Digitalisierug - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 21 Apr 2024 15:34:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Digitalisierug - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Piesacken https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/ https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/#comments Fri, 19 Apr 2024 11:12:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=16511

Satire ist Humor, der die Geduld verloren hat. Dies sagte nicht nur Tucholsky, dieser Ansicht ist auch der Progymnasiallehrer und frühere LVB-Präsident Roger von Wartburg. Zum Lachen! Aber nicht nur.

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Nach der Publikation der Ergebnisse des Pisa-Tests von 2022, die für Schweizer Schülerinnen und Schüler einen Abwärtstrend ausweisen, hat die EDK umgehend reagiert und das Projekt «Hopp Schwiiz» ins Leben gerufen, mit dem Ziel, bei der nächsten Durchführung der Pisa-Erhebungen besser dazustehen. Dem LVB wurden Unterlagen der wissenschaftlichen Projektleitung «Tecnocratica» zugespielt, die an dieser Stelle exklusiv auszugsweise veröffentlicht werden:

Roger von Wartburg, Lehrer am Progymnasium, ehemaliger Präsident des lvb: Nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Fremdsprachen

Vorab möchte die wissenschaftliche Projektleitung festhalten, dass die EDK bereits im Jahr 2000, nach Bekanntwerden der Resultate des allerersten Pisa-Tests, höchst vorausschauende Massnahmen in die Wege geleitet hat, um dem Ungenügen des schweizerischen Bildungssystems beizukommen. Und dies sogar in Bereichen, die Pisa gar nicht testet, wie etwa den Fremdsprachen. So ein Vorgehen beweist die visionäre Tatkraft der Schweizer Bildungspolitik. Explizit zu nennen ist das EDK-Sprachenkonzept, welches zum Modell «3/5» (Passepartout) führte, demgemäss die erste Fremdsprache im dritten und die zweite Fremdsprache im fünften Primarschuljahr einzusetzen hat.

Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, das bestehende Modell auf ein «1/3/5» auszuweiten. Konkret soll neu ab dem ersten Primarschuljahr Rätoromanisch gelernt werden. Wie eine Studie der Pädagogischen Höchstschule Nordsüdostwestschweiz (PH NSOWCH) mit Verweis auf die Hirnforschung zeigt, sind Erstklässler*innen besonders dafür geeignet, vom Aussterben bedrohte Sprachen zu lernen.

Die PH NSOWCH hat bereits damit begonnen, Avatare zu entwickeln, mit deren Hilfe die Erstklässler*innen dereinst im Cyberspace Rätoromanisch erlernen werden. Die Kinder werden wählen können zwischen Fadri, Bigna, Curdin, Ladina und Ursin, wobei sämtliche Avatare genderfluid ausgestaltet sind. Für das Pilotprojekt «Rumantsch First!» haben sich schon 284 Schulen aus der Deutschschweiz angemeldet – ein überwältigendes Bekenntnis zur mehrsprachigen Schweiz!

Digitalität

Das zuvor umrissene Projekt des Rätoromanisch-Lernens im Cyberspace ist Ausdruck eines umfassenden Verständnisses von Schule als Lernort, der sich in die Kultur der Digitalität des 21. Jahrhunderts einfügt. Die wissenschaftliche Projektleitung plädiert vorbehaltlos für das Beschreiten dieses Wegs, damit sich schulisches Lernen auch für die Generation Alpha und spätere Generationen noch sinnvoll anfühlen kann. Die Gegenwart ist digital, die Zukunft ist digitaler. Wer Kinder und Jugendliche verantwortungsbewusst fitmachen will für diese Zukunft, der bekennt sich zur schulischen Digitalität!

Ungeahnte Möglichkeiten!

Aktuell laufen in verschiedenen Kantonen Bestrebungen, den Unterricht stärker zu digitalisieren. Nach Einschätzung der wissenschaftlichen Projektleitung gehen diese Bemühungen jedoch zu wenig weit – so werden etwa der Kindergarten und die Unterstufe in digitaler Hinsicht an vielen Orten noch viel zu stiefmütterlich behandelt – und es fehlt an einem koordinierten Vorgehen. Zu diesem Zweck fordert die wissenschaftliche Begleitgruppe die Schaffung einer nationalen Taskforce «Digitalität jetzt!». Erste Sondierungsgespräche mit den international anerkannten Koryphäen Mick Rosoft, Will Applegates, Marc Ator und Bert Elsmann haben bereits stattgefunden. Ebenfalls mit an Bord sind das Institut für marktorientierte Bildungsökonomie der HSG sowie Economiesuisse.

Nicht unterschlagen werden darf in diesem Kontext die ökologische Komponente: Mit der flächendeckenden Implementierung digitaler Unterrichts- und Lehrkonzepte kann aus der Vision der «papierlosen Schule» schon bald Realität werden!

Die wissenschaftliche Projektleitung favorisiert ohnehin ein grundsätzliches Abrücken vom Konzept der «Schule vor Ort». Stattdessen soll die Schule der Zukunft gänzlich online stattfinden. Die wegfallenden Kosten für teure Schulbauten können in die digitale Infrastruktur investiert werden. Und als zusätzlicher Benefit würde die Anzahl Verkehrsunfälle mit Kindern drastisch gesenkt. Die wissenschaftliche Projektleitung hat hierzu eine Machbarkeitsstudie bei der Schmähdagogischen Hochschule Mittelland in Auftrag gegeben.

Inklusion international

Die wissenschaftliche Projektleitung anerkennt wohlwollend, dass in der Schweiz die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen oder anderen Ausprägungen besonderen Bildungsbedarfs in Regelklassen im letzten Jahrzehnt vorangetrieben wurde. Als weiterführendes Kapitel dieser beispiellosen Erfolgsgeschichte empfiehlt die wissenschaftliche Projektleitung eine Kontextualisierung des Inklusionsgedankens mit den Resultaten der Pisa-Tests.

Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

OECD-Schlusslichter der Pisa-Erhebungen 2022 sind Mexiko, Costa Rica und Kolumbien. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, dass jede Schweizer Schulklasse jeweils ein Kind aus den drei genannten Ländern online am Unterricht der Schweizer Klasse teilnehmen lässt. Ein beschleunigtes Abrücken vom schulischen Unterricht vor Ort, wie es weiter oben ausgeführt wurde, würde dieses revolutionäre Konzept begünstigen.

