Deutschkenntnisse - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 27 Dec 2022 15:35:22 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Deutschkenntnisse - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Universitäre Deutschkurse für Deutschlehrer! https://condorcet.ch/2022/12/universitaere-deutschkurse-fuer-deutschlehrer/ https://condorcet.ch/2022/12/universitaere-deutschkurse-fuer-deutschlehrer/#comments Fri, 16 Dec 2022 15:31:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=12675

Das Undenkbare wird Realität. Selbst Studierende mit eidgenössisch anerkannter Maturität beherrschen die Grundelemente der deutschen Sprache nicht mehr. Hochschulen bieten Kurse an. Eine Suche nach möglichen Gründen von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Condorcet-Autor Carl Bossard

Die nachfolgende Generation kann nicht mehr korrekt und kohärent schreiben. Die Klagen über nachlassendes Sprachniveau sind alt. Man kennt sie, zuckt die Achseln und zieht weiter. Neu aber ist die Reaktion: Hochschulen müssen offensichtlich Massnahmen ergreifen und so das sprachlich notwendige Können einfordern. Sie bieten Fortbildungskurse für angehende Deutschlehrer und Crash-Kurse für Studierende an. Die Universität Zürich erklärt sie bei angehenden Juristen für obligatorisch. Bei vielen Erstsemestrigen mangle es an Elementarem; Grundfertigkeiten fehlten, heisst es. Man reibt sich die Augen und glaubt es kaum: Deutschkurse für Leute mit einer kantonalen oder eidgenössischen Matura und einer Schulbildung von mindestens zwölf Jahren! Dies im teuersten Bildungssystem der Welt!

Die saubere Sprache als Voraussetzung für einen sauberen Gedanken

Die universitäre Realität: Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Universität Zürich, bemängelt die Sprachkompetenz vieler seiner Studentinnen und Studenten. Unter die schriftliche Aufgabe eines Drittsemestrigen beispielsweise schrieb er: «Zahllose elementare Orthografie-, Grammatik- und Kommafehler! Satzbau und Formulierungen überwiegend ungelenk bis fehlerhaft.» Dem Verfasser riet der Hochschullehrer: «Arbeiten Sie daran! In einem juristischen Beruf werden Sie so nicht tätig sein können.»[i]

Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache.

Griffel ist mit seinen Sorgen nicht allein. Schon vor Längerem beklagte Peter V. Kunz, Ordinarius für Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Bern, das magere sprachliche Können seiner Studierenden: «Schreibfehler, Fallfehler, mangelnde Interpunktion, falsch verwendete Metaphern – das Niveau ist zum Teil erschreckend.» Auch er hielt fest: «Eine saubere Sprache ist die Grundvoraussetzung für einen sauberen Gedanken. Wer sich nicht ausdrücken kann, wird nie zu einem guten Juristen werden.»[ii] Der frühere ETH-Rektor Lino Guzzella forderte vor über zehn Jahren deutsch und deutlich: «Sprachen sind zentral. Die Leute müssen richtig lesen, schreiben und sprechen können. Das gilt auch für Naturwissenschafter und Ingenieure. Zum Teil sind die Kenntnisse ungenügend.»[iii]

Sprache kommt nicht von selbst

Mangelnde Deutschkenntnisse der Gymnasiasten hat bereits die landesweite Evaluation der Matura von 2007, EVAMAR II, festgestellt. Fast 20 Prozent der Schweizer Mittelschüler erzielten im Fach Deutsch eine ungenügende Note; 40 Prozent schnitten in Mathematik ungenügend ab. Doch von einem Kompetenzenschwund bei Maturanden wollte niemand reden, auch nicht von der Notwendigkeit einer klaren Sprache und davon, dass beispielsweise nur ein gut gedachter Text auch ein gut geschriebener Text ist.

Denken vollzieht sich sprachlich. Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache. Der menschliche Körper muss trainiert, ihm muss Sorge getragen werden. Genau gleich geht es der Sprache. Sie muss entwickelt und gefördert werden. Im Elternhaus, in der Schule. Eigentlich grundlegend und darum selbstverständlich, würde man meinen.

