Fachkräftemangel - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 08 May 2023 17:30:51 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Fachkräftemangel - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Auf das Arbeitsleben vorbereiten? Hier versagen Deutschlands Schulen https://condorcet.ch/2023/05/auf-das-arbeitsleben-vorbereiten-hier-versagen-deutschlands-schulen/ https://condorcet.ch/2023/05/auf-das-arbeitsleben-vorbereiten-hier-versagen-deutschlands-schulen/#respond Mon, 08 May 2023 04:49:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=13828

Die Abbruchquoten bei Studenten und Auszubildenden sind hoch, Gymnasiasten haben kaum Vorstellungen vom Arbeitsleben. Ein Gutachten kritisiert, dass Schulen bei der Berufsvorbereitung zukunftsfähige Zweige ausser Acht lassen. Besonders ein Mittel wird vernachlässigt. Wir bringen hier einen Beitrag der Chefökonomin der Zeitung WELT, Dorothea Siems.

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Deutschlands Schulen verschärfen den Arbeits- und Fachkräftemangel, weil sie die Berufsorientierung sträflich vernachlässigen. Die meisten Schulabgänger starten entsprechend schlecht vorbereitet in die nächste Lebensphase. Hohe Abbrecherquoten bei Auszubildenden und Studenten sind die Folge.

Gastautorin Dorothea Siems, Chefökonomin WELT

Viele Jugendliche finden zudem gar nicht erst eine passende Lehrstelle, während gleichzeitig immer mehr Ausbildungsplätze nicht besetzt werden könnten. Dies sind Kernaussagen des diesjährigen Gutachtens, das der Aktionsrat Bildung im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) erstellt hat und das WELT vorab vorliegt.

Mit zwei Millionen offenen Stellen ist der Arbeitskräftemangel hierzulande inzwischen größer als jemals zuvor. Auf Rekordniveau ist mit 2,4 Millionen auch die Zahl der jungen Erwachsenen, die über keinen Berufsabschluss verfügen und sich auch nicht in der Ausbildung befinden. In dem Gutachten „Bildung und berufliche Souveränität“ warnen die Wissenschaftler, dass sich Deutschland diese Vergeudung von heimischen Arbeitskräftepotenzialen vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung nicht mehr leisten könne.

Umfragen unter Neuntklässlern zeigen laut Studie, dass die Jugendlichen nur ein enges Spektrum an Berufen kennen. Sowohl bei den genannten Wunschberufen als auch bei den erwarteten späteren Berufen dominieren bei den Mädchen typische Frauenberufe wie Erzieherin und Verkäuferin und soziale Tätigkeiten wie Ärztin und Lehrerin.

Neuntklässler kennen nur ein enges Spektrum an Berufen

Bei den Jungen rangieren Handwerks- und Ingenieurberufe sowie Pilot und Polizist weit vorn. Um den Horizont für beide Geschlechter zu erweitern, müssten die Schulen schon von Beginn an andere Rollenbilder aufzeigen, heißt es in der Studie. Ausserdem wäre es wichtig, bereits in den Grundschulen weitere, weniger bekannte Berufe darzustellen und zu vermitteln, welche Fähigkeiten und Abschlüsse diese erforderten, mahnt das Expertengremium.

Um den Horizont für beide Geschlechter zu erweitern, müssten die Schulen schon von Beginn an andere Rollenbilder aufzeigen.

So benötigt man in allen mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen (MINT-)Berufen ordentliche Mathematik-Kenntnisse. Vor allem Mädchen verlieren jedoch oft schon früh das Interesse an dem Fach und engen sich somit schon in jungen Jahren bei der späteren Berufswahl ein – zum Leidwesen der Wirtschaft, die dringend mehr Nachwuchs in den MINT-Fächern benötigt.

Praktika gelten als ideale Möglichkeit, Einblicke in die Arbeitswelt zu gewinnen und Berufe kennenzulernen. Ob ein Schüler die Chance dazu bekommt, hängt jedoch vom jeweiligen Bundesland und der Schulart ab. In Hauptschulen ist dies die Regel, in Gymnasien vielerorts nicht. In Nordrhein-Westfalen sind Praktika mittlerweile in der Sekundarstufe in allen Schulformen vorgesehen. Bayern ist dagegen weniger strikt.

 

Quelle: Infografik WELT

 

Die Dauer eines Praktikums variiert und ist häufig mit wenigen Tagen zu kurz. Das Gutachten beklagt zudem, dass es oft im Unterricht an einer guten Vor- und Nachbereitung fehle. Hinzu kommt, dass es vielfach nicht die Schulen, sondern die elterlichen Hilfen und Kontakte seien, die über die Qualität eines Praktikumsplatzes entscheiden.

Mindestens zwei verpflichtende Praktika

Bildungsexperten und Wirtschaft sind sich einig, dass der Einsatz von Praktika dringend ausgeweitet und verbessert werden sollte. „Wir müssen Betriebspraktika viel stärker als jetzt im Lehrplan verankern und die Schulen bei der Vermittlung der Praktika mehr einbinden“, fordert vbw-Präsident Hatz. Unabhängig von der Schulart brauchten die Jugendlichen mindestens zwei verpflichtende Praktika.

 

Quelle: Infografik WELT

 

Auch die Jugendlichen selbst sehen laut einer vom Aktionsrat zitierten Umfrage Praktika als besonders hilfreich für ihre berufliche Orientierung an. Dagegen erreichten die verschiedenen Angebote der Bundesagentur für Arbeit, die Schülern, den Bildungseinrichtungen und auch Eltern zur Verfügung stünden, ihren Zweck noch zu wenig, monieren die Forscher.

Die Kultusministerkonferenz der Länder hat die Berufs- und Studienorientierung schon vor Jahren als wichtiges Ziel formuliert. Doch der Aktionsrat bemängelt, dass im Schulalltag der Praxisbezug weitgehend fehle. Dabei könne in vielen Fächern der Bezug zur Arbeitswelt leicht hergestellt werden. Das Interesse der Schüler an Fächern wie Mathematik, Physik oder Chemie ließe sich steigern, wenn die Lehrer aufzeigten, für welche Berufe oder Forschungsbereiche dieses Wissen wichtig ist.

In vielen Fächern könnte der Bezug zur Arbeitswelt leicht hergestellt werden.

Die Schüler sollten darüber hinaus auch über Entwicklungstrends am Arbeitsmarkt aufgeklärt werden, was laut Gutachten im hiesigen Bildungssystem viel zu wenig geschieht. Der Strukturwandel hin zu einer digitalen und grünen Wirtschaft verändert die Arbeitswelt. IT-Kenntnisse werden immer wichtiger. Traditionell beliebte Berufe etwa in der Automobilbranche werden sich stark verändern, was die Nachfrage nach traditionell ausgebildeten Kfz-Fachkräften schrumpfen lässt.

Zukunftsträchtige Wirtschaftszweige spielen bei Absolventen nur eine untergeordnete Rolle

Andere Wirtschaftszweige, wie der Pflegesektor oder der Bereich der Erneuerbaren Energien, gelten dagegen als zukunftsträchtig. Doch die meisten Schulabgänger orientieren sich bei der angestrebten Berufswahl mehr an der Vergangenheit als an den Zukunftstrends.

Der Bereich Erneuerbare Energien ist nicht erste berufliche Wahl bei den Schulabgängern.

Das soziale Umfeld und vor allem die Eltern spielen bei der Berufs- oder Studienplatzwahl eine entscheidende Rolle. Häufig ist die Unterstützung durch die Familie vorteilhaft. Doch mitunter haben auch die Eltern einen verengten Blick und schätzten den Arbeitsmarkt oder auch die Fähigkeiten und Neigungen ihrer Kinder falsch ein.