Die Schweizer Lehrpersonen werden den Unterricht künftig mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Mexiko, Costa Rica und Kolumbien gemeinsam vor- und nachbereiten. Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Ausbildung

Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben in der Schweiz – endlich! – die sehr wissenschaftlichen Pädagogischen Hochschulen die gänzlich unwissenschaftlichen Lehrerseminare abgelöst. Dennoch ortet die wissenschaftliche Projektleitung auch hier zusätzlichen Optimierungsbedarf, denn noch immer – wenn auch in stetig weiter sinkender Anzahl – gibt es unter den Dozent*innen Exponent*innen mit einem ausgeprägt berufspraktischen Hintergrund, die den Studierenden unwissenschaftlich rezepthafte Unterrichtskonzepte nahelegen. Dies stellt einen Affront gegenüber der ausdrücklich wissenschaftlichen Ausrichtung dieser Institutionen dar!

Die wissenschaftliche Projektleitung rät aus Qualitäts- und Professionalisierungsgründen dringend dazu, solche Dozent*innen schnellstmöglich aus ihren Funktionen zu entfernen. Eine zukunftsgerichtete Erziehungswissenschaft hält sich nicht mit überholten Konzeptionen auf, sondern baut allein auf moderne Forschungsmethoden und -ergebnisse. Wer nicht mit der Zeit gehen mag, der hat zeitnah zu gehen! Damit sich Dozent*innen gänzlich vorurteils- und prägungsfrei ihrer wichtigen wissenschaftlichen Aufgabe widmen können, empfiehlt die Projektleitung überdies eine bevorzugte Anstellung von Wissenschaftler*innen, die mit dem dualen schweizerischen Bildungswesen wenig bis gar nicht vertraut sind.

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor.

Lehrplan 22

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor. Eine Mitwirkung der Berufspraxis ist nicht erforderlich, vielmehr gilt es, der Expertise der Wissenschaftler*innen bei der Erarbeitung des Lehrplans zur vollständigen Entfaltung zu verhelfen.

Da sich zum Leidwesen der wissenschaftlichen Projektleitung in absehbarer Zeit das Konzept einer Maturität für alle Jugendlichen in der Schweiz politisch kaum realisieren lässt, ist es aus Gründen der Chancengerechtigkeit unabdingbar, sämtliche Lehrgegenstände der Tertiärstufe in die Lehrpläne der Volksschule zu integrieren – je früher, desto besser! Dementsprechend werden sich im Lehrplan 22 zusätzlich Kompetenzbereiche wie Quantennanophysik, Artificial General Intelligence und Pharmakoepidemiologie finden lassen.

Eine Vorstudie der Gagadogischen Tiefschule Hintermond kommt zum Schluss, dass der Lehrplan 22 zur Erreichung der genannten Ziele einen ungefähren Umfang von 47’300 Seiten, 36’800 Kompetenzen und 455’820 Kompetenzstufen erfordert. Die wissenschaftliche Projektleitung beantragt der EDK, eine entsprechende Projektstruktur aufbauen zu dürfen.

Für die wissenschaftliche Projektleitung:

  • Prof. Dr. Dr. Turmina von Elfenbein, Titularprofessorin am trinationalen Zentrum für Bildungshomöopathie
  • Prof. Dr. Dr. Dr. Jérôme-Alain Voudou, Zukunftsforscher am Institut für vergleichende Schulethnologie

 

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Die Schule als Turing-Test-Anstalt https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/ https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/#comments Sat, 11 Mar 2023 08:31:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=13391

Was kann der Computer? Was kann der Mensch? In Zeiten der ChatGTP und KI fordern diese Fragen vor allem das Bildungssystem heraus. Laut Physiker und Philosoph Eduard Käser droht das gegenseitige Vertrauen von Lehrer und Schüler zu erodieren.

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Eduard Käser, Physiker, Philosoh und Jazzmusiker: Die Liebe zur Sprache wiederentdecken.

KI-Systeme imitieren unsere kognitiven Fähigkeiten immer besser. Und je besser sie das tun, desto deutlicher rückt ein Unterschied in den Fokus, den man aus der Linguistik kennt: zwischen Kompetenz und Performanz. Ich kann zum Beispiel einige Sätze Italienisch sprechen. Diese Performanz ist natürlich kein Beleg für meine Italienisch-Kompetenz. Eher lässt sich sagen: I’m faking it, not making it. Und das scheint mir auch eine treffende Kurzcharakterisierung der Künstlichen Intelligenz (KI) zu sein.

I’m faking it, not making it.

KI-Systeme demonstrieren schon heute eine eindrückliche Performanz. Jüngst der Textgenerator ChatGPT von OpenAI. Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz «antwortet» er: Kompetenz ist das Vermögen, etwas erfolgreich zu tun, während Performanz die aktuelle Demonstration dieses Vermögens ist.

Man prüft nicht den Schüler, sondern den Hybrid.

Bündiger kann man das nicht formulieren. Aber was für ein Vermögen demonstriert denn eigentlich der Textgenerator? Schreibt ChatGPT wirklich? Liegt seine Kompetenz nicht schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren? Na und? Nenne man das nun «schrei­ben» oder auch nicht. Wenn man die «intelligente» Maschinenleistung – Problemlösen – auf vielen Gebieten nicht mehr von der menschlichen Leistung unterscheiden kann, weshalb dann nicht die Gänsefüsschen bei «intelligent» streichen?

Man schreibt der Maschine ein Vermögen zu, das sich aus einer Schwäche des Menschen ableitet.

Mit solchen Fragen stecken wir mitten in einem dornigen Problemnest. Es ist so alt wie die KI selbst. Einer ihrer theoretischen Pioniere, der Mathematiker Alan Turing, stellte vor gut 70 Jahren die Frage: Können Maschinen denken? Turing gab keine direkte Antwort, sondern schlug ein sogenanntes Imitationsspiel vor, in dem eine Jury prüft, ob die Maschine den Menschen so imitieren kann, dass dieser zur Überzeugung gelangt, sie denke. Je weniger dies dem Menschen gelingt, als umso intelligenter kann man die Maschine betrachten. Der definitorische Trick ist offensichtlich: Man schreibt der Maschine ein Vermögen zu, das sich aus einer Schwäche des Menschen ableitet: seiner Neigung, gefoppt zu werden.

