guter Unterricht - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 09 Apr 2024 11:37:59 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png guter Unterricht - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Verstehen lernen – die Weisheit der Praxis https://condorcet.ch/2024/04/verstehen-lernen-die-weisheit-der-praxis/ https://condorcet.ch/2024/04/verstehen-lernen-die-weisheit-der-praxis/#respond Tue, 09 Apr 2024 11:37:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=16453

Für einmal ein positiver Bericht aus der Schullandschaft Basel-Stadt. Mario Gerwig, Autor und Mathematiklehrer am Leonard-Gymnasium hat uns einen Film mit sechs Unterrichtsbeispielen aus seiner Schule geschickt. Auffallend dabei: Direkte Instruktion wechselt mühelos zum schülerzentrierten Unterricht und wieder zurück. Und alles im Klassenverband!

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Dr. Mario Gerwig, Jg. 1984, ist seit 2011 Lehrer für Mathematik und Chemie am Gymnasium Leonhard Basel. Er ist Schulbuchautor und Länderberater ( Mathematik Neue Wege, Westermann Schweiz) sowie Experte für Maturprüfungen in Mathematik (Kantone BS und BL) und Diplomprüfungen in den Bildungs- und Sozialwissenschaften (PH Luzern). 2021 erschien das Buch Der Satz des Pythagoras in 365 Beweisen (Springer Spektrum, Berlin).

Ein Dokumentarfilm über das Kernelement der Schule: den Unterricht. Im Zentrum stehen fünf Unterrichtseinheiten und eine Lehrpersonen-Werkstatt, die am Gymnasium Leonhard in Basel unterrichtet wurden und die in Interviews kommentiert und reflektiert werden. Es geht um Faradays Kerze (Chemie), Robert Walsers Spaziergang (Deutsch), Unsere Abend-Zeitung (Deutsch), Dostojewskis Grossinquisitor (Philosophie), den Satz des Pythagoras (Mathematik), Himmelsuhr und Erdglobus (Geographie), aber auch um Bildung, das exemplarische Prinzip, genetischen Unterricht, Didaktik als Dramaturgie von Unterricht und das Baden im Phänomen. Ein langer Film, der aber keine Längen hat! Ich bin allerdings nicht ganz unvoreingenommen, ich darf durch den Film moderieren…

 

 

 

 

 

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Ich war arm, wurde aber reich an Erfahrung! https://condorcet.ch/2020/11/ich-war-arm-wurde-aber-reich-an-erfahrung/ https://condorcet.ch/2020/11/ich-war-arm-wurde-aber-reich-an-erfahrung/#respond Sun, 29 Nov 2020 12:59:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=7075

Sylvie Jacques, eine schweizerisch-afrikanische Schülerin, besuchte ihr letztes Schuljahr am OSZ-Orpund. Am Schluss ihres Schuljahres zog sie Bilanz und hinterliess uns ein eindrucksvolles Dokument, das wir mit dem Einverständnis der Autorin hier veröffentlichen. Sylvie Jacques macht zurzeit eine Kochlehre. Es handelt sich um eine gekürzte Version, die Namen wurden anonymisiert und sind der Redaktion bekannt. Abgesehen davon, dass diese junge Frau in ihrem Text zeigt, wie gut sie Deutsch gelernt hat, so zeigt ihr Erfahrungsbericht auch, jenseits aller polemischen und intellektuellen Diskussionen über Rassismus, wie komplex die Situation unserer Migrantenkinder oder der andersfarbigen Schülerinnen und Schüler ist. Sylvie Jacques wird übrigens ihre Kochlehre dieses Jahr abschliessen.

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Sylvie Jacques, 2020, Kochlehrling im Kanton Freiburg: Es zählt der Wille.

Ich heisse Sylvie-Marie-Lorraine Jacques, ich bin 16 Jahre alt, spreche Französisch und kam aus den Kanton Freiburg hierher. Das war mein einziges Schuljahr im OSZ-Orpund. Und mein letztes insgesamt.  Ich kam hierher, um Deutsch zu lernen und diese andere, wichtige Sprache in meiner neuen Heimat zu beherrschen. Vorher war ich in einer grossen Schule, die etwa 1‘000 Schüler und 400 Lehrer zählte. Meine Schule hiess: „CO de La Gruyère-Bulle“. Viel grösser als das OSZ-Orpund und vor allem sehr diszipliniert!

Meine Gefühle zu Beginn

Als ich am ersten Tag in Orpund ankam, war ich 1‘000-mal nervöser als alle anwesenden Schüler. Ich kannte niemanden! Andere Sprache, andere Charaktere… Ich kann nicht sagen, dass ich verloren war, denn diese neue Schule in Orpund zählt ja nur etwa 200 Schüler. Extrem klein im Vergleich zu dem, was ich gewohnt war. Und ich war sehr überrascht, dass es so wenige Lehrer gab. Mein erster Eindruck, als ich in meine Klasse kam, war: „Es ist zu ruhig!“ Während meiner drei Jahre an der CO de La Gruyère war ich eine schwierige Schülerin. Ich habe die Regeln des Lebens und der Schule nicht respektiert und wurde zu vielen Sitzungen nach der Schule aufgeboten. Ich habe viele dumme Sachen gemacht. Aber ich hatte recht gute Noten.