Der Aktionsrat empfiehlt den Schulen, bei der Berufsorientierung die Eltern einzubeziehen und dabei die gesamte Vielfalt der Arbeitswelt in den Blick zu nehmen. Kooperationen der Schulen mit der Wirtschaft seien hilfreich und sollten intensiviert werden.

 

Quelle: Infografik WELT

 

Ausserdem brauche es an allen Schulen entsprechend weitergebildete Lehrkräfte, die Jugendliche in dem Prozess ihrer Zukunftsplanung kompetent unterstützen können. „Die Jugendlichen müssen erkennen können, wo ihre Neigungen und Kompetenzen liegen und wo ihnen nach der Ausbildung oder dem Studium offene und perspektivenreiche Stellen zur Verfügung stehen“, betont vbw-Präsident Hatz.

Ziel: Berufliche Souveränität

Der neunköpfige Aktionsrat Bildung, dem renommierte Bildungsforscher wie der frühere Präsident der Hamburger Universität, Dieter Lenzen, oder Ifo-Bildungsökonom Ludger Wößmann angehören, nennt als Ziel die „berufliche Souveränität“. Dabei geht es nicht nur darum, dass sich der Schüler klar wird, welcher Beruf oder Studiengang seinen Interessen und Fähigkeiten entspricht.

Darüber hinaus soll der Jugendliche auch die Fähigkeit entwickeln, die Chancen am Arbeitsmarkt im Laufe seines gesamten Berufslebens richtig einschätzen zu können, um flexibel und selbstbestimmt auf Veränderungen, zum Beispiel mit einer Weiterbildung, reagieren zu können.

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Warum plötzlich mehr Kinder Lernschwächen haben https://condorcet.ch/2023/04/warum-ploetzlich-mehr-kinder-lernschwaechen-haben/ https://condorcet.ch/2023/04/warum-ploetzlich-mehr-kinder-lernschwaechen-haben/#respond Fri, 07 Apr 2023 15:02:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=13602

Seit der Einführung des Lehrplans 21 erhalten signifikant mehr Schulkinder Spezialunterricht. Wie ist das möglich? Eine Spurensuche von Tamedia-Journalistin Naomi Jones.

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Als diese Zeitung Ende letzten Jahres eine Umfrage zum Lehrplan 21 durchführte, stellten mehrere Heilpädagoginnen und Eltern einen Zusammenhang zwischen Lernstörungen wie etwa einer Legasthenie und dem Lehrplan 21 her. Eine Heilpädagogin spricht von einer Zunahme der “Pseudo-Legastheniker”. Ist da etwas dran?

Gastautorin Naomi Jones

Genaue Zahlen zu bekommen, ist nicht möglich. Der Kanton erfasst die auf den Erziehungsberatungsstellen gestellten Diagnosen nicht separat. Doch seit 2014 erhebt er, wie viele Kinder Spezialunterricht etwa durch eine Logopädin oder einen Heilpädagogen erhalten. Nebst Kindern mit Lernschwierigkeiten gehören dazu auch hyperaktive Kinder mit Konzentrationsproblemen wie ADHS oder Kinder mit einer Entwicklungsstörung etwa aus dem Autismusspektrum (ASS).

Diese Zahlen deuten tatsächlich auf einen möglichen Zusammenhang von Lernschwächen und dem neuen Lehrplan hin: In den Jahren 2014 bis 2017 erhielten je rund 4000 Schulkinder des Kantons Bern zusätzlichen Spezialunterricht. Darunter fallen Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie, Verhaltensauffällige mit ADHS oder ASS, aber auch Kinder mit einem Sonderschulstatus, etwa aufgrund eines Downsyndroms.

2019, ein Jahr nach der Einführung des Lehrplans 21, erhalten rund 1000 Kinder mehr Spezialunterricht. Bei gut 100’000 Schulkindern im Kanton ist der Anstieg nicht riesig, aber doch signifikant. In Prozenten dargestellt bewegen sich die Zahlen vor dem Lehrplanwechsel um die vier Prozent. Ein Jahr nach dem Wechsel sind sie auf fast fünf Prozent geklettert und dort oben geblieben.

Der neue Lehrplan

Der Lehrplan 21 legt grosses Gewicht auf selbstständiges Lernen. Dazu gibt es an vielen Schulen eigens im Unterricht eingeplante Zeiten. In den oberen Klassen sind dies sogenannte SOL-Lektionen. SOL steht für selbst organisiertes Lernen.

Das sei insbesondere für Kinder mit ADHS schwierig, sagt der Könizer Kinderarzt Rolf Temperli. “Sie lassen sich leicht ablenken und brauchen klare Strukturen.” Vorausschauendes Planen stelle sie vor grosse Herausforderungen.

    “Kinder brauchen zum Lernen Anleitung von Erwachsenen, zu denen sie in Beziehung stehen.”

Eliane Perret, Psychologin

 

Die Zürcher Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret sieht es ähnlich. Viele Kinder seien mit dem selbst organisierten Lernen überfordert, und Verhaltensauffälligkeiten könnten mit dem Gefühl zusammenhängen, allein gelassen zu sein. Mit dem selbst organisierten Lernen kämen meist nur die Cleversten zurecht. “Viele Kinder werden durch ihre Eltern oder Nachhilfe unterstützt, andere werden mutlos und geben auf.”

Die Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret warnt vor vorschnellen Diagnosen. (Foto. Urs Jaudas)

Wie auch die neuere entwicklungspsychologische Forschung zeige, sei Lernen ein Beziehungsgeschehen, erklärt Perret. “Kinder brauchen zum Lernen Anleitung von Erwachsenen, zu denen sie in Beziehung stehen.” Sie habe in ihrer langjährigen Arbeit an einer Schule für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lernproblemen oft beobachtet, dass die Symptome der Kinder sich milderten oder gar verschwanden, wenn der Unterricht auf deren Bedürfnisse ausgerichtet worden sei.

Stefan Wittwer vom Berufsverband Bildung Bern nimmt den Lehrplan in Schutz. Selbst organisiertes Lernen (SOL) sei eine didaktische Methode und als solche nicht im Lehrplan vorgeschrieben. “Schulen, die SOL fix im Stundenplan haben, machen das aus Überzeugung, der Lehrplan schreibt das nicht vor”, sagt er.

Im Rahmen der überfachlichen Kompetenzen sollen die Kinder ihr Lernen zwar selber organisieren können, aber erst gegen Ende des dritten Zyklus. Bis dann sollten sie ab der Mittelstufe Schritt für Schritt dahin geführt werden. Der Lehrplanwechsel kann also nicht der einzige Grund für den plötzlichen Anstieg der Diagnosen sein.

Der Lehrkräftemangel

2018 mussten erstmals Studierende der Pädagogischen Hochschule in den Klassenzimmern einspringen. Dass ausgerechnet der Fachkräftemangel in der Schule zu mehr Diagnosen bei Schulkindern führen soll, scheint paradox. Denn nicht nur Lehrer fehlen in den Schulstuben, sondern auch sonderpädagogische Spezialistinnen.

Doch der Lehrermangel führt zu grösseren und heterogenen Klassen, da Schulleitende immer mehr Mühe haben, die freien Stellen zu besetzen. In den grossen Klassen hat die Lehrperson weniger Zeit für das einzelne Kind.

    “Ohne Diagnose gibt es nur sehr begrenzt individuelle Förderung für ein Kind.”

Rolf Temperli, Kinderarzt

 

Der Kinderarzt Rolf Temperli beobachtet in seiner Praxis, dass der Wunsch nach einer Abklärung ausser von den Schulen zunehmend von den Eltern kommt. Sie wollten verstehen, warum ihr Kind Schwierigkeiten habe, und erhofften sich, dass ihr Kind optimal gefördert werde, erklärt Temperli. “Denn ohne Diagnose gibt es nur sehr begrenzt individuelle Förderung für ein Kind.”