Kernauftrag durch Informationstechnologie herausgefordert

Seither investieren Computerwissenschaftler, Kognitionsforscher und Philosophen eine Menge Hirnschmalz in die Aufgabe, den Output künstlicher Hirne zu «entlarven». Und vermehrt sehen Lehrerinnen und Lehrer ihren Kernauftrag durch die Imitationstechnologie herausgefordert. Wir befinden uns auf der Schwelle zu einer neuen technischen Ära. Die KI-Systeme sind nicht mehr bloss Werkzeuge. Schüler und Studenten sollen Kompetenzen lernen. Nun begleiten sie ständig lernende Artefakte, die vielleicht sogar gelehriger sind als Menschen. Sie «emanzipieren» sich vom Hilfsmittel zum künstlichen Schüler. Sie wollen «erzogen» werden. Das heisst, Grundeinheit des Unterrichtens ist heute Schüler-plus-Chatbot – ein Hybrid aus Mensch und Maschine. Man prüft nicht den Schüler, sondern dieses Hybrid. Einen Aufsatz schreiben? Einen Roman zusammenfassen? Einen Text auf logische Stringenz überprüfen? «There’s an app for that»..

In der ganzen Entwicklung liegt eine tiefe Ironie.

Das hat Folgen, die man noch kaum bedenkt, bedenken kann. In der ganzen Entwicklung liegt eine tiefe Ironie. Mittel- und Hochschulen feierten die digitalen Medien als Initiatoren für selbstgesteuertes Arbeiten. Nun stellt sich die Frage: Wer oder was ist dieses Selbst? Prüfungs-, Matura-, Seminar-, Masterarbeiten – von wem stammt der geschriebene Text, vom Schüler oder vom ChatGPT? Wem attestieren wir welche Kompetenzen? Wie unterscheiden und verteilen wir sie? Fragen, die wohl über kurz oder lang zum Standard des Unterrichts gehören dürften. Die Schule mutiert von der Lehranstalt zur Turing-Test-Anstalt.

Es droht ein digitales Katz- und Maus-Spiel

Wie immer gibt es die vorschnelle technische Lösung. Schon arbeitet OpenAI an Test-Programmen, die in den ausgegebenen Wortfolgen von ChatGPT heimliche statistische Muster und andere Indizien ihrer Künstlichkeit entdecken. Ein Programm zur «Entlarvung» von Programmen. Inwieweit ist darauf Verlass? Die Testläufe zeigen mässigen Erfolg.[1] Ein nicht unwahrscheinliches Szenario zeichnet sich ab: Der Schüler rüstet sich mit immer raffinierterer Schreib-Software aus, der Lehrer mit entsprechend ausgeklügelter Entlarvungs-Software. Eine digitale Katz-und-Maus-Schleife, in dem nicht unbedingt der Lehrer obenaus schwingen wird. Bis er sich die fatale Frage stellt, ob es sich überhaupt noch lohne, Schreiben zu unterrichten.

Erodiert der vitale Boden des Unterrichtens?

Nun war die Schule ja schon immer das Übungsfeld von Schummelei. Zum herkömmlichen Verdachtsmoment des Plagiats tritt jetzt das neue der technischen Imitation hinzu. Und damit erodiert der vitale Boden des Unterrichtens: das gegenseitige Vertrauen von Lehrer und Schüler. «Ein Rückgriff auf konventionelle Arbeits- und Prüfungsformen scheint derzeit die einzige Möglichkeit zu sein», schreibt der Deutschlehrer Andreas Pfister kürzlich: «Dazu gehören die 45-Minuten-Prüfung, der 90-Minuten-Aufsatz, die Mündlichprüfung. Denn wer möchte Schülerarbeiten mit dem grundsätzlichen Misstrauen begegnen, es habe ein Co-Autor mitgeschrieben?» [2]

Den Blick auf die menschlichen Kompetenzen neu kalibrieren

Es gibt eine optimistischere Perspektive. Sie lässt sich zusammenfassen mit dem Motto «Wiederentdeckung verdrängter Selbstverständlichkeiten». Wozu ist Sprache da? Welche Kompetenzen fördert man mit ihr eigentlich? Das heisst, wir sollten unsere Aufmerksamkeit von der Maschine lösen und sie auf den Menschen richten. Gerade weil die Maschine so gut menschliche Kompetenzen performen kann, hält sie uns an, den Blick auf unsere Kompetenzen neu zu kalibrieren. Was ist daran das genuin Menschliche? Eigentlich sollten wir dem Computer danken dafür, dass er uns die Möglichkeit verschafft, eine solche Frage zu stellen; unser Können in der «Kommunikation» mit der Maschine wieder kennen zu lernen oder vielleicht erst zu entdecken.

Neue Aussichten auf die Bildung eröffnen sich. Der ChatGPT bietet sich geradezu als ein massgefertigtes Tool an. Aber nicht im Sinn von «Text auf Knopfdruck». Vielmehr andersrum: Das Leichte ins Schwierige verkehren. Das Leichte ist das Generieren eines Textes. Das kann ausserhalb des Unterrichtens stattfinden. Der Schüler eignet sich individuell sein Wissen und seine Kompetenzen an, mit welcher KI-Technologie auch immer. Aber was er abliefert, ist nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat: im realen Gespräch mit dem Lehrer und den anderen Schülern, von Angesicht zu Angesicht. Das ist das Schwierige.

Trivialitäten gewinnen im Rahmen eines massiv technisierten Unterrichts an pädagogischem Gewicht.

Die verdrängte Selbstverständlichkeit, die hier zum Vorschein kommt, lautet: Schreiben ist mehr als Textgenerieren – Schreiben ist ein Handwerk. Es verlangt das Erlernen und Einüben von Routinen; Geduld, Disziplin und Liebe im Umgang mit der Sprache; das vertiefte Studium eines Themas; das Einschätzen von Behauptungen; das Zusammenfügen von Wissensgebieten; den Ausdruck von Ideen in klarer, kohärenter Sprache. Daraus entwickelt sich im besten Fall eine innere Bindung an den Text. Das klingt trivial, aber genau solche Trivialitäten gewinnen im Rahmen eines massiv technisierten Unterrichts an pädagogischem Gewicht. Der Philosoph Odo Marquard hat vom «Homo compensator» gesprochen. Der «ausgleichende» Mensch, der in all dem, was heute die Maschinen für ihn tun, sich selber, seine eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen wiederentdeckt und neu bewertet. Und die Schule definiert sich als Ort dieses Ausgleichens.

