Europa - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 14 May 2023 17:53:35 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Europa - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Was Lehrer in europäischen Ländern verdienen https://condorcet.ch/2023/05/was-lehrer-in-europaeischen-laendern-verdienen/ https://condorcet.ch/2023/05/was-lehrer-in-europaeischen-laendern-verdienen/#respond Sun, 14 May 2023 13:28:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=13920

Deutschlands Schulen suchen verzweifelt Personal, vielerorts ist der Unterricht gefährdet. Doch eine langfristige Lösung ist nicht in Sicht, kaum einer will noch Lehrer werden. Können andere Länder hier Vorbild sein? Ein Überblick zeigt, wie andere Länder ihre Pädagogen behandeln – und bezahlen. Wir publizieren einen Bericht der WELT-Journalisten Martina Meister, Virginia Kirst, Julia Wäschenbach, Mandoline Rutkowski, Philipp Fritz.

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Der Fachkräftemangel im deutschen Bildungssystem ist enorm. Die Kultusministerkonferenz prognostiziert, dass bis zum Jahr 2025 rund 25.000 Lehrkräfte fehlen werden. Der Lehrerverband hält das für untertrieben: Präsident Heinz-Peter Meidinger zufolge liegt die Zahl der unbesetzten Stellen bereits jetzt zwischen 32.000 und 40.000. Was tun?

Mit früher Verbeamtung locken, mit Umzugspauschale, mit höheren Gehältern? Die Deputate aufstocken, die Klassen vergrößern, mehr Online-Unterricht anbieten? Keine der Ideen, die derzeit öffentlich diskutiert werden, scheint das grundsätzliche Problem zu lösen: Zu wenige junge Menschen wollen Lehrer werden. Wie sieht das in anderen Ländern aus? Ein Überblick.

Frankreich: Über 4000 Stellen konnten nach landesweiten Aufnahmeprüfungen ins Lehramt nicht besetzt werden.

Frankreich

Die Lage an den Schulen ist angespannt – und das seit Jahren. Hauptgrund für den chronischen Lehrermangel ist die miserable Bezahlung. Im Durchschnitt verdienen die Pädagogen in unserem Nachbarland nur die Hälfte ihrer deutschen Kollegen. Das soll sich ändern. „Kein Lehrer wird seine Karriere mehr mit einem Nettogehalt von unter 2000 Euro beginnen“, versprach Präsident Emmanuel Macron. Ein „Pakt für die Lehrenden“ soll außerdem Honorare für Zusatzleistungen ermöglichen.

Die schlechte Bezahlung hat auch Auswirkungen auf das Ansehen der Lehrer. In einer Vergleichsstudie von 2018 geben nur sieben Prozent der französischen Lehrkräfte an, „angemessene gesellschaftliche Anerkennung“ zu bekommen, während der OECD-Durchschnittswert bei einem Viertel liegt.

Zu Schuljahresbeginn im Herbst fehlten an weit über der Hälfte der Schulen Lehrkräfte. Über 4000 Stellen konnten nach landesweiten Aufnahmeprüfungen ins Lehramt nicht besetzt werden. Die Akademie von Versailles veranstaltete daraufhin sogenannte job datings, bei denen innerhalb von nur einer halben Stunde Aushilfskräfte rekrutiert wurden.

Sie müssen ihre Karriere in der Regel in Vorstädten beginnen, wo die Arbeitsbedingungen wegen der mangelnden sozialen Durchmischung hart sind.

Der Beruf ist für junge Menschen nicht nur wegen des Gehaltes unattraktiv, sondern auch wegen der eingeschränkten Mobilität. Sie müssen ihre Karriere in der Regel in Vorstädten beginnen, wo die Arbeitsbedingungen wegen der mangelnden sozialen Durchmischung hart sind. „Wir glauben, dass die Bedingungen für besondere Attraktivität geschaffen werden müssen und den Rektoren in Sachen Zulagen mehr Manövrierfähigkeit gelassen werden muss“, sagt Pierre Moscovici, Präsident des französischen Rechnungshofes, der eine Reform der Lehrerausbildung fordert, um den Beruf attraktiver zu machen.