Obwohl im Vordergrund der Therapie oft pädagogische Massnahmen stünden und man bereits wisse, was das Kind brauche, müsse eine Beeinträchtigung gesucht und diagnostiziert werden, damit das Kind zusätzlich gefördert werden könne.

Das vermutet auch der Schulleiter des Schulkreises Bern-Bethlehem, Lukas Wiedmer, und zwar vor allem bei den bildungsnahen Eltern. “Angesichts des Selektionsdrucks wollen sie, dass ihr Kind gefördert wird, oder sie erhoffen sich gar einen Nachteilsausgleich, der den Zugang zu höherer Ausbildung doch noch ermöglichen soll.”

Der Co-Geschäftsführer von Bildung Bern, Stefan Wittwer, erachtet den Lehrkräftemangel als Mitgrund für den Anstieg der Diagnosen. (Foto: Nicole Philipp)

Tatsächlich hat die Zahl der auf die Erziehungsberatungen geschickten Kinder massiv zugenommen. Gegenüber der Zeit vor der Pandemie seien die Anfragen bei den Erziehungsberatungen um 40 Prozent gestiegen, schreibt die Bildungsdirektion Ende Februar in ihrem Newsletter.

“Das System sucht sich Entlastung, wo es diese finden kann”, sagt Stefan Wittwer von der Lehrer- und Lehrerinnengewerkschaft. Damit weist er zugleich auf einen Fehler im System.

Der Systemfehler

Diagnostizierte Kinder erhalten zusätzliche Ressourcen, und von diesen profitiert auch die Schule. Das Phänomen ist seit rund zehn Jahren vom Kanton Zürich bekannt. Dort hatte sich innerhalb von 15 Jahren die Zahl der Kinder, die mit Sonderschulstatus in eine Regelklasse integriert waren, fast verdoppelt.

Allerdings blieb die Zahl der Kinder, die so schwer beeinträchtigt waren, dass sie nicht in Regelklassen integriert werden konnten, stabil. Also hatten vor allem Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten zugenommen.

    “Viele Lehrpersonen sind in gewissem Sinne froh um jedes Kind, das eine Diagnose hat. So erhalten sie die Unterstützung, die sie im heutigen Schulalltag brauchen.”

Manuel C. Widmer, Grossrat (GFL) und Lehrer

 

Der Grund dafür lag beim System. Die zusätzlichen Massnahmen für die Kinder mit Sonderschulstatus, also zusätzliche Lektionen durch Heilpädagoginnen, Logopäden und andere Spezialistinnen, zahlte der Kanton, und zwar nach Bedarf. Je mehr Sonderschulkinder eine Schule integrierte, desto mehr spezialisiertes Personal konnte sie anstellen

Der GFL-Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer sagt denn auch: “Viele Lehrpersonen sind in gewissem Sinne froh um jedes Kind, das eine Diagnose hat. So erhalten sie die Unterstützung, die sie im heutigen Schulalltag brauchen.” Der Berner Schulleiter Lukas Wiedmer bestätigt das, wenn auch nicht mit derart deutlichen Worten.

Der Lehrer und Grossrat Manuel C. Widmer ist froh um zusätzliche Ressourcen im Klassenzimmer. (Foto: Beat Mathys)

Aktuell werde ein Grossteil der schulischen Ressourcen durch Abklärungen auf der Erziehungsberatung generiert. Vor allem die Heilpädagoginnen und -pädagogen arbeiten dabei nicht immer einzeln mit dem zu unterstützenden Kind, sondern oft mit einer kleinen Gruppe oder gar im Team-Teaching mit der Klassenlehrperson. Davon profitiert nebst dem zu unterstützenden Kind die ganze Klasse.

“Es müsste möglich sein, dass Kinder unkompliziert zusätzliche Unterstützung erhalten, ohne dass zuerst so häufig mit Abklärungen eine Diagnose erstellt werden muss.”

Stefan Wittwer, Co-Geschäftsführer von Bildung Bern

 

Doch das Anbinden von Ressourcen an einzelne Kinder erschwere die Zusammenarbeit der Klassenlehrpersonen mit dem heilpädagogischen Personal, sagt Wiedmer. Dessen Arbeitspensum könne rasch ändern, etwa wenn ein Kind mit Diagnose wegziehe. Viel lieber wäre Wiedmer, dass die Schule dauerhaft mit genügend Ressourcen – also Lehrkräften und sonderpädagogischem Personal – ausgestattet würde, damit sie von Anfang an für alle Kinder bereit wäre.

Der Lehrergewerkschafter Wittwer verlangt deshalb mehr globale Ressourcen für die Schulen, die sie flexibler einsetzen können. “Es müsste möglich sein, dass Kinder unkompliziert zusätzliche Unterstützung erhalten, ohne dass zuerst so häufig mit Abklärungen eine Diagnose erstellt werden muss.”

Die Gesellschaft

Dies alles ist möglich, weil die psychiatrischen Diagnosen oft nicht so eindeutig sind wie etwa eine Sehbehinderung oder ein Downsyndrom. Die Diagnosen würden unter anderem mithilfe von Fragebögen nach Diagnosekriterien internationaler psychiatrischer Handbücher gestellt, erklärt die Psychologin Eliane Perret. “Sie beruhen auf Beobachtungen, was immer einen gewissen Spielraum zulässt.”

Dadurch entstehe eine scheinbare Objektivität, schreibt sie in ihrem Buch “Heilpädagogik im Dialog”. Im Allgemeinen würden das familiäre und schulische Umfeld, der Erziehungsstil und andere Bedingungen, die Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben, zu wenig gewichtet, findet sie. Selbstverständlich gebe es Kinder mit Entwicklungs- und Lernstörungen. “Aus meiner Beobachtung werden Kinder heute jedoch schneller mit einer Diagnose belegt als früher”, sagt sie.

Perret verweist auf eine Untersuchung, gemäss der etwa die Diagnose ADHS im Kanton Tessin viel seltener gestellt wird als in der Deutschschweiz. “Man vermutet, dass dort das tolerierte Spektrum an Temperamenten grösser ist.”

    “Die Gesellschaft erträgt aussergewöhnliches Verhalten weniger gut als vor 30 Jahren.”

Rolf Temperli, Kinderarzt

 

Der Kinderarzt Rolf Temperli bestätigt das. “Die Gesellschaft erträgt aussergewöhnliches Verhalten weniger gut als vor 30 Jahren.” Viele Kinder, bei denen heute eine Autismusspektrum-Störung diagnostiziert werde, hätten damals einfach als Sonderlinge gegolten. Man wisse heute mehr über diese Probleme und sei darauf sensibilisiert.

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Der Schrauber ist wieder da https://condorcet.ch/2023/01/der-schrauber-ist-wieder-da/ https://condorcet.ch/2023/01/der-schrauber-ist-wieder-da/#respond Thu, 12 Jan 2023 05:22:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=12856

Es gibt in unserem Land eine Schicht, über die, oder besser über deren zunehmendes Fehlen, viel geschrieben wird: Die sogenannten Fachkräfte, Techniker, der gut ausgebildete Teil der produktiven Arbeiterschaft, hier kurz „Schrauber“ genannt. Hubert Geissler beschreibt in seinem Beitrag das Arbeitsleben seines Bruders im Zeitalter des "Fachkräftemangels"

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Er ist wieder da… der Schrauber.

Manche Condorcet-Leser und Leserinnen erinnern sich vielleicht. Es ist zwar schon Jahre her, dass meine Berichte über das Schrauberleben meines Bruders, seine Beobachtungen aus dem alltäglichen Wahnsinn des deutschen Arbeitsalltags und seinen Erlebnissen als Monteur in diversen Ländern durchaus freundliches Interesse fanden: War doch der „Schrauber“ so etwas wie das unbekannte Wesen, unverzichtbar, aber in der Regel nicht beachtet, fristete er sein Dasein in Öl und Schmierfett.

