empirische Bildungsforschung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 26 Feb 2024 20:57:22 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png empirische Bildungsforschung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Bildungsforschung hat keinen grossen Erkenntnisgewinn gebracht https://condorcet.ch/2024/02/16009/ https://condorcet.ch/2024/02/16009/#comments Mon, 26 Feb 2024 16:25:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=16009

Mit etwas Verspätung - am Montag, statt am Sonntag - veröffentlichen wir den Sontagseinspruch von Professor Wolfgang Kühnel, der uns den leider verstorbenen Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke in Erinnerung ruft. Der "Weisse Rabe" der Erziehungswissenschaft erklärt uns auch den wichtigen Unterschied zwischen Korrelationen und Kausalitäten.

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Normalerweise diskutieren wir aktuelle Entwicklungen, den letzten internationalen Test, seltsame neue Lehrpläne, eine Fehlentscheidung wichtiger Institutionen, die Einrichtung einer neuen Kommission, die Digitalisierung, das Wirken unternehmensnaher Stiftungen usw.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Heute möchte ich ausnahmesweise auf etwas zurückgreifen, das vor 20 Jahren formuliert wurde, aber doch eine erstaunliche Aktualität zu besitzen scheint. Würde man das Datum der Veröffentlichung nicht sehen, könnte man das für einen aktuellen Beitrag halten, dabei war der Autor weder Hellseher noch hatte er prophetische Gaben. Es geht um den folgenden Text von Hermann Giesecke (1932-2021), bekannt als so etwas wie ein Altmeister der Pädagogik in Deutschland:

http://www.hermann-giesecke.de/erzwiss.pdf

Seine legendäre Formulierung “So ziemlich alles, was die moderne Pädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt Kinder aus bildungsfernem Milieu” haben vermutlich die meisten schon gesehen.

Neben solchen grundsätzlichen Äußerungen sollte man aber auch seine Einschätzung zu der modernen empirischen Bildungswissenschaft und dem damit zusammenhängenden “pädagogisch-

9. August 1932 in Duisburg; † 4. September 2021 in Lenglern, deutscher Erziehungswissenschaftler: Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernem Milieu.

industriellen Komplex” (das Wort fällt auf S. 155 unten) beachten. Das ist durchaus aktuell: Auf der gerade zu Ende gegangenen Didacta 2024 in Köln wurde man von dieser Reklame-Glitzerwelt der Bildungsindustrie geradezu erdrückt. Das Heil scheint nur noch in der profitablen Digitalisierung zu liegen, anderes gibt es nicht mehr.

Schon der dritte Satz spricht von einem “Auseinanderdriften” der Wissenschaft und der schulischen Praxis. Und dann heißt es: “Die Leitfrage lautet: Was hat ein Lehrer von der modernen Bildungsforschung bzw. von den systematischen Ergebnissen der Erziehungswissenschaft?”

Immerhin sind die ersten PISA-Studien bereits in die Diskussion einbezogen und waren vielleicht sogar ein Anlass für Giesecke, das zu schreiben: “Lehrer gelten in diesem Zusammenhang nicht als Akteure, sondern eher als Publikum, Abnehmer und Adressaten.” Auf der zweiten Seite stellt er fest: “Die Praxis hat ihre eigene Logik …

Unsere Bildung wird nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”.

Deshalb sind alle Versuche unbefriedigend geblieben, das System von Bildung und Erziehung von außen in eine gewünschte Richtung zu steuern.” Da mögen allen Mitgliedern aller “Steuerungsgruppen” im Bildungswesen die Ohren klingen, besonders von dieser hochrangigen Steuerungsgruppe, besetzt mit Staatssekretärinnen und Staatssekretären:

https://www.bildungsbericht.de/de/autor-innengruppe-bildungsbericht/autorengruppe#1

“Bildungsmanagement” heißt das heute, unsere Bildung wird also nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”. Da kann wohl jeder froh sein, der seine Bildung noch in der Zeit vor dem “Bildungsmanagement” erworben hat.

Bildungsmanagement: Der Ertrag der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis ist sehr gering.

Und es geht um die “Erwartungen der politischen Öffentlichkeit”: “Man erhofft sich insbesondere von den umfangreichen und kostspieligen Bildungsforschungen Handlungsanweisungen … Insbesondere die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man doch, worauf es ankommt, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.” Dass das in den 20 Jahren der bisherigen PISA-Tests so einfach nicht funktioniert hat, wissen wir heute, aber Giesecke erklärt eine prinzipielle Unmöglichkeit schon auf der dritten Seite, weil “der Ertrag  der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis sehr gering ist.” Er spricht von einer “künstlichen und auf den Forschungszweck hin konstruierten Wirklichkeit, die mit der, die dem Handeln gegeben ist, nicht mehr viel zu tun hat.”

Das gipfelt neuerdings in den nationalen IQB-Tests darin, dass es als Ergebnis immer heißt, x Prozent der Teilnehmer hätten leider die Mindeststandards verfehlt, andererseits aber fast niemand weiß, wie diese Mindeststandards genau aussehen. Die Lehrer wissen nicht, was sie  machen sollen, damit ihre Schützlinge die Mindeststandards erreichen.

