Führung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 18 Feb 2024 11:50:20 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Führung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 “Man muss manche Kinder und Jugendliche eng führen und strenger kontrollieren” https://condorcet.ch/2024/02/man-muss-manche-kinder-und-jugendliche-eng-fuehren-und-strenger-kontrollieren/ https://condorcet.ch/2024/02/man-muss-manche-kinder-und-jugendliche-eng-fuehren-und-strenger-kontrollieren/#comments Sun, 18 Feb 2024 11:50:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=15979

Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach stellt einen grundlegend falschen Ansatz in der deutschen Pädagogik fest: Die Folgen der bei den 68ern beliebten antiautoritären "Emanzipation" schade vor allem leistungsschwachen Kindern. Reichenbach zeigt Auswege für ratlose Eltern auf. Das Interview erschien in der WELT.

The post “Man muss manche Kinder und Jugendliche eng führen und strenger kontrollieren” first appeared on Condorcet.

]]>

WELT: Herr Reichenbach, steckt Deutschland in einer Erziehungskrise?

Roland Reichenbach: Hannah Arendt führte 1958 in ihrem berühmten Vortrag “Krise in der Erziehung”, das, was sie als Erziehungskrise bezeichnete, auf eine strukturelle Krise der Moderne zurück. Sie glaubte, dass Erziehung ein konservatives Geschäft sei.

Man könne, so Arendt, nur das weitergeben, was sich irgendwie bewährt hat, was man kennt, was man weitergeben möchte. Das Neue dagegen “bringen die Neuen”, das heisst Kinder und Migranten, sie verändern die Welt. Wenn die Erziehung ihre konservierende Aufgabe vergisst, ist, was sich eigentlich verbirgt hinter deren Krise, eine Autoritätskrise und eine Traditionskrise. Das hat Arendt so konstatiert, aber so pauschal kann man das, glaube ich, nicht bestätigen.

WELT: Aber?

Reichenbach: Aber es gibt eine Krise des Gemeinsinns und eine Krise der Repräsentation. Es ist den Eltern kaum mehr klar, wofür sie eigentlich einstehen sollen und wofür die Schule steht. Das hat zu tun mit der modernen Bewegung hin zum Individuum, hin zur an sich ja großartigen Bedürfnisorientierung. In deren Engführung sieht man plötzlich nur noch das Individuum, das Kind, das Hirn.

Es ist den Eltern kaum mehr klar, wofür sie eigentlich einstehen sollen und wofür die Schule steht.

 

Die Schule als Ganzes und ihre Funktion in der Gesellschaft gerät aus dem Blick – bis dahin, wo Kinder, Schüler als Ansammlung frei flottierender Atome betrachtet werden. Die Eltern sind, wenn überhaupt, primär am eigenen Kind interessiert. Und dazu kommt noch, dass es weniger und mehr privilegierte Familien und Kinder gibt und dass die herrschende individualisierte Pädagogik zugespitzt eigentlich eine Pädagogik für Gewinner ist.

Roland Reichenbach (61) ist Professor der Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich (Bild: Roland Reichenbach/zvg)

WELT: Was bedeutet “Pädagogik für Gewinner”?

Reichenbach: Es herrscht die Annahme, selbst organisiertes Lernen, individualisiertes Lernen sei universell ein probates Mittel. Das passt für jene, die von zu Hause aus irgendwie wissen, dass sie in der Welt einen Platz erhalten. Jene aber, die leistungsschwach sind, aus welchen Gründen auch immer, mangelnde Motivation, familiärer Hintergrund und so weiter, für die ist eine andere Pädagogik nötig.

Es gibt manche Kinder und Jugendliche, die muss man eng führen. Man muss sie aber auch ermutigen, und man muss sie strenger kontrollieren. Und das tönt für moderne pädagogische Ohren überhaupt nicht attraktiv.

WELT: Weil?

Reichenbach: Weil in Debatten der Nachkriegszeit über Autorität, besonders durch die 68er, der Begriff der “Emanzipation”, der Befreiung der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt der Pädagogik gerückt wurde. Man könnte auch sagen, die Pädagogik ist politisiert worden.

WELT: Adorno etwa postulierte, kurz gesagt, nach dem Krieg den “autoritären Charakter” durch falsche Erziehung als Ursache des Erfolgs der Nazis, durch andere Erziehung sei er zu überwinden. 

Reichenbach: Vor Adornos Studien gab es noch den Psychologen Kurt Lewin, aber ja: Zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die autoritäre Erziehung als ein Problem gefunden. Autorität in der Erziehung galt als schlecht. Demgegenüber gestellt ist bis heute, das werden Sie in allen möglichen Leitlinien und Bildungskonzepten finden, die gute “demokratische Erziehung”.

Alles soll verhandelbar, auf Augenhöhe sein. Pädagogik ist aber nun mal eine asymmetrische Angelegenheit.

 

Nun sind beide Begrifflichkeiten, Demokratie und auch Autorität, politische. Man kann sich auch fragen, warum und woher kommt eigentlich die Idee, dass die Erziehung demokratisch, also volksherrschaftlich, sein soll? Was soll das bedeuten?

WELT: Von Ihnen gibt es ein Buch, “Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung”. Woran denken Sie bei Autorität in der Erziehung?

Reichenbach: Daran, dass ohne irgendeine Bereitschaft, sich führen zu lassen, es überhaupt nicht geht mit dem Zusammenleben in einer Gesellschaft. Das ist eine Kompetenz, die man nur gegenüber einer glaubhaften Autorität erwerben kann. Ob man sie erwirbt, hängt fundamental davon ab, dass es sich für mich lohnen muss, mich führen zu lassen. Das jemand ausgeübte Autorität annimmt, ist abhängig von einem Versprechen. Eine bestimmte Ökonomie muss stimmen, irgendwo muss die Möglichkeit eines Tauschakts gesellschaftlich vorhanden sein.

WELT: Was erhält man im Tausch gegen das Sich-führen-Lassen?

Reichenbach: Man könnte so sagen: Die ältere Generation muss es schaffen, der jüngeren glaubhaft zu vermitteln, dass sie, wenn sie sich in deren Führung begibt – an der Schule heisst das: sich anstrengen, wohl verhalten, lernen – eine individuell attraktive Zukunft erwarten kann. Schulische Bildung ist somit nicht Selbstzweck, sondern ganz konkret Mittel zum Zweck, auch wenn Pädagogen das heute nicht gerne hören.

WELT: Erziehung also als Gütertausch – du lässt dich erziehen, dafür bist du später in der Lage, dir ein Häuschen zu leisten. Das aber stimmt für ganz viele Kinder nicht mehr.

Reichenbach: Es ist ganz evident, dass es Segmente der Gesellschaft gibt und also Kinder und Jugendliche, die vielleicht aus gutem Grund nicht an die Wirksamkeit der Bildung glauben können. Warum sollte ich mich dann einem schulischen Regime unterwerfen? Letztlich haben wir ein also ein Sinnproblem.

WELT: Nur in dem Sinn, dass materielle Tauschgüter unerreichbar sind? Oder auch in einem immateriellen Sinn, dass es einen Mangel sinnstiftender Arbeit gibt?

Reichenbach: Mir ist Richard Sennetts (amerikanisch-britischer Soziologe, d. Red.) “passiver Nihilismus” näher. In Umfragen äußert sich das so: Menschen, die ihren Job und den Lohn als in Ordnung beschreiben, antworten auf die Frage, ob sie dort noch in fünf Jahren arbeiten wollen: “Auf keinen Fall.” Und auf die Frage, was Sie nun dagegen tun wollen: “Keine Ahnung”.

Die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in einer Art Krise sind, nicht wissen, wohin die Reise geht, und das verläuft relativ störungsfrei, ohne Leiden.

 

In einer hochflexiblen, hoch veränderlichen Arbeitswelt ist es für Arbeitgeber auch von Vorteil, wenn die Angestellten gar nicht wissen, was sie eigentlich wollen; dieser passive Nihilismus ist somit funktional, es handelt sich dabei um eine kulturell adaptive Identitätsdiffusion. Das heißt, die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in einer Art Krise sind, nicht wissen, wohin die Reise geht, und das verläuft relativ störungsfrei, ohne Leiden.

WELT: Das meinen Sie also, wenn Sie sagen, die Eltern wüssten kaum, wofür sie einstehen sollen?