Das hat sich seither gründlich geändert. Wie damals beschrieben, tendierte die Zahl der Schrauberpopulation nach unten, und sobald das offensichtlich wurde, beklagte eine konsternierte Gesellschaft den „Fachkräftemangel“, der zunehmend Wohlstand und Produktion bedrohe. Gleichzeitig schaffte es die Bildungskrise ins öffentliche Bewusstsein (Teile der Kinder scheinen ins Analphabetentum abzugleiten, MINT-Fächer werden nicht studiert, von den Adepten von Genderstudies und Völkerrecht ist kein korrektes Bedienen eines Schraubenschlüssels zu erwarten), Corona störte den gewohnten Gang der Geldvermehrung erheblich, und am Ende rissen auch noch die Lieferketten.

Wie ging es mit meinem Bruder weiter? Schon lange klagte er über gesundheitliche Probleme wegen Überlastung: Ständige Montageaufträge im Ausland mit langen Anfahrtswegen, Überstunden und eine seiner Meinung nach nicht adäquate Bezahlung bewogen ihn zu kündigen. Mit ihm verließen weitere kompetente Kräfte die Firma, die im Übrigen jetzt vor der Liquidation steht. Ob ein Verkauf gelingt und die Arbeitsplätze zu retten sind, steht in den Sternen. Energiekosten, das allgemeine wirtschaftliche Umfeld und besonders die Unmöglichkeit, zeitnah wichtige Bauteile zu organisieren, lassen Befürchtungen aufkommen.

Einige der „Dissidenten“ gründeten nach ihrem Weggang eine kleine, aber feine Firma.

Einige der „Dissidenten“ gründeten nach ihrem Weggang eine kleine, aber feine Firma, die sich mit der Auftragskonstruktion spezieller Maschinen beschäftigt, aber im Grunde auch jeden Schrauberauftrag annimmt, was aufgrund der Tendenz großer Firmen, Aufgaben outzusourcen, nicht schwierig erscheint. Die „Buben“, wie sie mein Bruder nennt, fragten bei ihm an, ob er Lust hätte, bei ihnen zu schrauben. Mein Bruder nahm eine halbe Stelle, damit kommt er finanziell bestens über die Runden. Und die „Buben“ scheinen auf dem richtigen Weg zu sein. Für die Verwaltung reicht eine einzige Person, die Frau des Programmierers. Das Klima ist familiär, Entscheidungsprozesse kollegial mit minimalem Organisationsaufwand.

Das Ganze könnte fast ein Modell sein, wie sich die Interessen von Alt und Jung vereinbaren ließen: Flache Hierarchien, eingespielte Teams, wenig unnötiges Papier.

Geradezu witzig ist dabei, dass nunmehr schon zwei ältere Kollegen meines Bruders Teilzeit dort arbeiten, die „Rentnergang“. Man kennt und mag sich, man hat gemeinsame Erinnerungen und man vertraut der Kompetenz des Anderen. Einer, ein Siebenbürger, arbeitete in Atomkraftwerken in Rumänien. Nach seiner Übersiedlung nach Deutschland werkelte er als einfacher Schrauber. Den anderen kennt mein Bruder schon aus seiner Lehrzeit: Alles beste Voraussetzungen, dass die Arbeit nicht nur „flutscht“, sondern geradezu Spaß macht, was überhaupt ein Teil der Motivation der „Rentnergang“ zu sein scheint. Das Ganze könnte fast ein Modell sein, wie sich die Interessen von Alt und Jung vereinbaren ließen: Flache Hierarchien, eingespielte Teams, wenig unnötiges Papier.

Diese Art von Republikfluchtgedanken

Interessant vielleicht noch eine Aussage des Gründers der kleinen Firma: Er hoffe, dass ihr Betrieb Erfolg habe, aber wenn nicht, würde er ohne Bedenken auswandern, am liebsten in die USA; bestimmt ein Typ, der überall mit Handkuss genommen wird. Diese Art von Republikfluchtgedanken habe ich auch selbst erstaunlich oft von gerade jüngeren, gut ausgebildeten Leuten gehört, was einen schon bedenklich stimmen kann. Das früher scherzhafte „Wer zahlt unsere Rente“ könnte in Bälde eine unangenehme Bedeutung bekommen. Von Entlassungen hört man bisher wenig. Noch wird technisches Personal gesucht.

Angesichts der Tatsache, dass auch sonst allenthalben Arbeitskräfte fehlen, beklagt sich die Schrauberschaft, soweit sie mir bekannt ist, über die Alimentierung der Schutzsuchenden, ohne diese zu beschäftigen und sieht darin ein Gerechtigkeitsproblem. Dazu kommt noch, dass das Bürgergeld nicht unbedingt als beschäftigungsfördernd gesehen wird. Mein Bruder meint, die Sache wäre einfach zu lösen: Bis 3000 Euro müsste ein Gehalt einfach steuerfrei sein, um zur Arbeitsaufnahme zu motivieren. Früher, in den 60-ern hätten Arbeiter kaum Lohnsteuer bezahlt. Im Grunde ist sogar mein Bruder ein Beispiel für diese mangelnde Motivation. Er meint, er wolle nicht voll arbeiten, ihm würde sowieso zu viel wieder abgezogen und sinnlos von unserer Regierung in der ganzen Welt verteilt. Auch seine Gang-Kollegen könnten mehr tun, wollen aber nicht, weil es sich nicht „rentiert“.

Inflation ist ein Thema, die offiziellen Zahlen werden als zu niedrig eingeschätzt. Energie im Privaten beschäftigt weniger. Viele Schrauber haben ihre Eigenheime wie Wagenburgen mit Holz umgeben: „Das reicht mindestens drei Jahre.“ Überhaupt, der Satz „Für uns wird es noch reichen, aber dann?“ fällt erstaunlich oft. Interessanterweise habe ich den auch in einem ganz anderen Zusammenhang von jüngeren Leuten gehört, die meinen, die Klimakatastrophe werde erst die Generation nach ihnen treffen, nicht sie selber.

 Hubert Geißler stammt aus Bayern war Lehrer für Kunst/Deutsch/Geschichte. Die beschriebenen Situationen sind realistisch und gehen auf Gespräche mit seinem Bruder, einem Machinenbautechniker, zurück.

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Fachkräftemangel auch an anderen Orten https://condorcet.ch/2022/12/fachkraeftemangel-auch-an-anderen-orten/ https://condorcet.ch/2022/12/fachkraeftemangel-auch-an-anderen-orten/#respond Thu, 15 Dec 2022 12:44:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=12651

Der Fachkräftemangel und die Quereinsteiger beflügeln auch die Karikaturisten.

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Probieren geht über studieren: Warum das manchen Eltern gar nicht gefällt https://condorcet.ch/2022/12/probieren-geht-ueber-studieren-warum-das-manchen-eltern-gar-nicht-gefaellt/ https://condorcet.ch/2022/12/probieren-geht-ueber-studieren-warum-das-manchen-eltern-gar-nicht-gefaellt/#respond Tue, 06 Dec 2022 10:22:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=12571

Kinder von Akademikereltern gehen an die Universität. Was aber, wenn sie viel lieber eine Ausbildung machen wollen und Vater und Mutter mit der Entscheidung hadern? Die Freiheit bei der Berufswahl ist vielleicht gar nicht so frei. Dabei braucht jede Branche Nachwuchs – egal, ob mit Master oder Meisterabschluss. Wir bringen einen interessanten Beitrag des RedaktionsNetzwerkDeutschland.

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RND-Redakteurin Unterhaltung, Heike Manssen

Hannover. Das rothaarige junge Mädchen auf dem riesigen Plakat blickt trotzig auf seine Betrachter hinab. Der Text daneben suggeriert, dass es unzufrieden ist, ja, vielleicht sogar Ärger hat: „Was gegen das Handwerk spricht? Meine Akademikereltern.“ Vielleicht möchte die Jugendliche gern Malerin und Lackiererin werden, Mutter und Vater sehen sie dagegen eher als Architektin mit Masterabschluss.