Die Sprache schulen ist anspruchsvoll und braucht Zeit

Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren.

Doch das Fraglose ist nicht einfach selbstverständlich, sprachliches Können kein Selbstläufer. Es kommt nicht von ungefähr. Sprechen und Schreiben sind ein Handwerk, und sie wollen wie jedes Handwerk gelernt sein. Dazu gehören nebst Selbstverständlichkeiten wie Grammatik, Orthografie und Interpunktion auch die Klarheit der Sprache – und die Angemessenheit ihres Gebrauchs. Sie sind intensiv zu üben und zu fördern – zusammen mit Begriffspräzision und Textkohärenz: für die Schulen ein anspruchsvoller Auftrag.

Diese Aufgabe braucht Zeit. Doch sie fehlt. Die Schule hat sich ins fachliche Vielerlei verabschiedet. Zu vieles muss gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und vieles andere mehr. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Das ist schlichte Proportionenrechnung. Lehrerinnen und Lehrer kommen kaum mehr zum Üben, geschweige denn zum vertieften Automatisieren und Konsolidieren. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.

«Schreiben nach Gehör» steht vielerorts auf dem Index

Doch im Fach Deutsch werden kaum noch schriftliche Texte verfasst, und die lautgetreue Leselernmethode «Lesen durch Schreiben», die sogenannte «Reichen-Methode», toleriert Orthografiefehler über eine lange Zeit – aus Angst, die Kinder übers Korrigieren zu entmutigen. Sie schreiben dann so, wie sie meinen, dass es korrekt sei, zum Beispiel: «Di Bollitzei komt.» Da drängt sich die Frage auf: Warum wird weiterhin erlaubt, dass an Schulen und auch an Pädagogischen Hochschulen nach dieser Methode gelehrt wird? In den meisten Ländern steht «Schreiben nach Gehör» auf dem Index. Nur in der Schweiz nicht. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass von der ersten Klasse an regelkonformes Schreiben gelehrt werden sollte. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Zum sprachlichen Nachteil vieler junger Menschen.

Den Zugang zur Muttersprache öffnen

Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Der Satz geht auf Goethe zurück; er gilt noch heute. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, hiess es beim römischen Gelehrten Plinius. Die Schule kann nicht alles und müsste vor allem eines grundlegend tun: an Texten und Gegenständen Sprache schulen, Gelesenes in Worte und Sätze fügen, Inhalte resümieren und sie in einen Kontext bringen, Wesentliches artikulieren und Querbezüge formulieren. Hier lässt sich die Kraft zur Präzision, zur Nuance, zum Begriff trainieren; hier lassen sich Gesichtspunkte unterscheiden, verbinden, einordnen.

Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter Deutschland.

In digitaler Zeit besonders bedeutsam: je üppiger die Datenmeere, desto wichtiger die Gesichtspunkte. Zusammenhänge von Kriterien und Standpunkten sind keinem Netzwerk zu entlocken; sie wollen im Unterricht geschult und logisch verknüpft werden. Das ist der Zugang zur diskursiven Sprache. Und dieser Zugang bleibt vielen verschlossen. Bis hinauf zur Matura, wie die Aussagen von Hochschullehrern drastisch verdeutlichen.

Die Bildungssprache Deutsch stärken

Das ist der Grund, warum die Wissenschaftliche Kommission der deutschen Kultusministerkonferenz KMK, das Pendant zur Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK, eine Konzentration der Grundschule auf Deutsch und Mathematik empfiehlt.[iv] Man wolle so für alle Kinder die Bildungssprache Deutsch stärken – als zentralen und basalen Baustein ihres Lern- und Lebensweges.

Ob der Weckruf in Deutschland auch bei uns gehört wird – in den Erziehungsdirektionen und bei den Bildungsfunktionären? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter Deutschland. Unser nördliches Nachbarland handelt. Zeit, über die Grenze zu blicken. Es ist eine ethische Aufgabe – aus der pädagogischen Verantwortung für das Lernen der Kinder und Jugendlichen heraus.