Reichenbach: Wer nicht weiss, wohin er will, hat ein pädagogisches Problem, denn das Zeigen ist die Grundoperation in der Pädagogik, wie der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange schrieb. Die ältere Generation muss also wissen, was sie zeigen will. Stattdessen verhält es sich immer häufiger so, als ob die Älteren ihre Verantwortung an die Jüngeren abgeben wollten.

Statt “Ich habe dich immer unterstützt, du konntest machen, was du willst” wäre besser, wenn man sagt: “Studier’ BWL!” oder “Übernimm den Hof!”. Dann kann das Kind entgegnen: “Nein!”, und sich überlegen, was es stattdessen will. Ich will sagen: Freiheit ohne Befreiung funktioniert nicht.

WELT: Und die Befreiung erfolgt als Negation des Erzieherwillens?

Reichenbach: Ja, oft; es geht also nicht darum, ob man schafft, wie vielfach heute das Leitbild, dass die Jungen von sich aus herausfinden, was sie wollen. Sondern darum, dass die ältere Generation sagt, was ihr wichtig ist – und dass sie weiss, dass die Jungen es dann eh machen, wie sie wollen. Das ist der Kern von Friedrichs Schleiermachers Pädagogik.

Womöglich haben wir es in der Gegenwart nicht mit der “falschen” Pädagogik zu tun, sondern mit einer “fehlenden” Pädagogik.

 

Die pädagogische Frage würde lauten, meinte er: Was will denn die ältere Generation von der jüngeren? Zur gleichen Zeit wusste er, dass die Jüngeren nicht so rauskommen, wie die Älteren es wollen. Genau das ist modern. In diesem Sinne würde ich abschließend die These wagen: Womöglich haben wir es in der Gegenwart nicht mit der “falschen” Pädagogik zu tun, sondern mit einer “fehlenden” Pädagogik.

WELT: Weil die Alten das “Zeigen” scheuen? Warum ist das so?

Reichenbach: Heute wollen Führungspersonen, Lehrpersonen, auch Professoren von ihren Studierenden oder Mitarbeitern geschätzt, am besten noch geliebt werden. Das ist eine Krankheit, die habe ich auch ein bisschen, auch als Vater von vier erwachsenen Kindern. Man möchte geschätzt werden, aber das ist vielleicht nicht so gut.

Ich bin mir ganz sicher, dass das für meine Eltern nie eine Frage war: Ob ihre Söhne sie lieben. Wir waren ihre Söhne, sie haben uns geliebt, das war es. Und nun haben wir ein fundamentales Bestreben, alle Kommunikation zu symetrisieren und halten es kaum aus, wenn das nicht der Fall ist – alles soll verhandelbar, auf Augenhöhe sein. Pädagogik ist aber nun mal eine asymmetrische Angelegenheit.

The post “Man muss manche Kinder und Jugendliche eng führen und strenger kontrollieren” first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2024/02/man-muss-manche-kinder-und-jugendliche-eng-fuehren-und-strenger-kontrollieren/feed/ 1
Freude ist die einfachste Form der Dankbarkeit https://condorcet.ch/2019/08/freude-ist-die-einfachste-form-der-dankbarkeit/ https://condorcet.ch/2019/08/freude-ist-die-einfachste-form-der-dankbarkeit/#respond Wed, 28 Aug 2019 14:09:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=2098

Nun hat sich auch Urs Guggisberg, Schulleiter des OSZ-Orpund, in die Diskussion um das Schulleitungsverständnis eingeschaltet. Das Besondere: In diesem Kollegium entstand das lehrplankritische Memorandum 550gegen550 (zusammen mit Lehrkräften des OSZ-Mett-Bözingen in Biel) und in diesem Kollegium arbeitet auch unser Condorcet-Autor Alain Pichard, der mit seinen kritischen Voten zur aktuellen Bildungspolitik schweizweit bekannt wurde. Alain Pichard würdigt in seinem Beitrag das Wirken von Urs Guggisberg.

The post Freude ist die einfachste Form der Dankbarkeit first appeared on Condorcet.

]]>

Schulleiter hatten es nicht immer einfach mit mir. Ich hatte mir in den Jahren meiner Berufstätigkeit und auch als aktiver Gewerkschafter ein gewisses Verständnis von Abläufen beigebracht, mit denen ich meine Vorgesetzten (dazu gehörten auch Behörden) immer wieder in Argumentationsnot gebracht habe. Diese Fähigkeiten brachte ich immer dann ein, wenn Kolleginnen und Kollegen angegriffen wurden (und meine Hilfe beanspruchten), wenn meine pädagogischen Freiheiten beschnitten werden sollten oder wenn ich mit gewissen Entscheidungen nicht einverstanden war.

Bild: HP-OSZ-Oprund

Schulleiter hatten es aber auch im OSZ-Orpund nicht leicht. Im OSZ-Orpund arbeiteten lange Zeit eine Reihe ausserordentlich dominanter, pädagogisch beseelter, charismatischer Lehrer (ich spreche hier ausdrücklich von Lehrern), die sich selten etwas sagen liessen und der Schule Ihren Stempel aufdrückten. Dieser «Stempel» liess sich durchaus sehen. Denn seit seiner Startphase vor ca. 50 Jahren galt diese Schule als innovativ, links, und unglaublich kreativ. Zahlreiche atemberaubende Projekte prägten den Schulalltag der Orpunder Oberstufenschüler, was bei manchen Behördenmitgliedern und Eltern auch Stirnrunzeln auslöste und dem Kollegium mahnende Appelle zu Mässigung einbrachte.

Es war logisch, dass sich dieses Kollegium bei der Umstellung des 6/3-Modells für eine integrierte Oberstufe aussprach, also für gemischte Stammklassen, in denen SekundarschülerInnen, RealschülerInnen, zukünftige GymnasiastInnen und auch die schulschwächeren Kinder zusammen lernen durften. Das war in einem eher konservativen Umfeld, wie es unsere Trägergemeinden eben sind, ein beachtlicher schulpolitischer Schritt. Die linke Stadt Biel entschied sich gleichzeitig für das selektivere Oberstufenmodell, in welchem die Sekundar- und Realklassen noch getrennt waren.

Motto im OSZ-Orpund
Bild: api

Das Ganze ging natürlich nicht ohne Konflikte. Wären der Lehrerkonferenzen gingen die Raubeine heftig aufeinander los. Es flogen sozusagen die Fetzen. Immer wieder gelang es dem Kollegium aber, diese Dissonanzen in produktive Kreativität umzusetzen. Mehrheiten entschieden, Beleidigungen wurden weggesteckt und man stellte sich stolz hinter das nächste Projekt.

Mit der Zeit verliessen einzelne Typen dieser alten Garde den Schuldienst, jüngere KollegInnen kamen, die nicht mehr alles schluckten, die Konflikte wurden heftiger und begannen das Kollegium zu lähmen. Und – wie es immer passiert, wenn Alphatiere das Ruder übernehmen – passierten auch gravierende Verstösse gegen die berufliche Professionalität. 2011 übernahm Urs Guggisberg hier das Ruder. Sein Vorgänger war den Behörden nicht mehr genehm, das Kollegium gespalten.

Man tut Urs Guggisberg sicher nicht Unrecht, wenn man ihn als einen Mann der «Alten Schule» bezeichnet. Eine wichtige und nicht zu unterschätzende Eigenschaft dieser «Old Fellows» sind Freundlichkeit und Höflichkeit. Der Mann strahlte Ruhe aus, wurde nie ausfällig, war ein ausserordentlich guter Zuhörer. Die zweite wichtige Eigenschaft dieser Art Führungspersonen ist die enorme Kenntnis der Gesetze und Abläufe, vor allem aber ihrer Lücken, welche diese Art Menschen als Freiräume entdecken.

Dieser Mann hatte ein Gespür für die Stärken seiner Mitarbeiter und liess ihnen grosse Freiheiten.

Für mich aber entscheidend: Dieser Mann hatte ein Gespür für die Stärken seiner Mitarbeiter und liess ihnen grosse Freiheiten. Er konzentrierte sich nicht auf die Schwächen, er förderte die Begabungen. Damit brachte er das OSZ wieder auf Kurs.