Wohin geht der Homo sapiens?

Wir treten ein in eine neue Runde der Selbstbegegnung. Was kann der Computer, was kann der Mensch? Diese Unterscheidungsfrage wird zu einer vordringlichen Bildungsaufgabe. Und sie hechelt der Technologie hinterher.

[1] https://www.nzz.ch/wissenschaft/chat-gpt-erfinder-praesentieren-eine-programm-das-erkennen-soll-ob-texte-von-maschinen-geschrieben-wurden-ld.1724050

[2]  https://www.nzz.ch/meinung/chatgpt-wird-das-bildungswesen-auf-eine-harte-probe-stellen-ld.1721909

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https://condorcet.ch/2023/03/die-schule-als-turing-test-anstalt/feed/ 2
Die Welt ist (k)eine Scheibe, Pixel sind kein Pigment oder: Über die Rückbesinnung auf die sinnliche Welt (aisthesis) zur Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit in der Realwelt https://condorcet.ch/2022/10/die-welt-ist-keine-scheibe-pixel-sind-kein-pigment-oder-ueber-die-rueckbesinnung-auf-die-sinnliche-welt-aisthesis-zur-rueckgewinnung-der-handlungsfaehigkeit-in-der-realwelt/ https://condorcet.ch/2022/10/die-welt-ist-keine-scheibe-pixel-sind-kein-pigment-oder-ueber-die-rueckbesinnung-auf-die-sinnliche-welt-aisthesis-zur-rueckgewinnung-der-handlungsfaehigkeit-in-der-realwelt/#respond Sat, 08 Oct 2022 14:04:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=11808

„Medien strukturieren unsere Wirklichkeitserfahrung.“[1] Von der Schrift über Gutenbergs Buchdruck bis zu Web&App verändern (anfangs immer) „neue“ Medien kommunikative und soziale Strukturen. Aktuell sind für viele Menschen mobile Endgeräte, Web und Apps das „Fenster zur Welt“ – allerdings um den Preis des permanenten Rückkanals für personalisierte Daten[2]. Aus einer technischen Infrastruktur zur Datenübertragung, Kommunikation und Kriegsführung (!) wird ein Kontroll- und Steuerungsinstrument für die Zivilgesellschaft.[3] Weder der „unbeschränkte Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild“ noch die „orwellianische Staatsüberwachung“ wie in China[4] sind eine Option für Europa, schon gar nicht für Bildungseinrichtungen. Doch der dominante, vor allem manipulative Einfluss medialer, meist audiovisueller Kommunikation per Web ist als Teil heutiger Lebenswirklichkeit ein notwendiges Thema im Unterricht. Dabei sind Gestaltungsfächer ideal dafür geeignet, übergreifende Bildungsziele wie (Medien-)Mündigkeit, Reflexionsvermögen und Selbstverantwortung zu vermitteln, weil durch die Analyse medialer Artefakte und eigene Gestaltungspraxis der Wechsel von einer passiven Konsumhaltung in den aktiven, diskursiven und emanzipierenden Gestaltungsmodus gelingt.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau

Fischer oder Fisch im Netz?

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari wurde in einem Interview zum Jahreswechsel 2021/22 gefragt, warum er kein Smartphone habe. Die Antwort des Wissenschaftlers, der sich mit den Folgen der Algorithmisierung und Datafizierung menschlichen Verhaltens und den Folgen für Individuum wie Sozialgemeinschaft befasst, ist eindeutig. Er sei nicht naiv und wisse, dass er in einer zunehmend smarten Umwelt[5] auch ohne Smartphone verfolgt werden könne. Es gehe um mehr.

“Der Hauptpunkt ist, Ablenkungen fernzuhalten. Ich weiß, wie schwierig es ist, den Geist zu kontrollieren, konzentriert zu bleiben. Und außerdem: Die Menschen auf der anderen Seite des Smartphones – die klügsten Menschen der Welt – haben in den vergangenen 20 Jahren gelernt, wie man das menschliche Gehirn durch das Smartphone hacken kann. Denen bin ich nicht gewachsen. Wenn ich gegen die antreten muss, werden sie gewinnen. Also gebe ich ihnen nicht meinen Bildschirm, gewähre ihnen keinen direkten Zugang zu meinem Gehirn.”[6]

Der Überwachungskapitalismus ist ein Geschäftsmodell, bei dem Nutzerinnen und Nutzer für angeblich kostenlose Dienste mit ihren Daten zahlen.

Das Einstiegsalter sinkt kontinuierlich.

Das ist eine dystopische, zugleich realistische Feststellung, die von ehemaligen Managern aus dem Silicon Valley von Tristan Harris bis zuletzt Francis Haugen und den Facebook-Files immer wieder bestätigt werden.[7] Die Anbieter kommerzieller digitaler Kanäle arbeiten mit allen erdenklichen Psychotricks, um Nutzerinnen und Nutzer möglichst lang an Display oder Touchscreen zu halten. Nur dann kann personalisierte Werbung geschaltet, das Nutzerverhalten für weitere Einflussnahme ausgewertet und damit Geld verdient werden. Die Mechanismen, die dieses Suchtverhalten generiert, sind ebenso wenig transparent wie die Kriterien, nach denen Inhalte selektiert und angezeigt werden. Die amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff nennt diese Strukturen Zeitalter des Überwachungskapitalismus.[8] Es ist ein Geschäftsmodell, bei dem Nutzerinnen und Nutzer für angeblich kostenlose Dienste mit ihren Daten zahlen. Die Kunden der Big Five der IT des Westens (Alphabet/Google, Amazon, Apple, Meta/Facebook und Microsoft) sind Werbetreibende und politische Parteien, denen ein personalisiertes und dadurch möglichst verlustfreies Schalten von Werbung versprochen wird.[9]

