Digitalie Medien - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 13 Mar 2022 12:33:24 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Digitalie Medien - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Was Hänschen nicht lernt … https://condorcet.ch/2022/03/was-haenschen-nicht-lernt/ https://condorcet.ch/2022/03/was-haenschen-nicht-lernt/#respond Sun, 13 Mar 2022 12:14:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=10648

Seit mehr als 30 Jahren wiederholen sich Diskussionen über Sinn und Unsinn von Informationstechnik in Bildungseinrichtungen. Die Pandemie mit Kontaktsperren und Schulschließungen hat die Diskussion beschleunigt. Digitaltechnik wurde in Coronazeiten ohne Diskussion flächendeckend eingesetzt. Jetzt soll daraus das „neue Normal" werden, möglichst ab der Kita. Je früher desto besser – oder nicht? Ein kritisches Statement zur Digitalisierung an der Grundschule von Condorcet-Autor Ralf Lankau.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau: Daten über menschliches Verhalten werden maschinenlesbar gemacht.
Bild: Lankau

Von Digitalisierung und digitaler Transformation zu Digitalität

Die Definition wichtiger Begriffe ist Voraussetzung für das Verstehen der Zusammenhänge. Digitalisierung als Substantiv, digitalisieren als Verb bedeutet, beliebige Information maschinenlesbar zu machen. Ob Text oder Bild, Mimik oder Gestik, Raumtemperatur oder Luftfeuchtigkeit: Alles wird durch entsprechende Sensoren, Kameras oder Mikrofone aufgezeichnet und technisch zu Daten und Datensätzen konvertiert. Diese Digitalisate werden anschließend nach der Logik von Datenverarbeitungssystemen – alle Rechner sind Datenverarbeitungssysteme  – mit Hilfe entsprechender Programme be- und verarbeitet. Algorithmen sind Handlungsanweisungen (Operationsbefehle), wie Rechner Daten verarbeiten.

Spricht man von Digitalisierung im Kontext von Sozialsystemen (Arbeit, Bildung, Gesundheit), bedeutet Digitalisierung, dass Daten über menschliches Verhalten, seine Psyche und Emotionen (5-Faktorenmodell, s.u.) aufgezeichnet und maschinenlesbar gemacht werden. Digitale Transformation bezeichnet die Forderung der IT- und Wirtschaftsverbände, zunehmend alle menschlichen Lebensbereiche nach den Parametern und Anforderungen von Datenverarbeitungssystemen der Datenökonomie umzustrukturieren und der Logik von Algorithmen und Berechenbarkeit anzupassen. Die Konsequenz: Es zählt nur noch, was als Daten erfasst (datafiziert) und algorithmisch berechnet und gesteuert werden kann. Denn das ist

Shoshana Zuboff, US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts: Der Dreisatz der Digitaltechnik: Automatisieren, Digitalisieren, Kontrollieren.

(Zuboff 1988) Nicht mehr der Mensch mit seinen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt technischer Anwendungen, sondern die Effizienz und Optimierung der Datenverarbeitungssysteme. Die Leitdisziplin der Digitalisten ist Big Data oder – da Big Data sehr nach Big Brother klingt – die vermeintlich objektivierenden Data Sciences.

Der relativ neue Begriff Digitalität soll die digital codierte Verbindung zwischen Menschen, zwischen Menschen und Objekten und zwischen den Objekten des „Internet of Things (IoT) umfassen. Statt der eher technischer Definitionen der Digitalisierung sollen mit dem Kunstbegriff der Digitalität soziale und kulturelle Praktiken beschrieben werden, ähnlich dem (ebenso ungenauen) „digital lifestyle“. Der Begriff beschreibt de facto die Akzeptanz der Allgegenwart und permanenten Interaktion von Menschen mit digitalen Endgeräten und Dominanz netzbasierter Diensten. Es ist, getarnt als Fortschritt, die Zustimmung zur Selbstentmündigung und Steuerung menschlichen (Lern)Verhaltens durch Software, wenn „KI-basierte Avatare als empathische Lernbegleiter“ Lehrkräfte ersetzen (Herkersdorf, 2020) oder digitale Endgeräte von einem Schulleiter (!) zu „Lernbegleitern“ geadelt werden, um Lehrkräfte zu sparen. (Lebert 2021)

Damit wird im Gewand einer kulturwissenschaftlichen Diskussion der Raum für das bereitet, was Marc Zuckerberg (Meta, vormals Facebook) als kommerzielles Metaverse (dt. Metaversum) auf den Markt bringen will: Das Verschmelzen von realer und virtueller Welt als neuer Geschäftsbereich und das Interagieren mit virtuellen statt realen Personen. Eingeführt hat den Begriff Virtual Reality der Science-fiction-Autor Neal Stephenson 1992 in seinem Roman „Snow Crash“ – eine Dystopie. Die Story: In den USA herrschen nach einer schweren Wirtschaftskrise hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt. Viele Menschen flüchten daher in virtuelle Scheinwelten.

Für alle drei Digital-Begriffe wird Alternativlosigkeit behauptet, der Mensch als selbstbestimmt handelndes Subjekt negiert.

Vermessen statt Unterrichten

Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen.

Für alle drei Digital-Begriffe wird Alternativlosigkeit behauptet, der Mensch als selbstbestimmt handelndes Subjekt negiert. Für den Bildungssektor forcieren Akteure der Global Education Industries (GEI) und StartUps der eLearning- und EdTech-Branche (Education Technologies) den Einsatz von Digitaltechnik, neben den bekannten (formal gemeinnützigen) Stiftungen. Damit verbunden ist ein Paradigmenwechsel, der aus dem angelsächsischen Raum massiv nach Europa drängt: Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen. Bildung wird zum Geschäftsfeld. Wer „Bildung“ als Dienstleistung verkaufen will, muss Bildungsprozesse als steuer- und messbar behaupten und Erfolgskontrollen per Qualitätsmanagement (QM) garantieren. Dafür müssen Lernprozesse standardisiert und kleinteilig mess- prüfbar werden. Das ist das Feld der empirischen Bildungsforschung als Teildisziplin der Psychologie. Das Ergebnis: Messmethoden für Lernleistungen statt Pädagogik und Didaktik.

Auch Emotionen sind nach diesem Verständnis Kompetenzen, die man trainieren und zur Selbstoptimierung verändern kann.

Derlei Ideen sind nicht neu.Vorläufer und Impulsgeber war z.B. William Stern, Vordenker der Allgemeinen Psychologie. Er prognostizierte bereits im Jahr 1900 die „Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens“. Stern und Kollegen wie Hugo Münsterberg postulierten 1912 als psychotechnische Maxime: „Alles muss messbar sein.“ Dafür entwickelten Psycho-Ingenieure passende Psycho-Techniken. Darauf baut die „Lehre der unbegrenzten Formbarkeit des Einzelnen“ auf . (Gelhard, 2011, 100) Der Psychologe David McClelland leitete daraus sogar das „pädagogische Versprechen einer umfassenden Formbarkeit des Menschen“ ab. (ebda., 120).

Auch Emotionen sind nach diesem Verständnis Kompetenzen, die man trainieren und zur Selbstoptimierung verändern kann. Dazu dient u.a. das Fünf-Faktoren-Modell (engl. OCEAN) nach Louis Thurstone, Gordon Allport und Henry Sebastian Odbert. Die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität ergeben in der jeweiligen Stärke und wechselseitigen Abhängigkeiten präzise Abbilder der Persönlichkeitsstruktur, der mentalen und psychischen Belastbarkeit, des emotionalen wie sozialen Verhaltens, der sexuellen Präferenzen u.v.m. Der Mensch und seine Psyche werden transparent, das Individuum steuerbar.

Automatisierte Beschulung wird zur algorithmisch berechneten Prognostik, um Probanden zum Erreichen extern vorgegebener Lernziele zu führen.

Datafizierung und Datenbanken statt Dialog

Dazu muss man personalisierte Daten erfassen und auswerten. Das ermöglichen digitale Endgeräte. Die Identifikation der Probanden erfolgt durch Login und Nutzerverhalten. Die personalisierten Daten werden zu Profilen mit charakteristischen Merkmalen von Personen kondensiert – die sogenannten digitalen Zwillinge. Menschliches Verhalten wird per Web und App modifiziert (Nudging, Selftracking) oder manipuliert (Influencing, Propaganda, Werbung). Automatisierte Beschulung wird zur algorithmisch berechneten Prognostik, um Probanden zum Erreichen extern vorgegebener Lernziele zu führen. Software mit vergleichbaren Aufzeichnungs- und Steuerungspotentialen kommen aktuell verstärkt als Lernsoftware, Serious Games und Virtual Reality (VR)-Anwendungen in die Bildungseinrichtungen, bereits an der Kita.

John Hattie: IT hat nur eine geringe Effektstärke.