Das Memorandum startete in Orpund und Mett-Bözingen

Er war es auch, der den Lehrplan an einem Kollegiumstag mit seinen Kolleginnen und Kollegen studierte, was daraufhin als Geburtsstunde des Memorandums 550gegen550 galt. Selbstredend war Urs Guggisberg einer der Erstunterzeichner und mit grosser Selbstverständlichkeit leitete er unsere Stellungnahme direkt an die EDK weiter.

Die folgende Anekdote sagt einiges über das Selbstverständnis dieses Mannes aus. Er erhielt von der Erziehungsdirektion und von der EDK zwei wütende Telefonate, beide mit der Kritik, was ihm eigentlich einfalle, diese Stellungnahme direkt zu schicken. Man hätte das Papier, so die Bildungsbehörden, dem Kanton zustellen müssen. Der hätte die Aussagen zusammengefasst und an die EDK weitergeleitet. Ausserdem brauche es einen Code, damit die Stellungnahme behandelt werde. Diesen Code, so beteuerte unser Schulleiter, habe er ja bekommen! «Ja», so die zerknirschte Antwort der EDK-Vertreterin, «das hätte aber nie passieren dürfen!»

Und so figuriert auch heute noch unter den Dutzenden standardisierten Vernehmlassungsantworten von Institutionen und Behörden diejenige des Oberstufenzentrums Orpund! – Notabene als einzige Schule der Schweiz!

Wie hat dieser Mann den Code erhalten? Ganz einfach: Mit Höflichkeit, Freundlichkeit und Bestimmtheit!

Schülerband am OSZ-Orpund

Wir dankten es ihm mit Innovation und atemberaubenden Projekten

Urs Guggisberg hat uns machen lassen. Als ich ihm nach 40 Jahren Französischunterricht sagte: «Ich kann diesen Passepartout-Scheiss nicht mehr verantworten und will keine Französischlektionen mehr unterrichten!», akzeptierte er das sofort und mit grösstem Verständnis. Er besuchte alle Theateraufführungen, Veranstaltungen und unterstützte all unsere Projekte. Er gab immer und unentwegt Rückmeldungen, bestärkte uns positiv und stand hinter uns, wenn es zwischendurch mal brenzlig wurde. Er konnte allerdings auch Lehrkräfte in den Senkel stellen, wenn es das erforderte. Höflich wie immer, aber bestimmt. Und die Schlichtungsgespräche, die er leitete, waren immer geprägt von einer beeindruckenden Sachkenntnis in Verfahrensabläufen. Er war für uns eine Art Lebensversicherung in heiklen Angelegenheiten.

Wir dankten es ihm mit Engagement, Innovation und Fleiss, mit Nachtprojekten, Parcours, Schulhauszeitungen, dem Führen eines Restaurants, dem Schülerrat an den Lehrerkonferenzen usw. Und auch mit Freude an unserer Arbeit. Denn Freude ist immer die einfachste Art der Dankbarkeit (Karl Barth).

Im Januar tritt Urs Guggisberg in den Ruhestand. Ihm folgen die letzten VetreterInnen der alten Garde, darunter wohl auch ich. Ich nehme an, dass dann die Sektflaschen geöffnet werden. In unserer Schule mit Wehmut, in den Büros der Bildungsbürokratie wohl mit Aufatmen!

Alain Pichard

 

 

The post Freude ist die einfachste Form der Dankbarkeit first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2019/08/freude-ist-die-einfachste-form-der-dankbarkeit/feed/ 0
Zur Schulleitungsdebatte: Der Neue in einem rebellischen Oberstufenzentrum https://condorcet.ch/2019/08/zur-schulleitungsdebatte-der-neue-in-einem-rebellischen-oberstufenzentrum/ https://condorcet.ch/2019/08/zur-schulleitungsdebatte-der-neue-in-einem-rebellischen-oberstufenzentrum/#respond Wed, 28 Aug 2019 14:08:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=2088

Urs Guggisberg, Schulleiter des OSZ-Orpund, schaltet sich mit diesem Beitrag auch in die Condorcet-Debatte über die Frage der Schulleitungen ein. Und er gesteht: Es war keine leichte Aufgabe... zu Beginn.

The post Zur Schulleitungsdebatte: Der Neue in einem rebellischen Oberstufenzentrum first appeared on Condorcet.

]]>
Urs Guggisberg

Der schwierige Beginn

Als Fremder in ein Kollegium zu kommen, stellte ich mir nicht einfach vor. Dass es aber so schwer werden würde, hatte ich nicht gedacht. Jeder Schritt wurde am Anfang kritisch und auch mit Unsicherheit zur Kenntnis genommen. Wir kannten einander nicht: Das Kollegium wusste nicht, wie berechenbar und zuverlässig der Neue war, ich kannte das Kollegium nicht, keine «Seilschaften», keine vergrabenen «Leichen im Keller», keine wunden Punkte in der gemeinsamen Geschichte.

Ich kannte aber auch die Stärken der einzelnen Leute nicht, ihre Fähigkeiten, ihr Potential, ihr Umfeld, aus dem sie kamen. Irritierend war, dass mich vor Stellenantritt einzelne Lehrkräfte kontaktierten, um «Ihre Dienste» anzubieten. Ich liess aus diesem Grund ein Personalblatt verteilen und hoffte, auf diese Weise mehr über die einzelnen Leute und ihre Fähigkeiten und Stärken erfahren zu können –«Wissenskartei» nannte ich das. Viele Kollegen waren bereit mitzumachen, andere weigerten sich.

Insgesamt dauerte es recht lange, bis ich mir ein genaueres Bild des Kollegiums und der einzelnen Lehrkräfte machen konnte. Zudem vermisste ich schmerzlich das alte Netzwerk, das so wichtig ist in der täglichen Arbeit, und als ich zu einzelnen Institutionen, beispielsweise dem Sozialdienst, den Kontakt suchte und einen regelmässigen Austausch anregte, der auch zustande kam, sahen mich ein paar «Alte» doch sehr seltsam an. Die ersten Monate als Schulleiter waren sehr schwierig, obwohl ich mehr als 30 Jahre Erfahrung als Schulleiter hatte, kam es mir vor, als hätte ich den Job noch nie gemacht.

Das «Problem» Pichard

Alain Pichard war immer transparent Bild: fabü

Bereits vor Stellenantritt machten mich einige darauf aufmerksam, dass Alain Pichard in diesem Kollegium sei, ich solle mir gut überlegen, ob ich dorthin wechseln wolle, es sei dann vielleicht nicht immer einfach. Am Anfang wurde ich vor allem in SL-Konferenz oft darauf angesprochen, ob ich nun die Haltung von Pichard oder die der Schule vertreten würde. Und als es um Einführungsveranstaltungen des LP21 ging, legte man mir einmal sogar nahe, ich möchte auf Alain Pichard einwirken, der öffentlichen Veranstaltung fernzubleiben.

Auch im Kollegium flogen in Konferenzen schon mal die Fetzen: Alain war oft sehr spitzzüngig, was nicht immer auf Gegenliebe stiess. Aber das Kollegium vertrat oft ähnliche Standpunkte, die, wenn ich sie nach aussen vertreten musste, nicht selten als «Haltung Pichard» abgetan wurden.

Ich habe mehrmals darauf hinweisen müssen, dass Alain Pichard seine demokratischen Rechte wahrnehme und sagen dürfe, was und wo er dies wolle – solange er dies als eigene Meinung deklariere. Und wenn das Kollegium eine ähnliche Meinung vertrete in gewissen Fragen, dann sei diese Meinung in einem Prozess zustande gekommen, Alain Pichard sei Mitglied des Kollegiums, und dort habe er seine Argumente dargelegt.

Was ich in den Jahren sehr geschätzt habe, dass Alain Pichard immer transparent war in seiner engagierten Tätigkeit. Gab er zum Beispiel ein Interview, in welchem die Schule erwähnt wurde, informierte er mich immer und fragte, ob dies tragbar sei. Ich denke, dass dank der engagierten schulpolitischen Tätigkeit von Alain Pichard in unserem Kollegium einiges ins Bewusstsein gerückt ist, das sonst kaum wahrgenommen worden wäre.

