abendsendung von Radio SRF. Wir vertiefen täglich die wichtigsten Ereignisse im In- und Ausland. Wir bringen globales Geschehen zu Ohren mit Reportagen, Interviews und Analysen – klug und pointiert.

Sehr geehrte Echo-Macherinnen und -macher,

Ihr Kaminfeuergespräch mit Andreas Schleicher im Echo der Zeit hat unsere Herzen erwärmt. Und auch seine fundierte Erklärung, an wem wir uns bezüglich Homeschooling zu orientieren haben, haben wir notiert.
Gestatten Sie uns, Ihnen noch einige Fragen nachzusenden, pointiert und so klug wie möglich.

OECD-Bildungsexperte und oberster PISA-Verantwortlicher Andreas Schleicher: Es hapert bei den Fähigkeiten der Lehrkräfte.

Interview mit Andreas Schleicher zum Fernunterricht während der Corona-Krise

(6. April, Echo der Zeit, Radio SRF 1)

Zur Erinnerung: Die Sendung Kulturplatz Schweiz vom 13. März 2019 (Digitaler Unterricht auf dem Vormarsch) bestach durch Falschinformationen, Weglassungen und Verkürzungen. Sie wurde so zu einem propagandistischen Dokument für den Digitalunterricht. In einem Brief an die Macher kritisierte ich diese Sendung in 7 Punkten und lieferte die entsprechenden Quellen nach. Dies hatte eine Einladung der Redaktion zur Folge, an der auch Professor Ralf Lankau teilnahm. Die zwei Redakteure hörten uns zu und versprachen, das Thema beizeiten gezielt und unter Berücksichtigung unserer Argumente weiterzubearbeiten.

 

Roger Brändlin, Journalist. ECHO der Zeit. Keine kritischen Nachfragen.
Copyright: SRF/Oscar Alessio

Das Interview des Journalisten Brändlin im Echo der Zeit fällt in eine andere Kategorie. Hier geht es um fehlende Substanz, einen vermutlich schlecht vorbereiteten Interviewer und ein falsches Format.

 

In der Folge versuche ich, die Lücken dieses Interviews aufzuzeigen, die offenen Fragen zu stellen und die Widersprüche aufzudecken. Ich beende es mit einem Fazit. (Die Transkription des Interviews erstellte Condorcet-Autor Felix Schmutz)

 

Brändlin, SRF: Wo steht die Schweiz im digitalen Fernunterricht?

Schleicher: Technologisch sind die Schulen in der Schweiz gut ausgestattet. Noch mehr zu tun ist bei den Lehrkräften. Zumindest nach Aussagen der Schulleiter fehlen ihnen noch die technischen und pädagogischen Fähigkeiten, um die Technologie auch wirklich in innovative Unterrichtskonzepte zu integrieren.

Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?

Kommentar Condorcet:

Schleichers Aussage enthält zwei Elemente, über die man gerne mehr erfahren hätte:

  1. Gibt es eine validierte Umfrage unter Schweizer SchulleiterInnen, welche die Apodiktik dieser pauschalisierenden Aussage unterstreichen? (Immerhin lieferte sie den ersten Titel dieses Beitrags).
  2. Was versteht Herr Schleicher unter «Technologie, die es in innovative Unterrichtskonzepte» zu integrieren gelte!
  3. Was sind nach Schleicher «innovative Unterrichtskonzepte»?
  4. Welche Fähigkeiten fehlen den Schweizer Lehrkräften im Digitalen Unterricht (Gebrauch von Zoom, Facetime, WhatsApp, Google Brain – Deep-Learning-Projects, YouTube-Kenntnisse, Videos produzieren?)?
  5. Was ist nach Schleicher genau «innovativ»? Der Gebrauch der Tools oder die transportierten Lerninhalte?

 

Brändlin: Mit Fernunterricht ist nicht nur die Videokonferenz gemeint?

Schleicher: Es ist auch wichtig, dass die Schüler die Motivation und die Fähigkeiten haben, selbstwirksam zu lernen, eigene Lernprozesse auch zu begleiten, Lernziele selbst zu setzen, über längere Zeiträume unabhängig zu arbeiten, das erfordert eine wirklich neue Pädagogik.

Kommentar Condorcet

Sehr interessant. Was genau heisst «eigene Lernprozesse auch zu begleiten»? Und, welche Lernziele sollen sich Schüler selber setzen? Sollen sie die Menge der Wörtli im Französischunterricht, die sie in einer Unterrichtseinheit lernen sollten, selber bestimmen? Sollen sie selber bestimmen zu lernen, wie die Chemie den Aufbau der Materie erklärt? Dass SchülerInnen eine Motivation haben sollen, selbstwirksam zu lernen, ist ja eine Binsenwahrheit, die wir auch im Normalunterricht einüben wollen. Die Frage ist, kann man Motivation mit E-Learning lernen?