Bloss: Medientechnik als Ersatz der Lehrkräfte scheitert seit mehr als 30 Jahren regelmäßig. Nutzen und Mehrwert digitaler Medien für Lernprozesse sind nicht nachgewiesen. Im Gegenteil. John Hattie weist in seiner Meta-Analyse „Visible Learning“ nur einen geringen Nutzen von IT im Unterricht aus. (Hattie, 2009; aktualisiert durch Hattie; Zierer, 2016; Zierer 2020) Der OECD-Bericht „Students, Computers and Learning: Making the Connection“ (2015) zeigt: Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt nicht zu besseren Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Das gleiche Ergebnis zeigte ein BYOD Projekt in Hamburg , Kammerl 2016) und die OECD-Studie zu Resilienz und Bildungsgerechtigkeit. Daher gehört es mittlerweile zur Strategie der Digitalbefürworter, bereits die Frage nach dem Nutzen und Mehrwert von Medientechnik im Unterricht als bewahrpädagogisch und überflüssig zu delegitimieren.(Krommer 2020) Der Trick: Krommer, Wampfler &Co. fragen nicht nach dem möglichen Nutzen oder Mehrwert von digitaler Medien im Unterricht, sondern fordern umgekehrt „Unterricht unter Bedingungen der Digitalisierung“. (ebda.) Wer Digitaltechnik als Prämisse setzt, muss deren Einsatz nicht begründen. Nur sagt diese Setzung gerade nichts über Nutzen, Sinn oder Unsinn von Technik im Unterricht aus, sondern nur über die Setzung.. Technikeinsatz alleine ist kein pädagogisches Konzept.

Präsenzunterricht als Normalfall

Wir stehen vor grundlegenden Entscheidungen. Welche Form von Unterricht, Lehre und Bildung wollen wir?

Prof. Dr. Andreas Gruschka: Verstehen wir es weiterhin als Aufgabe der Pädagogik, Verstehen zu lehren?

(Gruschka, 2011) Oder bestimmen Parameter der produzierenden Industrie (Produktion von Humankapital mit validierten Ergebnissen) und der Daten-Ökonomie das Lehren und Lernen? Ist die automatisierte Messbarkeit von Lernleistungen das Ziel oder haben Bildungseinrichtungen einen übergeordneten Auftrag für Allgemeinbildung und Persönlichkeitsentwicklung, der sich nicht utilitaristisch auf Ausbildung und Kompetenzen verkürzen lässt? Bleiben Lehranstalten soziale Orte und Schutzraum für Präsenzunterricht und das Lernen in Sozialgemeinschaften? Wird Lehren und Lernen verstanden als soziale Interaktionen auf Basis von wechselseitiger Beziehung, Bindung und Vertrauen zwischen Menschen? Oder etablieren wir einen zunehmend „autonom“ agierenden Maschinenpark zum Beschulen und Testen der nächsten Generation?

Der Mensch ist des Menschen Lehrer(in)

Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Für Dialog und Diskurs, für das Nach-, Mit- und Selbstdenken brauchen wir echte Begegnungen. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann, wenn Verstehen das Ziel ist, nicht nur Repetition. Medien und Medientechnik können Lernprozesse partiell unterstützen, aber wir lernen durch das Miteinander (Lankau 2020a)

In der Flugschrift „Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht“ (Lankau, 2020b) wird bis auf Hard- und Software-Ebene skizziert, wie man Digitaltechnik einsetzt, ohne Nutzerdaten zu generieren. Der Untertitel präzisiert die Funktion von sinnvoller Medientechnik in Lehr- und Lernprozessen: „Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen.“ Das heißt: Der Einsatz von Digitaltechnik muss überdacht werden im Hinblick auf die Frage, was der „Normalfall Unterricht“ sein soll. Bleiben Bildungseinrichtung Lernorte für das Individuum oder werden es Lernfabriken für die zunehmend algorithmisierte Steuerung von Menschen mit dem Ziel des messbaren Kompetenzerwerbs, samt absehbarer Konsequenzen für das Individuum wie die Gemeinschaft? Das ist ja eine der Lehren aus Corona: Präsenz ist nicht zu ersetzen, in keiner Schulform und in keinem Lebensalter. Ob wir dabei analoge und/oder digitale Medien als Ergänzung zum Unterricht einsetzen bleibt nachgeordnet. Denn es sollte zu denken geben, was der israelische Historiker Harari zu Covid-19 im Interview formulierte:

„In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde. (…)  Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“(Lüpke, Harms, 2020)

 

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Deine Daten sind der Preis: Medienmündigkeit im Netz oder der Blick hinter das Display auf Big Data und Datenökonomie https://condorcet.ch/2021/11/deine-daten-sind-der-preis-medienmuendigkeit-im-netz-oder-der-blick-hinter-das-display-auf-big-data-und-datenoekonomie/ https://condorcet.ch/2021/11/deine-daten-sind-der-preis-medienmuendigkeit-im-netz-oder-der-blick-hinter-das-display-auf-big-data-und-datenoekonomie/#respond Mon, 29 Nov 2021 06:43:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=9942

Für Condorcet-Autor Ralph Lankau gehören Digitaltechnik, Netzwerke und Datenschutz notwendigerweise zusammen, da man Online- und Webtechnologien nur dann verantwortungsvoll nutzen kann, wenn man über ein Grundverständnis über Funktionsweisen der Digitaltools verfügt. Der Begriff dafür ist Medienmündigkeit statt Medien(bedien)kompetenz und bedeutet, dass man einschätzen und entscheiden kann, ob und ggf. welche Medien man nutzt und was man besser nicht im Netz macht. Das zugrundeliegende Ziel ist, sich den Datensammlern der IT-Monopole und der Daten-Ökonomie zu widersetzen, ohne auf sinnvolle Dienste zu verzichten.

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Social Media-Aktivitäten als Spiegel der Persönlichkeit

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau: Wir müssen uns stattdessen überlegen, für was wir wirklich online sein müssen.
Bild: Lankau

Das Mediennutzungsverhalten hat sich durch Digital- und Webtechnologien in den letzten 20 Jahren stark verändert. Internetdienste wie Amazon und Google (mit YouTube) oder Social Media-Plattformen wie Facebook (mit WhatsApp und Instagram) haben heute Reichweiten, die weit über Printpublikationen oder TV-Kanäle hinausgehen. Mit Smartphones (ab 2007) und Tablets (ab 2010) wurden mobile Geräte und Dienste ständige Begleiter. Der entscheidende Unterschied zu bisherigen Medienkanälen ist der permanente Rückkanal für personenbezogene (personalisierte) Daten. Gerätehersteller und Diensteanbieter wissen, wer wir sind und was wir im Netz tun. „Mit jedem Klick im Netz hinterlassen Menschen digitale Spuren. Aber auch wer das Handy unbenutzt in der Tasche mit sich herumträgt, verrät viel über sich selbst. Denn die Bewegungen des Benutzers, die ein Smartphone mit seinen Inertialsensoren erfasst, ermöglichen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der Nutzer.“ (Siegle, 2019)

Eine aktuelle Studie bestätigt, dass sich aus Aktivitäten in sozialen Medien weitreichende Schüsse auf den Charakter der Nutzerinnen und Nutzer schließen lassen. Eine Forschergruppe um Clemens Stachl warnt im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) vor möglichen Einschränkungen der Privatsphäre, da personenscharfe Profile die gezielte Beeinflussung ermöglichen. (Stachl, 2020)

Eine aktuelle Studie bestätigt, dass sich aus Aktivitäten in sozialen Medien weitreichende Schüsse auf den Charakter der Nutzerinnen und Nutzer schließen lassen.

Allein über die Bewegungen mit Smartphones verraten Nutzer ihre alltäglichen Gewohnheiten.

Denn Smartphones zeichnen Nutzerdaten auf, aus denen sich die fünf Dimensionen des “Big Five”-Modells der Persönlichkeitspsychologie (Ocean-Methode; Tab. 1) vorhersagen lassen. Das sind die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität sowie deren Ausprägung. Das ergibt, zusammen mit Bewegungs- und Kommunikationsprofilen, sehr präzise Abbilder der Persönlichkeitsstruktur, der mentalen und psychischen Belastbarkeit (z.B. Stressresistenz) und des emotionalen wie sozialen Verhaltens. Allein über die Bewegungen mit Smartphones verraten Nutzer ihre alltäglichen Gewohnheiten, den Aktionsradius und direkte Kontakte. Das lässt zuverlässige Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und erwartbares Verhalten zu (Prognostik). Das Sammeln von Nutzerdaten hat als Ziel ja die Voraussage des wahrscheinlichen Verhaltens, um entsprechende Angebote zu machen und/oder passende Werbung zu schalten. Das ist schließlich die Geschäftsgrundlage der digitalen Plattform-Ökonomie: „Kostenlose“ Angebote gegen Nutzerdaten, Werbung und auch (politische) Propaganda.

