Erzählen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 24 Jul 2020 15:23:03 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Erzählen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Lettres waldorfiennes: Die Rolle des Erzählens https://condorcet.ch/2020/07/lettres-waldorfiennes-die-rolle-des-erzaehlens/ https://condorcet.ch/2020/07/lettres-waldorfiennes-die-rolle-des-erzaehlens/#respond Fri, 24 Jul 2020 12:07:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=5870

Unser Gastautor Hubert Geissler schickte uns diesen Text aus Italien, dem Land der Mythen und Erzählungen. Der Autor kokettiert bewusst mit der Metapher "Aus der Zeit gefallen" und erinnert an den Wert des Erzählens.

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Hubert Geissler: Hattie hätte sicher nichts dagegen.

Mit der Coronakrise scheint sich eine Entwicklung anzubahnen, die den zunehmenden Einsatz digitaler Medien im Unterricht fast unabdingbar macht. Sei es die Angst vor einer zweiten Welle oder die vor dem Auftauchen einer neuartigen Pandemie: Die Erfahrungen während der Schulschließung erzwingen offensichtlich die nunmehr fast kritiklose Hinnahme eines Fernunterrichts und lassen die traditionelle Lehrerinnen-Schülerkommunikation veraltet und obsolet aussehen.

Das Verständnis von Schule als eine Institution reiner Wissensvermittlung im Gegensatz zu einer Auffassung von Pädagogik als eine Kombination von Wissen und Erziehung befördert diesen Trend. Notengebung und Berechtigungszuweisung durch Abschlüsse erfordern im Sinne einer Chancengleichheit eine zunehmende Standardisierung des Unterrichtsmaterials: Und was könnte gleichförmiger sein, als dasselbe Lehrvideo für alle. Handfeste ökomische Interessen der einschlägigen Firmen und ihrer Lobbyisten lassen die digitale Zukunft der Schule wahrscheinlicher werden, wenn sich nicht „gallische Dörfer”, wie auch dieser Blog, kritisch dazu äußern.

Standardisierung weit fortgeschritten

Dabei ist diese Standardisierung ohnehin schon weit fortgeschritten: Immer kleinteiliger ausgearbeitete Lehrpläne, in denen Ziele und „Kompetenzen“ detailliertestens beschrieben sind, werden ergänzt durch das ausufernde Angebot von Schulbuchverlagen, die Lehrmittel, Arbeitsmaterial und vorgefertigte Prüfungen zuhauf anbieten, aufs genaueste auf die Vorgaben der Schulbürokratie abgestimmt.  Auch im Internet wird man von Arbeitsblättern zu jedem Lernthema geradezu erschlagen.

Schon das  Wort „Erzählung“ klingt halbwegs nach Lagerfeuer in der Wildnis, „outdated“ und fast komisch.

Ich erinnere mich an eine antiquierte Definition von Bildung und Schule: Diese seien die von einer älteren Generation an die nächstjüngere weitergegebene Erzählung über die „Welt“. Schon das  Wort „Erzählung“ klingt halbwegs nach Lagerfeuer in der Wildnis, „outdated“ und fast komisch.

Genau das ist aber ein wichtiges Element der Waldorfpädagogik, vor allem, aber nicht nur, im Unterstufenbereich. Als Unterstufe bezeichne ich hier im Waldorfjargon die Klassenlehrerzeit von der 1. bis 8. Klasse, in der das Gros des Unterrichts von einer Lehrperson bestritten wird.

Altersgerechte Abfolge

Die Abfolge der Standardthemen ist wie folgt: Märchen, Fabeln und Legenden, Altes Testament, Nordische Mythologie, griechische Mythologie, europäische Geschichte, fremde Völker und zuletzt Biographien.

Die Logik dieser Reihung wird jedem sofort einleuchten: Es handelt sich um eine altersgerechte Folge von Geschichten, vom Märchenhaften, über das Mythische zum Historischen und Individuellen. Eine archetypisch vorausgesetzte Entwicklung soll dabei erzählend unterstützt werden, Identifikationsmöglichkeiten werden angeboten. Von einer einfachen Differenzierung in Gut und Böse mit einem Happy End geht es zu Schilderungen konfliktafter individueller Entwicklungen.

Gewöhnlich steht der Erzählteil am Ende des sogenannten Hauptunterrichts, der die ersten zwei Stunden des Tages füllt. Erzählen wird von den Schülerinnen und Schülern gewöhnlich als eine Art von Belohnung erlebt; Fortsetzungen, oder in frühen Klassen Wiederholungen, werden gespannt erwartet.

Diese Belohnungsfunktion des Erzählens funktioniert sogar noch in der Oberstufe. Der Satz, „wenn wir das  Pensum schaffen, erzähl ich euch noch eine Schnurr aus meinem Leben“ verfehlt selten seine Wirkung. Dabei können die Inhalte durchaus kulturhistorisch auf humorvolle Weise relevant sein. Themen, die in ihrer Absurdität in meiner Praxis immer gut ankamen, waren zum Beispiel das Telefonieren in den 70er Jahren, die Sockenkiste in meiner Studenten-WG oder auch der Grenzübertritt durch die DDR nach Berlin. Das sind für heutige Schülerinnen und Schüler Berichte aus einer versunkenen Welt.