Die KMK hat nur Regelstandards veröffentlicht, und die haben andere Ansprüche, sie sollen wohl — grob gesagt — der Schulnote “befriedigend” entsprechen, die Mindeststandards dagegen dem, was (nahezu) ALLE erreichen sollen, so die theoretische Vorstellung.

Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können.

Hinzu kommt, dass in all diesen Tests nicht das geprüft wird, was vorher gelehrt und gelernt wurde, sondern bewusst anderes, nämlich übergreifende “Kompetenzen”.

Genau diese Frage stellt auch Giesecke: “Was hat ein Lehrer davon, wenn er diese Untersuchungen zur Kenntnis genommen hat? Erhält er Hinweise darüber, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann?” Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können. Man definiert die Verbesserung des Unterrichts dann über die Verbesserung der Testergebnisse, aber alle wissen, dass in die Testergebnisse so viele andere (z.B. soziale) Faktoren eingehen, dass man das praktisch gar nicht trennen kann. Jeder kennt die achselzuckenden Statements der prominenten Empiriker, dass sie zu den Ursachen der Ergebnisse und ihrer Veränderungen natürlich keine Aussage machen können, sie messen ja nur. Dann kann aber auch niemand wissen, wie man diese Ergebnisse nun effizient beeinflussen kann.

Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.

Giesecke listet auf Seite 154 als mögliche Ursachen auf: “das Desinteresse vieler Schüler und Eltern, das einseitig als pädagogisches und deshalb fortbildungsbedürftiges Manko der Lehrer und nicht zumindest auch als Resultat der Demontage der Schule als staatliche Institution gedeutet wird; die Verrechtlichung des Lehrerdasein, die sanktionierende Interventionen im Namen der zu fordernden Leistungen im Keim erstickt von bürokratischer Gängelung und materieller Unterausstattung ganz zu schweigen.”

Korrelation hat nichts mit Kausalität zu tun.

Und dann steht auf derselben Seite unten der Kernsatz, den am besten alle auswendig lernen sollten: “Die Zuordnung von Ursachen und Wirkungen ist nämlich das eigentliche Problem. Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.”

Die empirische Bildungswissenschaft überschüttet uns geradezu mit Millionen von statistischen Korrelationen, aber die Klärung von Kausalitäten hält damit nicht annähernd Schritt. Nur eine Korrelation habe ich in den großen Testberichten von PISA & Co nie gesehen: Die zwischen Intelligenz (also IQ nach einem der üblichen Intelligenztests) und Testerfolg. Da redet man nur etwas verschämt von “kognitiven Fähigkeiten”, die aber als solche nicht mit Punkten oder Stufen versehen werden. Böse Zungen vermuten gerade in diesem Fall eine Kausalität, und zwar weitgehend unabhängig von dem Wirken der Lehrer, deren praktische Einflussmöglichkeiten nicht so einfach durch statistische Korrellationen beschrieben werden können. Auf Seite 164 heißt es dazu: Politik und Wissenschaft “sehen in den Praktikern im Wesentlichen Objekte ihrer eigenen Bestrebungen, was durch die Output-Orientierung  der Bildungsforschung noch verstärkt wird. Dabei könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig sein, wenn sie von den Problemskizzen derjenigen ausgeht, die die Arbeit tun. …

Warum ist es so schwierig, gewissen Kindern Basiskompetenzen beizubringen.

Die Ergebnisse von PISA würden eine andere Farbe erhalten, wenn Lehrer z.B. öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, WARUM es gegenwärtig kaum möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen beizubringen.” Obwohl wir in Zeiten ständiger Meinungsforschung leben und fast täglich erfahren, wie viele Wähler nun welche Partei wählen würden, scheint es kaum repräsentative Umfragen unter Lehrern zu den vieldiskutierten und heiklen Themen (etwa zu Disparitäten bei den Ergebnissen oder zum Abwärtstrend in den letzten 10 Jahren) zu geben.

Und so nebenbei wendet sich Giesecke auch noch dem ewigen Zankapfel der deutschen Bildungspolitik zu, dem Schulsystem (Seite 163):

“Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit, nicht deren Konstruktion. Demnach steht ihr zu, auf dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse die Mängel des  dreigliedrigen Schulwesens oder der Gesamtschule zu beschreiben und zu begründen, aber nicht für die eine oder andere Variante zu plädieren,  als sei das wissenschaftlich geboten.”

Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern? Das dreigliedrige Schulsystem ist schuld!

Tatsächlich hatten wir damals und haben wir heute einen Mainstream in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, der fest daran zu glauben scheint, dass das dreigliedrige System ursächlich für vieles ist, was man lieber nicht hätte: Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern usw. Aber wieder ist die Kausalität nicht stringent begründet. Schon in Frankreich mit seinem einheitlichen Schulsystem gibt es dieselben Probleme, es gibt sogar noch mehr Schulabbrecher, und auch bei PISA rangiert Frankreich bei den sozialen Disparitäten stets hinter Deutschland, Luxemburg und Ungarn auch.