Tab. 1: Die Big Five der Persönlichkeitspsychologie (dt.: Fünf-Faktoren-Modell, FFM)

Kürzel/Faktor schwach ausgeprägt stark ausgeprägt
O / openness to experience

(Offenheit für Erfahrungen)

konservativ, vorsichtig erfinderisch, neugierig
C / conscientiousness

(Gewissenhaftigkeit)

unbekümmert, nachlässig effektiv, organisiert
E / extraversion

(Extraversion)

zurückhaltend, reserviert gesellig
A / agreeableness

(Verträglichkeit)

wettbewerbsorientiert, antagonistisch kooperativ, freundlich, mitfühlend
N / neuroticism

(Neurotizismus)

selbstsicher, ruhig emotional, verletzlich

 

Trump und das Beispiel TikTok

Der erste, der diese Persönlichkeitsprofile für personalisierte Wahlwerbung erfolgreich eingesetzt hat, war Barack Obama mit seiner „Yes, we can“-Kampagne, mit der er vor allem junge Wählergruppen aktivieren konnte. Manipulationstechniken der medialen Kommunikation sind allerdings für beliebige Ziele einsetzbar, wie es Edward Bernays bereits in seinem Buch „Propaganda oder die Kunst der Public Relations“ von 1928 publizierte. Ob man Wahlkampf für Auto- oder Demokraten macht, ist auf der analytischen und (werbe)psychologischen Ebene egal, nur Botschaften und Bildsprachen variieren, die Methoden sind identisch. Die Basis dafür sind Psychotechniken, die William Stern u.a. um 1900 entwickelt hatten. (Gelhard, 2011, 100f) Der Brexit wie der letzte amerikanische Präsidentenwahlkampf dürften unter starkem Einfluss von personalisierten Social Media-Aktionen gestanden haben, wie es Christopher Wylie, ehemaliger Mitarbeiter von Cambridge Analytica (CA), in seinem Buch „Mind F*ck“ beschreibt.

Shoshana Zuboff, US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts, spricht von Überwachungskapitalismus.

Das Grundprinzip der Plattform-Ökonomie sind international identisch. Unternehmen wie Facebook oder Google bzw. ihre chinesischen oder russischen Pendants stellen die technische Infrastruktur zur Verfügung. Die Nutzer entwickeln unentgeltlich die Inhalte (Content) und laden sie auf diese Plattformen hoch, um sich zu präsentieren. Die Plattformbetreiber verkaufen die Werbeplätze und sichern den Werbetreibenden zu, passende Anzeigen zum jeweiligen Nutzerprofil zu schalten. Zeitalter des Überwachungskapitalismus nennt Shoshana Zuboff dieses Prinzip, bei dem Nutzerinnen und Nutzer als Datenspender sich selbst als Konsumenten profilieren. (Zuboff 2018)

Bislang waren die Big Five der IT: Amazon, Alphabet (Google), Apple, Facebook und Microsoft auch in Europa führend. (Europa ist diesbezüglich eine digitale Kolonie des US-Marktes). Mit Android und Mac OS stellten zwei US-Firmen sogar die Betriebssysteme und App-Stores für annähernd alle Smartphones. Dummerweise hat China mittlerweile nicht nur das chinesische (staatlich zensierte) Netz gegen Konkurrenz aus dem Westen abgeschottet und für alle digitalen Dienste eigene Alternativen entwickelt (WeChat, Weibo, Baidu, AliBaba usw.). Mit Apps wie TikTok haben chinesisches Unternehmen auch zunehmend Erfolg auf dem amerikanischen Markt.

Trumps Wahlauftritt in Tulsa: leere Ränge.

Hier überkreuzen sich zwei Ereignisse. Zum einen haben TikTok-Nutzer die Auftakt-Wahlveranstaltung von Donald Trump in Tulsa boykottiert, in dem sie sich massenhaft angemeldet haben, aber nicht erschienen sind. Den großspurigen Ankündigungen des Trump-Teams über hohe Teilnehmerzahlen standen Fernsehbilder von leeren Rängen gegenüber. (Tulsa, 2020). Der Zorn des Narzissten war erwartbar. Zu Recht weist die amerikanische Regierung allerdings darauf hin, dass Daten, die ein chinesisches Unternehmen über amerikanische Nutzer sammelt, dem chinesischen Staat zur Verfügung stehen. Ein staatstotalitäres System wie in China schottet ja nicht nur das eigene Netz gegen Externe ab, sondern hat Zugriff auf alle Daten chinesischer Unternehmen.

Ein staatstotalitäres System wie in China schottet ja nicht nur das eigene Netz gegen Externe ab, sondern hat Zugriff auf alle Daten chinesischer Unternehmen.

Ein staatstotalitäres System

Fairerweise müsste die US-Regierung aber dazu sagen, dass sie selbst so agiert, wie es die Enthüllungen von Edward Snowden 2013 gezeigt haben und er es in seinem Buch „Permanent Record“ beschreibt. Die amerikanische Gesetzgebung nach dem Anschlag von 9/11 führt dazu, dass von Datenschutz und Datensicherheit auch in Europa nicht mehr gesprochen werden kann. Laut US Cloud Act haben amerikanische (Geheim)Dienste auf alle Daten von europäischen Kunden auf Antrag Zugriff, selbst wenn diese in Europa gespeichert sind und EU-Recht unterliegen. US-Recht bricht EU-Recht, egal, welche Verträge man mit amerikanischen Unternehmen abschließt. Das hat der europäische Gerichtshof (EuGH) sowohl mit dem Safe Harbour-Urteil von 2015 wie mit dem aktuellen Urteil zum Privacy Shield von 2020 bestätigt. (Lijnden, 2020, 4)

Datenschutz schützt keine Daten, sondern Grundrechte wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Privatsphäre oder das Recht, eine Zustimmungen zum Datensammeln zu widerrufen und das Löschen der Daten einzufordern.

Umso wichtiger ist die im Mai 2016 beschlossene und im Mai 2018 in Kraft getretenen EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO). Sie regelt das Speichern und Verarbeiten personenbezogener Daten für alle (!) Unternehmen, die innerhalb der EU aktiv werden wollen. Wer personenbezogen Daten speichern und auswerten will, muss vorher von den betroffenen Personen ein schriftliches Einverständnis einholen. Hier ist nicht der Ort, juristische Details oder mögliche Verbesserungen zu erörtern, sondern deutlich zu machen: Datenschutz schützt keine Daten, sondern Grundrechte wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Privatsphäre oder das Recht, eine Zustimmungen zum Datensammeln zu widerrufen und das Löschen der Daten einzufordern. Die EU-DSGVO gibt Nutzern ihre Rechte an eigenen Daten zurück.

Die Pflicht, vor dem Speichern um Erlaubnis zum Speichern personenbezogener Daten zu bitten, gilt selbstredend auch für Software, die in Schulen eingesetzt wird.

Learning Analytics an Schulen

Peter Hense, Rechtsanwalt aus Sachsen (D): Man scheut sich vor der konsequenten Anwendung geltenden Rechts.

Die Pflicht, vor dem Speichern um Erlaubnis zum Speichern personenbezogener Daten zu bitten, gilt selbstredend auch für Software, die in Schulen eingesetzt wird. Daher werden Eltern von Minderjährigen unter 16 Jahren derzeit bundesweit aufgefordert, entsprechende Nutzungsvereinbarungen zu unterschreiben. Tun Sie es nicht. Auf die Frage, ob die Kultusministerien in Baden-Württemberg und Bayern ihr vorläufiges Okay für Microsoft-Produkte an Schulen zurückziehen sollten, antwortet der Jurist Peter Hense im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Sollten? Sie müssen. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet. Ohne eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Datentransfer in die USA und andere Drittstaaten, denen ein angemessenes Schutzniveau fehlt, sind diese Produkte nicht genehmigungsfähig.“ (Füller, 2020a)

Gezwungen, entsprechende Nutzungsvereinbarungen zu unterschreiben.

Dieser Datenschutz als Grundrechteschutz gilt auch für Lernmamagement Systeme (MS), die semantisch korrekt besser Lern-Steuerungs-Systeme (LAS) heißen sollten und bei denen exakt angegeben werden muss, welche Daten für welche Zweck wie lange gespeichert werden, wer darauf Zugriff hat und wie man sie wieder löschen kann. Denn personalisierte Lernsoftware basiert notwendig auf möglichst umfangreichen Lern-, Verhaltens und Persönlichkeitsprofilen. Dazu wird das Lernverhalten der Schülersinnen und Schülerin möglichst kleinteilig aufgezeichnet und ausgewertet.Der Begriff dafür ist Learning Analytics. ( Ifenthaler, Schuhmacher, 2016; Moodle, 2020) Aus Lernprozessen wird ein permanentes Vermessen von digital abprüfbaren Lernleistungen.

Der Leiter des Hasso-Plattner-Instituts, das die vom BMBF finanzierte Schulcloud mitentwickelt, führt dazu aus: „Viele dieser interaktiven Systeme funktionieren nur, wenn sie den Nutzer kennen. Das bedeutet, dass Daten protokolliert werden: Was hat der Betreffende gestern gemacht? Welche Frage konnte er nicht beantworten? Wo müssen wir wieder ansetzen?“ (Meinel, 2020) Auch andere Software-Anbieter werben mit der Vermessung und Steuerung von Lernprozessen: “Wir richten Ihr Moodle so ein, dass Sie von den Analytik-Funktionen optimal profitieren. Moodle-Analytics wird damit nicht zur Glaskugel – aber fast” steht auf der Website eines offiziellen Moodle-Partners für Deutschland. (Moodle, 2020). Ein weiterer Open-Source-Anbieter verspricht „Pädagogische Funktionen und einfach bedienbare Benutzeroberflächen für den IT-gesteuerten Unterricht“. (Open Source, 2020).