Mein Verständnis als Schulleiter

Ich denke, ganz wichtig ist es, «sich selbst zu sein». Man kann keine Rolle «Schulleiter» spielen, man muss versuchen zu leben, was man vertritt. Dazu gehört für mich auch Berechenbarkeit. Man muss in den Entscheidungen und Reaktionen berechenbar sein und man muss sich Zeit nehmen, diese Berechenbarkeit aufzubauen – sie muss ja erst an konkreten Fällen entwickelt werden. Zur Funktion gehört auch das Verständnis, dass man «Dienstleister» für das Kollegium ist. Viele Aufgaben müssen im Hintergrund und im Stillen erledigt werden – sie gehören nicht an die grosse Glocke gehängt. Oftmals gehört eine dicke Haut zur Funktion, man muss einiges an sich abprallen lassen können. Man muss auch «filtern» können: Nicht alles, was einem zu Ohren kommt, darf an die Kolleginnen und Kollegen weitergegeben werden. Und notabene Vertrauen: Man muss darauf vertrauen, dass die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit gut machen. Sie brauchen Freiheiten, um sich entwickeln zu können – davon und von der Vielfalt lebt letztlich die Schule. Ich habe diese Eigenschaften, wenn ich gefragt wurde, jeweils zusammengefasst mit meinem «Führungsleitsatz»: «Wenn es Schönwetter ist, stehe ich hinter den Kollegen in der hintersten Reihe, wenn es gewittert und rumort, stehe ich mit dem Regenschirm zuvorderst.»

Bild:api

Die pädagogische Aufsicht

Ich denke, dass dies die heikelste Aufgabe der SL ist. Pädagogik ist keine exakte Wissenschaft, und in einem Kollegium hat es mindestens so viele Meinungen wie Kolleginnen und Kollegen. Und viele dieser Meinungen sollten nicht einfach durch eine Vorgabe oder Aufsicht zunichte gemacht werden, sonst stirbt das Innovative in der Schule und wahrscheinlich auch die Freude am Beruf.

Ich denke, dass die SL keine pädagogische Richtung aufzwingen darf, vielmehr muss sich ein «pädagogischer Konsens», soweit dies möglich ist, im Rahmen des Kollegiums entwickeln. Diesen gilt es zu fördern, und, einmal gefunden, entsprechend zu vertreten. Das braucht in der Regel mehr Zeit, als eine «Pädagogik» vorzugeben, bringt aber Ruhe ins Kollegium, sicher mehr Zufriedenheit für die einzelnen Lehrkräfte und mehr Identifikation mit der Schule. Ausserdem muss der Schulleiter für die methodischen Freiheiten der Lehrkräfte einstehen.

Die Sache mit den unangenehmen Entscheidungen

Entscheide sollten, wenn sie schwierig sind und nicht sofort gefällt werden müssen, abtastend mit dem Kollegium vorbereitet werden, insbesondere in Fragen des Unterrichts. Im Bereich der Verwaltung und Organisation gibt es immer wieder ein paar Entscheide, die nicht immer von allen gutgeheissen werden – man denke zum Beispiel an die Stundenpläne. Wie viele Entscheide dies letztendlich waren, weiss ich nicht – ich denke einige wenige pro Schuljahr.

Wem schulde ich Loyalität? Den Eltern, dem Kollegium oder den Behörden?

Ich denke, dass es oft eine Gratwanderung ist, wenn man Loyalität auf Reformen und den verlängerten Arm der Bildungsverwaltung bezieht. Hier muss die SL moderierend wirken, nicht immer alles sofort weitergeben, ein wenig Zeit vergehen lassen, nicht sämtliche Reformen als Erste umgesetzt haben wollen. Suchen, wo es Spielraum gibt, Spielraum ausnützen und sich nicht beirren lassen.

Wenn sich die Loyalitätsfrage zu oft stellt, dann müsste ich mir überlegen, ob ich den Beruf hätte wechseln müssen.

In Einzelfällen habe ich damit aber kein Problem – wenn zum Beispiel offensichtlich zahlreiche Erfahrungen von älteren Kolleginnen und Kollegen nicht mehr zur aktuellen Schulsituation passen (zum Beispiel Reformen), dann darf, soll man dies auch kundtun oder moderater umsetzen, als es die Obrigkeit wünscht. Das hat in der Vergangenheit schon mal dazu geführt, dass ich nach Bern zitiert wurde.

Pflicht zum Widerstand ist immer dort nötig, wenn zum Beispiel auf die Pädagogik Einfluss genommen werden soll über die Finanzen – indem Budgetposten gekürzt werden. Pflicht zum Widerstand kann es geben bei reglementarischen Fragen, wenn beispielsweise die Ausgestaltung eines Funktionsdiagramms nicht vernünftig oder zeitgemäss ist, allenfalls sogar den gesetzlichen Spielraum nicht ausnützt.

Pflicht zum Widerstand kann auch entstehen in Anstellungsfragen gegenüber der Anstellungsbehörde, wenn diese nicht die Schulleitung ist.

Grundsätzlich muss jedoch, bevor es zum Widerstand kommt, das Gespräch gesucht und versucht werden, eine Lösung zu finden, die den Widerstand gar nicht erst aufkommen lässt – was insbesondere bei Vorgaben durch den Kanton natürlich nur bedingt möglich ist – aber selbst da, in ganz wenigen Fällen, so habe ich es erlebt, lassen sich die «Grenzen» aufweichen.

 

Urs Guggisberg

Schulleiter des OSZ-Orpund seit 2011, wird nächstes Jahr pensioniert.

 

 

 

 

 

 

The post Zur Schulleitungsdebatte: Der Neue in einem rebellischen Oberstufenzentrum first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2019/08/zur-schulleitungsdebatte-der-neue-in-einem-rebellischen-oberstufenzentrum/feed/ 0
Geleitete Schule 21: Ein Qualitätsschub? https://condorcet.ch/2019/08/geleitete-schule-21-ein-qualitaetsschub/ https://condorcet.ch/2019/08/geleitete-schule-21-ein-qualitaetsschub/#comments Mon, 19 Aug 2019 04:29:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=1984

Condorcet-Autor Felix Schmutz hat die Beiträge von Niels Anderegg (4.8.19) und Daniel Weibel (5.8.19) zur Schulleitungs-Problematik aufmerksam gelesen. Seine Analyse fällt kritischer aus.

The post Geleitete Schule 21: Ein Qualitätsschub? first appeared on Condorcet.

]]>
Niels Anderegg

Anknüpfend an die beiden Beiträge zum Thema Schulleitungen von Niels Anderegg

Daniel Weibel, Schulleiter

und Daniel Weibel1 ist die Frage erlaubt, was Schulleitungen aus kritischer Sicht bedeuten. Mit dem neuen Jahrtausend setzte sich eine Idee durch, die den Schulleitungen gemäss Volksschulgesetz BE von 2008 folgende Aufgaben zuweist: «die Personalführung, die pädagogische Leitung, die Qualitätsentwicklung und Evaluation, die Organisation und Administration sowie die Informations- und Öffentlichkeitsarbeit.»2

Während vorher administrativ-organisatorische Belange und die Umsetzung des pädagogischen Auftrags nach den Vorgaben der Lehrpläne und Stundentafeln das hauptsächliche Ressort der Schulleitungen waren, Unterricht und Klassenführung hingegen voll in der Verantwortung der Lehrpersonen lagen, treten jetzt eine neue Auffassung von Schule, eine engere Führung der Lehrpersonen und eine gezielte Einflussnahme auf ihr Handeln hinzu. Entsprechend wurden die Kompetenzen für die Einstellung und Beurteilung des Lehrpersonals von Laiengremien auf die Schulleitungen übertragen.

Bild:AdobeStock

Wozu diese neue Deutung der Schulleitungsaufgaben?

Als Ziel galt die allgemeine Forderung, «die Qualität der Schulen zu stärken»3. Niels Anderegg sieht darin eine Übernahme des Konzeptes «New Public Management» in die Bildungsorganisationen. New Public Management sollte die Arbeit der öffentlichen Dienste effizienter gestalten und die Zufriedenheit der Kunden fördern. Im Schlussbericht der PH Bern sind denn auch «Zufriedenheit» und «Selbstwirksamkeit» die zentralen Messwerte, allerdings nicht etwa der Schülerinnen und Schüler oder deren Eltern, sondern die Zufriedenheit der Lehrpersonen. Daraus muss man schliessen, dass unter «Schulqualität» gar nicht mehr der Bildungsauftrag und der Lernerfolg, sondern die Arbeitsweise der Lehrpersonen am Standort Schule gemeint ist, in der Hoffnung, wenn man Letzteres aufmöbelt, werde Ersteres automatisch auch besser.