Einen gewichtigen Nachteil des gegliederten Systems kennen alle: Das ist der kritische Moment des Übergangs von einer einheitlichen Grundschule in mehrere Varianten einer weiterführenden Schule. Dass dabei Fehler passieren, ist prinzipiell nicht vermeidbar. Aber nur Giesecke scheint zu thematisieren, dass auch ein einheitliches System eben Nachteile und Fehlermöglichkeiten haben könnte, die aber gleichwohl in der Mainstream-Argumentation noch nicht einmal benannt und untersucht werden sollen. Was ist das für eine Wissenschaft, die bestimmte Fragen nicht zulässt (oder gar per se als “verboten” oder in der Politik als “rechtes Gedankengut” betrachtet)?

Wenn die Grundschule 9- oder 10-jährig wäre und es danach um den Übergang auf ein 2- oder 3-jähriges “Stummelgymnasium” ginge, wie gerecht wäre denn da der Übergang? Wie will man das bewerkstelligen, ohne dass wieder im Gymnasium die höheren sozialen Schichten  überrepräsentiert sind?

Es sei auch an so manche “wissenschaftliche Eintagsfliege” erinnert. Als die Werte für Deutschland bei der IGLU-Studie nach oben gingen, bei PISA aber weiter schwach waren, jubelten diejenigen, die es schon immer wussten: “Das nicht gegliederte Schulsystem ist einfach leistungsfähiger und gerechter dazu”, z.B. hier:

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/laengeresgemeinsameslernen/vortrag_prof_bellenberg_5.2.2010.pdf

Schon wenige Jahre später gingen auch die Werte bei IGLU nach unten und bei den nationalen Grundschultests des IQB ebenfalls. Die Eintagsfliege war gestorben.

Auch Klaus-Jürgen Tillmann, bekannt durch seine Bielefelder Laborschule, hat in dem Band “Hamburg macht Schule” (Sonderheft 2009) auf Seite 14  verkündet, die 6-jährige Grundschule sei der 4-jährigen überlegen, weil die damaligen Testergebnisse in Berlin besser ausfielen als in Hamburg bei ansonsten vergleichbaren Verhältnissen. Nur leider war es schon 10 Jahre später genau umgekehrt, womit auch diese Eintagsfliege verschwunden ist. Korrelationen ändern sich von Test zu Test, Kausalitäten aber bleiben etwas länger. Jedenfalls sollte man wohl davon ausgehen können.

Festzuhalten bleibt: Giesecke beschrieb vor 20 Jahren ziemlich genau die Probleme, die wir auch heute haben. Und konsensfähige Lösungen sind damals wie heute nicht in Sicht. Aber dieser Aufsatz ist aus einem Geist heraus geschrieben worden, der uns Hoffnung machen kann. Es lohnt sich, den ganzen Artikel zu lesen und mit der aktuellen Situation zu vergleichen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Matthias Burchardt: Ich hatte die Illusion, dass die Kraft des besseren Arguments gilt. https://condorcet.ch/2023/06/matthias-burchardt-ich-hatte-die-illusion-dass-die-kraft-des-besseren-arguments-gilt/ https://condorcet.ch/2023/06/matthias-burchardt-ich-hatte-die-illusion-dass-die-kraft-des-besseren-arguments-gilt/#comments Wed, 21 Jun 2023 15:32:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=14164

Matthias Burchardt, Jg. 1966, hat in an der Universität zu Köln Germanistik, Philosophie, Pädagogik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert und mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Promoviert hat er über die Anthropologie Eugen Finks. Als gefragter Referent und streitbarer Publizist vertritt er in Presse, Rundfunk und Fernsehen humorvoll und kontrovers Positionen zu PISA, Bologna und nicht zuletzt zum Digitalisierungshype. Befragt wird er von Michael Meyen, seit 2002 Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Matthias Burchardt ist in unserem Blog kein Unbekannter. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen, die mit unserem Blog verbunden ist und in Österreich, Deutschland und der Schweiz kritisch Stellung zu bildungspolitischen Fragen bezieht. Burchardt formuliert messerscharf und rhetorisch brillant den bildungspraktischen Nutzen einer quantifizierenden empirischen Bildungsforschung und den Verlust an Augenmaß in der Bldungspolitik.

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Aufruf zur Besinnung: Humane Bildung statt Metrik und Technik https://condorcet.ch/2020/07/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik/ https://condorcet.ch/2020/07/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik/#respond Sat, 11 Jul 2020 08:56:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=5684

Ralf Lankau und Matthias Burchardt sind auf unserem Bildungsblog keine Unbekannten. Die GBW-Mitstreiter gelten als fundierte Kritiker der Digitalisierung unseres Bildungssystems. Und sie argumentieren - was sie von vielen Informatikfans unterscheidet - in der Debatte der Digitalisierung faktensicher und gut dokumentiert. Ihr Aufruf wird auch in der Schweiz auf grosses Interesse stossen.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Fakultät Medien, Hochschule Offenburg
AR Dr. Matthias Burchardt, Universität zu Köln

Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurden im gesamten Bundesgebiet Schulschließungen und Fernbeschulung veranlasst. In der Folge intensivierten sich die Forderungen nach der unverzüglichen digitalen Transformation von Schule und Unterricht. Beschlossen wurden die Aufrüstung der Schulen (Server, WLAN), Fortbildungen und Endgeräte für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie der Auf- und Ausbau von Schulclouds, mehr Onlinedienste und digitale Tools für den Unterricht. Es geht also nur um Technik?