Brändlin: Gibt es Länder, die das besser können?

China als Vorbild?

Schleicher: China ist am besten durchgekommen. Da waren nach einem Monat 50 Millionen Kinder online, und dort ist es vor allem gelungen, wirklich auch die sozialen Bedingungen gut zu erhalten zwischen Schülern und Lehrkräften. In China haben natürlich Kräfte wie die künstliche Intelligenz eine ganz andere Bedeutung. In Europa ist Estland sehr weit in der technologischen Ausstattung, Unterrichtskonzepte sind dort sehr stark digitalisiert. Aber insgesamt stehen wir am Anfang.

Chinas Unterrichtskonzepte: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, knallhartes Üben, harte Selektion. Ist das innovativ?

Kommentar Condorcet

Um welche Art sozialer Betreuung handelt es sich in China?

Welchen Unterricht meint Schleicher, wenn er von China spricht? Schleicher ist ein kluger Mann, der viele Bildungssysteme kennt. Er weiss bestimmt, dass in China ein stark lehrerzentrierter Frontalunterricht gepflegt wird. Natürlich lernen die chinesischen SchülerInnen wesentlich früher und auch umfassender an digitalen Geräten. Ist dies bereits «innovativ»? Die darin enthaltenen Unterrichtskonzepte und die Lernprogramme sind bei uns arg in Misskredit geraten. Stichwort: Frontalunterricht, eine Unmenge an Lernstoff, härteste Selektion und knallhartes Üben. Was ist hier «innovativ»? Die Tatsache, dass alle Kinder einen Laptop zu Hause haben und Lernprogramme abarbeiten? Und wie machen es die chinesischen Lehrkräfte mit Kindern, die da nicht mithalten? Rufen sie diese an? Reden sie ihnen ins Gewissen? Machen sie ihnen Mut? Zumindest würde ich das unter «die sozialen Bedingungen gut erhalten» verstehen. Oder geschieht dies mittels PUSH-Nachrichten. Der Lehrer schickt ein zu bearbeitendes PDF-Dokument, das nach einer gewissen Zeit sofort verschwindet. Wer es verpasst, hat keine Chance mehr. Auch totale Überwachung ist soziale Betreuung.

Brändlin: Besteht nicht die Gefahr, dass Kinder aus weniger begüterten Familien benachteiligt werden?

Schleicher: Doch, die Schere zwischen Kindern der gut verdienenden Eltern und der ärmeren öffnet sich weiter. Lernen ist ein sozialer Vorgang. Diejenigen, denen die Eltern nicht helfen können, sind im Nachteil.

Brändlin: Wie kann die Schule in der Schweiz dem entgegenwirken?

Schleicher: Die technologische Voraussetzung sind gegeben. Wo es mehr hapert, ist wirklich die Vorbereitung der Lehrkräfte, die Integration in die Pädagogik, da hat die Schweiz noch mehr zu tun.

Kommentar Condorcet

Auch hier: Was meint Schleicher mit dem Satz «die Integration in die Pädagogik»? Welche Pädagogik schwebt ihm vor?

Brändlin: Was muss die Schule tun, um den Kindern trotz Corona möglichst viel Chancengleichheit mitzugeben?

Schleicher: Zunächst geht es darum Online-Plattformen gut zu nutzen, dass einfach die besten Instrumente überall zur Verfügung stehen, die Lehrkräfte zu unterstützen, mehr Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften zu schaffen. Das Thema ist oft, dass Lehrkräfte sehr als Einzelkämpfer arbeiten, die sind jetzt ganz auf sich allein gestellt. Da für mehr Austausch und Zusammenarbeit zu sorgen, wird allen helfen.

Kommentar Condorcet

Online-Plattform für den Deutschunterricht: Toll verpackte Herkömmlichkeit.

Von welchen Online-Plattformen spricht Schleicher? Weiss er, wie viele Schulen Online-Plattformen nutzen? Und wie sieht er es bei den 1. KlässlerInnen? Dort gibt es ja auch Online-Plattformen … Kennt der Journalist diese? Er sollte sie sich doch einmal anschauen und uns anschliessend das Innovative an dieser Pädagogik erklären! Und schliesslich noch der Griff in die Mottenkiste der Lehrervorwurfsskala: die Lehrkräfte als Einzelkämpfer! Herr Schleicher weiss genau, wovon er spricht. Er vermittelt dem Zuhörer das Bild der 60er-70er-Jahre. Er unterschlägt die strukturellen Änderungen in den Schweizer Schulhäusern: Geleitete Schulen, pädagogische Konferenzen, gemeinsame Vorbereitungen während der Ferien, Mitarbeitergespräche usw. Warum? Und wie evident ist die Aussage? Worauf basiert sie?

