Felix Schmutz - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 24 Jan 2020 08:26:31 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Felix Schmutz - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Politische Bildung: Zuerst die Missverständnisse ausräumen, dann debattieren! https://condorcet.ch/2020/01/politische-bildung-zuerst-die-missverstaendnisse-ausraeumen-dann-debattieren/ https://condorcet.ch/2020/01/politische-bildung-zuerst-die-missverstaendnisse-ausraeumen-dann-debattieren/#respond Fri, 24 Jan 2020 05:22:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=3684

Georg Geigers Artikel "Politische Bildung: Sich um die Welt als Ganzes Sorgen machen" hat in unserem Autorenkreis eine lebhafte Debatte ausgelöst. Mit einigen Aussagen ist der Autor nicht einverstanden, und auf diverse Kritiken antwortet er in seiner Replik, die wir hier gerne veröffentlichen.

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Am 6. Januar ist von mir ein Beitrag unter dem Titel „Politische Bildung: Sich um die Welt als Ganzes Sorgen machen“ erschienen. Die Condorcet-Redaktion hat dann direkt unter dem Titel noch eine verwirrende Frage dazugesetzt: “Soll ein Fach ‘Politische Bildung’ eingeführt werden, wie die Historikerin Béatrice Ziegler fordert? Condorcet-Autor Georg Geiger ist skeptisch.” Einspruch, Euer Ehren. Gegenüber der Einführung dieses Faches bin ich nicht skeptisch, denn an meiner Schule (lieber Leser, liebe Leserin, leider darf ich gemäss einer Weisung meiner Vorgesetzten nicht öffentlich sagen, an welcher Schule ich genau unterrichte. Es ist mir nur gestattet zu verraten, dass ich an einem der fünf Basler Gymnasien unterrichte …) habe ich selbst massgeblich an der Erarbeitung eines entsprechenden Lehrplanes mitgewirkt, und ich habe dieses Wahlpflichtfach, das als Doppelstunde während eines halben Jahres im zweitletzten Jahr vor der Matur angeboten wird, bereits zweimal durchgeführt.

Gegenüber der Einführung dieses Faches bin ich nicht skeptisch, wie Alain Pichard behauptete.

Skeptisch bin ich nur, dass Frau Ziegler der Meinung ist, dass nur Lehrkräfte mit einer speziellen didaktischen Zusatzausbildung Politische Bildung unterrichten sollten. Die Fachhochschule verteidigt so einfach ihre Vormachtstellung und will, dass auch in diesem neuen Fach niemand an der Fachhochschule vorbeikommt. Ich finde, dass alle politisch interessierten LehrerInnen, die ja in ihren Fachausbildungen didaktisch bereits geschult worden sind, kompetent genug sind, als Citoyen und Citoyenne die Jugendlichen in aktuelle politische Zusammenhänge einzuführen.

Dieses interdiszipläne Hybridfach RZG („Räume, Zeiten, Gesellschaften“) ist eine Pfuscherei und die SchülerInnen in der Volksschule sind die Leidtragenden.

Skeptisch bis ablehnend dagegen bin ich gegenüber der Situation auf der SekI-Stufe, denn dort wird nicht über die Einführung eines zusätzlichen Angebotes “Politische Bildung” verhandelt, sondern dort hat man bekanntlich die bisher mit je zwei Jahresstunden dotierten Fächer Geschichte und Geographie zusammengelegt und dabei eine Jahresstunde gestrichen. Und man akzeptiert stillschweigend, dass eines von den beiden Teilfächern oft fachfremd unterrichtet wird. Für die Schülerinnen und Schüler, die mit 16 Jahren definitiv aus der Schule in die Berufswelt wechseln, bedeutet dies eine klare Verschlechterung im Zusammenhang mit dem politischen Grundwissen. Dieses interdiszipläne Hybridfach RZG („Räume, Zeiten, Gesellschaften“) ist eine Pfuscherei und die SchülerInnen in der Volksschule sind die Leidtragenden.

Felix Schmutz, BL:
Schülerparlamente sind verkrampfte Alibi-Übungen.

Am 13. Januar hat Felix Schmutz kritisch Stellung genommen zu meinem Beitrag. Er fragt sich darin, wie sich Politische Bildung und das Grundlagenfach Geschichte auf der SekII zueinander verhielten. Ganz einfach: An meiner Schule müssen die SchülerInnen ein Projekt abliefern, das benotet wird. Diese Einzelnote fliesst dann entweder in die Jahresnote für Geschichte, Wirtschaft+Recht oder Geographie, je nachdem, welche Lehrkraft Politische Bildung gerade unterrichtet.