Wovon nicht geredet wird

Außen vor bleiben Themen wie die entstehende Infrastrukturen für netzbasierten Online-Unterricht (Fern- statt Präsenzunterricht auch ohne Covid-19) samt Folgekosten oder die Auswirkungen für den Unterricht. Ausgespart wird die zwingend notwendige Diskussion über das sich ändernde Menschenbild, den „heimlichen Lehrplan“, der mit der digitalen Beschulung einher geht, wenn Kinder und Jugendliche alleine an Lernstationen ihre Wochenpläne am Rechner abarbeiten.

Das ist das Gegenteil von dem, was Pädagogik bedeutet: Persönlichkeitsbildung im Erwerb von Wissen, Können und Wertorientierung.

Automatisierung, Digitalisierung, Steuerung und Kontrolle von Prozessen: So hat die amerikanische Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff bereits 1988 die Prinzipien der Informationstechnik benannt. Daraus haben sich Strukturen entwickelt, die sie Überwachungskapitalismus nennt (Zuboff 2018) und die man, beim Einsatz dieser Techniken in Schulen, Überwachungspädagogik (M. Burchardt) nennen muss. Das ist das Gegenteil von dem, was Pädagogik bedeutet: Persönlichkeitsbildung im Erwerb von Wissen, Können und Wertorientierung.

Aus dem Unterrichten als „Verstehen lehren und lernen“ (A. Gruschka) als wechselseitige Beziehung zwischen realen Personen wird durch Lernmanagementsoftware ein zunehmend automatisiertes Beschulen und Testen.

„Alles muss messbar sein“. Metrik wird zum Universalschlüssel.

Aus dem Unterrichten als „Verstehen lehren und lernen“ (A. Gruschka) als wechselseitige Beziehung zwischen realen Personen wird durch Lernmanagementsoftware ein zunehmend automatisiertes Beschulen und Testen. Aus dem pädagogischen Prozess der Erziehung und Emanzipation wird durch digitale Endgeräte und Parameter der Daten-Ökonomie ein System der Metrik (Messen und Bewerten). Die Basis sind personenbezogene Daten. Die Begriffe dafür sind datengestützte Schulentwicklung, Learning Analytics und empirische Bildungsforschung. Statistik, Diagnostik und Prognostik statt Pädagogik. Statt der Schule als einem sozialen Ort der Gemeinschaft entsteht eine Einrichtung zur fremdgesteuerten Selbstoptimierung nach algorithmischen Vorgaben. Statt der Entwicklung von Persönlichkeit, Mündigkeit, Gemeinsinn und Eigenverantwortung lernen Kinder, sich systemkonform zu verhalten.

Nicht alles, was zählt, kann man zählen [also messen]. Und nicht alles, was man zählen [also messen] kann, zählt! Albert Einstein

Hier gilt es, sich zu besinnen. Der psychotechnischen Maxime eines William Stern „Es muss sich testen [messen] lassen“ muss ein Zitat von Albert Einstein gegenüberstehen: „Nicht alles, was zählt, kann man zählen [also messen]. Und nicht alles, was man zählen [also messen] kann, zählt!” Anstatt Schule und Unterricht durch digitale Transformation für Metrik und Technik zu optimieren, muss der Fokus wieder auf Individuum, Gemeinschaft und humanen Lernprozessen liegen.

Nur wer unterrichten will und kann, sollte Lehrerin oder Lehrer werden. Lehrkräfte sind weder Lernbegleiter noch Coaches, sondern der menschliche Kontrapunkt für Lernprozesse.

Digitaltechnik kann dabei ein Werkzeug unter vielen sein. Bildung aber ist Beziehung: Der Mensch wird am Menschen zum Menschen. Dazu sind hier einige Prämissen formuliert:

Lernen: Ziel ist die ganzheitliche Bildung
  • Die Aufgabe von Schule und Unterricht wurde hinreichend in wissenschaftlichen, demokratischen und öffentlichen Prozessen diskutiert und von Kultusministerien bzw. Landesregierungen in Schulgesetzen und Bildungsplänen festgelegt. Technische Entwicklungen und Wirtschaftsinteressen drohen demokratische, fachliche und wertorientierte Abwägungen zu unterlaufen.
  • Schulische Bildung im Unterricht gelingt nur im Rahmen mitmenschlicher Beziehungen. In gemeinsamer Auseinandersetzung mit einer Sache erwerben junge Menschen unter pädagogischer Anleitung Kenntnisse, Fertigkeiten, Werthaltungen und Urteilskraft. In diesen Konstellationen vollzieht sich die Persönlichkeitsbildung der Heranwachsenden. Digitalisierung darf diese Grundlagen und das direkte Miteinander nicht ersetzen.
  • Herausragende Schulen weltweit verfügen über Bibliotheken, Kunst-, Musik- und Theaterräume, Sportstätten und Gärten als Kontrapunkt zum Klassenraum. Das Ziel ist die ganzheitliche Bildung junger Menschen anstelle einer utilitaristischen Verkürzung auf Wirtschaftsinteressen.
  • Nur wer unterrichten will und kann, sollte Lehrerin oder Lehrer werden. Lehrkräfte sind weder Lernbegleiter noch Coaches, sondern der menschliche Kontrapunkt für Lernprozesse: Zum Denken lernen brauchen wir ein Gegenüber, schrieb Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen können.
  • Schule befähigt zum Leben in einer digitalisierten Gesellschaft. Sie kompensiert die digitale Verwahrlosung in vielen Elternhäusern durch analoge Angebote und sie thematisiert in je verschiedener Fachperspektive die Phänomene, Theorien und Modelle der Digitaltechnik und ihre kulturellen, sozialen und politischen Auswirkungen. Der Einsatz digitaler Lehrmedien ist möglich, aber nicht notwendig. Medienmündigkeit ist deutlich mehr als Medienbedienkompetenz und gerade nicht auf digitale Formate zu verkürzen.
  • Über den Medien- und Technikeinsatz im Unterricht entscheiden die Lehrkräfte. Autonomie im Einsatz der Mittel ist grundgesetzlich gesichert (Methodenfreiheit). Sie sind qualifiziert, für Unterrichtsgegenstände und Bildungsziele geeignete Methoden und Medien auszuwählen: analog und digital.
  • Analoge wie digitale Medien werden gleichwertig, altersangemessen und je nach Schülerschaft, Fach, Thema und Unterrichtsstil gewählt. Angehende Lehrkräfte sind im Einsatz aller Medien zu schulen bzw. Lehrkräfte im Dienst auf freiwilliger Basis weiterzubilden.
  • Personalisierte Daten sind das Kapital des 21. Jahrhunderts. Damit lässt sich das Verhalten von Menschen prognostizieren, modifizieren (Nudging) und manipulieren (persuasive, d.h. verhaltensändernde Technologien). Bildungseinrichtungen haben Mündigkeit und Selbstverantwortung zum Ziel. Daher gelten bei der Datenhaltung die Parameter Datensparsamkeit, Dezentralisierung, Datenhoheit bei den Nutzern und Löschoption für nicht benötigte Daten. (Vgl. Tim Berners-Lee: „Contract for the Web“.) Bildungseinrichtungen sind kein Teil der Daten-Ökonomie und dürfen nicht den Partikularinteressen der IT-Wirtschaft untergeordnet werden.
  • Datenschutz schützt Grundrechte, nicht Daten. Daher ist die europäische Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) an Schulen einzuhalten. Daten von unter 16-Jährigen werden weder gespeichert noch zu Profilen ausgewertet. Lediglich technisch notwendige Angaben (Nutzername, Passwort, Berechtigungen) sind im System hinterlegt.
  • Öffentliche Schulen setzen nichtkommerzielle Open Source-Software ein, mit der alles technisch und gestalterisch umgesetzt werden kann, was an Rechnern im Unterricht in der Schule gelernt werden soll (aktive Medienproduktion und -reflexion).
  • An öffentlichen Schulen werden nur staatlich geprüfte Lehrmaterialien eingesetzt. Dafür sind die Landesbildungszentren auszubauen, die digitale Bibliotheken bereit stellen und ausbauen. Unterrichtsmaterial aus der Privatwirtschaft ist nur bedingt für medienkritische Projekte einsetzbar (z.B. zum Thema Lobby-Arbeit in Schulen).
  • Öffentliche Schulen benutzen statt WLAN kabelgebundene Netzwerklösungen und Visible Light Communication-Technik (VLC), um die Strahlenbelastung zu minimieren.
  • Das Arbeiten an Bildschirmen kann die Gesundheit gefährden. Daher ist die maximale Arbeitszeit an Displays und Touchscreens altersabhängig gemäß der Empfehlungen der Kinderärzte zu gestalten, die Bildschirmzeiten zu begrenzen (BLIKK- und Pronova-Studien). Es sind ergonomische Arbeitsplätze (externer Bildschirm und Tastatur, einstellbare Tischhöhen, Stühle) einzurichten. Kita und Grundschule bleiben in der pädagogischen Arbeit bildschirmfrei.

Dieser Aufruf dient zur Besinnung und als Anregung für Gespräche über die digitale Transformation von Schule und Unterricht. Sie können den Text gerne weitergeben und in Ihren Kreisen diskutieren.

 

Ansprechpartner

Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.

 

AR Dr. Matthias Burchardt
Universität zu Köln
Humanwissenschaftliche Fakultät
Albertus-Magnus-Platz, 50931 Köln
m.burchardt@uni-koeln.de

futur iii + Bündnis für humane Bildung

 

Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Fakultät Medien
Hochschule Offenburg
Badstr. 24, 77652 Offenburg
ralf.lankau@futur-iii.de

 

 

 

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Mathematikunterricht auf dem Prüfstand https://condorcet.ch/2020/03/mathematikunterricht-auf-dem-pruefstand/ https://condorcet.ch/2020/03/mathematikunterricht-auf-dem-pruefstand/#comments Wed, 25 Mar 2020 17:51:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=4376

Mathematiklehrer Markus Spindler und Professor Hans-Peter Klein (Goethe-Universität Frankfurt) haben uns eine Replik auf den Artikel von Olaf Köller (Condorcet-Blog: Sorgenkind Mathematik, 18.3.20) zugesandt. Ihr Fazit: Köller macht genau das, was er anderen vorwirft. Er behauptet, ohne zu belegen.