Brändlin: Das ist mittelfristig gedacht. Manche sagen, man solle das laufende Schuljahr abschreiben. Was halten Sie von der Idee, dass man das ganze Schuljahr wiederholt oder ein Semester anhängt?

Schleicher: Schüler sind resilienter als wir das oft glauben. Ich denke, von dem, was die Schüler auch online lernen, bleibt sehr viel hängen, und ich denke, alles einfach nochmal machen, das wird dann wirklich ein verlorenes Jahr. Die Frage ist, wie lange das jetzt weitergeht. Wenn es bei ein paar Monaten bleibt, ist das zu bewältigen.

Kommentar Condorcet

Ich habe meinen SchülerInnen folgenden Rechenauftrag gegeben. Wie viel Prozent des regulären Unterrichts würden in einer 11-jährigen Schulkarriere in der Volksschule ausfallen, wenn die Schulschliessungen bis Juni dauerten? Es sind knapp 4%!

Brändlin: Was überwiegt bei Ihnen: die Sorge um die Bildung der Schülerschaft oder die Freude über die Fortschritte im digitalen Unterricht?

Schleicher: Sicherlich die Sorge um die Schülerschaft, denn nicht alle Lehrer sind darauf vorbereitet, nicht alle Schüler haben zu Hause das entsprechende Umfeld, um wirklich selbstwirksam, selbstständig zu lernen, da habe ich sehr grosse Sorge. Anderseits finden grosse Veränderungen in Zeiten tiefgreifender Krisen statt. Vieles, was wir heute entwickeln, dass Schüler einfach mehr Raum bekommen, innovativ zu lernen, dass Lehrkräfte mehr Verantwortung für die Gestaltung von innovativen Unterrichtskonzepten haben und übernehmen. Ich hoffe, davon wird einiges hängen bleiben. Das schlimmste Szenario ist, dass alles nach der Krise wieder so ist wie vor der Krise.

Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten.

Kommentar Condorcet

Das ist interessant! Am schlimmsten wäre es, wenn die Schule wieder so wäre, wie sie vor der Corona-Krise war. Ja, wie war sie denn vor der Corona-Krise? Diese Aussage suggeriert, dass die Schulen vor dem Lockdown in einem «schlimmen» Zustand sein mussten. Vermutlich ist der digitale Unterricht gemeint. Und wiederum muss der Staunende sich angesichts solcher Rhetorik fragen: Was ist ein digitaler Unterricht? Ist da die Verwendung der digitalen Geräte als Tool gemeint oder ist es die Übergabe eines Unterrichts der direkten Instruktion durch die Lehrkraft an Softwarepakete von Google, die Verwaltung eines G Suite for Education-Kontos für jede Schülerin und jeden Schüler, die Beschulung unserer Kinder durch von Konzernen vorgefertigte Unterrichtsprogramme mit allen datentechnischen Problemen? Man erhält keine Antwort!

Brändlin: Könnte das sein?

Bei den Schülern bin ich optimistisch. Wer einmal gemerkt hat, dass man selbstständig lernen kann, dass man nicht nur einem Lehrer zuhören muss, man sich die Lehrkräfte aussuchen kann, mit denen man digital arbeitet, wenn man in ein virtuelles Laboratorium geht, anstelle irgendwo in der Schule zuzuhören. Wer das einmal mitgemacht hat, der wird später ein anspruchsvollerer Schüler sein, der auch auf die Lehrer zugeht und sagt, wie man am besten selber lernt. Die Schüler werden das einfordern, hoffe ich.

Kommentar Condorcet

Innovative Tools oder fragwürdige Datensammlung?

Das sind ja grosse Ankündigungen. Man kann selbständig lernen, die Lehrkräfte aussuchen und das in einem virtuellen Laboratorium. Wie funktioniert ein solches «virtuelles Laboratorium»? Kann man sich das auch aussuchen? Und welche Lerninhalte werden dort vermittelt? Welche Unterrichtsprogramme kommen zum Zuge? Google? Google brain speichert aber auch Geräte- und Hardwareinformationen, Geräteerkennungen und Betriebssystemversionen, IP-Adressen und Standortinformationen, setzt akivitätsprotokollierende Cookies ein, nutzt Sensoren der Geräte und deren Daten. Ist das ein Problem? Herr Schleicher weiss natürlich, wovon er redet. Weiss es aber der fragende Journalist?

Soll dieser Beitrag von Echo der Zeit informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht propagieren oder einfach nur werben?

Fazit Condorcet:

Alain Pichard
Das Format taugt nichts.