Schlafwandelnd in die Unmündigkeit

Das ist nicht neu. Die Einflussnahme auf Menschen ist das generelle Ziel von Medien, ob Erbauungsschrift, Propagandaplakat oder Lehrfilm. Nur adressiert man heute keine anonymen Zielgruppen, die anhand statistischer Parameter wie Alter, Bildungs- oder Sozialstatus klassifiziert werden, sondern einzelne Personen, deren Verhältnisse, Persönlichkeit, Beruf, Verhalten und Vorlieben man im Detail kennt. Das ist in den USA mittlerweile so perfektioniert, dass sogar Personen im gleichen Haushalt unterschiedliche Wahl- oder Werbespots angezeigt bekommen, nachdem sie an ihren Endgeräten identifiziert wurden. „Wir schlafwandeln in die Überwachung“ resümiert der emeritierte Direktor des Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Gerd Gigerenzer[10] zu dadurch möglichen Social Scoring-Systemen. Wir werden durch “passgenaue Angebote“ sehr gut unterhalten, zugleich medial sediert und infantilisiert, da immer öfter Algorithmen bestimmen, was der oder die Einzelne sieht, liest und hört. Das greift massiv in die Selbstbestimmung des Menschen ein, weshalb der Bundespräsident bereits 2019 auf dem Kirchentag in Dortmund fragte:

“Was bleibt vom Menschen, wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen? Und wie soll Gesellschaft funktionieren, wenn jede Faser von Individualität – längst nicht mehr nur jede Abweichung von der Norm – als Datenpunkt erfasst und in neuen Zusammenhängen verarbeitet wird – bei den einen vom Staat, bei den anderen von privaten Datenriesen?”[11]

Mittlerweile besitzen nahezu 100 Prozent der Kinder und Jugendlichen ein eigenes Handy oder Smartphone.

Die „Rückgewinnung des politischen Raumes, gegen die Verrohung und Verkürzung der Sprache und der Debatten, aber auch gegen die ungeheure Machtkonzentration bei einer Handvoll von Datenriesen aus dem Silicon Valley sei die drängendste Aufgabe“ so Steinmeier. Rückgewinnung bedeutet, dass der politische Raum bereits verloren ist.[12] Für die pädagogische Arbeit ist die Auseinandersetzung mit Strukturen, Mechanismen und Angeboten der Datenökonomie zwingend notwendig, weil mittlerweile nahezu 100 Prozent der Kinder und Jugendlichen ein eigenes Handy oder Smartphone besitzen und selbst Grundschulkindern zumindest stundenweise an Displays spielen oder im Netz surfen.[13] Zudem haben sich die Bildschirmzeiten in der Pandemie deutlich verlängert[14], das Einstiegsalter sinkt kontinuierlich. Übermäßige Mediennutzung führt zu körperlichen und psychischen Fehlverhalten auch im Schulalltag (aggressives Sozialverhalten, Depressionen, Konzentrationsstörungen, Suizidgefährdung, Übergewicht, u.a.[15])

Metrik statt Pädagogik

Überwachungspädagogik: eine Kombination aus digitalen Endgeräten, Netzdiensten und Learning Analytics.

Die am häufigsten konsumierten Dienste sind Videoplattformen, Messenger-Dienste und Computer-Spiele. Diese Anwendungen prägen die Mediennutzung junger Menschen und ihre Anspruchshaltung, etwa die Erwartung sofortiger Rückmeldung des Systems bei korrekten Eingaben (instant gratification[16]). Geprägt werden ebenso Ästhetik, Vorstellungswelten und Wünsche. Die gleichen Mechanismen und digitale Infrastrukturen, die aus Konsumgesellschaften einen Überwachungskapitalismus machen (Netzdienste mit Rückkanal, um Nutzerprofile zu generieren und zu erwünschtem Verhalten zu führen), führen in Schulen zur Überwachungspädagogik: einer Kombination aus digitalen Endgeräten, Netzdiensten und Learning Analytics (Burchard, Lankau 2020). Der Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (StäWiKo), der Psychologe Olaf Keller, erklärt z.B. im Interview, dass in Kiel eine Software entwickelt werde, die Deutschaufsätze korrigieren könne. „Der Computer wertet automatisch aus, gibt Rückmeldung an Schüler und auch an die Lehrer, denen der Aufsatz mit vorgeschlagenen Lernhilfen zugeleitet wird.[17] Eine Deutschlehrerin oder ein Deutschlehrer wäre entsetzt, wenn alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Aufsätze schrieben. Das wäre Standardisierung des Denkens, wo Phantasie und Gestaltungswille gefordert sind. Es zeigt exemplarisch den Gegensatz zwischen empirischer Bildungsforschung von (meist) Psychologen, die möglichst normierte Lernsettings generieren und automatisiert messen möchte, und pädagogischer Arbeit im Unterricht, die z.B. im Deutsch- und Kunstunterricht eine Vielfalt an unterschiedlichen Ergebnissen als erfolgreiche pädagogische Arbeit betrachtet.

Hier kann (und muss) Gestaltungsunterricht der Gegenpol zur Normierung sein, indem Pluralität und Ergebnisoffenheit für entstehende Arbeiten als Qualität vermittelt wird. Das gilt nicht nur für den Kunstunterricht, sondern gleichermaßen für die Interpretation von Texten oder die Entwicklung von Beurteilungskriterien für Musik- oder Tanz usw. So, wie sich die Sinne nur entwickeln können, wenn sie Unterschiedliches sehen, hören, riechen, schmecken, so kann sich das auch Denken, Bewerten und Urteilen nur entwickeln, wen man sich mit Unterschiedlichem, vielleicht sogar Gegensätzlichem, auseinandersetzt, dafür Begriffe findet und den Diskurs sucht. Die Schulung der Sinne ist zugleich eine Schulung des Differenzierungsvermögen an sich und kann, wenn sich Wortschatz und Reflexionsvermögen begleitend entwickeln, auf Medien oder andere Werke übertragen werden.