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Prof. Hans-Peter Klein, Frankfurt, gründete die GBW und ist Autor von “Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt”.
Markus Spindler, Mathematiklehrer und Oberstudiendirektor in Halle

In seinem Artikel (erschienen in der FAZ vom 1.3.2020) beschreibt Prof. Olaf Köller zunächst einmal zutreffend die aktuelle Misere: Viele Studenten brechen ein begonnenes Mint-Studium ab, da sie an den Anforderungen im Fach Mathematik scheitern. Dieser traurigen Tatsache wird niemand widersprechen. Auch dem in der Überschrift vorweggenommenen Fazit kann man uneingeschränkt zustimmen: Wir brauchen besseren Mathematikunterricht.

Was sind die Ursachen?

Strittig dabei ist, wie denn erfolgreicher Mathematikunterricht zu gestalten ist. Dabei muss zuerst  einmal  analysiert werden, was die Ursachen für den offensichtlich oft nicht ausreichend guten Unterricht in diesem fundamentalen Fach sind. Das könnten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit –die folgenden sein: 1. schlecht ausgebildete Lehrer; 2. schlecht motivierte oder intellektuell überforderte Schüler; 3. zu wenig Unterrichtsstunden; 4. schlechte Schulbücher bzw. anderweitige Lernmedien; 5. schlechte Lehrpläne. Auf diese Punkte soll im Folgenden jeweils eingegangen werden:

Wenn Mathematikreferendare fragen, wieso es eigentlich unterschiedliche Begriffe wie Seitenhalbierende und Mittelsenkrechte gibt, das sei doch sowieso alles dasselbe, dann war an der Universität entweder der fachliche Lehrplan oder aber der Bewertungsmechanismus nicht adäquat justiert.

  1. In der Tat bemerken wir in der Praxis immer öfter, dass den für die Schule grundlegenden mathematischen Fertigkeiten offensichtlich an den Universitäten zu wenig Raum gegeben wird. Wenn Mathematikreferendare fragen, wieso es eigentlich unterschiedliche Begriffe wie Seitenhalbierende und Mittelsenkrechte gibt, das sei doch sowieso alles dasselbe, dann war an der Universität entweder der fachliche Lehrplan oder aber der Bewertungsmechanismus nicht adäquat justiert. Das sind aber eher Ausnahmen, in den meisten Fällen freuen wir uns über motivierten und fachlich versierten Nachwuchs.
  2. Unsere Schüler sind heute weder schlechter motiviert noch dümmer als vor 50 Jahren. Selbstverständlich – und auch das wird im Artikel richtig angesprochen – hat sich die Abiturientenquote seit Mitte der Neunziger Jahre noch einmal verdoppelt. Dies wurde auch offensiv von der Politik beworben und eingefordert. Hier wäre nun eine ehrliche Bestandsaufnahme von Nöten: Haben wir es geschafft, heute mehr als ca. fünf mal so viele junge Menschen auf das Bildungsniveau zu bringen, was 1970 eben nur einer kleinen Elite vorbehalten war? Und das auch noch bei sinkendem Intelligenzquotient in der Gesamtbevölkerung seit der Jahrtausendwende? Das wäre natürlich wunderbar und ganz nebenbei auch von großem volkswirtschaftlichen Nutzen. Wie erklären sich dann aber die zunehmenden Klagen der Universitäten? Oder ist heute vielleicht ein immer größerer Anteil der Abiturienten im Sinne der Universität nicht mehr studierfähig und bringt nicht mehr die erwarteten fachlichen Grundlagen für ein Hochschulstudium mit? Ohne hier schwarz-weiß malen zu wollen, dürften nahezu alle Experten aus Schule und Universität eher zur zweiten Erklärung tendieren, vor allem, da ausschließlich diese mit der beobachteten Faktenlage übereinstimmt.
  3. Da sich die Anzahl der Unterrichtsstunden bei wieder zurückgekehrtem G9 nicht wesentlich verändert hat, kann hier kaum der Grund gesucht werden. Interessanterweise wurde die Rückkehr zu G9 – gegen den erbitterten Widerstand der empirischen Bildungsforschung – aufgrund der Erfahrungen der leidgeprüften Eltern, Lehrer und Schüler hart erkämpft.
  4. In der Tat unterscheidet sich ein Mathematiklehrbuch von 2020 in für Laien nahezu unvorstellbarem Ausmaß von einem solchen aus dem Jahr 1970. Mathematiklehrer, denen ihr Fach am Herzen liegt, legen sich in Gesprächen unisono weit aus dem Fenster und sagen: Mit 90% der heutigen kompetenzdominierten Bücher ist ein guter und zielführender Mathematikunterricht gar nicht möglich. Das liegt aber nicht daran, dass die Verlage Geld oder Papier sparen wollten. Wie vor 50 Jahren spiegeln auch die heutigen Bücher die aktuellen standardisierten Lehrpläne wider, sonst würden sie ja auch gar nicht zugelassen. Wir können also direkt mit Punkt 5 weitermachen.
  5. Lehrbücher fußen auf den Curricula, und Curricula fußen auf den formulierten Mathematikstandards. Und diese sind nun einmal mangelhaft. Mangelhaft deswegen, weil an ihrer Erstellung Fachmathematiker gar nicht beteiligt waren. Die im Zuge des Paradigmenwechsels formulierten kompetenzorientierten Standards jedenfalls lassen jedwede Kohärenz zu den mathematischen Standards an der Universität vermissen.
Fünfmal so viele Abiturienten wie früher.