Mit der Plakataktion – die unter anderem auch fragt: „Wieso zähle ich weniger, wenn ich mehr will als Po­werpoint?“ – will das deutsche Handwerk nach eigenen Aussagen für mehr Wertschätzung für die berufliche Bildung werben und Vorurteile hinterfragen. Kritikerinnen und Kritiker der Kampagne halten es für falsch, in Zeiten von Fachkräftemangel über alle Branchen hinweg Studium und Ausbildung gegeneinander auszuspielen. Doch was ist dran am Vorurteil?

Ein Gespräch am Rande einer Schulveranstaltung: Die Heizung in seiner Praxis sei alt, erzählt ein Vater, zu alt für den kommenden Winter. Eine neue müsse dringend installiert werden. Doch kein Heizungsbauer habe Zeit, geschweige denn genügend Personal, den Auftrag anzunehmen. Ratlosigkeit. „Ach, übrigens, was plant die 17-jährige Tochter nach dem Abitur?“, fragt eine Frau, die sich am Gespräch beteiligt. „Studieren – was genau, ist noch nicht klar.“ Nur das Studium, das sei gesetzt, antwortet der Vater. Zustimmendes Nicken von allen Seiten. Ist tatsächlich alles so klar, wie es scheint? Vielleicht hat die Tochter tatsächlich große Lust auf ein Studentenleben, eine neue Stadt, auf die große, weite, akademische Welt. Doch vielleicht ist ein Studium für sie eben nicht das Maß aller Dinge – so wie es einst für ihren Vater und ihre Mutter war, er Arzt, sie Lehrerin.

Eine Ausbildung – im Handwerk oder in der Industrie – scheint bei vielen Akademikereltern keine Option für die eigenen Kinder zu sein. Da überzeugt auch nicht die Binsenweisheit, dass das Handwerk „goldenen Boden“ habe. Bekanntermaßen sind die Berufschancen für Menschen mit abgeschlossener Ausbildung heutzutage exzellent, und viele Mitmenschen freuen sich mittlerweile mehr, wenn die Maler ins Haus kommen statt der Freunde. Gesellschaftlich gesehen ist der Handwerker toll, doch das eigene Kind soll nach Höherem streben, Master statt Meister. Macht der Nachwuchs dennoch eine Ausbildung, werden viele Eltern nicht müde zu betonen, dass ein anschließendes Studium immer noch folgen kann.

Zahl der Studienanfänger steigt kontinuierlich

Tatsächlich nehmen von 100 Kindern, deren Eltern studiert haben, 79 ein Studium auf. Von 100 Kindern, deren Eltern nicht die Universität besucht haben, sind es lediglich 27. Im Jahr 2020 ist die Zahl der Interessenten für eine Berufsausbildung in Deutschland erstmals unter 900.000 gefallen, 2005 waren es noch 1,15 Millionen. Gleichzeitig stieg im Laufe der Zeit kontinuierlich die Zahl der Studienanfänger. Auf dem Höhepunkt 2011/2012 gab es knapp 520.000 Erstsemester, im Jahr 2021/2022 sind es immerhin noch mehr als 472.000 junge Menschen, die sich neu an einer Hochschule eingeschrieben haben.

Schon immer – und daran hat sich in den vergangenen Jahren in Deutschland wenig verändert – entscheidet die familiäre Herkunft über den Bildungsweg. Dafür gibt es viele Gründe, unter anderem finanzielle. Akademikereltern haben meist mehr Ressourcen, um ihre Kinder zu fördern. Wissenschaftler sprechen in dem Zusammenhang von mangelnder Bildungsmobilität. Das bedeutet, dass Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit denselben Bildungsweg wie ihre Eltern einschlagen.

Im Gedächtnis geblieben ist eine Aussage des Münchner Philosophieprofessors Julian Nida-Rümelin, der 2013 vor dem „Akademisierungswahn“ und zugleich vor der „Vernachlässigung der beruflichen Bildung“ warnte. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer hat erst kürzlich in einem „Spiegel“-Interview nachgelegt und die „Überakademisierung“ als Irrweg bezeichnet.

Warum reden wir über „Überakademisierung“? Weil uns der Nachwuchs ausgeht. Die Berufswelt hat sich gewandelt. Das Reservoir an frischen Kräften ist geringer geworden, das führt zu einer Konkurrenz um die besten Köpfe und Hände.

Zur Wahrheit gehört eben auch, dass der Arbeitsmarkt neben Elektrikern oder Pflegekräften auch dringend Lehrer oder Ingenieure braucht und in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch unterdurchschnittlich viele junge Menschen an die Hochschulen streben.

Es gibt Dutzende Gründe, warum Kinder studieren wollen – im Idealfall tun sie es aus eigenem Antrieb und eigenem Interesse. Ein Grund ist aber eben auch, dass sie damit die Erwartungshaltung der Eltern bedienen.

Dass sie sich darüber hinaus an ihren Eltern orientieren, liegt in der Natur der Sache. Kinder entwickeln durch die Erziehung oft ähnliche Weltanschauungen, Werte und Interessen. In jeder Biografie gibt es irgendetwas, was dem ähnelt, was schon die eigenen Eltern gemacht und damit auch vorgelebt haben.

Kinder scheren schwer aus Loyalität zu den Eltern aus

Nicht umsonst gibt es Familien, in denen alle Mitglieder in die Wissenschaft streben, musizieren oder auf dem Dach arbeiten. Anne Otto nennt das die Familienidentität. „So ist die tiefsitzende Loyalität von Kindern ihren Eltern gegenüber mit dem Wunsch verbunden dazuzugehören“, sagt die Diplompsychologin und Journalistin, die in ihrem aktuellen Buch „Für immer Kind“ die Beziehung von Erwachsenen zu ihren Eltern beleuchtet. Aus der besagten Loyalität auszuscheren sei schwer, so Otto. Wenn es um die Berufsfindung geht, rät sie deshalb, ein offenes Gespräch zu führen – ohne Ressentiments. Ihre Formel: „Begleiten, Ruhe bewahren und Wege aufzeigen.“ Dabei solle versucht werden, zwischen Sachebene und Beziehungsebene zu trennen, sagt Otto.

Gar nicht so einfach in einer Eltern-Kind-Konstellation. Auf der einen Seite möchten die Erwachsenen den Kindern zurufen, „sei unabhängig“, auf der anderen Seite ihnen raten, „mach es so wie wir“.

Entscheidung fürs Studium: Auch dann sind oft noch viele Fragen offen.

Oder eben noch besser. In der Leistungs-, Erfolgs- und Optimierungsgesellschaft, in der wir uns bewegen, kann es nicht hoch genug hergehen: der hohe Bildungsabschluss, der hohe Status, der hohe Verdienst. Haben die Eltern einen bestimmten Status erreicht, sollen die Kinder nicht dahinter zurückbleiben. Der Wunsch ist gesetzt: Dem Nachwuchs soll es (noch) besser gehen. Zumindest in finanzieller Hinsicht könnte das allerdings schwierig werden: Studien zeigen, dass dies Ziel zu erreichen schwerer denn je geworden ist.

Aber es geht vielen Eltern nicht allein ums Geld. Da gibt es auch die, die meinen, mit der akademischen Ausbildung ihrer Kinder das eigene Selbstwertgefühl stärken zu müssen, nach dem Motto: „Seht her, mein kluger Nachwuchs.“ Wiederum andere Eltern projizieren unerfüllte Berufswünsche auf die Heranwachsenden, und wieder andere feiern das Uni­diplom als den krönenden Abschluss einer gelungenen Erziehungsarbeit.

Bildung bleibt eine sichere Ressource

All das ist wenig zielführend – und setzt die Kinder unter Druck. So hat jeder dritte Betrieb in Deutschland schon einmal einen Studenten ohne Abschluss als Azubi eingestellt, wie eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung belegt.