Konstruktiver Widerstand

Hier setzt der Kunstunterricht an, der, wie die klassischen Print- und audiovisuellen Medien, das ganze Repertoire an Medienbausteinen (Text, Grafik, Bilder, Audio, Video) nutzt. Strukturen und Mechanismen medialer Kommunikation werden durch die Analyse vorhandener und die Gestaltung eigener Projekte transparent gemacht und von der Ideenfindung bis zur Produktion als gestaltbar erlebt. Dabei sind analoge wie digitale Techniken Werkzeug, Gestaltungsmittel und Zweck. Im Kunstunterricht werden eigene Bild- und Vorstellungswelten mit analogen (und später digitalen) Techniken entwickelt. Der kreative Prozess selbst ist an das Individuum und/oder die Gruppe gebunden. Es wird über Ideen und Entwürfe diskutiert und reflektiert. Die eigene konzeptionelle und praktische Arbeit sensibilisiert für Struktur, Funktion und Botschaften medialer Welten und ist ein emanzipierender Schritt in der Medienrezeption. Gestalten ist eine Form des Erkennens durch das eigene Tun.[18]

Dabei wechselt man bei der Nutzung von Computern zwangsläufig in den „Maschinenmodus“, das heißt, man folgt der Logik von Datenverarbeitungssystemen, sobald man den Rechner einschaltet, Software startet, Werkzeugeinstellungen konfiguriert etc. Das Zeichnen mit einem dünnen oder dicken Pinsel unterscheidet sich am Tablet nur in der eingestellten Pixelzahl für die Werkzeugspitze, nicht in der Größe oder dem Gewicht des Pinsels oder in den Eigenheiten beim Pinselschwung. Pixel sind kein Pigment, haben weder eine physische Konsistenz noch Materialeigenschaften wie Kreide, Gouache oder Öl. Auch das Gefühl für Formate geht verloren, da Briefmarke und Großflächenplakat am gleichen Screen oder Tablet bearbeitet und nach Belieben groß oder klein skaliert werden können. Im Agenturalltag druckt man daher z.B. alle Printpublikationen zur Beurteilung in Originalgröße aus.

Bildbearbeitungs- oder Grafik-Software sind leistungsfähige Werkzeuge für die Produktion. Wer das Handwerk des Gestaltens beherrscht, kann auch mit digitalen Werkzeugen eigene Ideen und Vorstellungen umsetzen, aber es hat eine stark technische Determinante. Wie bei Musikinstrumenten gilt: Man muss damit spielen können, um zu musizieren. Kreativ ist nicht nur der Mensch vor dem Bildschirm. Wer Vorstellungskraft, Phantasie, Spielfreude und Experimentiergeist besitzt, kann analoge wie digitale Werkzeuge und Techniken nutzen, um eigene Ideen zu realisieren. Je höher die Vorbildung im manuellen Gestalten, je ausgeprägter das eigene sinnliche Sensorium, desto eigenständiger setzt man analoge wie digitale Werkzeuge ein. Zugleich führt die eigene gestalterische Arbeit idealiter zu einem Verständnis für Medienwirkungsmechanismen und letztlich Medienmündigkeit.[19]

Perspektiven für eine (Kunst-)Pädagogik nach der Pandemie

Gestaltungsfächer bilden den notwendigen Gegenpol zu den stark utilitaristischen Zielen der empirischen Bildungsforschung.

Die Perspektiven für eine (Kunst)Pädagogik nach der Pandemie ergeben sich somit aus spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die ästhetische Erziehung und musische Bildung vermitteln. Gestaltungsfächer (Kunst, Musik, Theater, Tanz) sind Schulfächer, die besonders stark von Gemeinschaft und Kooperation, von Kommunikation, Kreativität und einer konstruktiven Fehlerkultur leben. Dadurch vermitteln sie Lebens- und Sozialkompetenzen, die in einer komplexen und technisierten Lebenswelt benötigt werden.[20] Gestaltungsfächer bilden zugleich den notwendigen Gegenpol zu den stark utilitaristischen Zielen der empirischen Bildungsforschung, die seit Mitte der 1990er Jahre die Bildungspolitik dominiert und das Lernen vermessen und methodisch systematisieren will: Metrik statt Pädagogik mit dem Ziel der Prognostik zur Lernsteuerung und Prozessoptimierung. Kunstunterricht entzieht sich der Standardisierung und Normierung von Unterricht bereits vom Prinzip her. Der Beruf der Kunstpädagogin bzw. des Kunstpädagogen ist laut Job-Futuromat des IAB zu 0 Prozent (!) automatisierbar[21] und verhindert durch ergebnisoffene Prozesse die Normierung. Weder das Unterrichten noch das Gestalten können digital substituiert und automatisiert werden. Die musisch-ästhetische Erziehung und Bildung stärkt so das Individuum in seiner Eigenart wie die demokratische Gemeinschaften als ein Miteinader in Vielfalt.

Technisch gibt es für alle Unterrichtszwecke, nicht nur für den Kunstunterricht, jede benötigte Software, die sich lokal im Netzwerk und/oder auf Schul-Laptops installieren lässt.[22] Das Akronym für lizenzfreie Software (an Schulen sind Kosten immer ein Argument) heißt „FOSS“: Free and Open Source Software. „Open Source“ bedeutet, dass der Quellcode zugänglich ist (open source) und man nachlesen kann, was die Software genau macht, welche Daten gespeichert und  an wen sie gesendet werden. Das ist bei herstellergebundener (proprietärer) Software nicht möglich.[23]

Nutzerdaten sind zu einer eigenen Währung geworden, mit der man handeln oder nach entsprechenden Hacks Unternehmen oder Individuen erpressen kann.

Entscheidend ist daher ein an sich einfacher, wenn auch radikaler Schnitt: Schulen gehen offline und arbeiten nur im lokalen Intranet (Edge-Computing). Es gibt keinen Rückkanal für Schülerdaten ins Netz, da alle Rechner in der Schule über einen eigenen Server (vor Ort oder beim Provider) verbunden sind und alle Daten auf diesem Server bzw. einem Bildungsserver des Bundeslandes liegen, auf den über eine verschlüsselte Verbindung (Virtual Private Network; VPN) zugegriffen wird kann. Für eventuell notwendige Recherchen im Internet stehen separate Rechner bereit, mit denen man, durch eine Firewall und White List geschützt, nur vorab definierte Onlineadressen aufrufen kann. Was zunächst seltsam klingt – geschlossene und dadurch geschützte digitale Räume, auf die nur die beteiligten Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte Zugriff haben und in denen sie arbeiten können, ohne dass Daten abfließen – ist die notwendige Gegenwehr und Sicherheitsinfrastruktur in einer immer stärker vernetzten Welt. Nutzerdaten sind zu einer eigenen Währung geworden, mit der man handeln oder nach entsprechenden Hacks Unternehmen oder Individuen erpressen kann. Als geschlossenes Netzwerk war und ist z.B. das Apple Design Lab organisiert, damit Apple selbst bestimmen kann, wann neue Produkte gezeigt werden. So sollte auch die Infrastruktur an Schulen organisiert sein.