Wer daran glaubt, braucht in der Tat immer mehr und immer bessere Daten. Und immer mehr Informatiker und Datenmanager statt Lehrkräfte…

Demnach ist der IT-gesteuerte Unterricht das Ziel? Der übergeordnete Begriff dafür ist datengestützte Schulentwicklung, ein Modell der empirischen Bildungsforschung. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, Lernprozesse messen und wie einen Produktionsprozess steuern zu können (kybernetische Pädagogik) – als gäbe es Qualitätsmanagement-Parameter für die individuelle und kognitive Entwicklung von Kinder und Jugendlichen. Wer daran glaubt, braucht in der Tat immer mehr und immer bessere Daten, wie es die Kollegin Hartong am Beispiel Hamburg kritisch aufzeigt. Und immer mehr Informatiker und Datenmanager statt Lehrkräfte… (Hartong 2018; 20219)

Was ist das Ziel von Unterricht?

An dieser Stelle muss man eine Grundsatzfrage stellen. Was ist das Ziel von Unterricht und was das Ziel beim Einsatz von Digitaltechnik in Schulen? Geht es um das Optimieren des standardisierten Beschulens und um automatisiertes Testen auf „Richtig oder Falsch“? Dafür sind Digital- als Binärsysteme und Lernsoftware geeignet. Oder geht es um mehr als Auswendiglernen von Repetitionswissen? Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken lernen und Fragen stellen könnten. Auch der ehemalige Leiter des Massachusetts Institute of Technology (MIT), Rafael Reif, weiß um die Bedeutung von Präsenz und direktem Diskurs: „Die Ausbildung bei uns besteht aus drei Komponenten. Erstens: das Lernen von bestehendem Wissen. Zweitens: das Verbessern von bestehendem Wissen. Drittens: die Anwendung des Wissens, um etwas Neues zu schaffen. Den letzten Punkt nennt man Innovation. Digitales Lernen können wir nur für den ersten Teil nutzen. Aber wir gewinnen damit mehr Zeit für die beiden anderen Komponenten.“ Punkt Zwei ist das gemeinsame Arbeiten im Präsenzunterricht und Seminar.

IT muss dezentral und datensparsam organisiert werden. Schulen richten sich dafür z.B. eigene LMS-Instanzen ohne Analysefunktionen ein, damit Lehrkräfte und Schülerinnen bzw. Schüler Dokumente und Dateien austauschen können.

Alternativen zur Verdatung von Schülerbiografien

An dieser Stelle kann auch der Einsatz von IT im Unterricht und an Schulen konkretisiert werden. Was ist das genaue Ziel beim Einsatz von IT in Schulen? Automatisiertes Beschulung als Ersatz für Lehrkräfte? Oder nutzt man digitale Dienste ohne Personalisierung und Profilierung als Werkzeug? Der Autor arbeitet z.B. selbst mit Moodle, deaktiviert aber alle Analyse-PlugIns und reduziert das Speichern von Nutzerdaten auf das technisch notwendige (Nutzerkennung, Passwort, Berechtigungen nach dem LogIn). Als Betriebssystem dient Linux (Fedora, Mint, Ubuntu statt Windows), die Anwendungssoftware ist durchgängig Open Source, z.B. Libre Office für Büroanwendungen und Präsentationen. Auch für Grafik, Desktop-Publishing, Audio-/Videoschnitt oder Webpublishing gibt es entsprechende Tools.

Eine valable Alternative

Noch wichtiger ist Umdenken: IT muss dezentral und datensparsam organisiert werden. Schulen richten sich dafür z.B. eigene LMS-Instanzen ohne Analysefunktionen ein, damit Lehrkräfte und Schülerinnen bzw. Schüler Dokumente und Dateien austauschen können. Das LMS wird benutzt wie eine (digitale) Bibliothek oder eine Materialsammlung ohne Benutzungsprotokolle und ohne Profilierung. Der Server steht in der Schule oder bei einem Provider und ist über VPN (Virtual Private Network) mit Nutzerkennung und Passwort per Netz erreichbar. In dieses LMS kann man bei Bedarf (Stichwort Fernunterricht) Open Source-Videokonferenz-Software wie BigBlueButton oder Jitsi einbinden. Auf diesem Server liegt das für den Unterricht notwendige Material, so muss man im Unterricht nicht ins Internet, sondern kann im Intranet arbeiten. Diese lokale Aufgaben- und Materialsammlung wird ergänzt um den Zugriff auf den Bildungsserver des jeweiligen Bundeslandes. Für die Kommunikation außerhalb von Unterricht und Schule nutzt man DSGVO-konforme Messneger wie Threema oder Signal.

Der entscheidende Punkt ist, dass man „echte“ Rechner oder Laptops einsetzt, die Betriebssystem und Anwendungssoftware lokal installiert und diese offline vollständig funktionsfähig sind. Alles, was im Unterricht mit Rechner gelernt werden soll, kann man offline tun – mit Ausnahme von Netzrecherchen. Nur bei Bedarf schaltet man den Netzzugang ein – idealiter kabelgebunden über einen Router, um die Strahlenbelastung zu minimieren. Dadurch ist es möglich, klar zwischen Off- und Onlinemodus zu trennen.

Wir haben uns daran gewöhnt, immer online zu sein, „mal schnell“ dies und das zu suchen oder anzuklicken – und möglichst viel mit einem Gerät zu machen. Das ist bequem, hat aber Folgen. Die Einzigen, die dieses permanente Onlinesein notwendig brauchen, sind die Vertreter der Daten- und Plattformökonomie. Nur so können sie in Echtzeit Nutzerdaten sammeln und auswerten. Wir müssen uns stattdessen überlegen, für was wir wirklich online sein müssen und in der Grundeinstellung der Arbeitsrechner das Netz ausgeschaltet lassen bzw. für die (Netz-)Kommunikation besser ein zweites Laptop mit Tor-Browser (zum Verbergen der eigenen Netztadresse zu nutzen. Das mag etwas umständlich sein, aber das größte Privileg im 21, Jahrhundert wird sein, selbst entscheiden zu können, für was man online geht, welche Daten man preisgibt und sich ansonsten eine Privatsphäre leisten zu können. Denn die „Gretchenfrage 4.0“ heißt schlicht: Wie hältst Du es mit den Daten? So Armin Grunwald, Professor für Technikphilosophie und Technikethik und Leitet des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag.

„Aufklärung meint heute eine digitale Mündigkeit, in der kritische und unangenehme Fragen gestellt werden. Das vermeintlich Spielerische der Technikdebatten, das Verschieben des existenziellen Antagonismus zwischen Paradies und Untergang in die ferne Zukunft, ist in keiner Weise spielerisch: Vielmehr verschleiert es den Ernst der zentralen Frage, wer zur KI und ihrer Nutzung etwas zu sagen hat und von wem nur noch simple Anpassung erwartet wird. Es ist eine Machtfrage.” (Grunwald, 2020, 9)

Anpassung an IT-Systeme vs. Autonomie des Menschen: Der deutsche Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier fragte auf dem Kirchentag 2019 in Dortmund: “Was bleibt vom Menschen, wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen?“ und formuliert als Auftrag an uns alle: „Nicht um die Digitalisierung der Demokratie müssen wir uns zuallererst kümmern, sondern um die Demokratisierung des Digitalen!“ Schulen sind einer der wichtigsten Orte, um Lehrkräfte wie Schülerinnen und Schüler für diese Fragen zu sensibilisieren und notwendige Diskussionen mit nachfolgenden Generationen zu führen.

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Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung – Teil 3 https://condorcet.ch/2021/10/anmerkungen-zur-schulreform-im-zeitalter-der-digitalisierung-teil-3/ https://condorcet.ch/2021/10/anmerkungen-zur-schulreform-im-zeitalter-der-digitalisierung-teil-3/#comments Fri, 15 Oct 2021 14:49:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=9532

Im 3. und letzten Teil seiner Analyse "Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung" wagt Professor Jürgen Oelkers einen Blick in die Zukunft. Was kommt auf die Schule zu, auf was müssen sich die Lehrkräfte einstellen und was wird mit Sicherheit nicht funktionieren?

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Jürgen Oelkers, emer. Professor der Universität Zürich: Jede Schule sollte die bildungsfeindlichen Tendenzen der sozialen Medien thematisieren.

5. Folgerungen für Schulen und Lehrpersonen

Was erhalten bleibt, jedenfalls aus heutiger Sicht, sind die Bedingungen des Feldes. Tablets und Lernplattformen erweitern den Unterricht, social media werden genutzt, aber weder tangieren sie die Schulpflicht noch heben sie den institutionellen Rahmen auf. Der Staat behält die Kontrolle über die Curricula, doch was diese ausmacht, wird zunehmend in einem digitalen Klassenzimmer realisiert.