Was ist eine «gute Schule»?

Zur Frage, was eigentlich eine gute Schule sei, äussert Anderegg seine persönliche Meinung: «Persönlich ist eine «gute Schule» für mich eine Schule, in welcher Kinder und Jugendliche sich bilden können, in denen sie als Personen akzeptiert und gestärkt werden, wo sie eine gute Zeit erfahren und Wesentliches für ihr Leben mitnehmen.»4 Diese Formulierung können wohl alle bedenkenlos unterschreiben.

Wie aber ist das konkret zu verstehen? Dies zeigt beispielsweise das «Handbuch Schulqualität» der Bildungsdirektion des Kantons Zürich von 2011.5 Das Werk beschreibt akribisch, wie das Handeln in den Schulen organisiert, durchgeführt, verändert, evaluiert und reflektiert werden muss, um das Prädikat «gut» zu erhalten, wobei eine «allgemeine Beurteilungsmatrix» die Qualität in vier Stufen von «defizitär» bis «exzellent» näher umreisst.

Was fällt bei der Lektüre des Handbuches auf?

  1. Die Fülle an Kriterien, die erdrückende Menge an floskelhaften Begriffen aus dem Bildungsjargon, die vielfältigen Ansprüche bei gleichzeitig straffer Zielorientierung scheinen in den Augen des Praktikers jedes Handeln zu lähmen und zu ersticken, wollte man ihnen getreu nachleben. Und doch bleibt vieles derart abstrakt, dass es interpretiert werden muss, was je nach Gesinnung der Urteilenden zu unterschiedlichen Bewertungen führen wird.
Bikd: AdobeStock

Beispiel für solch verallgemeinernde Aussagen aus der Beurteilungsmatrix: «Konzeptuelle Regelungen wichtiger Abläufe, dadurch koordinierte Praxis und gemeinsame Ressourcennutzung.»6

  1. Den einleitend genannten Rahmenbedingungen und deren Qualität widmet das Handbuch kein Kapitel. Damit wird stillschweigend impliziert, dass die pädagogischen Vorgaben, die finanziellen und personalen Ressourcen, die Instanzen der Bildungsdirektion über jede Qualitätskontrolle erhaben sind, dass deren Wirken nicht hinterfragbar ist. Gut kann nur sein, wer sich den zufällig geltenden, den politischen Moden und Sachzwängen unterliegenden Vorgaben optimal anpasst. Von der Schule wird erwartet, dass sie «exzellente» Ansprüche erfüllt, ungeachtet der von oben diktierten Bildungspolitik, und mit ihren Schülerinnen und Schülern die hochgesteckten Ziele erreicht. Scheitern können nur die Schule und die Schulleitung, nicht aber die Bildungspolitik und deren Exponenten mit den Rahmenbedingungen, die sie setzen.
  2. Die Qualitäten der Unterrichtsführung werden unauflöslich verquickt mit dem Gemeinschaftsgedanken. Gut kann Unterricht nur sein, wenn die Zusammenarbeit unter den Lehrpersonen als quasi klösterlich reguliertes Gemeinschaftsleben unter dem Credo eines Leitbildes, einer «Vision», gesinnungseinheitlich funktioniert. Ein Gemeinschaftsgefühl muss entstehen, bei dem jeder jeden unterstützt, alle freudig, konsequent und einsichtig die Vorgaben erfüllen, die Schulleitung die Lehrpersonen in stärkender Weise stützt, ein Gemeinschaftsgefühl, das auch die gesamte Schülerschaft erfasst, das alle Stürme in sich auffangen kann und das nach aussen strahlt. Ein solches «Schulklima» erbringe die besten Leistungen, meint das Handbuch. Verantwortlich dafür sind die Schulleitungen.7 Unschwer ist zu erkennen, dass hier die Theorie der «Organisationsentwicklung» Pate gestanden hat. Allerdings: Empirische Belege für den kausalen Zusammenhang zwischen Gesinnungseinheit der Lehrpersonen und Lernerfolg der Schülerschaft sucht man im Handbuch vergeblich.
  3. Die Stellung der Lehrperson wird gänzlich umgedeutet. Die Schulleitung sorgt für ständige Weiterbildung im Team. «Neue Erkenntnisse» der Pädagogik und Didaktik sollen laufend in den Unterricht übernommen werden. Die fachlich, didaktisch und methodisch ausgebildete Lehrperson erscheint in dieser Vorstellung entmündigt. Sie muss offenbar ständig an der Hand genommen und angeleitet werden, da man sie in der «guten Schule» nicht für fähig hält, in eigener Verantwortung ihre Berufskenntnisse à jour zu halten, sei es durch eigenes Studium, durch gemeinsames Erarbeiten im Fachkollegium oder durch den Besuch von Kursen. Sie kann auch nicht mehr selbst entscheiden, welche «Erkenntnisse» sinnvoll sind und welche nicht. Die Schulleitung nimmt ihr die Bürde einer eigenen Meinung ab. In der «lernenden Organisation» wird die einzelne Lehrperson zur Marionette degradiert.
  4. Der Zwang zur ständigen Reflexion durchzieht das Handbuch wie ein roter Faden. Die Lehrenden und die Lernenden sollen jeden ihrer Schritte «reflektieren»: Evaluationen, Lernkontrollen, Portfolios, Qualitätsmanagement, Reflexionsgruppen sind die Instrumente, die das schulische Leben einer dauernden Gewissensprüfung unterziehen sollen, wenn man das Ideal einer «guten Schule» anstrebt. Das Handeln der Lehrpersonen unterliegt einem generellen Misstrauen, dem diese mit einem an pietistische Selbstgeisselung grenzenden Eifer begegnen müssen, indem sie sich ständig Verbesserungsziele setzen. Mit einem nüchternen, selbstkritischen Blick auf den eigenen Unterricht, dessen Ziele längst feststehen, hat dies nichts mehr zu tun.
  5. Unter den Parametern, die «guten» Unterricht beschreiben, spielt die «Selbststeuerung» der Lernenden eine grosse Rolle. Gut ist ein Unterricht, in dem sich Lernende das Wissen und Können eigenverantwortlich selbst beibringen, obwohl diese Theorie von der Lernforschung längst widerlegt ist.8 Damit wird auch die Rolle der Lehrenden als «Coaches» festgeschrieben. Gut ist ein Unterricht, der zur Selbststeuerung hinführt und die Aktivität des Vermittelns überflüssig macht. Wehe, da wagt noch jemand, Kindern etwas zu zeigen oder zu erklären oder mit Lerngruppen etwas gemeinsam zu erarbeiten! Das wäre defizitär! Selbststeuerung tritt an die Stelle der früheren «Autonomie». Autonomie würde den freien Willen einschliessen. Dieser ist jedoch nicht erwünscht. Erwünscht ist eigenständiges Funktionieren zur Erlangung definierter Kompetenz.
  6. Die grossen Unbekannten in diesem Handbuch sind die Schülerinnen und Schüler, denen die Bemühungen gelten sollen. Sie erscheinen als eine gleichförmige, alterslose, sozialneutrale, entpersönlichte Manipuliermasse, an der das organisatorische Experiment «gute Schule» vollzogen wird. Lediglich in der Rubrik Querschnitts- und Spezialthemen werden Kinder mit besonderen Bedürfnissen erwähnt und weitere Forderungen an qualitativen Massnahmen erhoben. Das passt jedoch in das vorherrschende Konzept, dass Schulbildung in jedem Fall machbar ist, dass erfolgreiche Schüler(innen) produzierbare Einheiten darstellen.

Die sieben Punkte stützen meine These, dass eine «gute Schule» unter den Fittichen einer entsprechend instruierten «Schulleitung» eben nur gut sein kann, wenn bestimmte ideologisch begründete Vorannahmen kritiklos akzeptiert werden. Das Handbuch begründet nichts, es legt die Kriterien in Form von autoritären Setzungen einfach fest. Wenn Erziehungsbehörden verkünden, die Methodenfreiheit der Lehrpersonen werde durch den Lehrplan 21 nicht angetastet, ist dies ein reines Lippenbekenntnis, mit dem verschwiegen wird, dass mit «geleiteten und guten Schulen» die Methodenfreiheit sich noch darauf beschränkt, ob die Lehrperson mit einem grünen oder einem roten Pullover zum Unterricht erscheinen darf.