Festzuhalten bleibt auch, dass dies längst nicht nur auf den Mathematikunterricht, sondern auf alle MINT-Fächer zutrifft (und nicht einmal nur auf die). Wer als Lehrer fachlich noch sehr gut ausgebildet und bereits seit vielen Jahren im Beruf ist, der bringt genügend Kenntnisse, aber auch Selbstvertrauen mit, um beides – die Bücher und die Lehrpläne – zu ignorieren. Er ist in der Lage, einen Mathematikunterricht zu gestalten, der den Schülern die fachlichen Grundlagen nicht nur als Basis für ein Studium der MINT-Fächer, sondern auch für die in den Beruf wechselnden Schüler angemessen vermittelt. Denn auch von dieser Seite aus häufen sich die Beschwerden über mangelhafte Kenntnisse selbst in den grundlegenden Rechenarten nahezu exponentiell. Das Resultat eines solchen Unterrichts vor allem in der Oberstufe ist dann, dass eine Mehrheit zumindest der Leistungskurs-Schüler, die ein MINT-Studium ergriffen haben, erfolgreiche Rückmeldungen übermittelt. „Was in den Vorkursen an der Uni angeboten wurde, brauchten wir nicht, wussten wir alles schon, wir waren sogar besser als die Bayern.“ (Originalzitat)

Mathematik ist ein Fach mit Schwierigkeiten, denen man sich stellen muss.

Mathematik ist ein Fach mit Schwierigkeiten, denen man sich stellen muss. Man kann – wie 1979 – ein Kapitel zu Folgen und Reihen unterrichten und damit dann mathematisch exakt den Grenzwertbegriff herleiten. Das ist sehr abstrakt, und das haben damals 50% der Schüler wahrscheinlich eher auswendig gelernt als verstanden. Man kann aber auch im Sinne einer höheren Abiturientenquote einfach darauf verzichten und irgendwann postulieren, ein Grenzwert sei eine Richtung, in die man geht, wenn man mit dem Taschenrechner mal eine sehr große Zahl einsetzt. Das ist leicht – und das hat dann KEINER verstanden.

Jüngere und unerfahrene Kollegen orientieren sich an Standards.

Man könnte an dieser Stelle noch einwenden, dass anscheinend ein guter Unterricht doch ganz offensichtlich möglich ist. Dazu sind zweierlei Dinge zu sagen: Junge und unerfahrene Kollegen orientieren sich an eben diesen Standards – woran denn sonst. Und: Die Motivation der Schüler orientiert sich daran, was „abiturrelevant“ ist. Über die sogenannten „anwendungsbezogenen“ Abituraufgaben ist schon soviel geschrieben worden, dass man dies hier nicht weiter ausführen muss. Aufgabenstellungen, bei denen selbst mathematisch weniger begabte Schüler in schrille Lachkrämpfe ausbrechen, wenn beispielsweise ein Kioskbesitzer im Freibad nur Waren für 0 oder 4 oder 12€ verkauft, sind keineswegs die Ausnahme, sondern eher die Regel im Anwendungsphantasma ihrer Protagonisten, frei nach dem Motto: Jeder Anwendungsbezug, sei er auch noch so irreal, lächerlich oder gar dämlich, ist besser als keiner. Hoffentlich macht nirgendwo ein hoffnungsvoller Abiturient, ausgestattet mit diesem Praxiswissen, einen Kiosk auf!

Die kompetenzorientierten Bildungsstandards werden als nicht zu kritisierende Ideologie wie eine Monstranz vor sich hergetragen.

Die Kritik von Fachmathematikern und Praktikern an dieser mehr als seltsam anmutenden und ins Nichts führenden Kompetenzorientierung aber generell als „anekdotisch“ abzutun, zeigt, dass hier die kompetenzorientierten Bildungsstandards als nicht zu kritisierende Ideologie wie eine Monstranz vor sich hergetragen werden. Denn diese sind keinesfalls evidenzbasiert, sondern schlichtweg von ihren Wegbereitern erdacht worden. Jedenfalls fehlt bisher eine konkrete sachliche Kritik oder gar Widerlegung der mittlerweile vielfach vorliegenden kritischen Analysen schriftlicher Zentralabiturarbeiten in Mathematik und Biologie und der dort nachgewiesenen Nivellierung der fachlichen Ansprüche vollständig.

Soll hier eine Art „Mathematik light“ dazu dienen, das Anspruchsniveau soweit abzusenken, um die Abbrecherquoten mit einer eigentlich nicht zu akzeptierenden Niveauabsenkung zu erkaufen?

Mathematik light?