Macron, dessen Ehefrau Brigitte Lehrerin war, hatte bei Amtsantritt 2017 grundlegende Änderungen versprochen. In sozialen Brennpunkten wurde die Klassenstärke an Grundschulen halbiert. Die schlechten Bedingungen an öffentlichen Schulen und der häufige Unterrichtsausfall führen jedoch dazu, dass Gutverdiener ihre Kinder immer häufiger auf Privatschulen schicken. Martina Meister

Italien

Auch Italien kann beim Lehrerberuf nicht als Vorbild für Deutschland dienen: Rom zahlt seinen Lehrern in der Grundschule mit rund 36.000 Euro jährlich bei 15 Jahren Berufserfahrung nicht nur eines der niedrigsten Gehälter Westeuropas. Auch der Einstieg in den Beruf ist oft prekär: Anwärter arbeiten jahrelang mit Verträgen, die auf ein Schuljahr befristet sind und beziehen im Sommer Arbeitslosengeld, bevor sie fest eingestellt werden.

Quelle: Infografik WELT

Trotzdem gibt es viele Bewerber, weil Lehrer verbeamtet werden und vielen Italienern die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes über alles geht. Dass trotz dieser Umstände zu Schulbeginn oft Pädagogen fehlen – im September 2022 waren es landesweit rund 200.000 –, liegt wiederum daran, dass sich die öffentlichen Bewerbungs- und Einstellungsrunden wegen zu viel Bürokratie in die Länge ziehen. Einspringen müssen dann wieder die befristeten Lehrkräfte. Virginia Kirst

Dänemark Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Dänemark

Auch Deutschlands nördlicher Nachbar Dänemark spürt den Lehrermangel heute schon – und es soll noch dramatischer werden. Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. Schon heute haben etliche Lehrkräfte an den öffentlichen Grundschulen in Dänemark keine Lehrerausbildung. Frisch ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer verlassen die Schulen oft schon nach wenigen Jahren wieder – und geben häufig die Arbeitsbedingungen als Grund an. Dabei ist zumindest das Gehalt im europäischen Vergleich gut: Zum Einstieg verdienen Lehrkräfte etwas mehr als 4000 Euro im Monat.

Um den Lehrermangel zu bekämpfen, will die Regierung unter anderem die Ausbildung verbessern. Das Ziel: mehr Praxis-Erfahrung, mehr Qualität in der Lehre und in der Fortbildung. Der neue dänische Unterrichtsminister Mattias Tesfaye will für die Schulen auch mehr Geld in die Hand nehmen – und meint damit nicht die Ausstattung mit iPads und Smartboards. Im Gegenteil hat Tesfaye die dänischen Schulen vor Kurzem dazu aufgerufen, den Unterricht wieder analoger zu gestalten. Die Digitalisierung habe den Schulunterricht einförmiger gemacht, beklagt auch der dänische Lehrerverband – und damit nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für deren Lehrkräfte uninteressanter. Julia Wäschenbach

Großbritannien

Schlechte Bezahlung, Krise im Bildungssystem

Rishi Sunak hat Großes vor. Um die Wirtschaft anzukurbeln, will der britische Premier den Mathematikunterricht bis zum 18. Lebensjahr verpflichtend machen. Das Problem: Das Schulsystem steckt in der Krise. Staatliche Einrichtungen sind seit Jahren unterfinanziert, das Land leidet an einem akuten Lehrermangel. Nach Angaben der National Foundation for Educational Research wird die Regierung in diesem Monat weniger als die Hälfte ihres Einstellungsziels von 26.000 Sekundarlehrern erreichen.

Das liegt vor allem an der schlechten Bezahlung. Die Gehälter in England sind nach Angaben des Instituts zwischen 2010 und 2022 um durchschnittlich elf Prozent gesunken. Derzeit verdient ein Lehrer zwischen 28.000 und 38.810 Pfund (umgerechnet zwischen 32.000 und 44.100 Euro) pro Jahr.

Im März hatten die britischen Lehrergewerkschaften ein Angebot der Regierung abgelehnt: Eine Gehaltsanpassung um rund 4,3 Prozent und eine Einmalzahlung von 1000 Pfund (rund 1140 Euro). Neue Verhandlungen sind nicht geplant. Elle Crossley, Ökonomin am Center for Economics and Business Research, schätzt die verlorene Wirtschaftsleistung von Lehrern und Universitätsmitarbeitern durch Streiks in diesem Jahr auf 270 Millionen Pfund (307 Millionen Euro).