Schülerparlamente sinnvoll?

Dann unterstellt mir Felix Schmutz, dass ich auf der SekI politische Bildung interdisziplinär anbieten möchte. Von Schülerparlamenten, “die meist krampfhaft von Lehrpersonen am Leben erhalten werden müssen”, hält er nicht viel, denn das Ganze sei oft eine reine “pädagogische Alibiübung von Erwachsenen”. In der Volksschule soll man kein neues Fach einführen, da bin ich genau gleicher Meinung wie Du, lieber Felix Schmutz. Aber man soll Geschichte und Geographie wieder zu zwei eigenständigen Fächern mit je zwei Jahresstunden aufwerten, dann hat dort vielleicht auch so etwas wie Politische Bildung ein bisschen Platz! Und SchülerInnen-Parlamente halte ich nur dann für eine krampfhafte Alibi-Übung, wenn es dort nichts Reales zu besprechen und zu entscheiden gibt. Voraussetzung dafür, das schulische Partizipationsstrukturen, wie sie Alain Pichard am 15. Januar im Condorcet-Blog unter dem Titel “Partizipation statt Konzepte” als ein Stück gelebter Schuldemokratie anschaulich schildert, wirklich sinnvoll sind, ist aber, dass die Schulleitungen und die Kollegien den Jugendlichen auch tatsächlich Entscheidungsbefugnisse anvertrauen. Doch in der heutigen Zeit haben wir ja auch als Lehrkräfte zunehmend nichts mehr wirklich mitzubestimmen. Die Entdemokratisierung steht in eklatantem Widerspruch zum permanenten Gerede von Partizipation. Das nervt. Aber sowohl Kollegien wie Schülerparlamente müssen sich diese Mitbestimmungsrechte aktiv zurückholen. Die gibt’s nicht gratis. Für die muss man kämpfen. Und das ist eben gelebte Politik!

Die Entdemokratisierung steht in eklatantem Widerspruch zum permanenten Gerede von Partizipation. Das nervt. Aber sowohl Kollegien wie Schülerparlamente müssen sich diese Mitbestimmungsrechte aktiv zurückholen. Die gibt’s nicht gratis. Für die muss man kämpfen. Und das ist eben gelebte Politik!

 

Alain Pichard verdreht meine Gedanken

Alain Pichard, Lehrer SekI: Wirkung von Unterricht ist beschränkt.

Alain Pichard meldete sich am 15. Januar noch mit einem zweiten Beitrag „Ja kein neues Schulfach mehr!“ zu Wort. Darin hängt er mir wieder mal den Weltverbesserer-Mantel um und vermittelt den Eindruck, ich sei so naiv, “mithilfe eines interdisziplinären Faches die ganze Welt retten” zu wollen. Um Gottes Willen, wie werden mir hier meine Gedanken verdreht und verbogen! Ich weiss wie Du, lieber Alain, dass die Wirksamkeit von Schule sehr beschränkt ist und dass man in einem Zusatzfach “Politische Bildung” nur ganz elementares Wissen vermitteln kann. Und auch ich finde, dass die Etablierung und Stärkung von SchülerInnen-Parlamenten eigentlich viel wichtiger ist als ein neues Schulfach. Diese Strukturen muss man aber beharrlich pflegen, die wachsen nur sehr langsam. Und auch die Gesamtkonferenzen der Lehrkräfte müssen wieder zu einer Art Schul-Parlament werden, wo die Lehrerinnen und Lehrer debattieren und auch substantiell etwas zu entscheiden haben.

Politische Bildung als dauerhaften Auftrag verstehen

Politische Debatten in die Schule bringen

An unserer Schule haben wir bei den allgemeinen Bildungszielen im neuen Fach “Politische Bildung” klar zum Ausdruck gebracht, dass wir politische Bildung als einen dauerhaften Auftrag an unserer Schule verstehen.Wir beginnen den Kurs jeweils mit einer klassenübergreifenden Startveranstaltung, die von den Lehrkräften meist an einem ausserschulischen Ort auf die Beine gestellt wird. Kernstück des neuen Faches ist es, pro Klasse ein oder mehrere Themen zu finden, die für die Jugendlichen relevant und von Interesse sind. Das zentrale Bildungsziel haben wir folgendermassen umschrieben: “Wir erkennen und formulieren, was uns als gesellschaftliche Wesen etwas angeht, wir bemühen uns, sachlich die Widersprüchlichkeit und die Komplexität eines Themas besser verstehen zu lernen, und wir tragen unser Thema und unser Anliegen in einen öffentlichen Raum und stellen uns den Diskussionen, die sich daraus ergeben.”