«Transformation» heisst aber noch etwas anderes: Jede Schule sollte die bildungsfeindlichen Tendenzen der sozialen Medien thematisieren und die Schüler aufklären über die Folgen von Kurzbotschaften und Kommunikation nur noch in Echoräumen oder die behavioristische Steuerung der Wahrnehmung durch „likes“ und „dislikes“, mit der ja auch gerade unter Jugendlichen Abgrenzungsmacht verbunden ist. Die Schule der Zukunft wird daran gemessen, ob sie dazu Alternativen des Lernens bietet und ihren Bildungs- oder Qualifizierungsauftrag erfüllt.

Das hebt die digitale Transformation nicht auf. Sie ist unumgänglich und sollte vor dem Hintergrund der Geschichte verstanden werden:

Lernmedien dieser Art können mit der Entwicklung der Wissensgesellschaft sicher nicht Schritt halten. Das hebt die digitale Transformation nicht auf. Sie ist unumgänglich und sollte vor dem Hintergrund der Geschichte verstanden werden.
  • Die Standardsituation des Unterrichts stammt aus dem 19. Jahrhundert und setzt die Lehrbuchgesellschaft voraus.
  • Lehrbücher sind träge Medien, die sich nur langsam verändern können, weil sie viele Auflagen erleben müssen, um rentabel zu sein.
  • Lernmedien dieser Art können mit der Entwicklung der Wissensgesellschaft sicher nicht Schritt halten.
  • Zudem schränken sie die Lernmöglichkeiten ein und nutzen neue Medien nur unter der Voraussetzung ihres Formates.
  • Gesucht werden also wirksamere Technologien.
  • Aber was immer unternommen wird, es muss zur Praxis passen und Ziele erreichen.

Bildungspolitisch gesagt: Die Schule muss sich als moderne Organisation zeigen, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung mithält und vom Auftrag her glaubwürdig bleibt. Nur so ist auch die öffentliche Finanzierung zu rechtfertigen. Auf Dauer hätte niemand Verständnis, wenn die Schulen einfach nur abwarten oder pädagogischen Ideen folgen würden, die aus der Zeit gefallen sind.

Die Erarbeitung und Einführung von Digitalisierungskonzepten, die zur Schule passen, ist längst Realität. Sie müssen die klassischen Vorgaben beachten, also Lehrpläne, Erziehungsziele, Leistungsbeurteilungen, Prüfungen und Berechtigungen. Die verantwortliche Lehrperson wird dadurch nicht überflüssig, aber sie wird sich in einem veränderten Arbeitsfeld bewegen. In diesem Sinne ist von einem «Digitalisierungsbad» gesprochen worden (19), die Nutzung der neuen Medien für die Verbesserung des Unterrichts ohne stalinistische Varianten.

International ist die Diskussion weit fortgeschritten, auch dort, wo Hindernisse und unklare Strategien thematisiert werden. Das zeigen Fallstudien und auch Analysen der Implementation von neuen Technologien des Lehrens und Lernens, die nur dann erfolgreich sind, wenn sie von Studenten, Dozenten und Praktikern auf die gleiche Weise und abgestimmt genutzt werden. Und nicht nur das, sie müssen auch die pädagogischen Überzeugungen prägen,  dürfen also nicht lediglich instrumentell verstanden werden (Spector et. al. 2016, S. 25/26).

Jeder Wandel der schulischen Lernkultur darf eine bestimmte rote Linie nicht überschreiten, nämlich die von gehaltvollen Anforderungen und Lernprozessen, die nicht trivial sind und nicht einfach bestätigen, was bereits vorhanden ist.

Die Schulen der Zukunft müssen die Zugänge zum Lernen öffnen, das Lernverhalten beeinflussen und die Schülerinnen und Schüler davor bewahren, von Lernleistungen auszugehen, die irgendwann einmal abgeschlossen sind. Das curriculare Angebot muss sich erweitern, Informatik sollte daher auch Volksschulfach werden. Mit einem solchen Fach kann die Schule in die Grundlagen einführen und nicht lediglich mit der je neuesten Technologie aufwarten.

Von Erfolg lässt sich erst dann sprechen, wenn die weiterführenden Schulen nicht mühsam ausgleichen müssen, was zuvor versäumt worden ist und die Quote der funktionalen Analphabeten nicht spürbar sinkt.

Die Mindeststandards der Bildung müssen erreicht werden.

Jeder Wandel der schulischen Lernkultur darf eine bestimmte rote Linie nicht überschreiten, nämlich die von gehaltvollen Anforderungen und Lernprozessen, die nicht trivial sind und nicht einfach bestätigen, was bereits vorhanden ist. Im Blick auf das Tempo und den Weg ist das Lernen in vielen Fällen individuell, aber die Mindeststandards der Bildung müssen erreicht werden.

Das ist die entscheidende Neuerung des Lehrplans 21, aber hier liegt auch das Kriterium für Erfolg oder Misserfolg. Von Erfolg lässt sich erst dann sprechen, wenn die weiterführenden Schulen nicht mühsam ausgleichen müssen, was zuvor versäumt worden ist, und die Quote der funktionalen Analphabeten nicht spürbar sinkt. Wie kann man auf Berufe vorbereiten, wenn die Schreibkompetenz fehlt?

Der Gegensatz von «Wissen» oder «Kompetenz» ist ein Scheingegensatz.

Das gilt gleichermassen für das Wissen. Der Gegensatz von «Wissen» oder «Kompetenz» ist ein Scheingegensatz. Die Frage ist eher, wie nachhaltig ist der Unterricht, lässt sich Wissen nutzen und wird nicht lediglich für die Prüfung gelernt, also mit einer erwartbaren Vergessensquote dann, wenn aus Prüfungen nichts folgt ausser der Note.

Die Empirie ist noch sehr heterogen.

Die Empirie zum Thema «digital classroom» ist naturgemäss noch sehr heterogen. Einige Beispiel sehen so aus: Eine internationale Metastudie aus Honkong aus dem Jahre 2020 sieht neben Vorteilen auch Risiken in der Umsetzung, etwa wenn die Schülerinnen und Schüler sich weigern, mit vorgefertigten Videos zu arbeiten oder ausserhalb der Schulzeit zu lernen (Zamzami et al. 2019).

Eine deutsche Studie von 2019 erkennt neben Zustimmung zum technischen Nutzen auch Widerstände bei den Lehrpersonen, die den Fun-Faktor in den Lernprogrammen kritisch sehen und um die Kreativität der Lernenden fürchten. Zudem bestehen signifikante Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Widerstände sind höher auf dem Lande, aber sie sinken generell mit erfolgreichen Weiterbildungen (Blass/Köhler 2019).

Neuere amerikanische Befunde sehen deutliche Vorteile in der Anwendungsbreite und der Globalisierung des Lernens (New Study 2020), während deutsche Prognosen konkrete Projekte zum Ausloten der Möglichkeiten empfehlen. Die neuen Technologien müssen zum Feld passen und für wirksame Entlastung sorgen, wenn sie angenommen werden sollen. Die Daten müssen sicher sein und intelligente Lernassistenten müssen zur Verfügung stehen (Schmid/Blanc&Toelpel 2021, S. 38). Ergänzen sollte man, dass auch der ökologische Fussabdruck stimmen muss.

Corona hat die meisten Lehrkräfte gezwungen, digital zu werden, aber bislang wirken sich die Technologieeffekte nur unzureichend auf die Leistungen aus.

Corona hat die meisten Lehrkräfte gezwungen, digital zu werden.

John Hattie meinte in einem Interview: Corona hat die meisten Lehrkräfte gezwungen, digital zu werden, aber bislang wirken sich die Technologieeffekte nur unzureichend auf die Leistungen aus. Die Möglichkeiten von Social Media müssen also besser genutzt werden.  Die Vorteile werden genannt (20), Nachteile jedoch nicht. Im Kern geht es um kollaboratives Lernen in Gemeinschaften, weil der Arbeitsmarkt das verlangt. «Aber in den meisten Schulklassen lernen die Schüler für sich allein, erhalten ihre eigenen Noten und wetteifern darum, die Besten zu werden. Es ist an der Zeit, ihnen bewusst beizubringen, kollaborativ zu arbeiten, ihnen Fähigkeiten beizubringen, etwas für die Gruppe beizutragen, und die Überzeugung, dass die Gruppe bessere Lösungen entwickeln kann als eine einzelne Person.» (21)

Weiter wird postuliert: «Variablen Lernstrategien gehört die Zukunft. Sie sind wirkungsvoll, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden. Kein Schüler sollte eine Lernstrategie wiederholen müssen, mit der er beim ersten Versuch nicht erfolgreich war. Bei dieser neuen Art des Lernens sollten Lernerfolge nicht zufällig geschehen, sondern bewusst erzeugt werden.» (22)

Das sind wiederum ideale Schlüsse oder eine normative Empirie, die weder mit den Untiefen des Alltags rechnet noch mit den institutionellen Vorgaben umzugehen weiss. Dazu gehört auch die Idee einer umfassenden didaktischen Steuerung, die Nebenwirkungen nicht kalkuliert (Schmid 2006). Die spannende Frage ist aber gerade, wie sich die Digitalisierung im Rahmen der Vorgaben von Lehrplan, Notenpraxis und Lernzielkontrolle auswirken wird. Den Zufall ausschalten kann natürlich niemand.