In einer Schule ohne viele Regeln wurde ich disziplinierter

OSZ-Orpund, eine Agglomerationsschule ohne viele Regeln

Ich fand schnell heraus, dass die Lehrer keine Kontrolle über mein Leben erreichen konnten. Also war ich oft hart und nicht sehr respektvoll mit ihnen. Nach Orpund zu kommen, war auch der Beginn eines neuen Lebens. Ich hörte mit meinem Unsinn auf und wurde diszipliniert. Interessanterweise erlebte ich aber das OSZ-Orpund als eine Schule mit viel zu wenig Disziplin! In meiner bisherigen Schule CO de La Gruyère war alles ziemlich streng reglementiert. Es gab Kleidervorschriften, Mützen und Sonnenbrillen waren verboten. Hier im OSZ gab es kaum Regeln, und ich selbst disziplinierte mich von allein. Komisch, nicht wahr?

Ich kritisiere nicht, ich sage, wie es für mich war.

Meine neue Klasse für ein Jahr

Alles war neu. Meine Klassenkameraden waren jünger als ich und ich fühlte mich wie eine Fremde in ihrer Mitte. In Orpund kennen sich die Schüler schon lange. Ich hatte es sehr schwer, meinen Platz zu finden. Im Allgemeinen hasse ich es, den ersten Schritt auf Menschen zu zumachen. Die Mentalität der Schüler in Orpund gefiel mir nicht. Ich kritisiere nicht, ich sage, wie es für mich war. Niemand interessierte sich wirklich für mich und nur wenige Leute haben mir geholfen. Ich war extrem enttäuscht!

U. war für mich ein Licht in meiner Strasse

Aber trotzdem, an meinem ersten Tag, war ich nicht ganz allein. Es gab auch U.*. Sie ist fast zwei Jahre jünger als ich. Zuerst haben wir nicht miteinander geredet. Aber die Tatsache, dass sie zweisprachig ist und auch neu in die Klasse kam, brachte uns einander näher. Wie haben uns gegenseitig geholfen. Wir hatten keine Unterstützung von anderen, also gaben wir sie uns gegenseitig. Wir waren zwei Fremde und jetzt sind wir beste Freundinnen. Und ich danke ihr von ganzem Herzen. Und nach ein paar Wochen war da auch Selina*. Sie schenkte mir viel Zeit. Sie half mir, etwas mehr zu lernen und mich besser zu integrieren. Sie war ein wenig ein Licht in meiner Strasse! Sie wurde zu einem wichtigen Grund, weshalb ich dieses Jahr in Orpund trotz allem nicht missen möchte.

 A. machte mich lernsüchtig

Die Lehrkräfte

Sylvie Jacques als Ahri im Stück Orpund Next level 2016: Ich liebte es, Theater zu spielen.

Ich schreibe hier nur über die drei Lehrer, die mir in Erinnerung bleiben werden:

Ich verstand den Humor von Herrn P. nicht immer… Aber ich liebte die Art, wie er lehrt. Er machte mich lernsüchtig (wenn ich nicht müde bin), er hat eine kommunikative Art zu reden. Er ist ehrlich, streng und korrekt. Ich respektiere ihn sehr. Er ist ein ausgezeichneter Lehrer, bei dem ich viel lernte. Und ich bewundere seine Werte. Ich liebe es auch, wenn er Theater unterrichtet! Er lacht viel und lebt das Theater. Das waren sehr spannende und lustige Stunden mit ihm. Er spürte auch immer, wenn es einem nicht lief. Er schien immer zu wissen, wann er helfen musste. Er kann Gesichter lesen. Wir konnten so viel lachen. Das sind die Momente, an die ich mich erinnern werde.

Ohne diesen Klassenlehrer hätte ich es wohl nicht so leicht geschafft. Er war immer da für mich.

Herr B. war sehr diskret. Ich sah ihn nicht oft, aber ich schätze seine Ruhe. Er war immer bereit zu helfen und ich war sehr froh, dass meine ILF-Deutschkurse von ihm geleitet wurden. Und schliesslich Herr S. Er war mein Klassenlehrer. Ich danke ihm von ganzem Herzen, dass er ein aufmerksamer und verständnisvoller Lehrer war. Ich hatte nicht immer Lehrer wie Herr S., die sich wirklich um ihre Schüler kümmerten. Er ermutigte mich immer und war da, wenn ich Probleme hatte und ihn brauchte.  Ich gebe zu, wenn er nicht da gewesen wäre, um gewisse schwierige Situationen zu regeln, wäre ich sehr aggressiv geworden. Er ist ein sehr guter Lehrer. In meiner alten Schule hatte ich über 30 Lehrer.