Das können dann etwa Podiumsdiskussionen an der Schule sein, Debatten mit Direktbetroffenen ausserhalb der Schule, eine Radiosendung, eine Ausstellung, eine Infoveranstaltung mit Fachleuten oder der Besuch einer historischen Stätte oder die Lancierung einer Petition. Das rettet alles noch nicht die Welt, aber das gehört zum Rüstzeug eines politischen Bewusstseins, das es in unserem Staate dringend braucht! So hab ich das gemeint.

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Bildungszertrümmerung https://condorcet.ch/2019/10/bildungszertruemmerung/ https://condorcet.ch/2019/10/bildungszertruemmerung/#respond Sat, 12 Oct 2019 14:00:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=2401

Hans-Jürgen Bandelt, Mitglied der Gesellschaft für Bildung und Wissen, hat sich in den letzten Jahren mit den Wirkungen der Kompetenzorientierung auf den schulischen Unterricht in Mathematik auseinandergesetzt. In seinem Beitrag für den Condorcet-Blog stellt er die Transformation des Bildungssystems in einen größeren Rahmen.

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Neoliberalismus ist Macht des Finanzkapitals plus Digitalisierung aller Lebensbereiche

Das Bildungssystem eines Landes ist immer hegemonial bestimmt und nicht etwa durch die ureigensten Bedürfnisse der Bevölkerung. Nach jeder Revolution wird das Bildungssystem mehr oder weniger umgestaltet – eventuell mit einer gewissen Zeitverzögerung, die unter Umständen bis zur Vollendung mehr als eine Generation in Anspruch nehmen kann. Aber wo war da dieser Jahre eine Revolution in deutschsprachigen Landen? Nun, es gab eine schleichende, fast klandestine Konterrevolution [1]: Aus der Sozialen Marktwirtschaft des Nachkriegskapitalismus wurde die Asoziale Finanzwirtschaft des Neoliberalismus. Der kräftigste Umgestaltungsschub erfolgte durch das sozialdemokratisch-grüne Kabinett Schröder II in Deutschland. Ein Jahrfünft danach war im Anschluss Österreich dran und ein weiteres Jahrfünft später die Schweiz, wo der Umbau wegen der kantonalen Hemmnisse (als “Kantönligeist” diffamiert) schleppender erfolgte, aber dafür unter Einsatz massivster Propaganda zum Lehrplan 21 dann mit größerer Wucht.

Bundeskanzler Gerhard Schröder. Gerade rot-grüne Regierungen setzen sowohl die “Neue Lernkultur” als auch die Vorgaben der OECD besonderes konsequent durch. Bild AdobeStock

Der Neoliberalismus hat sich in Deutschland sozusagen auf der Hinterbühne bereits seit Mitte der 70er Jahre eingerichtet [2]. Inzwischen ist er auf der Vorderbühne angekommen, und der Vorhang vor BlackRock und Konsorten ist etwas gelüftet: Die prekäre Situation auf dem fast schon finanzmonopolisierten Wohnungsmarkt (Stichwort: Berlin) hat so manchem Bürger die Augen geöffnet. Der Blick auf die Bildung bleibt jedoch nachhaltig getrübt, da die Mainstreammedien landauf, landab seit Jahren nur die Verkündungen der Bertelsmann Stiftung oder der PISA-Auguren wiederkäuen. Die politische Linke scheint kollektiv an einer Art Katarakt zu leiden, denn ohne klaren Blick auf die stattgefundene Bildungstransformation durch Standardisierung und  Kompetenzorientierung kennt sie nur die Desiderata “Chancengleichheit” (eine neoliberale Vokabel in aller Munde) und “Mehr Geld für Bildung” (ein Mantra der GEW). Aber mehr Geld gibt’s nicht: An Bildung soll sogar noch leicht gespart werden.

Die Bildungslandschaft in Deutschland wird mit voller Absicht zerschlagen, um einer Lobby aus ‘Bildungs’-industrie, gekauften Didaktikern und Pädagogen und privaten Investoren die Tür zu öffnen [3]

Jochen Krautz: Ware Bildung
Bild: Diederichs

Planvoll wurde bereits in der Grundschule die Deckelung der Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeit durch mehrere Maßnahmen nachhaltig vollzogen. Die seinerzeit verordnete Neue Rechtschreibung torpedierte die tradierte Orthographie und setzte für Lesetexte eine scharfe Zäsur zur älteren Literatur. Die unzureichend getestete “Vereinfachte Ausgangsschrift” gleicht mit ihrer mittigen Bindung eher einer Computerschrift und behindert flüssiges Schreiben [4]. Und das anfängliche Praktizieren des Druckbuchstabenmalens führt mancherorts zu einer bis zu einjährigen Verzögerung des Lernens einer verbundenen Schrift. Die Grundrechenarten werden nicht mehr in vollem Umfang unterrichtet (etwa der Divisionsalgorithmus) und nicht ausreichend geübt – frei nach der Devise ‘Die müssen nicht mehr rechnen, die haben später ja einen Taschenrechner’.