Um was für eine Art von Beitrag handelt es sich? Soll er informieren, aufklären, eine bestimmte Sicht der Dinge propagieren oder einfach nur werben? Welche Frames (Wissensrahmen) kommen hier vor? Welche Rolle spielen die so aufgerufenen Frames für die Schlussfolgerungen der Zuhörerschaft? Welche Mechanismen können identifiziert werden, die darauf abzielen, Bewusstseinszustände von Lesern zu verändern? Wie immunisieren sich die Aussagen gegen Widerlegung oder Widerstand?

Ich möchte dem fragenden Journalisten nicht zu nahe treten. Aber dieses Interview ist kein erkundender Dialog, es ist ein Kamingespräch, eine Thesenplattform. Der Journalist wird sagen, das Format lasse nicht mehr zu. Das mag stimmen. Warum führt er es dann so durch? Das Echo der Zeit rühmt sich, sorgfältig recherchierte Hintergrundberichte zu liefern, seriöse Informationen zusammenzustellen und faktenbasiert zu kommentieren.

Gespräche mit «Experten» können dabei ein Element sein. Herr Schleicher ist zweifellos ein Experte. Er weiss viel mehr, als er geäussert hat, und er hätte bei entsprechenden Nachfragen auch nachgeliefert. Er ist aber auch ein Vertreter einer Bildungspolitik, die eine Agenda verfolgt. Er ist kein neutraler Bildungsforscher. Auch das hätte ein seriös arbeitender Journalist feststellen müssen. Und Herr Schleicher weiss bestens mit dem gewählten Format

Herr Schleicher ist kein neutraler Bildungsforscher. Er ist ein intelligenter Vertreter einer Bildungspolititk, die eine Agenda verfolgt, die wir skeptisch beurteilen (müssen).

umzugehen. Er setzt souverän auf die Frames, benützt die Innovationsrhetorik, ohne diese zu präzisieren. Herr Brändlin verfällt in die Rolle des Stichwortgebers. Eine ketzerische Zwischenfrage: Hätte es sich um einen AFD-Bildungssprecher oder einen Trump-Sympathisanten gehandelt, wäre dann die Befragung auch so devot geblieben?

Für einen intelligenten Mann wie Schleicher stellt diese Form des Interviews eine Unterforderung dar. Für uns kritisch denkende Bildungsinteressierte ist es nutzlos. Für die Mehrheit der Zuhörerschaft vermutlich durchaus prägend,  ja propagandistisch.

Am Schluss noch der Treppenwitz der Titeländerung

Und am Schluss noch ein Treppenwitz der ganzen Geschichte: Auf Hinweis unseres Codorcet-Autors Carl Bossard wurde der pauschalisierende und von vielen als diffamierend empfundene Titel der Sendung «Fehlende digitale Fähigkeiten bei Schweizer Lehrkräften» zu «Chinesische Schulen kommen am besten durch die Krise». Wieder eine Behauptung von Andreas Schleicher; empirische Daten legt er keine vor. Und was heisst «am besten»? Ich jedenfalls weiss es: Am besten hört man sich solche Sendungen einfach nicht an.

 

The post Bildungspolitische Plauderstunde beim ECHO der Zeit – Ein Protokoll first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/04/bildungspolitische-plauderstunde-beim-echo-der-zeit-ein-protokoll/feed/ 3
Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht – Warum digitales Lernen auch in Krisenzeiten nur ein Notstopfen bleibt https://condorcet.ch/2020/04/bildendes-lernen-braucht-schule-und-unterricht-warum-digitales-lernen-auch-in-krisenzeiten-nur-ein-notstopfen-bleibt/ https://condorcet.ch/2020/04/bildendes-lernen-braucht-schule-und-unterricht-warum-digitales-lernen-auch-in-krisenzeiten-nur-ein-notstopfen-bleibt/#respond Sun, 05 Apr 2020 21:45:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=4573

Professor Dr. Jochen Krautz, Mitorganisator der bekannten Times of Change-Tagungen in Wuppertal, Präsident der GBW und fundierter Kenner der Umgestaltungsbemühungen des deutschen Bildungswesens, weiss natürlich sehr genau, wie die gegenwärtige Krise im Sinne der Bildungsreformer genutzt werden soll und hält dagegen.

The post Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht – Warum digitales Lernen auch in Krisenzeiten nur ein Notstopfen bleibt first appeared on Condorcet.

]]>
Deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek: Corona-Krise biete grosse Chancen.

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen interessierte Kreise gerne versuchen, aus der Not Profit zu schlagen. Dieser Profit kann materieller oder ideologischer Natur sein. Im Falle der Corona- Krise gerieren sich die bekannten Befürworter der „Digitalisierung von Bildung“ als solche ideologischen und materiellen Krisengewinnler. Nun scheint endlich bewiesen, wie dringlich die Umstellung von Schule und Hochschule auf digital gestütztes Lehren und Lernen sei. Und seitens der Politik entblödet man sich nicht, dies auch noch zu forcieren.