 

 

 

[i] Nadja Pastega, Jetzt können sogar Studenten nicht mehr richtig Deutsch, in: Sonntagszeitung, 27.11.2022, S. 6.

[ii] Robin Schwarzenbach, Orthographie zum Vergessen, in: NZZ, 05.05.2017, S. 50.

[iii] Michael Furger, «Das Niveau an den Schulen ist gesunken», in: NZZaS, 29.07.2012, S. 18.

[iv] Heike Schmoll, Grundschule soll sich auf Deutsch und Mathematik konzentrieren, in: FAZ, 09.12.2022 [https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/grundschulen-sollen-sich-auf-deutsch-und-mathe-fokussieren-18521857.html; abgerufen: 10.12.2022]

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Das deutsche Schulsystem gerät an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit https://condorcet.ch/2022/10/das-deutsche-schulsystem-geraet-an-die-grenzen-seiner-leistungsfaehigkeit/ https://condorcet.ch/2022/10/das-deutsche-schulsystem-geraet-an-die-grenzen-seiner-leistungsfaehigkeit/#respond Thu, 20 Oct 2022 11:14:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=11996

Die Kompetenz von Viertklässlern in Deutsch und Mathematik sackt nach einer neuen Studie deutlich ab. Der Negativtrend zeigt sich in allen Bundesländern, jedoch mit großen Unterschieden. Besonders dramatisch ist der Leistungseinbruch bei Kindern mit Zuwanderungshintergrund. Ein Gastbeitrag von Sabine Menkens in der WELT.

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Sabine Menkens, Politik-Redakteurin

Die Corona-Krise, die enorme Zuwanderung im Rahmen der Flüchtlingskrise und die zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland haben das Schulsystem an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Immer mehr Grundschüler erreichen am Ende der vierten Klasse nicht mehr die von der Kultusministerkonferenz festgelegten Mindeststandards in den Fächern Deutsch und Mathematik.

Das ist das Ergebnis des IQB-Bildungstrends für das Jahr 2021, den das Institut für die Qualität im Bildungswesen (IQB) am Montag vorgelegt hat. Der grundlegende Befund wurde zwar bereits im Juli präsentiert, jetzt aber liegen die Detailergebnisse vor.

Der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die den Regelstandard erreichen oder übertreffen, hat in beiden Fächern abgenommen.

Und die besagen nichts Gutes: Denn gegenüber den Vergleichsjahren 2011 und 2016 sind die Kompetenzen der Viertklässler in den Fächern Deutsch und Mathematik durch die Bank abgesackt. Der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die den Regelstandard erreichen oder übertreffen, hat in beiden Fächern abgenommen. Zugleich hat der Anteil der Schülerinnen und Schüler zugenommen, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen und damit ein hohes Risiko für einen wenig erfolgreichen Bildungsweg tragen.

Erhoben wurden die Daten von 26.844 Schülerinnen und Schülern zwischen April und August 2021, also unmittelbar nach dem Corona-bedingten Lockdown.

Deutschland stürzt ab

Der Kompetenzrückgang in Deutschland insgesamt entspricht seit 2016 einer Lernzeit von etwa einem drittel Schuljahr im Lesen, einem halben Schuljahr im Zuhören, einem viertel Schuljahr im Bereich Orthografie und einem viertel Schuljahr im Fach Mathematik.

Erhoben wurden die Daten von 26.844 Schülerinnen und Schülern zwischen April und August 2021, also unmittelbar nach dem Corona-bedingten Lockdown. Die meisten Schulen hätten sich damals noch im Wechselunterricht befunden, sagte IQB-Chefin Petra Stanat. Zwar sei anhand der Daten keine eindeutige Ursachenzuschreibung für die Trends möglich. „Es spricht jedoch einiges dafür, dass die pandemiebedingten Einschränkungen bei den ungünstigen Entwicklungen eine Rolle gespielt haben“, sagte Stanat.