 

Meine Lieblingsfächer

Meine Lieblingsfächer in der Schule waren Sport, Zeichnen, Französisch und Deutsch. Es ist nicht so, dass ich andere nicht mag, aber ich bin einfach schlecht in Geografie, Mathematik und Geschichte… Wir passen nicht gut zusammen. Ich habe Sport immer geliebt. Aber in Orpund kannte mich meine Klasse zuerst nicht. Also liessen sie mich bei den Mannschaftsspielen nicht viel mitmachen. Aber ich gebe zu, es lag auch an mir, ich wollte auch nicht wirklich mit ihnen spielen. Erst am Ende des Jahres hatte ich das Gefühl, dass ich ein tolles Rennen gewonnen habe. Warum ist das so? Jetzt, gegen Ende dieses Jahres, fühle ich mich, als hätte ich meinen Platz gefunden… Ich bin integriert und hoffe, es bleibt so! Ich gab mir viel Mühe liess Vieles zurück, um endlich von meinen Kameraden respektiert zu werden.

Ich mag eigentlich Geografie, Geschichte und Math…, aber sie mögen mich einfach nicht!

Ich wurde lernsüchtig

Französisch war in Orpund natürlich mehr als einfach für mich. Aber ich hatte dadurch das Privileg, anderen helfen zu können und das machte mich sehr glücklich. Aber ich hätte mir auch gewünscht, dass die anderen mir im Deutsch helfen, weil ich diese Sprache ja nicht als Muttersprache beherrschte. Aber ich war sehr glücklich, U.* zu haben, die mir half und mir Zeit gab. Sie war eine wirkliche Unterstützung für mich. Ich mag eigentlich Geografie, Geschichte und Math…, aber sie mögen mich einfach nicht! Ich versuchte immer wieder, die Formeln zu verstehen, aber es funktionierte nicht. Ich schaffte es in diesen Fächern nie und es wird sich wohl nicht ändern… Aber ich denke, die Lehrer geben sich viel Mühe zu unterrichten… Ich hatte allerdings auch ein Problem mit dem Mathematiklehrer. Es schien mir, dass er einen Geschwindigkeitswettbewerb machte, ausser, dass er ihn mit sich selbst spielte! Er schrieb eine Übung an die Tafel und zwei Minuten später gab er die Antwort. Um diese zu lösen, hätte ich mindesten dreissig Minuten gebraucht. Und es war extrem unangenehm, weil wir dadurch nichts gelernt haben. Lasst uns doch mehr Zeit! Erlaubt uns, unseren eigenen Weg zu gehen beim Lernen.

Das ist kein Stolz, der mich das schreiben lässt. Es ist die neu gefundene Selbstachtung. In meinen früheren Jahren war ich nicht in der Lage, eine angenehme Schülerin zu sein. Ich hatte gute Noten und schloss mit einem guten Durchschnitt ab. Ich war aber nicht stolz auf mein Verhalten.

Auf was bin ich stolz?

In Orpund bin ich der Meinung, dass ich meine Ziele erreicht habe. Ich war nicht da, um gute Noten zu erzielen oder den Leuten zu gefallen, sondern um eine Sprache zu lernen. Ich lernte Deutsch in der Schule, entwickelte mich weiter. Aber hauptsächlich in meiner Gastfamilie, der Familie M. Sie unterstützte mich enorm und alles wurde getan, damit ich Erfolg hatte. Und wenn ich keine Motivation hatte, gaben sie mir „Chaka Chaka“ (das ist eine Art Motivationsformel). Ich verdanke ihnen, zu einem ganz grossen Teil, meinen Erfolg. Natürlich bin ich diejenige, die sich die Mühe gemacht hat, zu lernen. Aber ohne sie, hätte ich nicht durchgehalten. Ich bin nicht enttäuscht von mir selbst und werde meinen eigenen Weg nicht kritisieren! Ich war reich an Zielen, und konnte viele erreichen. Das gilt auch für mein Benehmen: Ich war immer respektvoll und höflich in Orpund. Das ist kein Stolz, der mich das schreiben lässt. Es ist die neu gefundene Selbstachtung. In meinen früheren Jahren war ich nicht in der Lage, eine angenehme Schülerin zu sein. Ich hatte gute Noten und schloss mit einem guten Durchschnitt ab. Ich war aber nicht stolz auf mein Verhalten. Jetzt schaue ich auf das, was vor mir liegt, weil ich nicht auf die Fehler der Vergangenheit zurückblicken will.

Freundschaften

Wenn ich jetzt über Freundschaften spreche, würde ich gerne über diejenige schreiben, die mich mit C.* verbindet. Mir wurde bald klar, dass sie anders war als die anderen und dass mir ihre Gesellschaft sehr gut tun wird. Von Anfang an interessierte sie sich für mich, obwohl sie mir gegenüber später einmal zugab, dass ich ihr anfangs als hochnäsig erschien. Und sie lag nicht wirklich falsch. Generell bin ich nicht so gerne in der Gesellschaft von Mädchen. Aber C.* ist ein besonderes Mädchen. Wir sprachen nicht dieselbe Sprache, aber sie konnte mich verstehen, ohne dass ich etwas sagen musste. Sie war aufmerksam zu mir. Und mit ihr entdeckte ich, was es heisst, für einen Mensch zu zählen. Zum ersten Mal erlebte ich die schönste Freundschaft mit einem Mädchen.