Die digitalen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler werden nicht von sich aus mit schulischem Lernen verbunden, aber genau dafür müssen die Angebote entwickelt werden, allerdings im Rahmen der schulischen Bildungsprogramme, und die sehen in Primarschulen anders aus als in Berufsschulen.

Unabhängig davon: Der digitale Wandel ist in heutigen Schulen, beschleunigt durch die Pandemie und die Schulschliessungen, bereits deutlich sichtbar. Die digitalen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler werden nicht von sich aus mit schulischem Lernen verbunden, aber genau dafür müssen die Angebote entwickelt werden, allerdings im Rahmen der schulischen Bildungsprogramme, und die sehen in Primarschulen anders aus als in Berufsschulen.

Die Entwicklungsprojekte häufen sich, auch oder gerade in der Schweiz. Um nur einige zu nennen: digitales Fotografieren in der Primarschule, Gamekultur in der Schule, Sprachaustausch mit digitalen Medien im Französischunterricht, Medien und Informatik im Mathematikunterricht, Medienkompetenzen im Kindergarten, Musik für Lernende ohne musikalischen Hintergrund, Smartphone und Tablets im Sport- und Bewegungsunterricht, Programmieren in der Primarschule, neue Lernthemen auch für textiles und technisches Gestalten oder schliesslich Künstliche Intelligenz in der Schule. (23)

Davon sind Konzeptdiskussionen zu unterscheiden. Dort werden zwar verschiedene Varianten des «neuen Lernens» stark gemacht, aber es wird immer zugleich betont, dass die Lehrpersonen unverzichtbar seien und sich nur auf die neuen Lernumwelten einstellen müssten, zumeist ohne näher zu sagen, was genau sie da tun oder unterlassen sollen. Das ist kein Zufall, denn diese Frage entscheidet sich praktisch, in Versuchen und nicht mit einer Regieanweisung.

Die wenigsten Eltern haben das mit der Absicht und dem Elan verbunden, die Lehrerinnen und Lehrer zu ersetzen.

Die Corona-Krise hat die gewohnten Rollenverteilungen bestätigt und daneben dem Ausdruck «Elternarbeit» eine ganz neue Bedeutung gegeben. Die wenigsten Eltern haben das mit der Absicht und dem Elan verbunden, die Lehrerinnen und Lehrer zu ersetzen. Vor allem wurde sichtbar, dass es nicht «die» Schule oder «den» Unterricht gibt, sondern unterschiedliche Schulkulturen, verschiedenartiges Krisenmanagement und hohes Engagement bei ebenso so hohen Freiheitsgraden. Daraus kann man lernen. Wenn die Lehrpersonen weiter das Lernen der Schülerinnen und Schüler beeinflussen sollen, und so weder Alexa zum Zuge kommt noch ein digitaler Stalinismus, dann gelten folgende Bedingungen:

  • •     Wahrung der Freiheiten des Lehrens,
  • •     Hoheit über den Lernraum,
  • •     ausreichend Ressourcen, den Unterricht weiterzuentwickeln,
  • •     digitale Formate sinnvoll nutzen,
  • •     Raum für interne wie externe Kooperationen
  • •     und die Prüfungspraxis in der digitalen Welt verankern. (24)
Die Software analysiert das Lernverhalten

Zu einem Testfall für diese Liste könnte «Brainix» werden, eine neuartige Software, die gerade an bayerischen Schulen für den deutschsprachigen Lehrmittelmarkt erprobt wird. Die Software arbeitet mit künstlicher Intelligenz, sie analysiert das Lernverhalten der einzelnen Schülerinnen und Schüler und lernt so selbst. (25)

Gelernt wird individuell, aber in Schulfächern und nach Lehrplan, die Software sucht nach Mustern und bietet den Lernenden je nach Lernweg individuelle Lösungen an. Beim Menüpunkt «Fortschritt und Resultate» lässt sich jederzeit die Entwicklung des Lernstandes einsehen, für die Lehrpersonen, die Eltern und die Lernenden selbst. Proben, Klassentests oder Hausaufgaben werden überflüssig.

Die Hoffnung geht dahin, die Routineaufgaben im Unterricht auszulagern und mehr Zeit zu haben für die anspruchsvollen Aufgaben (26) – im Sinne Hatties könnte man hinzufügen. Die Befürchtungen sehen den «gläsernen Schüler» bzw. die «gläserne Schülerin» vor sich. Aber eher stellt sich die Frage, für welche Unterrichtsziele diese Art Software geeignet ist. Die Lehrkraft ersetzt auch sie nicht, doch sie kann etwas, was im Klassenzimmer nicht möglich ist, nämlich frei von der sozialen Hierarchie in jeder Lernsituation jeden Lernenden erfassen. (27) Aber auch hier muss man die Logik der Versprechen beachten: Was sie wert sind, weiss man erst, wenn sie keine mehr sind.

Mein Schluss lautet so: Die Schulen müssen einen souveränen Umgang mit den neuen Medien zeigen, keinen beiläufigen oder oft unwilligen wie im Lockdown. Die Lehrpersonen müssen von dem didaktischen Mehrwert überzeugt sein. Ist der gegeben, wird die Transformation nachhaltige Effekte zeigen. Aber die neuen Technologien müssen der Schule angepasst werden, nicht umgekehrt.

Was unbedingt vermieden werden sollte, sind dilettantische Versuche, die von keiner wirklichen Überzeugung getragen sind. Alles andere sollte man abwarten und sich nicht beirren lassen, auch nicht von den gigantischen Investitionssummen, die heute im Spiel sind. (28) Sie werden sich nicht ohne die Lehrpersonen rentieren.

 

(19) Ein Ausdruck von Margrit Stamm.

(20) «Über soziale Medien fällt es Schülern leichter, nach Fehlern zu fragen, sich Hilfe zu suchen, über Dinge zu sprechen, die sie noch nicht wissen, und auf andere Schüler und Lehrkräfte zuzugehen oder Ressourcen anzuzapfen, die sie beim Lernen unterstützen» (+3 Magazin Nr. 78 (2021), S. 6).

(21) Ebd.

(22) Ebd.

(23) Programm 20.UNM-Jubiläumstagung (PHZH) am 30. Oktober 2021. UNM: «Unterrichten mit neuen Medien».

(24) Umgekehrt gelesen ergeben sich auch die Gefahren: unsinnige didaktische Vorschriften, nicht realisierbare Ziele, fehlende Ressourcen, leerlaufende neue Formate des Lernens, Bewertung nur noch nach Tests oder Innovationen, die einzig rhetorisch vorhanden sind.

(25) BRAINIX | DigiEdu: https://www.digiedu.org/brainix

(26) Aussage eines Mathematiklehrers aus dem Schulversuch in Bayern.

(27) Die Zeit Nr. 37 vom 9. September 2021, S. 39/40.

(28) Allein die Jacobs Foundation in Zürich hat angekündigt, bis 2030 500 Millionen Franken in «EdTech» zu investieren und 40 Millionen sofort (Rundmail vom 9. September 2021).

Literatur

Blass, Silvia/Köhler Thomas (2019): Digitalization in schools. Workshop Gemeinschaften in Neuen Medien (GeNeMe) 2019. Dresden: TUDpress, S. 57-69.

Boekaerts, Monique (1999): Self-regulated Learning: Where are we today? In: Educational Research 31, S. 445-457.

Chiapparini, Emnuela (2012): Ehrliche Unehrlichkeit. Eine qualitative Untersuchung der Tugend Ehrlichkeit bei Jugendlichen an der Zürcher Volkschule. Opladen/ Berlin/Toronto: Budrich 2012.

Diesbergen, Clemens (2000): Radikal-konstruktivistische Pädagogik als problematische Konstruktion. Eine Studie zum Radikalen Konstruktivismus und seiner Anwendung in der Pädagogik. 2. Aufl. Bern et. al.: Peter Lang Verlag 2000. (= Explorationen. Studien zur Erziehungswissenschaft, herausgegeben von Jürgen Oelkers, Band 22)

Hattie, John (2009): Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London/New York: Routledge 2009.

Hui Kyong Chun, Wendy (2916): Updating to Remain the Same. Habitual New Media.

Cambridge MA: The MIT Press.

Klieme, Eckard/Warwas, Jasmin (2011): Konzepte individueller Förderung. In: Zeitschrift für Pädagogik Band 57, Heft 6, S. 805-818.