Sunaks Rechnung scheint nicht aufzugehen. Politiker-Berater Sam Freedman schrieb auf Twitter: „Wenn du Tausende Mathematiklehrern zu wenig + die Reallöhne 13 Jahre lang gekürzt hast + eine Richtlinie einführst, die Tausende mehr Mathematiklehrer erfordert, wie wahrscheinlich ist ein Gelingen?“ Mandoline Rutkowski

Polen: Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Polen

93 Prozent aller Lehrkräfte in Polen wollen in den Vorruhestand gehen können. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Fachzeitschrift „Glos Nauczycielski“. Das liegt vor allem daran, dass polnische Lehrer in der Regel nur wenig verdienen. Ein Lehrer der Grundstufe zum Beispiel verdient durchschnittlich 4432,15 Zloty, umgerechnet weniger als tausend Euro, monatlich – und zwar brutto. Bei Lebenshaltungskosten in den Großstädten, die vergleichbar mit denen in Deutschland sind, ist das ein Hungerlohn. Dennoch ist die Zahl der Lehrer in Polen in den vergangenen Jahren leicht gestiegen. Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Und die Schüler? Die liefern seit Jahren Spitzenleistungen. Laut Pisa-Studie belegen polnische Schüler in den Disziplinen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften weltweit die Plätze fünf oder sechs.

Für viele Polen ist der Lehrerberuf trotz der überschaubaren Bezahlung attraktiv. Im Vergleich zu Deutschland gibt es innerhalb der Schulen nämlich viele Aufstiegsmöglichkeiten, das Bildungswesen ist gut digitalisiert, was die Arbeit erleichtert.

Und die Schüler? Die liefern seit Jahren Spitzenleistungen. Laut Pisa-Studie belegen polnische Schüler in den Disziplinen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften weltweit die Plätze fünf oder sechs. Davon kann Deutschland nur träumen. Philipp Fritz

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Vergesst Horizon 2020! https://condorcet.ch/2023/02/vergesst-horizon-2020/ https://condorcet.ch/2023/02/vergesst-horizon-2020/#comments Wed, 22 Feb 2023 18:30:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=13250

Schweizer Wissenschaftler und Politiker halten die Teilnahme am EU-Forschungsprogramm für überlebenswichtig. Dabei ist das ein bürokratischer Käfig, der vom Denken ablenkt, schreibt unser Gastautor Mathias Binswanger. Der Artikel ist zuerst im Nebelspalter erschienen.

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Die Situation ist untragbar. Uni-Rektoren alarmiert» – so lautete eine Schlagzeile im Januar. Es ging um das World Economic Forum, das WEF, in Davos, wo sich auch die Rektoren der wichtigsten Universitäten der Schweiz treffen durften. Der Rektor der Universität Zürich, Michael Schaepman, liess dort verlauten: «Wenn es so weitergeht, nehmen wir in Kauf, dass wir im internationalen Ranking tauchen.» Denn wenn die Schweiz weiterhin keinen vollen Zugang zum europäischen Forschungsprogramm «Horizon» habe, würden die hiesigen Universitäten schlechter beurteilt.

Schleichende Aufgabe der Eigenständigkeit

Volkswirtschaftler Mathias Binswanger, Gastautor

Tatsächlich ist die Situation untragbar, aber in einem ganz anderen Sinn als von den Rektoren dargestellt. Es ist untragbar, dass sich die Schweizer Forschung von der EU-Förderung abhängig und damit erpressbar gemacht hat. Diese schleichende Aufgabe der Eigenständigkeit ist ein Armutszeugnis und spricht nicht für den Forschungsstandort Schweiz. Die Schweiz ist Teil der EU-Forschungsbürokratie geworden, welche wesentlich dazu beiträgt, aus Forschern fleissige Antragsschreiber und Berichtverfasser für Projekte zu machen, auf deren Resultate niemand gewartet hat.