Nicht alle respektierten mich wegen meiner Herkunft.

Die Jungs waren meistens auch nett… Aber manchmal benahmen sie sich unerträglich. Nicht alle respektierten mich wegen meiner Herkunft. Sätze wie „Achtung, die Schwarze kommt!“  oder: “Sie ist nicht schön wegen ihrer Hautfarbe“ oder auch weil ich Französisch spreche. Zur Information für die Leser dieses Textes: Ich bin nicht eine Schweizerin, weil ich Französisch spreche! Ich bin 100% Afrikanerin, ich wohne einfach nur in der Schweiz!

Sie lachten offen über mich, ohne zu wissen, dass ich alles verstand, was sie sagten. Ich nahm alle Beleidigung ernst. Sie trafen mich zutiefst. Es ist eine Idiotie, die zu nichts führt!

Sie brachen meinen Wunsch zu singen.

Meine Tiefschläge

Es gab auch Tiefschläge. Anfang des Jahres begann ich, in der Musikband zu singen. Ich liebe es zu singen. Ich dachte, es wäre eine gute Möglichkeit, sich in eine Gruppe von Menschen zu integrieren, die das gleiche Hobby wie ich haben. Ich dachte, ich würde eine tolle Erfahrung machen! Aber es wurde ein grosser Tiefschlag. Zuerst verstand ich die Sprache nicht und ich verstand auch nicht die Kommentare, die andere machten, als ich sang. Ich habe es gehört, aber ich habe es nicht verstanden. Es gibt nichts Schlimmeres… Ich war völlig verunsichert. Im Laufe der Wochen begann ich zu verstehen, was die Leute über mich sagten. Sie kritisierten mich…, ohne dass ich es verstand. Bis ich eines Tages verstehen konnte. Sie brachen meinen Wunsch zu singen. Sie brachten mich dazu, mein Hobby aufzugeben. Ich glaube heute selbst, dass ich nicht zum Singen geeignet war. Anstatt ihre Einschüchterungen zu bekämpfen, gab ich auf und verliess die Band. Ich habe gelogen, als die Schüler und Lehrer zu mir kamen und fragten, „Warum?“.

Im Abschlusstheater spielte ich eine Kämpferin aus League of Legends. Das hat vieles wieder ausgeglichen. Es war eine grossartige Erfahrung.

Unsere Eltern sind unsere Motoren. Sie helfen uns, dass alles funktioniert. Dann ist es an jedem, mit dieser Hilfe zu tun, was er will.

Welche Rolle spielten deine Eltern?

Eltern sind unser Motor

Meine Eltern haben mich auch unterstützt. Ich wollte dieses Sprachjahr machen und meine Eltern haben mich bei diesem Projekt unterstützt. Meine Mutter ist Deutschschweizerin. Leider hat sie uns kein Deutsch beigebracht. Ich weiss, meine Eltern sind stolz auf mich… Sie haben mir viel gegeben, damit ich Deutsch lernen konnte. Auch für sie habe ich gekämpft und all diese Anstrengungen unternommen. Ich wollte ihnen zeigen, dass sie stolz auf mich sein können und dass sie es nicht umsonst getan haben. Ich schulde ihnen viel! Sie waren nicht nur dieses Jahr für mich da, sondern in all meinen Schuljahren. Sie unterstützen mich und dank ihnen kann ich meine Zukunft gestalten. Ich war nicht immer glücklich, ihre Predigten zu hören, als sie meine Zeugnisse sahen… Aber dank diesem bin ich in meinem Leben weitergekommen. Wenn unsere Eltern zu uns sagen, dass „wir in der Schule arbeiten müssen“, sollten wir ihnen zu hören. Sie wissen es besser als wir. Die Schule ist das Wichtigste für den Rest unseres Lebens. Unsere Eltern sind unsere Motoren. Sie helfen uns, dass alles funktioniert. Dann ist es an jedem, mit dieser Hilfe zu tun, was er will. Aber ich brauchte die Hilfe meiner Eltern. Ich danke ihnen von ganzem Herzen, dass sie meine Zukunft interessiert. Meine Eltern werden immer eine Rolle für mich spielen. Bis zum Ende meines Lebens.

Meine Gefühle jetzt – sechs Wochen vor Schulschluss?

Als ich in Orpund ankam, hatte ich Angst, nicht erfolgreich und der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Aber heute weiss ich, dass alles eine Frage des Willens ist. Ich habe diesen Willen.

Trotzdem freue ich mich, dass dieses Schuljahr fertig ist. Ich bin weit fort von meiner Familie und vermisse es, sie nicht jeden Morgen küssen zu können. Ich werde ein anderes Leben haben. Und ich freue mich darauf, mit meinem Leben weiterzumachen. Ich werde eine Kochlehre beginnen. Die harte Arbeit wartet! Und wir treten in die Liga der Erwachsenen ein, ich werde bald mündig sein und selbst Entscheidungen treffen müssen. Ich werde die Unschuld vermissen, die wir in der Schule hatten. Es wird kein Tag in meinem Leben geben, an dem ich nicht an meine guten Jahre als Schülerin denken werde. Am Ende dieses Jahres wird es die Seite einer neuen Geschichte sein… Für alle. Ein neuer Flug. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass jeder den Weg findet, den er gehen will, denn er ist der Schlüssel zu einem neuen Leben.