Nach Angaben der 1464 teilnehmenden Schulen hatten die geprüften Viertklässler durchschnittlich etwa 32 Wochen Fern- oder Wechselunterricht erhalten – drei Viertel des Schuljahres verliefen also nicht regulär. Die Ergebnisse hätten gezeigt, dass die erreichten Kompetenzen „zumeist bedeutsam mit den untersuchten Lernbedingungen zusammenhängen, insbesondere mit der räumlichen und technischen Ausstattung zu Hause“, heißt es in dem Bericht.

Großes Leistungsgefälle zwischen Bundesländern

Insgesamt haben im Fach Lesen im deutschlandweiten Durchschnitt fast 19 Prozent den Mindeststandard verfehlt, im Zuhören gut 18 Prozent und in der Orthografie sogar 30 Prozent. In Mathematik erreichten 22 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard. Optimale Kompetenzen hatten im Fach Deutsch zwischen sechs und acht Prozent der Viertklässler, in Mathematik knapp elf Prozent. Der Rest bewegte sich im Mittelfeld. Im Vergleich zu 2016 verzeichneten alle Bundesländer einen Negativtrend.

 

 

 

 

Dennoch sind die Leistungsunterschiede zum Teil erheblich. Bayern etwa ist es erneut besonders gut gelungen, die Regel- und Mindeststandards zu sichern. Auch in Sachsen fallen die Ergebnisse signifikant günstiger aus als im Durchschnitt. In Bremen und Berlin wurden die Regelstandards hingegen in allen Kompetenzbereichen seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger verfehlt als dies deutschlandweit der Fall ist. Auch in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen fielen die Ergebnisse signifikant ungünstiger aus, heißt es in dem Bericht. Für Mecklenburg-Vorpommern liegen wegen früher Sommerferien keine belastbaren Ergebnisse vor.

Die Förderung von Deutsch sowie mathematischen Vorläuferfähigkeiten müsse bereits in der Kita erfolgen.

Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und schleswig-holsteinische Bildungsministerin: Nicht alle auf Corona schieben.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) nannte die Ergebnisse „ernüchternd“. „Wir waren zwar bis 2016 in einzelnen Ländern auf einem guten Weg, die Bildungschancen der Viertklässlerinnen und Viertklässler zu verbessern. Jetzt aber sind wir deutlich zurückgefallen“, sagte Prien. Grund dafür seien nicht nur die Corona-bedingten Lerneinbußen, sondern auch Versäumnisse bei der frühkindlichen Förderung. „Wir investieren in Deutschland zu wenig in den Elementarbereich“, sagte Prien.

Dazu brauche es systematische und frühe Sprachstandserhebungen. Die Förderung von Deutsch sowie mathematischen Vorläuferfähigkeiten müsse bereits in der Kita erfolgen. Durch die starken Flüchtlingsbewegungen habe sich die Zusammensetzung der Schülerschaft seit 2016 deutlich verändert, sagte Prien. „Das hat Auswirkungen auf die Heterogenität und die damit verbundenen Herausforderungen für Lehrkräfte.“

Leistung von Kindern mit Migrationshintergrund lässt stärker nach

Wie massiv die Migration in den Schulen angekommen ist, zeigt ein Blick in die Zahlen. Demnach hat sich der Anteil der Viertklässler, die in zugewanderten Familien aufwachsen, seit dem Jahr 2011 um annähernd 14 Prozentpunkte erhöht und lag 2021 bei etwa durchschnittlich 38 Prozent, bei einer Bandbreite von zwölf Prozent in Sachsen und 58 Prozent in Bremen.

Insgesamt fielen die Kompetenzeinbußen für Kinder mit Zuwanderungshintergrund überwiegend größer aus, sodass selbst bei insgesamt sinkendem Kompetenzniveau die Leistungskluft weiter aufgehe, schreiben die Bildungsforscher. Und ein weiterer allseits bekannter, aber nicht minder unbefriedigender Befund hält sich hartnäckig: der Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozioökonomischem Status.