Fazit: Das Konzept «gute Schule» propagiert gemäss Handbuch

  • willkürlich deutbare Qualitätsformulierungen
  • eine unkritische Fügsamkeit gegen alles, was von oben verfügt wird
  • die Ideologisierung und Gleichschaltung des unterrichtlichen Handelns
  • die Entmündigung der Lehrperson als selbstständige Fachkraft
  • die Zelebrierung der Reflexion
  • die Selbststeuerung des Lernens und
  • die Entmenschlichung der Lernenden zu selbstregulierten Artefakten

Stillschweigend wird angenommen, dass eine Schule mit den genannten Attributen die Schülerschaft punkto Zufriedenheit, Leistung und Karriere am besten fördert.

Ist dies wirklich so?

Bild: Wikiped

Hattie präsentiert in seiner Studie «Visible Learning» eine Rangfolge der Parameter für erfolgreiches Lernen. Auf den ersten 49 Plätzen fungieren Merkmale, die den Unterricht in der Klasse und die Beziehung Lehrperson – Schüler(in) betreffen: Feedback, Klassenführung, Klarheit, methodisches Repertoire, Fachkompetenz der Lehrperson, Peer-Einflüsse, etc. Erst auf Platz 74 von 134 Items erscheint der Einfluss der Schulleitung.9

Fairerweise muss angemerkt werden, dass der Einfluss der Schulleitung bei den Unterrichts- und Klassenführungsfaktoren indirekt wirksam sein kann. Jedoch hängt die Effizienz des Lernens von der konzentrierten Arbeit und der Interaktion im Unterricht ab, wo Lehrpersonen stark bestimmend und präsent sein müssen. Im Gegensatz zu den Deskriptoren des Zürcher Handbuches sind Hatties Faktoren mit über 8’000 Metastudien belegt.

Hattie unterscheidet zwei Führungsstile von Schulleitungen:

  1. der unterrichtsbezogene Stil, der dafür sorgt, dass Bedingungen herrschen, die den Lehrpersonen ein störungsfreies, konzentriertes und kompetentes Arbeiten mit der Klasse ermöglichen,
  2. der transformationale Stil, der auf Zusammenarbeit, Wertegemeinschaft, Schulentwicklung, ehrgeizige Ziele setzt.

Unschwer ist zu erkennen, welcher Stil vom Handbuch zur «guten Schule» angestrebt wird, nämlich der transformationale. Der Schlussbericht der Berner PH nennt denn auch den transformationalen Stil den vorherrschenden im Kanton.

Nach Hattie sind die Effekte der unterrichtsbezogenen Führung jedoch signifikant höher als diejenigen der transformationalen Führung. Wörtlich:

«Robinson et al. mutmassen, dass der generische Charakter der transformationalen Führung und die Konzentration auf die Beziehungen zwischen Leitenden und ihren Mitarbeitenden, statt auf deren Arbeit, das Lernen und Lehren zu verbessern, verantwortlich für dessen schwächeren Effekt auf Schüler-Outcomes sind.»10

Aus obigen Ausführungen erhellt, dass «Schulleitungen», «gute Schule», «autonome Schule» Konzepte sind, die der Theorie der Organisationsentwicklung verpflichtet sind. Sie sollen nicht einen Qualitätsschub der Unterrichtspraxis bewirken, sondern die Übernahme von ideologisch motivierten Hypothesen. Diese können jedoch empirisch nicht halten, was sie versprechen. In Wahrheit ist die «gute Schule» der Versuch von Durchsetzung einer einheitlichen Doktrin, die «Schulleitungen» sind die Vollstrecker. Der Qualitätsbegriff verspricht «erfolgreiches Lernen», meint jedoch in Wirklichkeit «Einschwören des Lehrpersonals auf eine bestimmte Gesinnung», von der man annimmt, sie bringe das schulische Heil.

Damit soll nun nicht behauptet werden, dass ein erspriessliches Schulklima, eine vernünftige Zusammenarbeit nicht wichtig sei. Ein partizipatives Zusammenwirken ist ein entscheidendes Agens im schulischen Alltag. Allerdings muss die Fachkompetenz, die Methodenfreiheit, die eigene Meinung, der persönliche Charakter der einzelnen Lehrperson unangetastet bleiben. Schulleitungen dürfen nicht in die Unterrichtshoheit der Lehrkräfte eingreifen. Im Gegenteil: Die Unterschiede bereichern eine Schule, Gleichschaltung hingegen entmündigt, macht Schule farblos. Gesinnungsmässig verpflichtende Grundlage sind die Bundesverfassung und der Bildungsauftrag der Kantonsverfassungen. Die öffentliche Schule muss jedoch innerhalb dieses Rahmens die kulturelle und politische Vielfalt der Gesellschaft abbilden, sie muss den Wissenschaften verpflichtet bleiben und darf sich nicht einseitigen Gesinnungen und unverifizierbaren Theorien verschreiben.

 

1 Anderegg, Niels: Schulleitung an der Volksschule – eine Erfolgsgeschichte?, Condorcet.ch, 04.08.2019 und Weibel, Daniel: Geleitete Schule – eine Erfolgsgeschichte? Ein persönlicher Rückblick, Condorcet.ch, 05.08.2019
2 Windlinger, R.; Hostettler, U.; Kirchhofer, R.: Forschungsprojekt Schulleitungshandeln, Schulkontext und Schulqualität, Schlussbericht. PH Bern, http://p3.snf.ch/Project-136877 © 2014, S. 6
3 Anderegg, ebd.
4 Anderegg, ebd.
5 Bildungsdirektion Kanton Zürich; Bucher, Beat; Degen, Muriel; Fischer, Sabine: Handbuch Schulqualität, Qualitätsansprüche an die Volksschulen des Kantons Zürich. 2011.
6 Ebd. Kapitel 3.1
7 Der Schulleitungsforscher Martin Bonsen beschreibt dies so: «Aufgabe der Schulleitung ist dabei die Zusammenarbeit und gemeinsame Identifikation der Lehrkräfte mit einer ‹gemeinsamen Mission› oder ‹Vision› zu fördern. Um dieser schließlich tatsächlich näher zu kommen, muss sich die Schule als ‹lernende Organisation› entwickeln.»
8 Kirschner, Paul A.; Sweller, John; Clark, Richard E.: Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work: An Analysis of the Failure of Constructivist, Discovery, Problem-Based, Experiential, and Inquiry-Based Teaching. EDUCATIONAL PSYCHOLOGIST, 41(2), 2006, pp. 75–86
9 Hattie, John: Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler 2013
10 Ebd., S. 99

The post Geleitete Schule 21: Ein Qualitätsschub? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2019/08/geleitete-schule-21-ein-qualitaetsschub/feed/ 1
Schulleitung an der Volksschule – eine Erfolgsgeschichte? https://condorcet.ch/2019/08/schulleitung-an-der-volksschule-eine-erfolgsgeschichte/ https://condorcet.ch/2019/08/schulleitung-an-der-volksschule-eine-erfolgsgeschichte/#comments Sun, 04 Aug 2019 12:54:47 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1868

Als die NZZ in einem kritischen Beitrag die Rolle der Schulleitungen und der Behörden durchleuchtete, reagierte die PH-Zürich mit einem Beitrag, in welchem sie auf die vielen Schulleitungen verwies, die recht gut funktionierten. Eine der Autoren war Niels Anderegg. Die Redaktion des Condorcet-Blogs bat Herrn Anderegg daraufhin um einen Gastbeitrag.

The post Schulleitung an der Volksschule – eine Erfolgsgeschichte? first appeared on Condorcet.

]]>
Niels Anderegg Bild:PHZH

Um die Jahrtausendwende wurden weltweit die Schulleitungen gestärkt. Während in vielen Ländern die Schulleitungen mehr Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten erhielten, wurden sie in der Schweiz an der öffentlichen Volksschule erst eingeführt. Riveros, Verret, und Wei (2016) sprechen dann auch vom «Leadership Turn of School Reform». Die Absicht der Stärkung der Schulleitung war die Qualität der Schulen zu stärken. Man ging davon aus, dass, wenn die Entscheidungskompetenzen der Einzelschule erhöht und die Schulen dadurch eine höhere Autonomie – im Kanton Zürich sprach man damals dann auch von den Teilautonomen Volksschulen – haben, die Qualität der Schulen sich verbessert. «New Public Management» war das Schlagwort der Zeit.