Und wenn wir eine andere Sprache lernen, dann lernen wir eine neue Welt kennen. Dann sind wir stolz auf uns selbst und den Weg, den wir eingeschlagen haben. In diesem Moment werden die neuen Schüler wissen, wie wichtig das Lernen ist und dass sie, wenn sie die Schule verlassen, bereit sein werden, ein neues Leben zu beginnen.

Was mir die Schule gegeben hat und was nicht

Die Schule ist die Basis unseres Lebens. Wir machen Mathematik, Geografie, Geschichte… Wir lernen rechnen (ich hasse es), wir studieren verschiedene Epochen, wir lernen die Geschichte der Welt und über unser Land. Man lernt etwas über Weltkriege. Es gibt auch die Naturwissenschaften. Ich lernte Neues über Tiere, Bäume, Zellen und vieles mehr, was Wissenschaftler entdeckten. Ich fühle mich in all diesen Dingen gebildet. Die Schule ist eine Grundlage für die Bildung. Die Bildung bereitet uns auf unsere Zukunft vor. In der Schule erhalten wir auch eine Form der Disziplin, die uns hilft, die Regeln des Lebens zu respektieren, pünktlich zu sein, sich höflich und respektvoll zu verhalten. Alle diese Dinge bereiten uns auch auf unsere Arbeit vor. Früher wusste ich nicht, wie wichtig es war, aber jetzt weiss ich es. Die Schule lernt uns Einheit und Gemeinschaft. Dann müssen wir uns selbst entscheiden, ob wir diese Disziplin akzeptieren wollen oder nicht. Aber das spielt sich in unserem Leben ab, also können wir auch die richtige oder die falsche Wahl treffen. Die Schule zeigte mir Möglichkeiten, öffnete mir Welten. Aber sie gab mir zu Beginn kein Selbstvertrauen. Ich war immer unsicher in meinen Entscheidungen, und bin es immer noch.

Schule ist eine Reise.

Schule ist eine Reise. Jeder wählt, wie er sie interpretieren will. Ich hoffe, die nächste Generation (meine Nachfolgerinnen an dieser Schule) wird erkennen, wie wichtig dieses Lernen ist! Ich wünsche mir, dass sie ihre eigenen Experimente machen. Es wird Tiefschläge geben, aber auch unvergessliche Momente. Wir müssen den Wert des Unterrichts schätzen. Es stimmt, dass die Schule nicht in allen Bereichen perfekt und stark ist, aber das Wichtigste ist, alles zu geben, um erfolgreich zu sein. Und wenn wir eine andere Sprache lernen, dann lernen wir eine neue Welt kennen. Dann sind wir stolz auf uns selbst und den Weg, den wir eingeschlagen haben. In diesem Moment werden die neuen Schüler wissen, wie wichtig das Lernen ist und dass sie, wenn sie die Schule verlassen, bereit sein werden, ein neues Leben zu beginnen…Für die nächsten : “Seid dankbar, in einer Schule unterrichtet zu werden. Es gibt diejenigen, die im Schlamm und auf den Reisfeldern tauchen, um Geld zu verdienen, und alles geben würden, um zur Schule zu gehen und so zu sein wie wir.“ Das ist meine Botschaft an die neuen SchülerInnen. Wer sagt „Schule ist Scheisse“ ist einfach dumm. Und wird vermutlich dumm bleiben. Ich sage ihnen „Gib dir selbst eine Chance zum Erfolg!“

Sylvie-Marie-Lorraine Jacques 9B, Essay zum Schulschluss 2016

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Die Suche nach den Wirkungsprinzipien https://condorcet.ch/2020/11/die-suche-nach-den-wirkungsprinzipien/ https://condorcet.ch/2020/11/die-suche-nach-den-wirkungsprinzipien/#comments Mon, 09 Nov 2020 22:28:08 +0000 https://condorcet.ch/?p=6884

Von unserem Leser Michel Laffer wurden wir auf einen Text des PH-Dozenten Gabriel Schneuwly aufmerksam gemacht. Es handelt sich um einen Artikel in einem «Handbuch», das von Autorinnen und Autoren des Instituts für Weiterbildung und Medienbildung (IWM) verfasst wurde. Der Text ist es nach Auffassung der Redaktion Wert, hier aufgeschaltet zu werden. Er setzt sich seriös und differenziert mit den Problemen der Unterrichtsentwicklung auseinander und ist auch dank der angeführten Belege eine durchaus notwendige Orientierungshilfe. Wir danken Herrn Schneuwly für die Erlaubnis, seinen Text hier aufschalten zu dürfen.

Schneuwly, Gabriel (2016): Unterrichtsentwicklung. In: Hansueli Hofmann, Priska Hellmüller und Ueli Hostettler (Hg.): Eine Schule leiten. Grundlagen und Praxis. Bern: hep verlag ag, S. 85–101.