Einigen kann man sich darauf, dass das Einzige, was als sichere Ressource den Kindern tatsächlich nützt, Bildung ist. Lebenslanges Lernen, so abgedroschen wie es klingen mag, ist die beste Voraussetzung, um sich in der Gesellschaft bis ins hohe Alter zurechtzufinden. Doch Bildung ist nicht gleichzusetzen mit einer akademischen Biografie. Und Lernorte sind nicht ausschließlich Universitätsgebäude.

Heranwachsende müssen in Zukunft vielleicht arbeiten, bis sie 70 Jahre alt sind. Das ist eine lange Strecke, eine, die mit Sicherheit nicht so gradlinig verläuft wie die beruflichen Lebensläufe der älteren Generation.

Am Ende wollen alle doch nur das Beste für unsere Kinder. Wie genau der Weg samt Umwegen dorthin führt – ob über den Hörsaal oder die Werkstatt –, auf die gute Begleitung kommt es an. Und darauf, dass Kinder die Chance bekommen, ihre eigenen Erfahrungen machen zu dürfen. Das ist für Eltern nicht immer leicht auszuhalten. Aber um sie geht es ja auch nicht.

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Volle Universitäten, leerer Arbeitsmarkt https://condorcet.ch/2022/07/volle-universitaeten-leerer-arbeitsmarkt/ https://condorcet.ch/2022/07/volle-universitaeten-leerer-arbeitsmarkt/#comments Fri, 15 Jul 2022 09:23:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=11067

Professor Mario Andreotti, Autor von "Eine Kultur schafft sich ab" analysiert die Gründe des Fachkräftemangels in unserem Land. Er sieht die Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte in der Verantwortung.

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Mario Andreotti, Germanist, Kolumnist und Autor: Schleichende Aushöhlung unseres dualen Systems.

«Volle Terrassen, aber kein Personal», so der Titel eines kürzlich erschienenen Beitrags im «Migros Magazin». Dass Kellnerinnen und Kellner landauf, landab Mangelware sind, ist längst bekannt. Aber der Personalmangel betrifft nicht nur das Gastgewerbe, er betrifft fast den ganzen Arbeitsmarkt: Es fehlen Bauingenieure, Bauführer, Polymechaniker, Klimatechniker, Informatiker; es fehlen Handwerker; es fehlen in den Spitälern und Seniorenheimen Pflegerinnen und Pfleger; es fehlt bei den Fluggesellschaften an Boden- und Kabinenpersonal; es fehlen Lehrerinnen und Lehrer, Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Die Liste liesse sich fast beliebig fortsetzen. Die Schweiz zählt heute mehr offene Stellen als Arbeitslose.

Fragen wir nach den möglichen Gründen für diesen eklatanten Fachkräftemangel, so ist vor allem ein Grund zu nennen: die schleichende Aushöhlung unseres dualen Ausbildungssystems, d.h. einer Ausbildung, die sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschule erfolgt, wie sie in der Schweiz Tradition besitzt und wie sie ihr die niedrigste Arbeitslosenquote und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen beschert hat. Doch da trat im Zuge der jüngsten Bildungsreformen, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, ein tiefgreifender Wandel ein. Viele berufliche Ausbildungsgänge, wie etwa die Pflegeberufe oder Berufe im Erziehungsbereich, wurden zum einen an die Fachhochschulen verlegt und damit akademisiert und zum andern verloren nichtakademische Berufe, allen voran

Es fehlt überall

Berufe im Gastgewerbe, zunehmend an Wertschätzung. Das führte fast zwingend dazu, dass immer mehr junge Menschen an die Fachhochschulen und Universitäten drängen, ja dass die Hochschulen seit gut zwei Jahrzehnten von immer mehr Studierwilligen geradezu geflutet werden. Die Universitäten, die bisher einer mehrheitlich geistigen Elite vorbehalten waren, sind heute Massenuniversitäten mit teils mehr als 20’000 Studierenden und deutlich verschlechterten Lernbedingungen. Nicht anders die Gymnasien: Aus den einstigen Elitegymnasien wurden Massengymnasien mit zu vielen Schülern, die den intellektuellen Anforderungen eines Gymnasiums im Grunde nicht gewachsen sind.

Das alles blieb nicht ohne Folgen. Die fachlichen Anforderungen an den Gymnasien wurden auf politischen Druck hin, vor allem in den beiden zentralen Fächern Deutsch und Mathematik, teils massiv abgesenkt, so dass heute in den Maturitätszeugnissen häufig Studierfähigkeit bescheinigt wird, wo diese gar nicht gegeben ist. Das zeigen die recht hohen Durchfall- und Abbrecherquoten an den Universitäten – vor allem in Kantonen mit einer hohen Maturitätsquote. Und wer das staatliche Gymnasium auch so nicht schafft, dem steht immer noch der Weg über eine Privatschule offen. Privatschulen, wie beispielsweise die AKAD oder die Minerva, verkommen so häufig zu reinen Dienstleistungsbetrieben, in denen fast niemand durchfallen darf. Ich spreche da aus langjähriger Erfahrung als Examinator und Experte an einer dieser Schulen.

Wenn immer mehr Jugendliche im Glauben, man könne nur als Akademiker ein zufriedenes, finanziell abgesichertes Dasein fristen, an die Hochschulen strömen, bleibt für die Berufslehren nur noch ein Rest an Bewerbern übrig, die häufig über schulische Defizite verfügen.

Wenn immer mehr Jugendliche im Glauben, man könne nur als Akademiker ein zufriedenes, finanziell abgesichertes Dasein fristen, an die Hochschulen strömen, bleibt für die Berufslehren nur noch ein Rest an Bewerbern übrig, die häufig über schulische Defizite verfügen. Dabei sind auch in den Berufslehren gute Anwärter gefragt, denn niemand wird behaupten wollen, dass heute in vielen Berufslehren neben dem ausgeprägten Praxisbezug weniger Fachwissen gefordert wird als von Studierenden an Hochschulen. So ist die Schweiz denn gut beraten, wenn sie im Vergleich zu anderen Ländern ohne duales Bildungssystem die Maturitätsquote relativ tief hält und zum andern den nichtakademischen Berufen wieder mehr Wertschätzung entgegenbringt, wenn unter anderem über mehr Aufstiegsmöglichkeiten in diesen Berufen, über flexiblere Arbeitszeitmodelle und bessere Rahmenbedingungen nachgedacht wird. Dann werden auch die Betriebe ihre Lehrstellen wieder mit genügend fähigen Lehrlingen besetzen können.

 Mario Andreotti

 Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor («Ein Kultur schafft sich ab»)

 

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Handwerkermangel – Deutschland im Akademisierungswahn https://condorcet.ch/2022/04/handwerkermangel-deutschland-im-akademisierungswahn/ https://condorcet.ch/2022/04/handwerkermangel-deutschland-im-akademisierungswahn/#comments Thu, 14 Apr 2022 22:47:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=10807

Eklatanter Fachkräfte- und Handwerkermangel bedrohen den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ein Grund dafür ist die Vernachlässigung des dualen Ausbildungssystems. Es ist politisch gewünscht, dass möglichst jeder das Abitur erreicht. Doch der Akademisierungswahn der deutschen Bildungspolitik gefährdet Wohlstand und Fortschritt. Ein Beitrag von Professor Hans-Peter Klein.

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Prof. Hans Peter Klein, Frankfurt: Mit deutlich geringeren Studentenzahlen die Leistungen verbessern.