Akademiker sollten eigentlich zu den intelligentesten Mitgliedern einer Gesellschaft gehören. Das zumindest vermuten viele Leute ausserhalb des Wissenschaftsbetriebes. Doch gleichzeitig müssen sich Akademiker de facto wie kleine Kinder behandeln lassen, wenn es um die Überprüfung ihrer Leistungen geht. Jahr für Jahr versuchen sie, Artikel um Artikel in Fachzeitschriften zu veröffentlichen, Projektanträge zu schreiben, Berichte zu verfassen oder Dokumente für Akkreditierungen zu erstellen, um so bei internen und externen Ratings und Beurteilungen gut dazustehen. Und dann sollten sie auch noch so tun, als ob ihnen all diese Tätigkeiten ein grosses Anliegen wären.

Es ist untragbar, dass sich die Schweizer Forschung von der EU-Förderung abhängig und damit erpressbar macht.

Hinter vorgehaltener Hand beklagen sich zwar viele Akademiker über diese Gängelung. Doch die Mehrheit fügt sich brav den Anforderungen der Forschungsbürokratie. In deren Zentrum steht der quantitativ messbare Input oder Output der Forschung. Wichtig ist die Zahl der Publikationen, der Zitationen, Impact-Faktoren, H-Index, i10-Index, G-Index . . . Die Liste an Kennzahlen zur quantitativen Erfassung von Forschungsleistungen wird immer länger.

Zuckerbrot und Peitsche

Inzwischen gibt es eine eigene «Wissenschaftsdisziplin», die sich ausschliesslich mit dem richtigen Messen von wissenschaftlichen Leistungen beschäftigt: die Szientometrie. Auf diese Weise wird eine bürokratische Tätigkeit – das Messen von Forschungsleistungen – selbst zur Wissenschaft und erhält den Anstrich objektiver Notwendigkeit.

Engt sich der Blick des Wissenschaftsbetriebs durch die Forschungsbürokratie ein?

Wie ist es aber möglich, dass Akademiker zu willfährigen und (selbst)disziplinierenden Vollstreckern eines Systems geworden sind, das ihnen oft die Freude an ihrer Tätigkeit raubt? Die Antwort ist einfach: Zuckerbrot und Peitsche. Eine Karriere als Akademiker ist heute nur möglich, wenn man entsprechend Artikel publiziert, Projekte akquiriert und, das gehört heute auch dazu, sich stets politisch korrekt verhält. Wer das fleissig tut, der wird belohnt und steigt in der Wissenschaftshierarchie nach oben.

Politisch korrekter Output

Wer hingegen keine messbare Leistung erbringt, endet schnell auf einem akademischen Abstellgleis oder muss sich aus dem System verabschieden. So ist etwa die Anzahl der von einem Forscher veröffentlichten Zeitschriftenartikel zum wichtigsten Anliegen, aber auch zur grössten Sorge unter vielen Akademikern geworden. Wo man veröffentlicht hat, ist wichtiger, als was in einer Arbeit steht. So kann man bei informellen Diskussionen mit Kollegen sich oft stundenlang darüber unterhalten, welche Artikel jetzt gerade wo veröffentlicht werden, welche in der Pipeline sind und mit welchen Co-Autoren weitere wichtige Arbeiten geplant sind. Nur über den eigentlichen Inhalt erfährt man kaum etwas.

Wo man veröffentlicht hat, ist wichtiger, als was in einer Arbeit steht.

Das ganze Controlling führt zu einer Standardisierung von Forschung und Lehre. Immer mehr an die Norm angepasste Forscherinnen und Forscher produzieren immer mehr standardisierten, berechenbaren und in Sozialwissenschaften auch politisch korrekten Forschungsoutput.

Ein System, das Qualität belohnen will, verwandelt sich in ein System, das Qualität behindert.

Nicht Kreativität, sondern Vorhersehbarkeit und Planbarkeit sind wichtig, denn nur so lassen sich Forschungsanträge schreiben, bei denen man über Jahre hinaus jeden Teilschritt schon im Vornhinein angeben kann. In den Artikeln entwickelt sich ein standardisierter Aufbau und ein normierter Schreibstil, bei dem die Individualität der einzelnen Forscher möglichst wenig zum Ausdruck kommt.