Im Kanton Zürich haben wir im letzten Sommer das 20-Jahr-Jubiläum der geleiteten Schulen «gefeiert»[1]. Vor 20 Jahren sind die ersten Volksschulen im Kanton Zürich im Rahmen des Schulversuches «Teilautonome Volksschule (TaV)» gestartet und das Projekt war so erfolgreich, dass immer mehr Schulen dazu genommen werden mussten. 10 Jahre später, nach der Annahme des Volksschulgesetzes und einer Übergangsfrist, mussten alle Volksschulen im Kanton Zürich geleitet sein. Seither gilt die geleitete Schule als Erfolgsgeschichte und es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass junge Lehrpersonen (und auch viele erfahrene) sich heute eine Schule ohne Schulleitung nicht mehr vorstellen können. Doch ist die geleitete Schule tatsächlich eine Erfolgsgeschichte? Ich möchte die Frage an vier Punkten kritisch beleuchten und tue dies gerade nicht, weil ich gegen Schulleitungen bin. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass die geführte Schule ein wesentliches Element einer «guten Schule»[2] sein kann. Ich erachte es jedoch – gerade auch als Wissenschaftler – als wichtig, dass Diskurse immer auch wieder kritisch betrachtet und Reformen nach ihrer Wirkung und Rhetorik befragt werden, wobei ich den Begriff der Wirkung sehr breit verstehe.

Der Kanton Zürich war nicht der erste und auch nicht der innovativste Kanton, der die geleiteten Schulen eingeführt hatte.

[1] Der Kanton Zürich war nicht der erste Kanton, der mit geleiteten Schulen gestartet ist und war auch nicht der innovativste in diesem Bereich. Luzern beispielsweise war für viele Kantone lange Zeit Vorbild (Büeler, Buholzer und Roos 2005). Dass hier auf Zürich referenziert wird, hat mit meinem Arbeits- und Forschungsschwerpunkt zu tun, wobei wahrscheinlich das meiste sinngemäss auf die meisten Kantone der deutschsprachigen Schweiz übertragen werden kann.

Persönlich ist eine «gute Schule» für mich eine Schule, in welcher Kinder und Jugendliche sich bilden können, in denen sie als Personen akzeptiert und gestärkt werden, wo sie eine gute Zeit erfahren und Wesentliches für ihr Leben mitnehmen.

[2] Ich setze die Begriffe «gute Schule» und «schlechte Schule» in Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass die «gute» bzw. «schlechte» Schule eine normative Setzung und dadurch relativ ist. Ich bin überzeugt, dass es nicht die «gute Schule» gibt, sondern dass sehr viele Schulen gut sind. Persönlich ist eine «gute Schule» für mich eine Schule, in welcher Kinder und Jugendliche sich bilden können, in denen sie als Personen akzeptiert und gestärkt werden, wo sie eine gute Zeit erfahren und Wesentliches für ihr Leben mitnehmen.

Erster Punkt: Warum untersucht niemand die Wirkung der geleiteten Schulen?

Es ist für mich sehr erstaunlich, dass, nach den verschiedenen Evaluationen in der Projektphase, die geleiteten Schulen nicht nach ihrer Wirkung untersucht werden. Mit der Einführung der geleiteten Schulen investiert der Staat zusätzliches Geld ins Bildungssystem und schon aus rein ökonomischen, aber auch aus pädagogischen Gründen muss man sich die Frage stellen, ob dieses Geld wirklich sinnvoll investiert ist.

Ich bin mir sehr bewusst, dass die Erforschung der Wirkung von Schulleitungen hochkomplex ist und vielleicht wissenschaftlich auch nie auf eine befriedigende Art und Weise untersucht werden kann. Es gibt weltweit viele Untersuchungen, welche beispielsweise den Einfluss der Schulleitung auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler untersucht haben (bspw. Bell, Bolam, und Cubillo 2003, Day et al. 2009, Hallinger 2011, Witziers, Bosker und Krüger 2003, Robinson 2011). All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie Wirkung immer sehr eingeengt – meist in Form von Testleistungen von Schülerinnen und Schülern – messen. An solchen Untersuchungen kann leicht kritisiert werden, dass die Qualität einer Schule nicht allein daran gemessen werden kann, wie hoch im Durchschnitt die Leistungsresultate der Schülerinnen und Schüler sind. Auch wenn viele der bisherigen Untersuchungen noch zu keinen wirklich aussagekräftigen Resultaten gekommen sind, so heisst das nicht, dass die Wirkung der geleiteten Schule nicht untersucht werden sollte.

Bild: AdobeStock

Zweiter Punkt: Ist die Schulleitung Garant für eine hohe Schulqualität?

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich immer von «die Schulleitung kann …» geschrieben habe. Aus meiner persönlichen Erfahrung und Begegnungen mit vielen Schulen und Schulleitungen, aber auch aus den Resultaten der externen Schulevaluation kann aufgezeigt werden, dass eine geleitete Schule per se nicht eine bessere Schule ist. Ich kenne hervorragende Schulen mit ausgezeichneten Schulleitungen und kann – auch wissenschaftlich (Schratz et al. 2019) – aufzeigen, welchen Anteil die Schulleitung am Erfolg dieser Schule hat. Gleichzeitig kenne ich auch Schulleitungen, bei denen es mich nicht wundert, dass die Schulen nicht aus der Problemzone herauskommen. Und dann gibt es Schulen, deren Leitung mich überzeugen, und trotzdem sind die Schulen nicht erfolgreich und umgekehrt. Kurzum: Mir ist schon ziemlich alles begegnet und nicht immer verstehe ich, warum was wie funktioniert oder nicht funktioniert. Schulen sind hochkomplexe Organisationen und den Erfolg auf eine Person oder Personengruppe zu reduzieren ist nicht legitim.

Führung ist ein sozialer Prozess

Führung wird heute nicht mehr als die Eigenschaft einer Person oder die Interaktion der einen Person mit einer anderen Person verstanden. Führung ist ein sozialer Prozess, in dem verschiedene Akteure in immer anderen Situationen miteinander verbunden sind. Keine Person kann eine andere Person führen, sondern Führung steht immer zwischen den Menschen. Führung braucht immer jemand, der sich führen lässt. Dabei kann, wer sich führen lässt, sehr unterschiedliche Motive haben: Sinnhaftigkeit, Macht, Kompetenz, Lohn/Geld, Gewalt, etc. Auf die Frage der Schulleitung gemünzt heisst dies, dass es keinen erfolgreichen Schulleiter, keine erfolgreiche Schulleiterin geben kann. Wenn wir über die Qualität von Führung sprechen, dann müssen wir vom System mit seinen Akteuren und nicht von der Person der Schulleitung sprechen. Leider sind wir häufig noch bei der «Great-Man-Theory». Es wäre Zeit, damit aufzuhören und Führung plural zu verstehen. Ich komme im letzten Punkt darauf zurück.

Dritter Punkt: Warum sprechen wir nicht von den «schlechten Schulen»?

Wenn in der Presse und auf Podien über das Dafür und Dagegen von Schulleitungen geschrieben oder gesprochen wird, dann werden immer «gute Schulen» für und «schlechte Schulen» gegen die Schulleitungen verwendet. Ich halte dies für problematisch. Einerseits weil damit wieder die «Great-Man-Theory» kolportiert wird. Aber auch, weil ich meine, dass wir gerade bei «schlechten Schulen» genauer hinschauen sollten. Ich freue mich, wenn «gute Schulen» noch besser werden. Staatspolitisch und pädagogisch ärgert es mich aber, dass wir «schlechte Schulen» haben und es Schülerinnen und Schüler gibt, welche das Pech haben, diese Schulen besuchen zu müssen[1]. Umso mehr als auch bei uns in der Schweiz der sozioökonomische Status der Eltern darüber entscheidet, ob die Kinder durch Wegzug oder Privatschule eine andere Schule besuchen können oder an der Schule bleiben müssen.