In der aktuellen Talkshow „Hart aber Fair“ griff Frank Plasberg ein für den Wirtschaftsstandort Deutschland immer bedrohlicher werdendes Szenario auf dem Arbeitsmarkt auf: „Die neue Arbeiter-Losigkeit: Warum gehen Deutschland die Fachkräfte aus?“ Ob Pflegekraft, Kellnerin oder Handwerker – in Deutschland fehlten überall Fachkräfte. Die Unis seien voll, doch der Handwerkermarkt sei trotz oft guter Bezahlung leer. Was kann man da tun? Sind Fachkräfte aus dem Ausland die Lösung, womöglich die Menschen aus der Ukraine eine Hilfe? Darüber diskutierten die Gäste mehr oder weniger diffus an diesem Abend.

Schauen wir uns die für diese Entwicklung ursächlichen Fakten einmal näher an. Fakt ist, dass die Hochschulen seit etwa einem Jahrzehnt von immer mehr Studierwilligen geflutet werden. Fast alle Universitäten haben binnen kürzester Zeit ihre Studentenzahlen um mehr als 50% erhöhen müssen, wie beispielsweise die Goethe-Universität Frankfurt von noch knapp unter 30.000 Studenten zu Beginn des letzten Jahrzehnts bis hin zu rund 47.000 nur wenige Jahre später. Die schon in den 90er-Jahren befürchteten Massenuniversitäten mit deutlich verschlechterten Lernbedingen sind heute Realität. Was aber ist der Grund, und was sind die Folgen dieser Entwicklung?

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) begab sich fatalerweise frühzeitig in die Gefangenschaft der empirischen Bildungsforschung, die ab der Jahrtausendwende wie ein Phoenix aus der Asche emporstieg.

Spätestens seit der Pisa-Studie 2000 wurde insbesondere Deutschland kontinuierlich auf die Anklagebank des Pisa-Chefs der OECD in Paris, Andreas Schleicher, gesetzt. Im internationalen Vergleich sei die Abiturientenquote viel zu gering. Der Wirtschaftsstandort Deutschland sei in Gefahr, wenn nicht entsprechend gegengesteuert werde. Bildungsökonomen rechneten gleich vor, wie viele Prozente an zukünftigen Bruttosozialprodukten jährlich verloren gingen, wenn hier nicht sofort gegengesteuert würde.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) begab sich fatalerweise frühzeitig in die Gefangenschaft der empirischen Bildungsforschung, die ab der Jahrtausendwende wie ein Phoenix aus der Asche emporstieg. Frühzeitige Kritik vor allem aus den Erziehungswissenschaften an der bildungsökonomischen Entwicklung wurden als unerwünschtes Störfeuer abgetan, ihre Einsprüche schlichtweg missachtet. Die meisten Eltern waren allerdings durchaus erfreut, bedeutete dies doch das relativ sichere Abitur für ihre Zöglinge und die Aussicht auf deren Akademikerstatus.

Bereits 2015 betrug die Abiturientenquote zwischen 40% und 55% je nach Bundesland, bei immer besser werdenden Durchschnittsnoten und einer exponentiellen Zunahme an Einser-Abituren.

Fakt ist weiterhin, dass in den 90er-Jahren die Abiturientenquote in den einzelnen Bundesländern noch zwischen knapp 20% und knapp unter 30% lag, je nach Bundesland. Schon damals wurde von Kritikern der Niveauverlust im Abitur gegenüber früheren Jahren kritisiert. Gut 20 Jahre später hat sich geradezu ein Wunder vollzogen: Bereits 2015 betrug die Abiturientenquote zwischen 40% und 55% je nach Bundesland, bei immer besser werdenden Durchschnittsnoten und einer exponentiellen Zunahme an Einser-Abituren. Tendenz fortschreitend. Gleichzeitig begrüßten nicht nur die Kultusministerien der Länder die inflationäre Vergabe des Abiturs. Bildungs- und Gewerkschaftsverbänden und auch so manchem Reformpädagogen kam diese politische Stoßrichtung gerade recht, war doch schon immer die als elitär betrachtete geringe Abiturientenquote ein Dorn in deren linkem Auge.

Wie aber ist es möglich, die Abiturientenquote binnen kürzester Zeit fast zu verdoppeln?

Exorbitante Steigerung der Abiturquote!

Wie aber ist es möglich, die Abiturientenquote binnen kürzester Zeit fast zu verdoppeln? Sind wir also in Deutschland doppelt so schlau wie noch vor 20 Jahren? Wohl kaum. Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: Man hat einfach insbesondere die fachlichen Anforderungen selbst an den Gymnasien auf politischen Druck hin teils massiv abgesenkt. Zahlreiche Vergleiche der Zentralabituraufgaben der einzelnen Bundesländer im Laufe der Jahre konnten dies zweifelsfrei nachweisen. Mathematische Leistungen, die in Baden-Württemberg noch in den 70er-Jahren jeder Realschüler in seiner Abschlussprüfung zu bearbeiten hatte, fehlen heute in diesem Schwierigkeitsgrad weitgehend, selbst in den Leistungskursen. Jährliche Rekorde bei den Durchschnittsnoten werden selbst in der Presse meist nur noch mit ironischen Kommentaren versehen.

Um nun die Durchfall- und Abbrecherquoten nicht ins Uferlose ansteigen zu lassen, wurden die Hochschulen angehalten, eine Art Nachhilfekurse für nicht studierfähige Studierwillige vor Aufnahme des Studiums anzubieten, in denen thematisch fachliche Grundlagen in den Fächern zu lehren sind, deren Vermittlung vormals die genuine Aufgabe der abiturvergebenden Schulformen war.

Als Folge dieser Entwicklung strömen immer mehr nicht studierfähige Abiturienten an die Hochschulen. Auch dem BMBF in Berlin ist diese Entwicklung durchaus bekannt. Um nun die Durchfall- und Abbrecherquoten nicht ins Uferlose ansteigen zu lassen, wurden die Hochschulen angehalten, eine Art Nachhilfekurse für nicht studierfähige Studierwillige vor Aufnahme des Studiums anzubieten, in denen thematisch fachliche Grundlagen in den Fächern zu lehren sind, deren Vermittlung vormals die genuine Aufgabe der abiturvergebenden Schulformen war. Dass diese vom Steuerzahler durch das BMBF finanzierten Kurse in der Öffentlichkeit nicht so heißen dürfen, liegt auf der Hand. „Ein starker Start ins Studium“ beispielsweise klingt doch sehr viel positiver, und nur für derartige Wortkreationen gibt’s dann Geld. Allein an der Goethe-Universität Frankfurt schlägt dies mit einem zusätzlichen Budget von 42 Millionen Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren zu Buche. Weiterhin wurden die klammen Hochschulen mit weiterem Geld zwecks Senkung der Misserfolgsquoten geködert: für jeden in der vorgesehenen Studienzeit zum Abschluss gebrachten Studenten gibt es bereits seit 2015 in fast allen Bundesländern Prämien von rund 4000 € und mehr (etwa in NRW).

Bereits 2018 boten 78 Universitäten, Hochschulen und Akademien 149 verschiedene Studiengänge allein in der Pflege an.

Gleichzeitig wurde das duale berufsbildende System vor allem dadurch weiter ausgehöhlt, indem in einem vorher nicht gekannten Akademisierungswahn berufliche Ausbildungsgänge gleich massenhaft akademisiert wurden. Bereits 2018 boten 78 Universitäten, Hochschulen und Akademien 149 verschiedene Studiengänge allein in der Pflege an, davon 105 mit einem Bachelor- und 44 mit einem Masterabschluss. Laut „Studycheck“ gibt es derzeit 20.185 Studiengänge an 585 Hochschulen in Deutschland. Blumige Beschreibungen klingen eher wie Realsatire: Dentalhygiene und Präventionsmanagement, Service-Center-Management, Cruise-Management, Golf- Management, Accessoire Design, Coffee-Management, Citizenship, Civic Engagement oder Culinary Arts und Food Management. Für derartige Studiengänge kennt man im anglo-amerikanischen Raum einen zutreffenden Namen: „Micky-Maus-Studiengänge“, die schon allein wegen ihrer geringen Nachhaltigkeit letztlich ins Nichts führen. Die Absolvierenden sitzen in der oftmals zitierten „Bachelor-Falle“. Über- und Fehlqualifikationen sind die Folge.