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Dr. Gabriel Schneuwly, PHBern Studienleiter: Entscheidend sind nicht organisatorische Massnahmen.

Aktualität der Unterrichtsentwicklung
Schulentwicklung wird in der deutschsprachigen Literatur häufig als Zusammenspiel von Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung beschrieben (vgl. Buhren in diesem Band). Der Fokus hat sich dabei in den letzten Jahren leicht verschoben. Während in den
90er Jahren des letzten Jahrhunderts Schulentwicklung stark von der Organisationsentwicklung geprägt in der Schule Einzug hielt, gilt heute die Aufmerksamkeit stärker der Unterrichtsentwicklung: „Es besteht mittlerweile ein Konsens darüber, dass es sich bei Massnahmen, die der Weiterentwicklung des Unterrichts dienen, um den Kern der Schulentwicklung handelt.“ (Oelkers & Reusser 2008, S. 402).

Die stark rezipierte Hatte-Studie (Hattie, 2009) hat es in der ganzen Bildungslandschaft in Erinnerung gerufen: Entscheidend für gute Lernergebnisse sind nicht in erster Linie organisatorische oder schulstrukturelle Faktoren, sondern die Qualität des Unterrichts.

John Hattie: Die Unterrichtsqualität entscheidet.

Verschiedene Faktoren haben dazu beigetragen, die Unterrichtsentwicklung stärker ins Bewusstsein zu rücken: Da gab es einerseits die internationalen Vergleichsstudien zu den Leistungen der Schülerinnen und Schüler (z.B. Timss oder PISA), welche grosse mediale Aufmerksamkeit erhielten. Sie rückten den Fokus auf das Lehren und Lernen der Schülerinnen und Schüler sowie auf deren Lernergebnisse. Sie haben viele Entwicklungsanstösse zu einer Verbesserung des Unterrichts geliefert und entsprechende Projekte ausgelöst. Sie haben aber auch Fragen der Chancengerechtigkeit ins Bewusstsein gerufen. Generell hat die Schul- und Unterrichtsforschung gezeigt und die am stärksten rezipierte Hatte-Studie (Hattie, 2009) hat es in der ganzen Bildungslandschaft in Erinnerung gerufen: Entscheidend für gute Lernergebnisse sind nicht in erster Linie organisatorische oder schulstrukturelle Faktoren, sondern die Qualität des Unterrichts.

Lehrplan 21, Gesamtausgabe: Es kann von einem eigentlichen Projekt der Unterrichtsentwicklung gesprochen werden.

Parallel dazu fordern gesellschaftliche Entwicklungen den traditionellen Unterricht stark heraus: Einerseits wächst die Einsicht, dass ein im deutschen Sprachraum stark „homogenitätsversessener Unterricht“ (Grunder 2009, S. 115) der heutigen Zusammensetzung von Schulklassen nicht mehr gerecht wird. Andererseits schreitet die Digitalisierung der Gesellschaft voran, und die neuen Medien halten immer mehr Einzug im Unterricht. All dies ruft nach entsprechenden Konzepten.
Schliesslich beobachten wir aktuell im deutschsprachigen Sprachraum – und insbesondere in der Schweiz – an der Volksschule eine grosse Lehrplandebatte. Der Übergang von inhalts- und themenbezogenen zu kompetenzorientierten Lehrplänen lautet das Motto. Damit verbunden ist die Hinwendung zu einem stärker kompetenzorientierten Unterricht. Landauf, landab beschäftigt man sich mit der Einführung des neuen Lehrplans. Es kann dabei von einem eigentlichen Projekt der Unterrichtsentwicklung gesprochen werden.

Es geht also um die Frage des bei den Schülerinnen und Schülern tatsächlich ablaufenden Lernprozesses.

Wie lernen Schülerinnen und Schüler?

Klare Vorstellungen über guten Unterricht
Spricht man über Unterricht, kann man dies auf der Ebene der Makroprozesse (Oberflächenstruktur) oder der Mikroprozesse (Tiefenstruktur) tun (Oser und Baeriswyl 2001; Pauli & Reusser, 2010; Kunter & Trautwein 2013). Merkmale der Oberflächenstruktur sind bei einem Unterrichtsbesuch direkt sichtbar. Es geht um übergeordnete Organisationsmerkmale des Unterrichts wie Lernformen, Sozialformen, Muster der Unterrichtsinszenierung oder Rahmenbedingungen wie Zeitmanagement, Raumeinrichtung usw. Tiefenstrukturen hingegen sind im Unterricht nicht direkt sichtbar. Sie liegen dem Unterricht als psychologisch-didaktische Qualitätsdimensionen zugrunde. Es geht um die eigentliche Auseinandersetzung der Lernenden mit den Lernaufgaben sowie um den Austausch  der Lernenden mit der Lehrperson und untereinander. Es geht also um die Frage des bei den Schülerinnen und Schülern tatsächlich ablaufenden Lernprozesses.

Offener Unterricht: Unterdessen zeigt die Unterrichtsforschung aber, dass die Ergebnisse teilweise ernüchternd sind.