Lehrkräfte, Präsenz und Dialog statt Kennzahlen

Weitere Parameter sind: Es werden nur absolut notwendige Daten erhoben, gespeichert und nach Nutzung wieder gelöscht. Während Vertreter der Datenökonomie möglichst viele Daten von allen möglichst zentral speichern möchten, haben die Stellschrauben einer nachhaltigen IT im 21. Jh. das Ziel größtmöglicher digitaler Souveränität: dezentrale und datensparsame Datenhaltung, Datenhoheit vor Ort, Transparenz der Algorithmen und sofortige Löschoption nicht mehr benötigter Daten. Wir müssen IT neu denken, heißt das, bevor wir sie in Schulen einsetzen können. Das aktuelle Bildungssystem krankt an den Prämissen der (Daten-)­Ökonomie, dem Ausrichten an Kennzahlen und der Verkürzung auf technisch-informatisches (binäres) Denken. Wer aber den Menschen als nach Bedarf zurichtbares Humankapital oder berechenbares, programmierbares Objekt definiert, verabschiedet sich aus dem bildungspolitischen, demokratischen und humanen Diskurs.

Statt Behaviorismus, Kybernetik und empirischer Bildungsforschung müssen Bildungseinrichtungen sich wieder auf ihre Kernaufgabe des Lehrens und Lernens besinnen, auf Gemeinschaft, Bindung und Vertrauen als Basis pädagogischer Arbeit.

Ziele des Schulleitungssymposiums Schweiz: „eine stärkere Perspektivenorientierung auf Persönlichkeitsentwicklung, Mündigkeit, Förderung von Gemeinschaftssinn, Selbstverantwortung, verantwortungsvolle Partizipation an der Demokratie und achtungsvoller Umgang mit der fragilen Umwelt“

Wir brauchen einen generellen Paradigmenwechsel: Statt Behaviorismus, Kybernetik und empirischer Bildungsforschung (Vermessen statt Unterrichten; Burchardt, Lankau 2020) müssen Bildungseinrichtungen sich wieder auf ihre Kernaufgabe des Lehrens und Lernens besinnen, auf Gemeinschaft, Bindung und Vertrauen als Basis pädagogischer Arbeit. Was dabei auf allen Ebenen fehlt, sind fachlich qualifizierte Lehrkräfte, Schulpsychologinnen, Sozialarbeiter. Wir müssen darum in qualifiziertes Personal und dessen Ausbildung investieren. Auf einem Schulleitungssymposium in der Schweiz wurden bereits 2017 als bildungspolitische Ziele Kriterien einer adäquaten Bildung für eine offene Zukunft formuliert: „eine stärkere Perspektivenorientierung auf Persönlichkeitsentwicklung, Mündigkeit, Förderung von Gemeinschaftssinn, Selbstverantwortung, verantwortungsvolle Partizipation an der Demokratie und achtungsvoller Umgang mit der fragilen Umwelt“.[24] Dazu braucht es ein direktes Gegenüber und den konstruktiven Dialog statt Kompetenzvermessung in den Nachkommastellen.

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, mit der sie entstanden sind.“, hat Albert Einstein formuliert und das bedeutet heute, dass weder neoliberale noch informatische oder psychologische Modelle und Methoden das Unterrichten bestimmen dürfen. Der Mensch muss wieder als Subjekt (nicht Muster) mit seinen konkreten Bedürfnissen und seinem individuellen Anspruch auf Bildung und Einbindung in die Sozialgemeinschaft im Mittelpunkt stehen (Bündnis 2017, Lankau 2021). Konkrete pädagogische und technische Forderungen sind anderweitig praxiskonform ausformuliert (Lankau 2020). Übergeordnet ist hier und jetzt die Forderung einer pädagogischen Wende zugunsten des Lehrens und Lernens in Gemeinschaft. Andernfalls gibt es womöglich ein unsanftes Erwachen, wie es der israelische Historiker zu Covid-19 als Möglichkeit formulierte:

„In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde. (…)  Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“ (Lüpke, Harms, 2020)

 

Fussnoten

[1] So der Buchwissenschaftler Dietrich Kerlen, Einführung in die Medienkunde; Kerlen, 2003, 13

[2] Rückkanal für personalisierte Daten bedeutet, dass alle Aktionen der Nutzerinnen und Nutzer im Netz aufgezeichnet werden: jede besuchte Webseite, jeder Mausklick, jedes Scrollen oder Klicken.

[3] Zuboff, 2018

[4] Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, Rede auf dem Kirchentag 2019 in Dortmund; Steinmeier, 2019

[5] Smart ist ein Synonym für die Allgegenwart von Kameras, Mikrofonen und Sensoren, die permanent Daten aus dem öffentlichen wie privaten Raum aufzeichnen (Internet of Things; IoT). Menschliches Verhalten wird ebenso protokolliert wie der Verkehrsfluss oder Wetterdaten etc. Alle Daten werden in Datenzentren nach für Nutzerinnen und Nutzer intransparenten Kriterien ausgewertet.

[6] Matthes, 2021, 18

[7] Siehe z.B. den Podcast von Sam Harris mit Tristan Harris #71 What is Technology doing tu us? April, 2017; https://www.samharris.org/podcasts/making-sense-episodes/71-technology-us (8.8.2022); auch andere ehemalige Manager aus dem Silicon Valley wie Sean Parker, Tim Kendall und zuletzt Francis Haugen (Facebook Files: https://www.wsj.com/articles/the-facebook-files-11631713039) kritisieren die Methoden der Social Media-Kanäle, mit denen Menschen durch persuasive (verhaltensändernde) Technologien manipuliert werden.

[8] Zuboff, 2018

[9] In China bieten staatlich kontrollierte Unternehmen wie Weibo, WeChat u.a. vergleichbare Dienste an, gekoppelt an ein Sozialpunktesystem (Socials Scoring) zur Verhaltenssteuerung.