Für das berufsausbildende System bleibt dann nur noch eine Restpopulation an Bewerbern übrig, die aufgrund der Absenkung der Ansprüche teilweise nicht mal über die grundlegenden Kompetenzen des Lesens, des Schreibens oder des basalen Rechnens verfügen. Das Ergebnis liegt auf der Hand: ein eklatanter Fachkräfte- und Handwerkermangel.

Mit ihrer ausgeklügelten und stark geförderten beruflichen Ausbildung im dualen System hat die Schweiz die niedrigste Arbeitslosen- und Jugendarbeitslosigkeitsquote und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen.

Das Beispiel der Schweiz widerlegt zudem die Aussagen der Bildungsökonomen für eine derartige Entwicklung. Man ist dort nicht auf die Propaganda der OECD hereingefallen und hat weiterhin eine Abiturientenquote von rund 20%. Entsprechend der OECD müssten dort die Lichter längst ausgegangen sein. Das Gegenteil ist der Fall. Mit ihrer ausgeklügelten und stark geförderten beruflichen Ausbildung im dualen System hat die Schweiz die niedrigste Arbeitslosen- und Jugendarbeitslosigkeitsquote und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen. Ganz im Gegensatz dazu haben Länder ohne duales System zwar deutlich höhere Akademikerquoten, wie etwa Großbritannien oder die südeuropäischen Länder, aber auch eine deutlich höhere Jugendarbeitslosigkeit. Nicht nur in südeuropäischen Ländern, auch in China und Australien ist längst von einem akademischen Prekariat die Rede.

Jeder, der im Ahrtal oder der Eifel vom Hochwasser heimgesucht wurde, weiß, dass der Wiederaufbau keine Frage des Geldes, sondern der nicht vorhandenen Handwerker und Fachkräfte im Baubereich ist.

Wiederaufbau keine Frage des Geldes, sondern der nicht vorhandenen Handwerker und Fachkräfte.

Fakt ist auch, dass sich die Schere zwischen den Einkommen von Akademikern und Handwerkern und Fachkräften zusehends schließt. Das liegt schon allein an der Nachfrage und dem Angebot, dass auf Jahrzehnte hin knapp bleiben dürfte. In der Sendung „Hart aber Fair“ wurde vor der „Londonisierung“ gewarnt. Mittlerweile sind dort Headhunter vielfach unterwegs, um Handwerker ausfindig zu machen. Diese können aufgrund der enormen Nachfrage finanziell verlangen, was sie wollen. Teilweise finden Bietverfahren statt. Jeder, der im Ahrtal oder der Eifel vom Hochwasser heimgesucht wurde, weiß, dass der Wiederaufbau keine Frage des Geldes, sondern der nicht vorhandenen Handwerker und Fachkräfte im Baubereich ist. Es wird noch viele Jahre dauern, bis alle Schäden auch an der Infrastruktur behoben sein werden. Ohne die teilweise aus dem Osten stammenden und dort angemeldeten Handwerkerkolonnen geht derzeit in diesen Regionen gar nichts. Auch der politisch binnen kürzester Zeit eingeforderte Ausbau der erneuerbaren Energien, der Hausdämmung, der Solardächer der Wärmepumpen u.a. wird weniger am Geld als an den nicht vorhandenen Kapazitäten im Handwerker- und Fachkräftebereich scheitern.

Zu glauben, dass jetzt in großem Maße Hilfe aus der Ukraine kommt, ist wenig empathisch. Die Menschen aus der Ukraine haben andere Sorgen, als Lückenbüßer für eine verfehlte Bildungspolitik in Deutschland zu sein. Da müssen wir uns schon an die eigenen Nase fassen. Außerdem hat uns 2015 gezeigt, dass diese Lücke durch die mehr als 800.000 syrischen Flüchtlinge von damals, die ja der Bevölkerung als bestens ausgebildet präsentiert wurden, nicht geschlossen werden konnte (laut Zeit vom 23. September 2021 bedürfen immer noch 67% der staatlichen Unterstützung). Auch hier ist möglicherweise ein Déjà-vu zu erwarten. Denn auch zwischen einem Bachelor oder Master einer Eliteuni aus den USA, Großbritannien, Ecuador, Syrien, der Ukraine, Marokko oder auch aus Deutschland liegen Welten im Anforderungsniveau. Dies ist einer der wesentlichen Gründe für die unterschiedliche Prosperität der entsprechenden Volkswirtschaften. Dies scheint sich bis in die obersten Kreise des BMBF, der Kultusministerien der Länder und der Politik generell noch nicht herumgesprochen zu haben.

Die duale Ausbildung fördern durch Umlagerung der Geldflüsse.

Was ist zu tun? Man wird diese jahrzehntelange Fehlentwicklung nicht in wenigen Jahren in eine vernünftige Richtung leiten können. Eine sofortige 180-Grad-Drehung der Bildungspolitik durch die entsprechenden Institutionen des Bundes und der Länder ist gefordert, die allerdings jahrelang der Bevölkerung ins Ohr geflüstert haben, man könne nur als Akademiker ein zufriedenes und finanziell abgesichertes Dasein fristen. Zusammen mit der deutschen Wirtschaft, den Handwerker- und Fachkräfteverbänden muss sofort ein Bewerbungsprogramm in den Schulen und der Öffentlichkeit gestartet werden, dass dem dualen berufsausbildenden System eindeutig den Vorrang einräumt. Auch eine Umsteuerung in der finanziellen Zuwendung ist oberstes Gebot. Anstatt im Bildungsbereich weiterhin meist nutzlose Studien – dazu gehören auch die Pisa-Studien und alle ihre Abkömmlinge, mit denen die Schulen heimgesucht werden – mit zweifachen Millionenbeträgen pro Jahr auszustatten, ist dieses Geld in der Förderung der dualen Ausbildung in allen notwendigen Schritten sehr viel besser angelegt. Eine Thematisierung in den Schulen ist Voraussetzung dafür, dass die Schüler hier die verschiedensten Möglichkeiten der dualen Ausbildung vorgestellt bekommen. Gerade auch die digitale Transformation des Handwerks hin zu einer zunehmend digitalen Arbeitswelt darf in den Schulen nicht zu kurz kommen.

Seit Jahren schafft es keine deutsche Universität im Shanghai-Ranking unter die ersten 50!

Dann werden auch die Hochschulen entlastet und können sich mit deutlich geringeren Studentenzahlen und wesentlich verbesserten Betreuungsverhältnissen der Forschung und Lehre wieder erfolgreicher widmen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Seit Jahren schafft es keine deutsche Universität im Shanghai-Ranking unter die ersten 50! (Aktuell erreicht die die LMU Platz 48 (!), die TUM Platz 54, Heidelberg 57 und Bonn den Platz 87.) Die ETH-Zürich – von vielen deutschen Bildungsexperten lange belächelt – zeigt, wie es geht, einen der Plätze unter den ersten 20 zu erreichen. Die ersten zehn Plätze sind stets den bekannten acht amerikanischen Elitehochschulen und den beiden bekannten britischen Hochschulen Oxford und Cambridge vorbehalten.

Mit „Hart aber Fair“ hat dieser Beitrag begonnen und soll damit auch enden. Frank Plasberg stellte in seiner Sendung leider erst zum Schluss einen Videoclip vor, in dem der Präsident des Zentralverbandes des deutschen Handwerks, Joseph Wild, vor 50 Jahren zu Wort kam: „Wir haben einen kolossalen Mangel an Facharbeitern, und man soll doch mit dem Irrtum aufhören, dass man aus dem letzten Dorftrottel einen Hochschulprofessor machen kann.“

Dieser Beitrag ist zuerst im CICERO erschienen.

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