Ein Nebeneffekt dieses Erzählens ist sich er auch der des Zuhören Lernens.

Eine glücklich verbrachte Schulzeit ist ein entscheidender Faktor für eine positive Lebenshaltung.

Ein Nebeneffekt dieses Erzählens ist sicher auch der des Zuhören Lernens. Zuhören ist eine Fähigkeit; ihr Fehlen  wird nicht selten beklagt. Es fragt sich aber, wo sie denn systematisch eingeübt wird. Natürlich ist potentiell erzählen können ein Faktor der Professionalisierung des Lehrberufs und ich vermute, dass er in der Ausbildung keine allzu große Rolle spielt. In der schulischen Praxis tut er das aber sicherlich, wobei eine effizienzorientierte Auffassung von Unterricht darauf eher wenig Wert legen würde. Es gibt eine Aussage von Rudolf Steiner, die mir wichtig erscheint. Er sagte einmal sinngemäß, dass das moderne Leben in seiner zunehmenden Komplexität an die Resilienz der Menschen derartige Anforderung stellen würde, dass eine glücklich verbrachte Schulzeit ein entscheidender Faktor für eine positive Lebenshaltung sei.

Hier wird plötzlich „Glück“ ein Faktor im Schulbetrieb, nicht nur Wissenszuwachs.

In meinen Kindheitserinnerungen finden sich solche Glücksmomente, die vom Geschichtenhören herrühren: Von der dramatisch erzählten biblischen Geschichte unseres in dem Punkt genialen Ortspfarrers bis zu Luis Trenkers Berggeschichten, so ziemlich dem einzigen, was man regelmäßig im Fernsehen sehen durfte.

Natürlich ist Erzählen der Prototyp lehrerzentrierten Unterrichts: Aber wie man liest, hat selbst Herr Hattie nichts dagegen.

Hubert Geißler

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Kinder brauchen Geschichten https://condorcet.ch/2019/12/kinder-brauchen-geschichten/ https://condorcet.ch/2019/12/kinder-brauchen-geschichten/#comments Sun, 29 Dec 2019 08:44:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=3497

Erzählungen brauchen wir. Zum Gelingen benötige Europa ein neues Narrativ, wird gefordert, ebenso der Klimaschutz. Für die Kinderwelt waren Geschichten schon immer bedeutsam. Ein Streiflicht zur Zeit, gedacht als Plädoyer fürs Erzählen, verfasst von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Mit dem Staunen beginnt alle Philosophie.

Jedes Kind hat seinen seelischen Code. Leicht entschlüsseln kann ihn, wer sich an die eigene Kindheit erinnert. Dazu gehört das Vorlesen und Erzählen. Wie viele Geschichten hat die Mutter uns drei Buben erzählt, wie manches Märchen der geduldige Grossvater, wie packend konnte meine Erstklasslehrerin fabulieren und formulieren. Die Kinderwelt, so erinnere ich mich, ist eben ein eigenes und grosses Reich, ein Reich ohne Grenzen und Zollschranken. Ein Reich mit vielen kostbaren (Erzähl-)Schätzen. Es gab uns Geborgenheit. Nur allzu schnell wurden wir aus dieser Welt vertrieben.

Sich von Kinderaugen verführen lassen

Erzählen und Reimen, das darf jeder; dazu bedarf es keiner akademischer Weihen und keines staatlichen Diploms. Man muss sich nur einladen, ja verführen lassen von Kinderaugen.  Eben: Wieder werden wie die Kinder und sich von ihrem Staunen verzaubern und forttragen lassen! Denn mit dem Staunen beginnt bekanntlich alle Philosophie.

 

Hartmut Rosa: Eine Begegnung mit dem Unverfügbaren.

Die Samichlauszeit und die Weihnachtstage, sie laden ganz besonders zur jahrhundertealten Tradition des Erzählens ein. Es ist eine Begegnung mit dem Unverfügbaren, wie es der Philosoph Hartmut Rosa in seiner neuen Publikation so träf beschreibt.[1] Ein Zusammentreffen mit dem Geheimnisvollen und Unerklärbaren, dem Unverfestigten und Rätselhaften. Das ging mir durch den Kopf, als ich jüngst die Weihnachtsfeier in einer vierten Klasse miterlebte. Die Lehrerin erzählte. Packend und gekonnt. Selbst der spitzbübische Schlingel, der sonst kaum ruhig sitzen kann, hing gebannt an ihren Lippen, gespannt und von der Geschichte gefangen. Mucksmäuschenstill war‘s. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.

Unsere Kinderbücher bewahren vieles von dem, was in der heutigen Literatur fast schon nicht mehr sein darf: Geschichten gehen gut aus.