Corona-Krise als Change-Instrument für Digitalisierung

So äußerte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, die selbst keine eigene Fachexpertise in beiden Bereichen nachweisen kann, auf die Frage, ob sich nun räche, „dass wir die Digitalisierung an den Schulen verschlafen haben?“: „Die Corona-Krise bietet Deutschland in Sachen digitaler Bildung eine große Chance: Wir können einen echten Mentalitätswandel schaffen. Wir sehen, wie nützlich digitale Lernangebote sein können. Alle sind jetzt bereit, es einfach mal auszuprobieren. Ich sehe eine neue Aufbruchsstimmung. (…)

Alle sind jetzt bereit, es einfach mal auszuprobieren. Ich sehe eine neue Aufbruchsstimmung. Anja Karliczek

Euphorie erzeugen

Euphorie erzeugen!

Aber auch nach der Krise muss die Digitalisierung der Schulen energischer vorangetrieben werden.“1 Damit macht sie deutlich, worum es geht: Die Krise soll als Instrument genutzt werden, um Mentalität, also Einstellungen, Werte und Überzeugungen aufzuweichen und für den „Wandel“ zu öffnen. Dazu soll Euphorie erzeugt werden, die dann auch nach der Krise aufrechtzuerhalten und zu perpetuieren sei.

Damit referiert Karliczek lupenrein den Dreischritt des Change-Managements: Um Menschen manipulativ in ihren Überzeugungen zu verändern, erzeugt oder nutzt man eine Schocksituation, der eine Verunsicherung in den eigenen Überzeugungen bewirkt (unfreezing). Darauf forcieren Change-Agenten die Euphorie für das Neue, betonen dessen Alternativlosigkeit und geißeln alle Kritiker als rückständige Bedenkenträger (moving). Und schließlich soll der „Wandel“ verstetigt werden, so dass es keinen Weg dahinter zurück zu geben scheint (refreezing).2 Die darin liegende antidemokratische Anmaßung wird der Ministerin kaum bewusst sein, da sie doch eher Diskurse reproduziert, von denen sie selbst beständig bombardiert wird. So etwa auch von „Mr. PISA“ Andreas Schleicher, der mit maoistisch-kulturrevolutionärer Rhetorik glänzt: „Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen.“3

Was das Arbeitsblatt nicht kann und die Eltern überfordert

Doch selbst Herr Schleicher gesteht gleich darauf ein: „Schule im Homeoffice (ist) dauerhaft keine gute Idee. Lernen ist ein Prozess, der viel mit der Beziehung von Lehrern und Schülern zu tun hat. Und für diese Beziehung braucht es echten Kontakt.“

Aber auch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Warum also braucht Lernen – und wir präzisieren – bildendes Lernen Schule und Unterricht in Realpräsenz? Warum sind Eltern damit auf Dauer grundsätzlich überfordert?4 Und warum können dies auch Lehrerinnen und Lehrer beim besten Willen nicht über digitale Kommunikation leisten und Lernprogramme entsprechender Konzerne erst recht nicht?

Nur schrittige Anweisungen

Das liegt in der Natur des Arbeitsblattes, das per Mail als pdf ins Haus kommt, der im Chat kommunizierten Aufgabe, der im Download von Verlagen (generös kostenlos) verfügbaren Selbstlernmaterialien und auch avancierter interaktiver Lernprogramme. Sie alle können wie deren Vorläufer im „programmierten Lernen“ der 1970er Jahre nur schrittige Anweisungen geben, die aber keinen interpersonalen Dialog und keine empathische Resonanz ermöglichen. Die Techniken können so tun als ob und ein „Feedback“ vorsehen, das aber nicht auf die Verstehensvorgänge des einzelnen Schülers Bezug nehmen kann. Arbeitsmaterialien solcher Art sind also zunächst materialisierter Frontalunterricht der schlechten Art, wie man ihn dem Klassenunterricht der Schule gerne und zu Unrecht unterstellt: Hier wird doziert, auswendig gelernt, ggf. geübt und abgefragt. „Lernen“ heißt hier Informationsentnahme, -verarbeitung und ggf. –anwendung.

Programmiertes Lernen erzeugt keine empathische Resonanz.