Lipowski, Frank (2006): Auf den Lehrer kommt es an. Empirische Evidenzen für Zusammenhänge zwischen Lehrerkompetenzen, Lehrerhandeln und dem Lernen der Schüler. In: Cristina Allemann-Ghionda/Ewald Terhart (Hrsg): Kompetenzen und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern. Weinheim/Basel: Beltz Verlag, S. 47-70 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 51)

Lynch, Michael Patrick (2016): The Internet of Us.  Knowing More and Understanding Less in the Age of Big Data. New York/London: Liveright Publishing Company.

Meraner, Rudolf (2013/2014): Erfolgreich lernen. Was wirklich wirkt. In: INFO. Informationsschrift für Kindergarten und Schule in Südtirol Dezember/Januar, S. 42-44.

Meraner, Rudolf (2014): Starke Lerneffekte. In: INFO. Informationsschrift für Kindergarten und Schule in Südtirol Februar, S. 36-37.

Meraner, Rudolf (2014a): Durch die Brille der Lernenden. In: INFO. Informationsschrift für

Kindergarten und Schule in Südtirol März, S. 35-37.

Miller, Damian/Oelkers, Jürgen (Hrsg.) (2021): «Selbstgesteuertes Lernen»: Interdisziplinäre Kritik eines suggestiven Konzepts. Mit Nachbemerkungen zum Corona-Lockdown. Weinheim/Basel: BeltzJuventa.

Narayanan, Arvind/Bonneau, Joseph/Felten, Edward/Miller, Andrew& Steven Goldfeder Bitcoin and Cryptocurrency Technologies: A Comprehensive Introduction. Princeton: Princeton University Press.

New Study (2020): New Study: Data Shows How a Hands-On Approach to Digital Classrooms Expands Student Learning and Fosters Success. Bloomberg Philanthropies November 17. Education

https://www.bloomberg.org/

Parkhurst, Helen (1922): Education on the Dalton Plan. With an Introduction by Percy T. Otto, Barbara/Perels, Franziska&Bernhard Schmitz: Selbstreguliertes Lernen. In: Heinz Reinders et al. (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 33-44.

Schmid, Christoph (2006): Lernen und Transfer: Kritik der didaktischen Steuerung. Bern: h-e-p Verlag.

Schmid, Ulrich/Blanc, Berit&Michael Toepel (2021): KI@Bildung: Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen künstlicher Intelligenz. Schlussbericht. Berlin/Essen/Bonn: Deutsche Telekom Stiftung.

https://www.telekomstiftung.de/aktivitaeten/kibildung

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Traub, Silke (2011): Selbstgesteuert lernen im Projekt? Anspruch an Projektunterricht und dessen Bewertung aus Sicht von Lehrenden und Lernenden. In: Zeitschrift für Pädagogik Band 57, Heft 1, S. 93-113.

Wajcman, Judy (2015): Pressed for Time: The Acceleration of Life in Digital Capitalism. Chicago/London: The University of Chicago Press.

Zamzani, Zainuddin/Haruna Hussein/ Xiuhan Li, Yin Zhanq & Samuel Kai Wah Chu (2019): A Systematic Review of Flipped Classroom Evidence From Different Fields: What Are the Gaps and Future Trends? May. In. On the Horizon 27, 2. https://doi.org/10.1108/OTH.0920180027

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Unheilsbringer https://condorcet.ch/2021/01/unheilsbringer/ https://condorcet.ch/2021/01/unheilsbringer/#respond Tue, 19 Jan 2021 10:04:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=7510

Die Corona-Krise hat die Schulen digitaler gemacht. Ist das allein schon ein Zeichen des Fortschritts? Mitnichten, denn dabei verkümmert der Ort der Bildung. Dieser Ansicht ist der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer.

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Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler: Nicht nur Lernort, sondern auch Lebensort

Deutschland stemmt sich gegen die Pandemie und fährt sein öffentliches Leben herunter. Doch Großbetriebe dürfen weiterlaufen, die Schulen hingegen bleiben geschlossen. Dabei liegen nach neun Monaten pädagogischem Stotterbetrieb viele Karten auf dem Tisch, und trotz hoher finanzieller Anstrengungen muss man feststellen: Die meisten taugen nichts. Das Homeschooling hat nicht geklappt und es klappt bis heute nicht. Kinder und Jugendliche sehnen sich danach, in die Schule zu  gehen – und freuen sich selbst auf schlechten Unterricht, Hauptsache Präsenz. Keiner lernt gerne allein zu Hause. Und egal wie die Videoplattform auch heißt: Beziehungen – das Bildungselixier schlechthin – lassen sich nicht auf Dauer digital pflegen, geschweige denn aufbauen. Vor diesem Hintergrund kann man deutsche Schlagzeilen zur Wirksamkeit von Homeschooling drehen und wenden, wie man möchte. Überzeugende Empirie kommt aus den Niederlanden, wo eine Forschergruppe die Effekte des Homeschoolings untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass alle Schüler weniger lernten, besonders wenig Kinder aus bildungsfernen Milieus.

Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu, und Digitalisierung wird zu ihrem Treiber. Allein damit ist aber das ganze Ausmaß der Digitalisierung und ihrer Wirkung auf die Bildung noch nicht beschrieben. Denn Lernende hängen seit der Krise noch mehr an den Endgeräten – und nein, sie lernen dabei nicht immer. Meistens verschwenden sie ihre Zeit, daddeln herum, unterfordern sich kognitiv und schaden sich körperlich.

Überzeugende Empirie kommt aus den Niederlanden, wo eine Forschergruppe die Effekte des Homeschoolings untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass alle Schüler weniger lernten, besonders wenig Kinder aus bildungsfernen Milieus.

Eine Ifo-Studie hat diese Tendenz eindringlich offengelegt und davor gewarnt. Es ist nicht nur empirisch zweifelsfrei, sondern für den gesunden Menschenverstand nachvollziehbar: Wer immer weniger Zeit mit Lernen verbringt, wird weniger lernen. Die notwendige Selbständigkeit im Umgang mit digitalen Medien ist übrigens nicht eine Frage des Alters, sondern der Kompetenz.

Das Ende der Kreidezeit ist längst da.

Ein gewisser Aktionismus…

Und in der Schule selbst? Das Ende der Kreidezeit ist längst da, und die Digitalisierung drängt immer weiter vor. Tafeln raus, Smartboards rein. Die nächsten Schritte sind auch schon beschlossen: Lernende bekommen ein Tablet, Lehrpersonen natürlich ebenso. Bei alledem wird man den Eindruck nicht los, dass ein gewisser Aktionismus herrscht nach dem Motto: Hauptsache, neuer Lack für den maroden Bildungstanker. Demgegenüber können viele Schüler bestätigen, was mit Forschungen belegt wurde: Digitale Technik allein verbessert den Unterricht nicht. Erst wenn sie pädagogisch sinnvoll in den Unterricht integriert ist, kann sie wirken.

Digitale Technik allein verbessert den Unterricht nicht.

Mehr Monotonie als je zuvor

Wenn nicht, nimmt Lernen sogar Schaden. Und so gibt es heute vielfach mehr Powerpoint, mehr Frontalunterricht, mehr Monotonie im Unterricht als jemals zuvor. Statt Feiern gibt es Filme, statt Diskussionen gibt es Erklärvideos und statt Sportfesten gibt es Robotik-Wettbewerbe.

Freude entsteht so nicht.
Foto: Bernerzeitung

Freude an der Schule entsteht so nicht, und es ist kein Wunder, dass die Motivation, in die Schule zu gehen, mit jedem weiteren Schuljahr abnimmt und erst zum Ende hin wieder steigt – wenn Licht am Ende des Tunnels sichtbar ist. Wenn man angesichts von mehr als 40-jähriger Forschung zum Einsatz von digitalen Medien und dem damit verbundenen Ergebnis, dass sie nicht von sich aus wirken, immer noch glauben kann, dass sie Bildungsrevolutionen auslösen oder in Krisenzeiten zum Heilsbringer avancieren, zeugt von pädagogischer Naivität. Vielleicht ist der Anspruch aber auch zu hoch. Sinnhaftigkeit würde schon ausreichen oder zumindest Nützlichkeit. Wie machen wir uns also fit für die digitale Zukunft? Na klar: Programmieren, am besten schon im Kindergarten. Wer inhaltlich auf die Angebote blickt, wird ernüchtert sein – medienkritischer Tiefgang findet sich nur selten. Meistens wird gespielt. Selbst das langweiligste Gedicht bietet mehr Stoff zur Reflexion. Stattdessen noch mehr Sitzen vor den Endgeräten – was durch die aktuelle Lage noch verschärft wird. Wer Musik, Kunst und Sport in der Krise aufgibt und mit dem Etikett der Entbehrlichkeit versieht, der wird dem Bildungsauftrag nicht gerecht und reißt der Schule die Seele aus dem Leib.

Sie ist heute kein Bildungsort mehr, sondern zu einem Lernort verkümmert, an dem nur noch das unterrichtet wird, was ökonomisch von Interesse ist.

Der Digitalisierungsschub in Folge der Corona-Krise hat zu einer Transformation von Schule geführt. Sie ist heute kein Bildungsort mehr, sondern zu einem Lernort verkümmert, an dem nur noch das unterrichtet wird, was ökonomisch von Interesse ist. Während also der musische Bereich stirbt, nimmt der ökonomisch interessante Bereich Fahrt auf. Kurz gesagt, es droht eine Bildungskatastrophe. Ein Umdenken ist unerlässlich.