Auch die im Artikel erwähnte harsche Kritik an den Vorgehensweisen vieler Universitäten, Studierende der MINT-Fächer zusammen mit Hauptfachstudierenden gemeinsam lernen zu lassen, anstatt eigene mathematische Lehrveranstaltungen auch für Gymnasiallehrer anzubieten, ist mehr als fragwürdig. Soll hier eine Art „Mathematik light“ dazu dienen, das Anspruchsniveau soweit abzusenken, um die Abbrecherquoten mit einer eigentlich nicht zu akzeptierenden Niveauabsenkung zu erkaufen? Schon jetzt ist das Fachstudium, beispielsweise der Gymnasiallehrer, im Fach Mathematik gegenüber dem der siebziger Jahre durch eine kontinuierliche Streichung teilweise grundlegender fachwissenschaftlicher Inhalte zugunsten der Bildungswissenschaften in großem Umfang in den letzten 15 Jahren erfolgt.  Dies trifft leider auf alle Fächer zu. Wenn mittlerweile im Fach Biologie selbst Gymnasiallehrer ohne Zweitfach Chemie je nach Bundesland keine oder kaum nennenswerte Veranstaltungen in Chemie, Physik oder gar Mathematik absolvieren müssen, fragt man sich, auf welchem fachlichen Niveau der Oberstufenunterricht im Fach Biologie heutzutage abläuft. Die Bereiche der Zellbiologie, Neurobiologie, Stoffwechselbiologie, Molekulargenetik oder der Mikrobiologie führen nur dann zu einem tieferen Verständnis, wenn die notwendigen fachlichen Grundlagen dafür gelegt sind. Das neuerdings oft zu hörende reformpädagogische Credo „Lass es uns zusammen googeln“ dürfte da wenig hilfreich sein.

Die Bereiche der Zellbiologie, Neurobiologie, Stoffwechselbiologie, Molekulargenetik oder der Mikrobiologie führen nur dann zu einem tieferen Verständnis, wenn die notwendigen fachlichen Grundlagen dafür gelegt sind.

Olaf Köller: Behauptungen ohne Belege.

Auch der vorgetragenen Meinung von Herrn Köller, in Fachbereichen wie den Wirtschaftswissenschaften, der Psychologie und der Medizin sei dies bereits erfolgreich umgesetzt, fehlen die Belege. Jedenfalls werden gerade in den Wirtschaftswissenschaften oder der Volkswirtschaftslehre nicht nur der im Ranking führenden Standorte in Bonn oder Mannheim an die Erstsemester mathematische Anforderungen von Fachmathematikern gestellt, die bereits in den ersten beiden Semestern zu einer Abbrecherquote von 50% – 80% führen. Die indirekt dieser Forderung zugrunde liegende Nivellierung der fachlichen Ansprüche in den MINT-Fächern dürfte dramatische Folgen für den Standort Deutschland im internationalen Vergleich nach sich ziehen. Zumindest für den Fall, dass man noch ein Interesse daran hat, sich mit den führenden Nationen auf diesem Gebiet vergleichen zu wollen.

Man sollte diese ganze Testeritis einfach einstellen und sich auf die für die Schüler und unsere Volkswirtschaft einzig wichtige Frage konzentrieren: Wie muss Mathematikunterricht aussehen, damit nach dessen Absolvierung ein MINT-Studium gelingt?

Was erforscht eigentlich die empirische Bildungsforschung?

Testeritis einstellen?

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, was die empirische Bildungsforschung eigentlich erforscht. Fachliche Kompetenz auf Hochschulniveauabschluss besitzt sie jedenfalls in keinem Fach. Selbst die ihr zuarbeitenden Fachdidaktiker haben heutzutage eine deutlich höhere Affinität zur Methodik der empirischen Bildungsforschung als zu ihrem jeweiligen Fach. Zudem äußert Prof. Köller in seinem Artikel selbst, dass über den Mathematikunterricht in der Oberstufe so gut wie nichts bekannt sei. Zu glauben, dass eine wie immer auch geartete Datenerhebung über Schülerleistungen tatsächlich deren Leistungsstand erfasst, ist mehr als vermessen. Bestehen überhaupt positive Korrelationen zwischen einem guten Abschneiden bei TIMSS oder PISA und dem erfolgreichen Bestehen eines MINT-Studiums?  Wenn nicht oder nur in geringem Umfang, dann sollte man diese ganze Testeritis einfach einstellen und sich auf die für die Schüler und unsere Volkswirtschaft einzig wichtige Frage konzentrieren: Wie muss Mathematikunterricht aussehen, damit nach dessen Absolvierung ein MINT-Studium gelingt? Und hierzu möchten die Autoren dieses Artikels an dieser Stelle Herrn Prof. Köller zur folgenden Untersuchung an das Kreisgymnasium Halle herzlich einladen: Es bedarf dazu nur zweier von ihren Ausgangskenntnissen her vergleichbarer Kurse. Ein Lehrer macht Unterricht mit einem modernen Mathebuch nach den herrschenden kompetenzorientierten Standards, der andere orientiert sich an innerfachlichen mathematischen Zusammenhängen, Beweisen, Herleitungen und womöglich echten Praxisbeispielen und unterrichtet mit dem Lambacher-Schweizer der 70er Jahre. Und dann erheben wir keine ausgeklügelten Tests à la TIMSS und PISA, vergleichen keine Noten, füllen keine tausend Seiten Evaluationsbögen aus, sondern zählen einfach nur den Erfolg oder Misserfolg beim MINT-Studium in den ersten beiden Semestern.

Markus Spindler ist Mathematiklehrer und Oberstudiendirektor am Kreisgymnasium Halle in Westfalen.

Hans Peter Klein hatte bis 2018 den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt inne, war Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen, GBW, und ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften.

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