E-Learning schafft keine empathische Resonanz

Mit nun auftretenden tatsächlichen Verstehensproblemen wenden sich die Kinder an ihre Eltern. Diese sind jedoch mit der Unterstützung schnell überfordert, weil ihnen die fachliche, didaktische und pädagogische Expertise fehlt, auf die Verstehensprobleme ihrer Kinder sachadäquat und altersgerecht einzugehen. Denn dazu müsste man das fachliche Problem nicht nur selbst beherrschen, sondern in seiner Problemstruktur verstanden haben, um es didaktisch auf die notwendigen fachlichen Voraussetzungen und Problemlagen analysieren zu können; man müsste Wege des fachlichen Verständnisses und auch Missverstehens kennen, deren mögliche Gründe einschätzen können und beim Kind mit Blick auf bisher Gearbeitetes und durch Gespräche eruieren, welchen fachlichen Grund eine Schwierigkeit hat. Zugleich müsste man die individuelle Lernhaltung des Kindes, den persönlichen Hintergrund und seine Lerngeschichte in diesem und anderen Fächern einschätzen, um dann sowohl fachlich wie didaktisch und pädagogisch angemessenen reagieren zu können.

Das sollen Eltern nicht können müssen

All das können Eltern gewöhnlich nicht – und sie müssen es auch nicht können. Dafür sind Lehrerinnen und Lehrer da, dafür gibt es Schule und Unterricht. Dafür absolvieren Lehrkräfte ein langes Fachstudium, dafür erwerben sie pädagogische Expertise, dazu sammeln sie reflektierte Erfahrung in diesen Situationen, und deshalb können sie nach Jahren solche Prozesse im laufenden Unterrichtsgeschehen einer ganzen Klasse in Sekunden erfassen, abwägen, entscheiden und umsetzen. Eben das macht Unterrichten so anspruchsvoll und mitunter anstrengend – noch vor allen sonstigen Herausforderungen. Und zugleich ist das für die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer der eigentliche Grund ihres pädagogischen Engagements.

Legen wir nochmals den ambitionierten Wochenplan mit Arbeitsblättern, Lösungs- und Reflexionsbögen sowie Lerntagebuch und Leistungsportfolio daneben: Kinder sollen all das nun

Kompetenzraster im Deutschunterricht:

alleine leisten? Arbeitsblätter sollen dialogisch auf ihr Verstehen und Nichtverstehen eingehen? Feedbackbögen sollen ermutigen, ermahnen, Verständnis zeigen, mit Klarheit oder Humor zurück zur Sache leiten? Videochats sollen das gemeinsame und dialogische Hören, Sehen, Vorstellen, Überlegen, Nachdenken, Ideenfinden und –verwerfen in einer realen Klassengemeinschaft ersetzen? Das wird auch keine K.I. in Gestalt von Lehrrobotern jemals können.

Doch Eltern bemerken schmerzhaft, dass nun erstmalig die postulierte digitale Bildungsrevolution ihre Kinder und Familien frisst. Auch der „große Sprung nach vorn“ des großen Vorsitzenden endete in der Zerschlagung von kultureller Tradition, in der Entwurzelung von Millionen Menschen und einem ökonomischen Desaster. Brauchen wir das erneut im Gewand des schicken iPads?

Unterricht muss Verstehen anleiten

Unterricht zielt auf Verstehen und Nachfragen.

Die Schule ist deshalb ein geeigneterer Ort für die formulierten Aufgaben, weil im guten Falle der Unterricht die Sache in sozialer Gemeinschaft erschließt.5 Unterricht, der auf Bildung zielt, versucht mit didaktischen und pädagogischen Mitteln, die Schülerinnen und Schüler zum selbstständigen Verstehen einer Sache anzuleiten.6 Selbstständiges Verstehen ist aber nicht gleichzusetzen mit der vermeintlich selbstständigen Erledigung von wie digital auch immer übermittelten Arbeitsaufträgen oder gegoogelten Informationen.

Selbstständiges Verstehen ist aber nicht gleichzusetzen mit der vermeintlich selbstständigen Erledigung von wie digital auch immer übermittelten Arbeitsaufträgen oder gegoogelten Informationen.

Damit ist die Sache noch nicht erschlossen, d.h. in ihren Gründen verstanden: Entscheidend ist nicht nur, dass eine mathematische Rechnung richtig ist, sondern warum sie das ist. Die Inhaltsangabe einer Fabel ist nur Voraussetzung, um ihren Gehalt zu interpretieren. Ein historisches Datum sagt noch nichts über dessen Bedeutung für uns heute. Ein biologisches Faktum zu benennen, heißt noch nicht seine Relevanz für Mensch, Tier, Welt und Wissenschaft verstanden zu haben. Und ein Kunstwerk zu beschreiben, sagt noch nichts über dessen historischen und gegenwärtigen Sinn.

Verstehen meint also Sinnverstehen. Sinn meint dabei den Sinn der Sache und den Sinn für uns, die Lernenden. Was geht uns das an? Was bedeutet uns das? Erst dann kann Lernen bildend wirken. Und erst dann löst Schule den in den Verfassungen als Bildungsauftrag verankerten Anspruch der Aufklärung ein, dass junge Menschen lernen sollen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, also Selbsterkenntnis und Urteilskraft erwerben, und dass sie Werte wie Mitmenschlichkeit, Achtung und Friedfertigkeit als Haltungen ausbilden und begründen können – mit einem Wort: dass sie mündig werden.