Die Standardisierung und das PISA-Testen waren der erste Streich. Der zweite Streich ein Jahrzehnt später betraf die Torpedierung des ‘lehrerzentrierten’ Unterrichts. Der dritte Streich steht bevor und wird die vorgebliche Rettung durch standardisierte Lernpakete in der digitalisierten Schule exekutieren, mit denen dann die Grundschüler der neuen Jahrgänge unter Testbedingungen besser als die noch von echten Lehrern unterrichteten früheren Jahrgänge abschneiden werden.

Jetzt muss nur noch das entspechend angelernte Personal, das weder eine Lehrer- noch Sozialarbeiterausbildung durchlaufen hat, in die Grundschulen geflutet werden.

Jetzt muss nur noch das entspechend angelernte Personal, das weder eine Lehrer- noch Sozialarbeiterausbildung durchlaufen hat, in die Grundschulen geflutet werden. Mit präzisem Timing hat die Bertelsmann Stiftung verkündet, dass in Deutschland im Jahre 2025 Tausende von Grundschullehrkräften fehlen werden. Jetzt schreiben wir das Jahr 2019, d.h. dass diejenigen, die jetzt ihr Lehramtsstudium beginnen, nicht mehr die entsetzliche Bedarfslücke füllen können. Um die geplanten Transformationen ohne Gegenwehr durchzuziehen, wird also zur bewährten Schocktherapie gegriffen.

Die Buchhaltung mit hochtrabenden Leitideen und allgemeinen Kompetenzen zeigt sich dort in ihrer ganzen Lächerlichkeit: Das bloße Ablesen der Temperatur an einem analogen Thermometer gilt in Deutschland als Kompetenzerwerb in Mathematik und in Österreich in Physik.

Gerade rot-grüne Regierungen setzen sowohl die “Neue Lernkultur” als auch die Vorgaben der OECD besonderes konsequent durch. [5]

Was den ersten Streich betrifft, spiegeln die Aufgaben der Neuen Lernkultur des bundesdeutschen IQBs und des österreichischen BIFIEs, die mutmaßlich den Kompetenzstand von Achtklässlern in Mathematik oder Physik abtesten sollen, den absurden Paradigmenwechsel wider. Die Aufgaben haben oftmals nur nominal mit Begriffen zu tun, die in einem Fachunterricht vorkommen könnten, aber in Wirklichkeit nur Alltagsroutinen den Grundschulkindern abverlangen. Die Buchhaltung mit hochtrabenden Leitideen und allgemeinen Kompetenzen zeigt sich dort in ihrer ganzen Lächerlichkeit: Das bloße Ablesen der Temperatur an einem analogen Thermometer gilt in Deutschland als Kompetenzerwerb in Mathematik und in Österreich in Physik [6]. Anderes Beispiel: Das Ablesen der Länge eines Balkens an der Koordinatenachse in einem Balkendiagramm wird der Leitidee ‘Zahl’ zugeordnet, jedoch wenn aus einem halben Dutzend Balken der längste abgelesen werden soll, handelt es sich auf einmal um die Leitidee ‘Daten und Zufall’. Leiten tut da in Wirklichkeit rein gar nichts.

Die Nebenfächer sind aufs Nebengleis gerückt und eingeschmolzen in sogenannte Fächerverbünde, die zum Teil “epochal” unterrichtet werden.

Im Deutsch- und Englischunterricht nimmt das Abtesten von angeblichem Textverständnis dilettantische bis makabere Züge an, wie Felix Schmutz aufzeigte [7]. An den Abitur-/Maturaprüfungen wird überdeutlich, dass es vorwiegend um Textverarbeitung in unterschiedlichen Formen geht und die Fächer bis zur Unkenntlichkeit dabei verstümmelt sind [8]. In diesem Sinne kann man die neuen PISA-Hauptfächer der Schule wie folgt kennzeichnen: Mathematik = Textverarbeitung mit vielen Zahlen sowie Deutsch (bzw. Englisch) = Textverarbeitung mit wenigen Zahlen. Die Nebenfächer sind aufs Nebengleis gerückt und eingeschmolzen in sogenannte Fächerverbünde, die zum Teil “epochal” unterrichtet werden.