Das Geheimnis guter Geschichten

Unsere Kinderbücher bewahren vieles von dem, was in der heutigen Literatur fast schon nicht mehr sein darf: Geschichten gehen gut aus; es kommen auch ganz normale Menschen vor. Sie reden mit Tieren und glauben an das Gute, sie wollen das Fürchten einfach nicht lernen und laufen in Siebenmeilenstiefeln umher. Solche Geschichten wollen weder theoretisch belehren noch moralisierend bekehren. Sie wollen ganz einfach Freude bereiten und die Fantasie beflügeln.

„Vielleicht kann Kinderliteratur mithelfen, die Kinder wacher, lebendiger, furchtloser, fröhlicher zu machen? Damit sie später nicht aufhören, Mensch zu sein. Das wäre viel.“[2] So schrieb der deutsche Lyriker und Jugendbuchautor Josef Guggenmos. Mit seinen Geschichten und Gedichten hat er diesen Wunsch gelebt und ihm literarisch feinfühlige Form gegeben.

Der Weg zum Lesen führt über den Zauber des Zuhörens

Beim Erzählen wird aktives Zuhören gefördert.

Menschen haben Geschichten gern – und sie brauchen Geschichten. Gute Geschichten, betont der Literaturprofessor und Schriftsteller Peter von Matt. Das gilt auch unsere Schulkinder. Ein klassischer Grundsatz; darum ewig gültig. Und heute vielleicht wichtiger denn je. Denn die Lesefreude der Schweizer Schüler nimmt dramatisch ab, so diagnostiziert die jüngste PISA-Studie. Die Hälfte der rund 6‘000 befragten 15-Jährigen liest nie „aus Vergnügen“. Dies im Nach-Gutenbergschen-Zeitalter! Dabei hat verstehendes Lesen in einer kommunikativ verdichteten Zeit einen elementaren Wert.

Vermutlich führt der Weg zum Lesen übers Vorlesen und Erzählen mit dem Zauber des Zuhörens. Die meisten Kinder lieben das Narrative und hören gerne zu. Hören ist ein kognitiver Prozess.[3] Er findet nicht nur im Ohr statt. Das Hirn verarbeitet Sprache. Das Gehörte verstehen, es zu einem zusammenhängenden Gefüge verknüpfen und dann das Ganze ins Netz des eigenen Wissens aufnehmen und einordnen: Das ist bewusstes Hören. Ganz ähnlich wie beim Lesen.

Lesen ist zergliedern und aufbauen. Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken.

Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken

Lesen ist eine geistige Tätigkeit. Lesen ist zergliedern und aufbauen. Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken. Darum ist Lesen auch anstrengend. Von einem Video, von Bildern kann man sich „mitnehmen“ lassen; am Smartphone können wir uns von einer digitalen Informationsflut treiben lassen. Doch ein Buch kann man kaum „über sich ergehen lassen“. Lesen ist mehr als anschauen, lesen ist eine Kunst. Sie basiert von den ersten Schritten an auf einem guten Unterricht.

Kinder brauchen Geschichten

Dem verführerischen Reiz des Erzählgestus erliegen

Der Einstieg in die Welt des Lesens erfolgt früh. Schon die gute Kindergärtnerin weiss, wie wichtig ausdrucksvolles und spannendes Erzählen ist. Wer von einer Geschichte ergriffen ist, entwickelt sie im Kopf weiter; er fantasiert und fabuliert darüber.

 

Unsere Erstklasslehrerin war eine wahre Trudi Gerster. Sie hat die Erzählkultur aus den Kindergarten-Tagen weitergeführt – im Klassenrahmen. Ihre Fortsetzungsgeschichten, die sie uns täglich abschnittsweise vorlas, wurden zum fesselnden Gemeinschaftsband für die ganze Klasse. Mit ihren Kommentaren und Fragen förderte sie aktives Zuhören und das Verstehen von Zusammenhängen. Früh weckte sie in uns Buben das Verlagen, selber zu lesen. Sie brachte Lektüren mit in den Unterricht. Noch heute erinnere ich mich an mein erstes SJW-Heft „Nur der Ruedi“. Mehrmals habe ich es als kleiner Knirps verschlungen. Unvergesslich bleibt auch Adolf Heizmanns spannende Erzählung vom „Überfall am Hauenstein“. Die beiden vergilbten Broschüren trotzten jeder Revision meiner Bücherwand.

Hingeführt und zum lebenslangen Lesen verführt hat mich unsere Erstklasslehrerin. Sie entzifferte meinen seelischen Code. Ich erlag dem verführerischen Reiz ihres Erzählgestus. Dafür bin ich ihr dankbar. Noch heute.

 

 

[1] Hartmut Rosa (2019), Unverfügbarkeit. Wien – Salzburg: Residenz Verlag, S. 8.

[2] Hans-Joachim Gelberg (1992), Ein Dichter, der für Kinder schreibt. Sonderdruck zu Ehren des 70. Geburtstages von Josef Guggenmos. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg-Verlag, S. 5.

[3] Giorgio V. Müller, Zum Hören braucht es mehr als gute Ohren, in: NZZ, 22.11.17, S. 30.

 

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