Reduktionistischer Lernbegriff

E-Learning hat enge Grenzen.

Daher operieren Digitalisierungsbefürworter immer mit einem ungeklärten und reduktionistischen Lernbegriff, denn „digitales Lernen“ kann immer nur die Schrumpfform dieses Anspruchs sein. Es läuft letztlich darauf heraus, aufgrund von Reiz und Reaktion Informationen zu beschaffen, auszuwerten, zusammenzustellen, anzuwenden und/oder auswendig zu lernen. Das sind alles unverzichtbare und legitime Teilprozesse schulischen Lernens. Aber eben nur der notwendige Teil, um verantwortliche Selbstständigkeit im Denken und Urteilen, im Sagen und Handeln zu bilden. Dies aber ist per digitalen Medien nicht erreichbar. Auch wenn man diesen Reduktionismus nachsichtig dem Marketingeifer der Digitalbegeisterten zuschreiben mag, so ist er doch unpädagogisch, antiaufklärerisch und widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen.

Schule ist ein sozialer Raum

Unterricht erschliesst die Sache in sozialer Gemeinschaft.

Die besondere Qualität solchen Verstehens ist dabei gebunden an das soziale Miteinander von leibhaftigen Personen. Es kann sich nur bilden, wenn sich Menschen wechselseitig wahrnehmen, wenn eine Klassengemeinschaft an einer Sache gemeinsam arbeitet, wenn Ideen entstehen, geäußert, diskutiert, begründet oder verworfen werden, wenn gezeigt, erklärt, mit Händen und Füßen vorgemacht und veranschaulicht wird, wenn zugleich gestritten und versöhnt wird, wenn Auseinandersetzungen geklärt, ein sozial konstruktiver Umgang angeleitet und die Klassengemeinschaft zu Kooperation, gegenseitiger Hilfe und Friedfertigkeit angeleitet wird. Kurz: Wenn im Vollsinne unterrichtet wird.7

Denn Unterricht bedeutet im Kern das Teilen und Mitteilen von Vorstellungen einer Sache.8 Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich mit all den Mitteln, dass Schülerinnen und Schüler eine sachgemäße, aber doch immer auch individuell geprägte Vorstellung eines Sachverhalts bilden. Sie versuchen, diese Vorstellungsbildungen der Schüler zu verstehen, greifen sie auf, entwickeln sie weiter, leiten den Austausch der Schülerinnen und Schüler untereinander an und führen das gemeinsame Denken wieder zielführend zusammen, um gemeinsame Erkenntnisse zu formulieren. Insofern ist der Klassenraum ein Raum gemeinsam geteilter Vorstellung, in dem sich die Personen dialogisch miteinander und mit der Sache verbinden. Ja, in gewisser Weise entsteht ein Atommodell in Chemie, eine Raumvorstellung in Geografie, eine Formel in Mathematik oder eine Harmonie in Musik erst in und durch die gemeinsame Vorstellungsleistung. Darin wird Kultur konkret lebendig und von den Schülerinnen und Schülern je individuell reformuliert. Unterricht ist also – bei allem, was man aus soziologischer Sicht ansonsten über die Gründe und Probleme von Schule anführen mag – der spezielle Ort, an dem Menschen ihr kulturelles Leben weitergeben und neu befruchten. Diese spezifische Qualität des Klassenunterrichts kann ein isoliert zu bearbeitender Wochenplan und das digital vereinzelte Arbeiten prinzipiell niemals einholen. Dies spricht nicht gegen sachlich begründetes zeitweises Arbeiten in individuellen Lernformen oder mit digitalen Arbeitsmitteln – aber für deren sekundäre Bedeutung und v.a. gegen deren Verabsolutierung.

In dieser Hinsicht ist so verstandener Unterricht in sozialer Bezogenheit zudem immer auch ein Ort sozialen Ausgleichs, denn er spricht alle jungen Menschen gleichermaßen als lernfähige und bildsame Personen an. Daher ist aus pädagogisch-anthropologischer, lerntheoretischer und inzwischen auch empirischer Sicht klar, dass die Isolierung von Schülerinnen und Schülern in atomisierten Lernsettings die soziale Spaltung forciert. Darauf hat Hermann Giesecke schon früh hingewiesen:

„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. Sozial selektiert wird bereits mit dem ersten Schultag. ‚Offener Unterricht‘, überhaupt die Demontage des klassischen, lehrerbezogenen Unterrichts, die Wende vom Lehren zum Lernen und damit die übertriebene Subjektorientierung, die Verunklarung der Leistungsansprüche, Großzügigkeit bei der Beurteilung von Rechtschreibschwächen (…) hindern die Kinder mit von Hause aus geringem kulturellen Kapital daran, ihre Mängel auszugleichen, während sie den anderen kaum schaden. (…) Das einzige Kapital, das diese Kinder (Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien) von sich aus – ohne Hilfe ihres Milieus – vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie eine Schule, in der der Lehrer nicht nur ‚Moderator‘ für ‚selbstbestimmte Lernprozesse‘ ist, sondern die Führung übernimmt und die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“9

Es soll nicht mehr, sondern weniger digitalisert werden

Rückkehr zu Schule und Unterricht

Es ist eine bittere Nebenwirkung des derzeit notfallmäßigen Home-Schoolings, dass dieser Effekt sozialer Spaltung jetzt noch verstärkt werden wird. Daran sind überforderte Eltern in keiner Weise schuld. Umso wichtiger ist aber nach der Rückkehr in den schulischen Normalbetrieb, dass Eltern und Lehrkräfte als Lehre aus der Krise gemeinsam fordern,

  • dass nicht mehr, sondern weniger digitalisiert wird,
  • dass Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Kollegien ihre Unterrichtsformen überdenken,
  • dass Universitäten und die zweite Lehrausbildungsphase Nachwuchslehrkräften wieder in die vollständige Kunst zu unterrichten theoretisch und praktisch einführen,
  • dass Ministerien den Schulen entsprechende Hinweise geben
  • und die Politik jene Digitaladventisten in die Schranken weist, die Corona für ihr Ostern und Pfingsten hielten

Wenn dann nach der Bewältigung der Krise noch Geld verfügbar ist, das man in den Schulen nicht für dringende Dinge braucht wie etwa Lehrpersonal, Unterstützungsangebote für durch Home-Schooling benachteiligte Schüler, für Bücher, Sporthallen, Kunstwerkstätten, Musikinstrumente, Schulgebäude, funktionierende WCs und dichte Dächer – dann kann man Schule digitaltechnisch auf Grundlage von Open-Source-Lösungen und abgekoppelt vom Internet10 sowie mit Stellen für Systemadministratoren ausstatten und es den Pädagoginnen und Pädagogen überlassen, wie damit pädagogisch, fachlich und didaktisch sinnvoll umzugehen ist. Denn es geht nicht um die Interessen der Hard- und Softwareindustrie, sondern es geht diesmal tatsächlich um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen.

Prof. Dr. Jochen Krautz Bergische Universität Wuppertal Fakultät für Design und Kunst Gaußstr. 2042119 Wuppertal krautz@uni-wuppertal.de www.kunst.uni-wuppertal.de www.bildung-wissen.eu

 

1 https://www.rnd.de/politik/foschung-gegen-corona-impfstoff-corona-test-internationale- zusammenarbeit-bundesbildungsministerin-karliczek-im-interview- WHIQHCJOGNHZBDCSHE7JLFDBYE.html (Hervorh. J.K.).

2 Vgl. Krautz/Burchardt (2018), https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildungspolitik/time-for- change-2.html; Burchardt/Krautz (2019), https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/time-for-change- band-2.html.

3 https://www.rnd.de/politik/pisa-chef-angst-vor-verlorenem-jahr-fur-die-bildung-ist-berechtigt- F7ZBKIEXVRBN3C5PKVT5H6YEOA.html.

4 Vgl. Luig (2020), https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/homeschooling-bildung-und-erziehung-im- leerlauf.html.

5 Vgl. Krautz (2016), https://www.kunst.uni-wuppertal.de/fileadmin/kunst/pdf/Krautz_-

_Bildung_und_Erziehung_als_Grundlage_f%C3%BCr_das_Leben   Fromm_Forum_Web_.pdf.

6 Vgl. Gruschka (2015), https://bildung-wissen.eu/wp- content/uploads/2015/06/gruschka_bildundgs_rat.pdf.

7  Dass im realen Unterricht auch nicht immer in diesem Vollsinne unterrichtet wird, ist dabei eine Binsenweisheit, die wiederum nicht für digitale Medien, sondern für bessern Unterricht spricht.

8 Vgl. Sowa, Hubert (2015): Gemeinsam vorstellen lernen. Theorie und Didaktik der kooperativen Vorstellungsbildung. Schriftenreihe IMAGO. Kunst.Pädagogik.Didaktik, Bd. 2. München.

9 Giesecke (2003), http://hermann-giesecke.de/ns.htm.

10 Vgl. Lankau (2020), https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/digital-first-und-mobil-only.html.

The post Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht – Warum digitales Lernen auch in Krisenzeiten nur ein Notstopfen bleibt first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/04/bildendes-lernen-braucht-schule-und-unterricht-warum-digitales-lernen-auch-in-krisenzeiten-nur-ein-notstopfen-bleibt/feed/ 0