Schon eher punktet man als Digitalisierungsguru, der viele Spiele kennt, aber nicht in die Augen von Kindern sehen kann, oder als stellvertretender Chefvirologe, wie so manch ein Verbandsfunktionär in der Vergangenheit aufgetreten ist – mediale Selbstbefriedigung statt Einsatz für das Wohl der Kinder.

Schule ist nicht nur Lernort, sondern Lebensraum. Dazu gehört der soziale Austausch und deswegen ganz besonders auch das soziale Lernen. Der wichtigste Grund für Schüler, in die Schule zu gehen, ist nicht das Lernen – es sind die Gleichaltrigen. Doch es ist nicht die Stunde der Anwälte der Kinder. Schon eher punktet man als Digitalisierungsguru, der viele Spiele kennt, aber nicht in die Augen von Kindern sehen kann, oder als stellvertretender Chefvirologe, wie so manch ein Verbandsfunktionär in der Vergangenheit aufgetreten ist – mediale Selbstbefriedigung statt Einsatz für das Wohl der Kinder.

Was also tun? Keine Zauberei, ein Blick zur Seite hilft. Denn es gibt selbst in der Krise Schulen, die überzeugen. Sie meistern die Distanz, nutzen Technik sinnvoll und immer mit Augenmaß, schaffen es sogar, Beziehungen zu pflegen. Das Geheimnis des Erfolges liegt nicht im Strukturellen, sondern in der Art und Weise, wie das Kollegium über Schule denkt: Das Denken bestimmt das Sein. In der Forschung wird von kollektiver Wirksamkeitserwartung gesprochen. Gelingt es einer Schule, eine gemeinsame Vision von Bildung zu entwickeln, Kriterien für Unterrichtsqualität zu bestimmen und als Richtschnur im Alltag zu nehmen, dann kann sie selbst in der Krise vieles bewirken.

Dabei steht im Zentrum dieses Denkens nicht die Frage: Haben wir ausreichend Tablets? Sondern die pädagogische Frage schlechthin: Wer ist der Mensch?

Ausweg Schulfernsehen?

Nun wird es dauern, bis alle Schulen sich auf diesen Weg gemacht haben. Bleibt also keine Alternative, als weiterhin durch die Krise zu stottern? Eine gibt es, die bereits in den Siebzigerjahren im Zug der Diskussionen um die damals befürchtete Bildungskatastrophe eingeführt wurde und institutionell verankert ist: das Schulfernsehen. Bei allem pädagogischen Bedenken gegenüber  dem Fernsehen, in der Krise könnte es zum Heilsbringer werden. Viele Sender haben bereits Angebote, der entscheidende Schritt aber fehlt. Für jede Klassenstufe müsste vonseiten des Ministeriums ein Krisenstundenplan entwickelt werden, mit festen, verbindlichen, fokussierten und rhythmisierten Sendezeiten, die didaktisch auf höchstem Niveau sind. Lernende hätten so eine Struktur, Lehrpersonen eine Unterstützung, Eltern eine Entlastung. Eine Bildungskatastrophe könnte so zumindest abgefedert werden.

Wer aus pädagogischer Sicht erfolgreich durch die Krise kommen und vor allem auch aus der Krise lernen möchte, der muss für eine Rehumanisierung der Schulen eintreten. Technik allein verbessert nicht den Unterricht Haben wir genug Tablets? Ist das wirklich die entscheidende Frage?

Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung

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Labore der Digitalität: Von Digital Washing zu postdigitalen Schulen https://condorcet.ch/2020/10/labore-der-digitalitaet-von-digital-washing-zu-postdigitalen-schulen/ https://condorcet.ch/2020/10/labore-der-digitalitaet-von-digital-washing-zu-postdigitalen-schulen/#comments Sun, 18 Oct 2020 10:25:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=6691

Philippe Wampfler plädiert in seinem exklusiven Beitrag für Schulen, die sich als Labore der Digitalität verstehen. Er warnt vor überflüssigen ideologischen Diskussionen und sieht die Schülerinnen und Schüler als Mitforschende.

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Wie digitalisieren?

Viele Schulen führen Gespräche über digitale Medien, digitale Geräte, digitalen Unterricht. Sie reagieren damit auf die Digitale Transformation, also eine Umwälzung von Gesellschaft und Wirtschaft durch den Medienwandel, den wir gerade erleben. Vergleichbar ist diese Transformation mit der Erfindung des automatisierten Buchdrucks, die dazu geführt hat, dass Menschen Wissen ganz anders aufgenommen und weitergegeben haben. Ähnlich tiefschürfend ist der Wandel, den wir erleben und in den letzten 20 Jahren erlebt haben.

In der Schweizer Schulkultur immer betont werden, wie gut die Schulen schon arbeiten, wie viel sie schon machen. Das nennt man Digital Washing – Entlastung.

Dejan Mihajlović: Schulen tun so als ob
Bild: Badische Zeitung

Die Gespräche, die an Schulen dazu geführt werden, unterliegen aber oft den Gesetzen von Digital Washing. Der Bildungsexperte Dejan Mihajlović bezeichnet damit das Phänomen, dass Organisationen gerne so tun, als würden sie zeitgemässe und damit digitale Verfahren anwenden – obwohl sie dazu gar nicht bereit sind. Mehr noch: Gespräche über »Digitalisierung« sind eigentlich ein Vorwand, um die Veränderung nicht angehen zu müssen. Die Gespräche machen nämlich meist klar, dass erstens alles sehr aufwendig und zweitens gar nicht unproblematisch ist: für die Schülerinnen und Schüler, für die Lehrkräfte, die Schule an sich. Drittens zeigen die Gespräche, dass es zu jedem Aspekt unterschiedliche Meinungen und Vorgehensweisen gibt – und die Auswirkungen aller Veränderungen viertens erst in der Zukunft wirklich absehbar werden. Fünftens muss in der Schweizer Schulkultur immer betont werden, wie gut die Schulen schon arbeiten, wie viel sie schon machen. So entsteht durch Digital Washing eine Entlastung: Wir leisten bereits was, die grossen Veränderungen kommen erst noch und sind so kompliziert und gar nicht nur positiv fürs Lernen. Lasst uns also erstmal weitermachen wie bisher.

Kinder lernen heute in digitalen Kontexten lesen, schreiben und rechnen – nur halt nicht in der Schule.

Und deshalb hat sich an der Schulkultur noch kaum was geändert, obwohl ein umfassender Medienwandel stattgefunden hat. Kinder lernen heute in digitalen Kontexten lesen, schreiben und rechnen – nur halt nicht in der Schule. Sie kommunizieren digital, unterhalten sich digital, spielen digital – aber in der Schule darf all das nur in kleinen Dosierungen vorkommen.

Wie kommen Schulen weg von Digital Washing, wie sollten sie sich gegenüber den digitalen Verfahren, die heute den Alltag vieler Menschen prägen, positionieren?

Dazu gibt es zwei Ansätze: Erstens sollten sich Schulen um ihr Kerngeschäft kümmern: das Lernen junger Menschen. Alles, was Schulen tun, sollte rund um dieses Lernen aufgebaut sein. Digitale Medien sollten in Lernumgebungen ganz selbstverständlich eingesetzt werden. Ohne Diskussionen, ohne zögerliches Abwägen, ohne Euphorie. Nüchtern, pragmatisch – aber auch selbstverständlich. Weil Menschen heute digital arbeiten, digital kommunizieren, digital leben: Deswegen sollten auch Schülerinnen und Schüler digital lernen. Sie bereiten sich auf die Welt vor, in der digitale Kompetenzen entscheidend sind. Diesen Ansatz könnte man postdigital nennen: Postdigitale Schulen entscheiden nicht, ob digitale Geräte und Medien eingesetzt werden, für sie ist es selbstverständlich, dass sie eingesetzt werden können.

Keine langwierigen ideologischen Diskussionen führen

Schüler als Mitforschende

Zweitens sollten Schulen von Gesprächen abrücken und Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen: ausprobieren, wie Digitalität wirkt, zusammen mit Kindern und Jugendlichen, die oft mehr Erfahrung als Lehrpersonen haben. Lehrerinnen und Lehrer sollten ihre Erfahrungen untereinander teilen können, ohne daneben langwierige ideologische Diskussionen zu führen. Schulen würden so zu Laboren der Digitalität – die Kinder wären dabei nicht die Versuchskaninchen, sondern Mitforschende, die an Entscheidungen beteiligt würden, die ihre Lernsettings betreffen.

Philippe Wampfler

Philippe Wampfler (*1977) ist Deutschlehrer an der Kantonsschule Enge und Dozent für Deutschdidaktik an der Universität Zürich. Er publiziert zu verschiedenen Fragen rund um Digitalität und Bildung, zuletzt von ihm erschienen: Digitales Schreiben, Reclam 2020. 

 

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