Bildungspolitisch halte ich es für hochrelevant, dass wir auf die «schlechten Schulen» schauen und dort etwas für die Qualitätsverbesserung tun.

Bildungspolitisch halte ich es für hochrelevant, dass wir auf die «schlechten Schulen» schauen und dort etwas für die Qualitätsverbesserung tun. Und hier kann Führung einen wesentlichen Beitrag leisten. Wie Sarah Mahler (2016) in ihrer Dissertation aufzeigen konnte, kann eine Person, welche Führung und Verantwortung übernimmt, in einer «schlechten Schule» den Aufschwung der Schule massgeblich beeinflussen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person, welche die Führung und Verantwortung übernimmt, Schulleiterin, Lehrperson oder Behördenmitglied ist. Wesentlich ist, dass sie öffentlich anerkennt, dass die Schule ein Qualitätsdefizit hat und etwas dagegen unternehmen will.

Zeichnung: api

Vierter Punkt: Welche Form von Führung meinen wir?

Im Kanton Zürich – aber wahrscheinlich auch in vielen anderen Kantonen in der deutschsprachigen Schweiz – stehen wir aus meiner Sicht vor einer entscheidenden Frage: Welche Form von Führung wollen wir? In der vorbereitenden Kommission des Kantonsrats wird zurzeit über eine Vorlage diskutiert, welche den Schulleitungen mehr Kompetenzen geben und gleichzeitig die Organisationsform der Schulführung den Gemeinden freistellen will. Unter dem Begriff «Leitung Bildung» soll es den Gemeinden erlaubt sein, eine Gesamtschulleitung einzurichten und dieser die Schulleitungen zu unterstellen.

Die Ausgangsfrage ist eigentlich eine einfache. Aber eben nur eigentlich: Für mich steckt dahinter die Entscheidung, welche Form von Führung wir für unsere Schulen wollen. Mit der Einführung einer «Leitung Bildung» führen wir an den Schulen eine weitere Hierarchiestufe ein und zementieren damit die bürokratische Organisationsvorstellung, welche an vielen Schulen, Hochschulen und Verwaltungen vorherrscht.

Schulen als Expertenorganisationen brauchen aber gerade keine bürokratische Organisation, sondern eine plurale Sicht auf Führung.

Schulen als Expertenorganisationen brauchen aber gerade keine bürokratische Organisation, sondern eine plurale Sicht auf Führung. Lehrpersonen, Schulleitung, Schulverwaltung und viele mehr sind Expertinnen und Experten ihres Bereiches und plurale Führung meint, dass sie in den Bereichen, wo sie Expertise haben, auch Führung und Verantwortung übernehmen. So kann eine Lehrperson – man spricht von einem Teacher Leader – in einem Bereich, in dem sie oder er eine hohe Kompetenz hat, für diesen Bereich Führung und Verantwortung übernehmen. So kann es beispielsweise an einer Schule eine Lehrperson geben, welche sich mit dem Themenfeld der Nachhaltigen Entwicklung oder Digitalisierung intensiv auseinandersetzt. Dann ist es doch nur klug, dieser Personen die Führung und Verantwortung für diesen Unterrichtsbereich zu geben und sie mit der Weiterentwicklung an der Schule zu betrauen. Andere Lehrpersonen haben andere Expertisen, welche sie als Teacher Leader in die Schule einbringen. Führung kann aber auch von einer Gruppe übernommen werden. So können beispielsweise verschiedene Lehrpersonen und Heilpädagoginnen und -pädagogen als professionelle Lerngemeinschaft die Verantwortung für alle Schülerinnen und Schüler übernehmen und gemeinsam entscheiden, wie sie Ressourcen einsetzen, wer wann wo wie unterrichtet, wer welche Weiterbildung besuchen soll etc.
Die Aufgabe einer Schulleitung in einem solchen Führungsverständnis ist nicht hierarchisch, sondern systemisch. Sie ist dafür verantwortlich, dass zusammen mit allen Beteiligten immer wieder geklärt wird, was die Schule unter einer «guten Schule» versteht, dass die Rahmenbedingungen ebenso geklärt sind wie all die Aspekte, welche für die Schule wichtig sind. Im Kern geht es darum, dass die beteiligten Personen sich stärken und nicht schwächen. Eine Lehrerin hat dies in einem Interview treffend formuliert. Sie meinte, dass das Schöne an ihrer Schulleitung sei, dass die Lehrerin «ihr Ding machen» könne und sich nicht um das Ganze kümmern müsse. Dies mache die Schulleitung, und das sei sehr entlastend.

Die Schulleitung eine Erfolgsgeschichte?

Ich habe als Forscher das Glück, dass ich viele «gute Schulen» kenne und einen vertiefenden Einblick in diese Schulen nehmen konnte und weiterhin kann. Ich bin überzeugt, dass die Qualität dieser Schulen viel mit Führung zu tun hat. Umso mehr würde ich mir wünschen, dass wir – gerade auch in der deutschsprachigen Schweiz – einen konstruktiv-kritischen Diskurs über die Führung von Schulen führen. Ich bin überzeugt, dass uns dieser weiterhilft. Das Ziel muss sein, dass alle Schülerinnen und Schüler eine «gute Schulen» besuchen können.

 

Literatur

Bell, L., R. Bolam und L. Cubillo. 2003. A Systematic Review of the Impact of School Headteachers and Principals on Student Outcomes. London: University of London, Institut of Education.

Büeler, Xaver, Alois Buholzer und Markus Roos. 2005. Schulen mit Profil. Forschungsergebnisse, Brennpunkte, Zukunftsperspektiven. Innsbruck: Studienverlag.

Day, Christopher, Pam Sammons, David Hopkins, Alma Harris, Kenneth Leithwood, Quin Gu, Eleanor Brown, Elpida Atharidou und Alison Kington. 2009. The Impact of School Leadership on Pupil Outcomes. Final Report. Nottingham: University of Nottingham.

Hallinger, Philip. 2011. “Leadership for Learning: lessons from 40 years of empirical research.”  Journal for Educational Administration 49 (2): 125-142.

Mahler, Sara. 2016. Turnaround und Organisationales Lernen im Bildungssystem. Zur Entwicklung von Schulen mit gravierenden Defiziten im Bereich der Prozessqualitäten. PhD, Philosophisch-historische Fakultät, Universität Basel.

Riveros, Augusto, Carolyne Verret und Wei Wei. 2016. “The translation of leadership standards into leadership practices. A qualitative analysis of the adoption of the Ontario Leadership Framework in urban schools.”  Journal of Educational Administration 54 (5): 593-608.

Robinson, Viviane. 2011. Student-Centered Leadership. San Francisco: Jossey-Bass.

Schratz, Michael, Markus Ammann, Veronika Möltner, Werner Mauersberg, Niels Anderegg, Malte Gregorzewski und Alexander Bergmann. 2019. Von den Besten lernen. Lernwirksames Schulleitungshandeln an ausgezeichneten Schulen des Deutschen Schulpreises. Facetten von Schulleitungshandeln. Innsbruck: Universität Innsbruck.

Witziers, Bob, Roel Bosker und Meta Krüger. 2003. “Educational Leadership and student achievement: the elusive search for an association.”  Educational Adminstration Quarterly 39 (3):398-425.

 

Niels Anderegg

 

Niels Anderegg leitet an der Pädagogischen Hochschule Zürich das Zentrum Management und Leadership, welches für die Aus- und Weiterbildung, Beratung, Begleitung von Führungspersonen in Bildungsorganisationen und Forschung im Bereich Schulführung verantwortlich ist. Seine Schwerpunkte in der Forschung und Lehre sind Pädagogische Schulführung, Inklusion und Teacher Leadership.

 

[1] Den Hinweis, dass wir in der Schweiz gerade deshalb eine freie Schulwahl benötigen, halte ich für falsch. Unser Schulsystem hat eine hohe gesellschaftliche Integrationskraft und das Problem «schlechter Schulen» lösen wir nicht durch Schulwahl, sondern mit Arbeit an den Schulen. Das Ziel kann nicht sein, dass «schlechte Schulen» keine Schülerinnen und Schüler mehr haben, sondern dass wir nur «gute Schulen» haben.

The post Schulleitung an der Volksschule – eine Erfolgsgeschichte? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2019/08/schulleitung-an-der-volksschule-eine-erfolgsgeschichte/feed/ 4