Auch was Methoden, Modelle, Verfahren und Inhalte betrifft, fügen sich Wissenschaftler in die momentan gerade vorherrschende Norm ein. Je mehr Forscher aber durch Regeln und Standards eingeschränkt werden, umso mehr neigen sie dazu, auf Nummer sicher zu gehen und nachzuahmen, was andere getan haben – sogenanntes gap-spotting.

Quantitativ messbarer Output verdrängt den Inhalt.

Unerwartete, neue oder herausfordernde Ideen werden dadurch seltener. Ein System, das eigentlich die Qualität messen und belohnen will, verwandelt sich so in ein Kontrollsystem, welches Qualität zunehmend behindert. So entsteht ein ständiger Strom von Artikeln, die von immer mehr Akademikern als sinnlose, uninteressante technische Übungen beurteilt werden und inhaltlich kaum einen Beitrag leisten. Die Artikel dienen in erster Linie dazu, sich in entsprechenden Rankings zu verbessern. Quantitativ messbarer Output verdrängt den Inhalt. Und die intrinsische Motivation der Forscher, oder wie Robert Merton es nannte: der «Taste of Science», wird verdrängt durch extrinsische Motivation oder einen taste for publications and projects.

Wissenschaftliche Fleissarbeiter ohne Geist

Doch es geht nicht nur um die Optimierung von Prozessen, sondern auch um eine Optimierung der in Forschung und Wissenschaft tätigen Menschen selbst. Rein äusserlich scheint die Freiheit an Hochschulen grösser zu werden. Man kann im Home-Office arbeiten, Online-Veranstaltungen machen, neue Lernformen erproben oder sich weltweit mit anderen Wissenschaftlern vernetzen. Aber gleichzeitig macht die Hochschulbürokratie immer mehr Druck und zwingt Akademiker dazu, messbaren und der Norm entsprechenden politisch korrekten Output zu produzieren.

Immer mehr Druck für politisch korrekten Output.

Aus diesem Grund treffen wir im akademischen Umfeld verstärkt wissenschaftliche Fleissarbeiterinnen und -arbeiter ohne Geist an. Diese sind intelligent, clever und beherrschen ihr Handwerk. Aber sie sind opportunistisch und an Inhalten letztlich nicht interessiert.

Kein Wunder, dass unter solchen Bedingungen immer mehr Wissenschaftler immer weniger originelle Beiträge liefern. Eine im Januar 2023 publizierte Untersuchung in der Zeitschrift Nature unter dem Titel «Papers and patents are becoming less disruptive over time» zeigt: In den letzten Jahrzehnten ist der Umfang neuer wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse exponentiell gestiegen.

Rückgang der Vielfalt

Im Gegensatz dazu deuten verschiedene Beobachtungen aber darauf hin, dass sich der Fortschritt verlangsamt. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Veröffentlichungen und Patente mit der Vergangenheit in einer Weise brechen, die Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen lenkt. Und genau das wäre die Idee von wissenschaftlichem Fortschritt oder, neudeutsch: von disruptiver Veränderung.

Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Veröffentlichungen und Patente mit der Vergangenheit in einer Weise brechen, die Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen lenkt.

Eine mögliche Erklärung ihrer Resultate sehen die Autoren in der Zunahme des Publikationsdrucks. Wissenschaftler und Erfinder konzentrieren sich verstärkt auf die Verfeinerung von Details und Modellen aus früheren Arbeiten, um aus einer Idee oder einem Modell möglichst viele Publikationen herauszuholen. Die Autoren beobachteten auch einen Rückgang der Vielfalt der zitierten Arbeiten, was wiederum ein Hinweis darauf ist, dass sich die heutige Wissenschaft mit immer engeren Ausschnitten des vorhandenen Wissens befasst.

Bleibt der wissenschaftlich offene Geist zunehmend in der Flasche?

Dieser Rückgang der Vielfalt geht einher mit einer Zunahme des Anteils an Zitaten des einen Prozents der am häufigsten zitierten Arbeiten. Im Laufe der Zeit zitieren Wissenschaftler zunehmend die gleichen «exzellenten» früheren Arbeiten, wodurch auch die neu publizierten Arbeiten sich thematisch immer ähnlicher werden. Mit andern Worten: Wissenschaft wird zur Fleissarbeit ohne Geist!

 

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen.

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