Unter dem Schlagwort Inklusion soll ein jahrzehntelang gewachsenes ausdifferenziertes Fördersystem für langzeitig physisch und psychisch beeinträchtigte Kinder und Jugendliche kostensparend zerstört werden. Mit der notorischen personellen Unterbesetzung ist der Lehrer vollends zum Arbeitsblätter verteilenden Lerncoach und Inklusionsbegleiter mutiert.

Was den zweiten Streich betrifft, so betraf er direkt die Rolle des Lehrers, dessen “Epiphanie” nun endgültig verschwindet [9]. Das Verdammen eines lehrerzentrierten Unterrichts und das Preisen von Heterogenität der Lerngruppen, hat den Klassenunterricht in Richtung Kleingruppenarbeit und individualisiertes Lernen verschoben. Schließlich hat die Keule der totalen Inklusion, radikaler als man sie sich je vorstellen konnte, traditionelle Formen des Unterrichtens verunmöglicht. “Unter dem Schlagwort Inklusion soll ein jahrzehntelang gewachsenes ausdifferenziertes Fördersystem für langzeitig physisch und psychisch beeinträchtigte Kinder und Jugendliche kostensparend zerstört werden” [10]. Mit der notorischen personellen Unterbesetzung ist der Lehrer vollends zum Arbeitsblätter verteilenden Lerncoach und Inklusionsbegleiter mutiert.

Die Vereinzelung ist ganz im Sinne des Neoliberalismus: Jeder soll auf sich zurückgeworfen seinen persönlichen Lernvertrag erfüllen und sein Portfolio pflegen – zwecks Mehrung seines Humankapitals.

Schule ist nicht mehr Ort humaner Bildung, sondern Trainingsanstalt für künftiges Humankapital

Jeder für sich
Bild: api

Digitalisierung ist der ultimative Schlag, der unser althergebrachtes Bildungssystem vollends zertrümmert: “Statt Unterricht im Sozialverband der Klasse arbeiten Kinder und Jugendliche dann alleine an ihren Lernstationen” [11]. Die Vereinzelung ist ganz im Sinne des Neoliberalismus: Jeder soll auf sich zurückgeworfen seinen persönlichen Lernvertrag erfüllen und sein Portfolio pflegen – zwecks Mehrung seines Humankapitals. Das Selbst ist im Panspectron des digital gesteuerten Lernateliers der inneren Tyrranei seines fremdbestimmten Selbst ausgeliefert.

Braunschweig, Oktober 2019

 

[1] PROKLA Editorial: Neoliberale Konterrevolution – Die neue amerikanische Herausforderung auf dem Weltmarkt?. PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft, 11 (44), 1-3 (1981). https://doi.org/10.32387/prokla.v11i44.1543

[2] Sebastian Müller: Der Anbruch des Neoliberalismus. Promedia Verlag, 2016/2017

[3] Thomas Sonar: Endlich sagt es einer offen. Kundenrezension von “Ware Bildung: Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie” (J. Krautz), 2009. https://www.amazon.de/Ware-Bildung-Schule-Universit%C3%A4t-%C3%96konomie/dp/3720530159

[4] Maria-Anna Schulze Brüning & Stephan Clauss: Wer nicht schreibt, bleibt dumm. Piper, 2017

[5] Jochen Krautz:  Neoliberaler Ökologismus. “Markt” und “Natur” als Steuerungsparadigmen der “Neuen Lernkultur”. In: Bildung im Widerstand. Festschrift für Ursula Frost (M. Burchardt & R. Molzberger, Hrsg.). Königshausen & Neumann 2017, S. 121-146

[6] Hans-Jürgen Bandelt: Entfachlichung durch Kompetenzorientierung. Mitteilungen Math. Ges. Hamburg 36, 103-130 (2016)

[7] https://condorcet.ch/2019/06/kompetenzen-standards-alles-klar/, https://condorcet.ch/2019/06/2-teil-kompetenzen-standards-alles-klar/

[8] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/streit-um-das-mathe-abitur-in-niedersachsen-14256230.html

[9] Alfred Schirlbauer: Vom Verschwinden des Lehrers und seiner Epiphanie. In: Ders.: Die Moralpredigt. Sonderzahl, 2005, S. 40-58

[10] https://www.thueringen.freidenker.org/index.php/kreisverbaende/kv-jena/texte/inklusion-der-letzte-schwere-schlag-gegen-das-staatliche-schulwesen/

[11] https://condorcet.ch/2019/09/digitalpakt-schule-potemkinsche-doerfer-der-deutschen-bildungspolitik-oder-technikglaeubigkeit-als-paedagogischer-offenbarungseid/

 

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