Was die Diskussion um Unterrichtsqualität schwierig macht, ist, dass sie nicht an der Oberflächenstruktur festgemacht werden kann. Das wäre leichter beobachtbar und beurteilbar. Frühere Unterrichtsentwicklungsprojekte wie z.B. das Projekt Erweiterte Lernformen in der Schweiz (vgl. Croci et al. 1995) oder Reformbemühungen rund um offenen Unterricht in Deutschland (vgl. z.B. Bönsch 1991 oder Peschel 2006) haben genau hier angesetzt. Unterdessen zeigt die Unterrichtsforschung aber, dass die Ergebnisse teilweise ernüchternd sind bzw. sehr differenziert betrachtet werden müssen (Bohl & Kucharz 2010,Niggli 2013, S. 29; Pauli et al., 2003). Offener Unterricht zeigt z.B. unterschiedliche Effekte bei leistungsstärkeren oder leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern. Oder es kommt auch drauf an, welche Unterrichtsergebnisse in den Fokus genommen werden: Geht es um fachliche Leistungen oder um motivationale Faktoren wie die Einstellung zur Schule, Kreativität oder Selbstständigkeit. In seiner umfassenden Sichtung der entsprechenden Literatur kommt Niggli (2013, S. 29) zu folgender Bilanz:

Offener Unterricht führt nicht automatisch zu guter Unterrichtsqualität.

• „Offener Unterricht kann im Vergleich zu traditionellem Unterricht zu etwas schlechteren Resultaten führen.
• Im Vergleich zum traditionellen Unterricht bewirkt offener Unterricht im nicht leistungsbezogenen Bereich (Einstellungen zur Schule, Kreativität,
Selbstständigkeit) etwas günstigere Ergebnisse.
• Lernschwächere Kinder und Jugendliche weisen im offenen Unterricht eine tiefere aktive Lernzeit auf.
• Für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler scheinen strukturierende Lernhilfen (angepasste Materialien, klare Instruktion) unabdingbar zu sein“.

Dem ist aber nicht so, weil für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler oft die klare mündliche Instruktion und Unterstützung der Lehrperson fehlen.

Offenbar führen Programme, die eine Öffnung des Unterrichts oder eine Erweiterung des Methodenrepertoires bezweckt haben, nicht per se zu guter Unterrichtsqualität. „Die Qualität entscheidet sich (…) vorrangig auf der didaktischen Ebene und in den Mikroprozessen des Unterrichts“ (Bohl und Kucharz 2010, S. 10). Ein erstes Mal wird dies in oben erwähnter Bilanz unter Punkt 3 deutlich. Je offener der Unterricht, desto stärker nimmt sich die Lehrperson zurück und desto höher müsste die Lernzeit der Schülerinnen und Schüler sein, würde man meinen.

Schriftliche Lernaufgaben in einem Wochenplan können oft für solche Lernende gar nicht anschlussfähig sein und damit ein aktives Lernen verunmöglichen.

Schwächere Schülerinnen und Schüler brauchen die direkte Instruktion mehr.
Bild: stock.adobe.com

Dem ist aber nicht so, weil für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler oft die klare mündliche Instruktion und Unterstützung der Lehrperson fehlen. Dies stellt eine Voraussetzung dafür dar, dass sie sich intensiv mit den Lernaufgaben auseinandersetzen können. Schriftliche Lernaufgaben in einem Wochenplan können oft für solche Lernende gar nicht anschlussfähig sein und damit ein aktives Lernen verunmöglichen. Unterrichtsqualität zeigt sich also an Tiefenstrukturmerkmalen des Unterrichts, den sogenannten Mikroprozessen des Unterrichts. Dies zeigt auch, dass die Beobachtung und Beurteilung von Unterrichtsqualität anspruchsvoll ist und eine gute pädagogisch-didaktische Ausbildung voraussetzt.

Zehn Merkmale

Die Suche nach den wesentlichen Wirkungsprinzipien des Unterrichts bzw. nach seinen Gütekriterien hat eine lange Tradition (Helmke 2009). Sie hat eine ganze Reihe von Katalogen mit solchen Merkmalen hervorgebracht (Helmke 2007; Helmke 2009; Meyer 2005; Meyer 2015). Diese bezeichnen eine Prozessqualität von Unterricht, die dazu beitragen soll, gute Lernergebnisse zu erzielen. Nachfolgend werden aufgrund ihrer empirischen Grundlage und weil sie häufig die Grundlage von gängigen Unterrichtsbeobachtungsinstrumenten darstellen, die Merkmale der fächerübergreifenden Unterrichtsqualität nach Helmke (Helmke 2009, S. 168-169) wiedergegeben:

1. Klassenführung, 2. Klarheit und Strukturiertheit, 3. Konsolidierung und Sicherung, 4. Aktivierung, 5. Motivierung, 6. lernförderliches Klima, 7. Schülerorientierung, 8.
Kompetenzorientierung, 9. Umgang mit Heterogenität, 10. Angebotsvariation

Helmke beschreibt die Wirkungsmechanismen so (ebd.), dass die Merkmale 2 −4 sich direkt auf den Lernerfolg, die Merkmale 5 −7 sich primär auf die Lernmotivation und indirekt auf den Lernerfolg auswirken. Bei den weiteren Merkmalen gibt es sowohl direkte Wirkungen auf den Lernerfolg als auch indirekte Wirkungen über die Lernmotivation.