[10] Zit. n. Kreye 2022, 9

[11] Steinmeier, 2019

[12] Die Rückgewinnung des politischen Raums gelingt nur auf parlamentarisch diskursiver und juristischer Ebene, nicht der technischen. Erste „Rückeroberungen“ sind mit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO), dem Digital Market ACT (DMA) und Digital Services Act (DSA) eingeleitet bzw. rechtsgültig; https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/eu-regeln-online-plattformen-1829232 (8.8.2022)

[13] Zur Ausstattung von Kindern und Jugendlichen mit digitalen Endgeräten siehe die regelmäßigen Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbands Südwest, gestaffelt nach Alter: JIM-Studie (12.19-Jährige), KIM-Studie (6-13-Jährige), Mini-KIM 2020 (2–5-Jährige), (FIM-Studie, Familien); http://www.mpfs.de/startseite/ (6.8.2022)

[14] Zdrazil 2021, 51f.

[15] Andresen et.a.l 2021; WHO 2022; Mayerle 2022, 15

[16] Instant gratification beschreibt Mechanismen der sofortige Belohnung oder Befriedigung von (vermeintlichen oder tatsächlichen) Wünschen. Das korrumpiert das Belohnungssystem bei z.B. Lern­anwendungen, wenn nicht mehr aus Fach- oder Erkenntnisinteresse gelernt wird, sondern für die Gratification wie z.B. bei Antolin, einem digitalen Leseförderprogramm.  Durch das lesen und Beantworten von Fragen werden Punkte gesammelt, was dazu führt,dass kluge Kinder sich die einfachen Bücher aussuchen und bearbeiten, um schnell und ohne großen Aufwand an möglichst viele Punkte zu kommen. Leseförderung im Sinne von Lesebegeisterung aufgrund der Inhalte und Geschichten sieht anders aus!

[17] Olaf Köller (IQB). zit. n. Ebbinghaus 2020

[18] Lankau 2014

[19] Bleckmann 2015

[20] Gardner, 2009; Zierer 2022

[21] Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Job-Futoromat: Werden digitale Technologien Ihren Job verändern?; Suchanfrage Kunstpädagoge/-pädagogin: Keine der 7 Kerntätigkeiten in diesem Beruf ist – Stand heute – automatsiierbar. https://job-futuromat.iab.de/; (3.8.2022)

[22] Ein Projekt für den Bildungsbereich ist das „Netzwerk Freie Schulsoftware“ des Vereins Digitalcourage e.V., wo Open Source-Software und Praxisbeispiel mit Ansprechpartnern gelistet werden. Web: https://digitalcourage.de/ und https://digitalcourage.de/netzwerk-freie-schulsoftware

[23] Das Verbot von Microsoft-Office-Programme und MS Teams an Schulen basiert z.B. auf dieser Intransparenz des Datenabflusses in die USA in Verbindung mit dem US Cloud Act, der alle US-amerikanischen Anbieter von Software verpflichtet, Kundendaten herauszugeben, wenn einer der US-Dienste anfragt, unabhängig  davon, wo diese Daten gespeichert sind.

[24] Simanowski, 2021, S. 92

 

Literatur und Quellen

Andresen, Sabine; Heyer, Lea; Lips, Anna; Rusack, Tanja; Schröer, Wolfgang; Thomas, Severine; Wilmes, Johanna (2021): Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe; hrsg. v. d. Bertelsmann-Stiftung; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/
files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Das_Leben_von_jungen_Menschen_in_der_Corona-Pandemie_2021.pdf
  (6.8.2022)

Bleckmann, Paula (2012): Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen. Stuttgart : Klett-Cotta

Bündnis für humane Bildung (2017): Sieben Forderungen für eine neue Bildungspolitik – „Der Mensch ist des Menschen Lehrer“, https://www.aufwach-s-en.de/2017/10/sieben-forderungen-fuer-eine-neue-bildungspolitik-der-mensch-ist-des-menschen-lehrer/ (8.8.2022)

Burchardt, Matthias; Lankau, Ralf (2020): Aufruf zur Besinnung: Humane Bildung statt Metrik und Technik; https://bildungsklick.de/schule/detail/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik  (5.8.2022)

Ebbinghaus, Uwe (2020): Mint-Schwäche in Schulen:Ist Lernsoftware besser als ein schlechter Mathelehrer?, in FAZ vom 23.6.2020; https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/mint-schwaeche-in-schulen-bringt-corona-die-mathe-software-voran-16828246.html (8.8.2022)

Kerlen, Dietrich (2003): Einführung in die Medienkunde, Stuttgart: Reclam

Kreye, Andrian (2022): Digitale Sozialkreditsysteme: Wir schlafwandeln in die Überwachung, in: SZ vom 26.7.2022, S. 9; https://www.sueddeutsche.de/kultur/sozialekreditsysteme-zustimmung-in-deutschland-1.5627964 (30.7.2022)

Lankau, Ralf (2021): Werkzeug im Unterricht statt Allheilmittel. Alternative IT Konzepte für Schulen, in: ders.: Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule, S.169-184, Weinheim: Beltz

Lankau, Ralf (2020): Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen. GBW-Flugschrift 2, PDF: https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/10/krautz_flugschrift_digitalisierung.pdf  (4.8.2022)

Lankau, Ralf (2014): Gestalten als Form des Erkennens. Kreativität und (Digital-)Technik in Kunstpädagogik und Mediengestaltung, München: kopaed

Matthes, Sebastian (2021): Sie haben gelernt,unser Gehirn zu hacken; Interview mit dem Historiker Yuval Noah Harari; in: Handelsblatt vom 30. Dezember 2021 bis 2. Januar 2022, Nr. 253, S. 16-18

Mayerle, Robert (2022): Auswirkungen der Pandemie-Folgen für Kinder und Jugendliche. In: Gruppenanalyse 1/2022: 14-19.

Simanowski, Roberto (2021): Digitale Revolution und Bildung. Für eine zukunftsfähige Medienkompetenz, Weinheim: Beltz Juventa

Steinmeier, Frank (2019): Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung der Podiumsdiskussion “Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne” beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 20. Juni 2019 in Dortmund; https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/
bulletin/rede-von-bundespraesident-dr-frank-walter-steinmeier-1640914
  (5.8.2022)

WHO (2022) World Health Organization: Mental health. Studie World Health Organization: The WHO special initiative for mental health (2019-2023): Universal health coverage for mental health; https://apps.who.int/iris/handle/10665/310981 (6.8.2022)

Zdrazil, Tomàš (2021): Was die Jugend jetzt braucht. In: Erziehungskunst, 12/2021: 51-54.

Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt: Campus

 

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