Zehn Merkmale der Unterrichtsqualität sind ein breiter Katalog. Man kann sich gut vorstellen, dass eine Schule eine Auswahl trifft und für eine bestimmte Zeit eines dieser Qualitätsmerkmale zum Fokus ihrer Unterrichtsentwicklung macht. Aktuell dürfte es aus den weiter oben erwähnten Gründen so sein, dass die Kompetenzorientierung im Vordergrund steht. Dabei handelt es sich um ein Qualitätsmerkmal, das empirisch noch wenig erforscht ist. Es ist eher so, dass dieses Merkmal aktuell konzeptionell bearbeitet und immer näher bestimmt wird. Dabei zeigt sich bereits heute, dass es um ein vielschichtiges Merkmal handelt, das wiederum Bezug auf andere Merkmale nimmt, die eindeutiger als Tiefenstrukturmerkmale von Unterricht gefasst werden.

“Erfolgreicher Unterricht kann auf eine sehr verschiedene, aber nicht beliebige Weise
realisiert werden.”

In einer Phase der Problemstellung
braucht es in aller Regel den Klassenunterricht.

Der Blick auf die Tiefenstrukturmerkmale oder Mikroprozesse von Unterrichtsqualität hilft zu verstehen, was die beiden bekanntesten Unterrichtsforscher im deutschen Sprachraum, Weinert und Helmke, bereits vor der Jahrtausendwende formuliert haben (1997, S. 472): “Erfolgreicher Unterricht kann auf eine sehr verschiedene, aber nicht beliebige Weise realisiert werden”. Man kann sowohl Klassenunterricht als auch Unterricht in offenen Lernformen gut oder weniger gut durchführen. Die Gegenüberstellung von offenem Unterricht und Klassenunterricht hilft auch nicht weiter. Wichtig ist eine didaktisch reflektierte Verknüpfung unterschiedlicher Unterrichtsformen im Hinblick auf die Verwirklichung der Tiefenstrukturmerkmale von Unterricht. Es braucht z.B. in einer Phase der Problemstellung und Problemklärung in aller Regel den Klassenunterricht, damit kognitive Aktivierung hergestellt werden kann. Es braucht aber auch Phasen des Durcharbeitens und Übens, in denen eine hohe kognitive Aktivierung viel besser durch selbstgesteuerte Unterrichtsformen erreicht wird.

Idealerweise nutzt die Lehrperson (allenfalls in Zusammenarbeit mit einer Förderlehrperson) dann solche Phasen, um im Sinne der Schülerunterstützung mit einzelnen Lernenden oder Kleingruppen zu arbeiten. Betrachtet man die geschilderten drei Tiefenstrukturmerkmale des Unterrichts vertieft, wird deutlich, dass hier das Bild einer aktiven Lehrperson gezeichnet wird, die im Unterricht eine hohe Präsenz zeigt. Auf diesem Hintergrund sind auch die viel diskutierten Aussagen von Hattie (2009) zu verstehen, der in seinem ersten bei uns breit rezipierten Buch „Visible learning“ (ebd.) sowohl die „Sichtbarkeit“ der Lehrperson als auch der Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler betont. Er beschreibt seine Erfahrung, dass beim Betrachten von gutem Unterricht, Lehrer immer aktiv und involviert aufgetreten sind (ebd., S. 25-26). Sein Buch ist kein Plädoyer gegen offene Unterrichtsformen, sondern gegen eine einseitige Interpretation der Rolle von Lehrpersonen, die vermeintlich modern nur noch als Facilitator, als Lernbegleiter oder als Lerncoach beschrieben werden.

Gabriel Schneuwly, 2015 (Vorabdruck eines Kapitels, Kurzversion)

Literatur:
Bohl, Thorsten; Kucharz, Diemut (2010): Offener Unterricht heute. Konzeptionelle und didaktische Weiterentwicklung.
Weinheim: Beltz (Studientexte für das Lehramt, 22).
Bönsch, Manfred (1991): Offener und kommunikativer Unterricht − Freiarbeit und Beziehungsdidaktik. Oldenburg: Universität Oldenburg, Zentrum für Pädagogische Berufspraxis.
Croci, Alfons; Imgrüth, Peter; Landwehr, Norbert & Spring, Kathrin (1995): ELF. Ein Projekt macht Schule. Magazin zum Thema Erweiterte Lernformen. Littau und Buchs: Kantonale Lehrmittelverlage Luzern und Aargau.
Grunder, Hans-Ulrich (2009): Heterogenität und Innere Differenzierung des Unterrichts. In: Hans-Ulrich Grunder und Adolf Gut (Hrsg.): Zum Umgang mit Heterogenität in der Schule. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 115-127.
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