Der Deutsche Lehrerverband bezeichnete die Studie als „Beleg für einen ungebremsten dramatischen Bildungsabsturz“.

Die IQB-Forscher nannten die Ergebnisse „besorgniserregend“. „Es dürfte weitgehende Einigkeit darüber bestehen, dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind“, schreiben sie. Bei Mindeststandards handele es sich um Anforderungen, die von allen Schülern erreicht werden sollten. „Hierfür haben alle Akteursgruppen im Bildungssystem gemeinsam Sorge zu tragen.“ Prien verwies darauf, dass die Kultusministerkonferenz bereits vor zwei Jahren eine Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) eingesetzt habe, die im Dezember ein Gutachten zur Grundschule vorlegen wolle.

Schuld sei die „jahrelange verfehlte Schulpolitik“.

Der Deutsche Lehrerverband bezeichnete die Studie als „Beleg für einen ungebremsten dramatischen Bildungsabsturz“. Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger warnte davor, den Leistungsabfall vorrangig auf Corona zu schieben. Schuld sei die „jahrelange verfehlte Schulpolitik“, die sich in Nebenkriegsschauplätzen verzettelt habe, „anstatt den Schwerpunkt des Unterrichts an der Grundschule auf den umfassenden Erwerb der zivilisatorischen Grundkompetenzen Lesen, Rechnen und Schreiben zu legen“.

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Bitte nicht in Visionen abdriften! https://condorcet.ch/2022/10/bitte-nicht-in-visionen-abdriften/ https://condorcet.ch/2022/10/bitte-nicht-in-visionen-abdriften/#comments Wed, 12 Oct 2022 08:50:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=11942

«War da was?», fragen sich viele. Ein Lehrermangel? Eine Notsituation? Die Bildungsverantwortlichen tun so, als wäre nichts gewesen – und flüchten in Visionen. Da staunen manche erzürnt. Zu ihnen zählt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Condorcet-Autor Carl Bossard: Interessiert sich die Bildungspolitik überhaupt für die Qualität unserer Schulen und den konkreten Unterricht vor Ort?

Seit Jahren das ewig gleiche Bild: kurz vor den Sommerferien aufgescheuchte Schulleitungen und eine aufgeregte Suche nach Lehrpersonen. Aus den Stäben nichts als lautes Schweigen. Die Verantwortlichen vor Ort dagegen kämpfen um jede verfügbare Hilfskraft. Die Schulen müssen nach den Ferien starten können, die Kinder eine Lehrerin vor sich haben. Mit enormem Aufwand gelingt es. Eingestellt werden auch Leute ohne Ausbildung. Die Bildungsfunktionäre nehmen’s gelassen zu Kenntnis. Die Karawane zieht weiter.

Wo bleibt der Blick aufs Konkrete?

Warum dieses Zittern immer wieder? Warum dieses Trauerspiel? Man kann nur spekulieren und deuten – und sich fragen: Interessiert sich die Bildungspolitik überhaupt für die Qualität unserer Schulen und den konkreten Unterricht vor Ort? Wer ins NZZ-Podium zum Thema «Leistungsgesellschaft – welche Schule braucht der Mensch?» von Mitte September hineingehorcht hat, der zweifelt ernsthaft.[1] Der Diskussionsverlauf spricht Bände: Da war viel von Visionen die Rede und davon, die Potenziale der Kinder besser und humaner zur Entfaltung zu bringen, und da wurden vor allem noch mehr Finanzmittel gefordert – dies im ohnehin schon teuersten Bildungssystem der Welt.

Rund 35 Prozent der Schüler:innen erhalten heute Nachhilfeunterricht.

Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner gab zu Protokoll: «Das Schweizer Schulsystem ist grundsätzlich auf einem sehr guten Weg. Wir haben ein riesiges Stütz- und Fördersystem, wir haben die Instrumente zu korrigieren.» Kein (selbst-)kritisches Wort, kein Kommentar zu den Sorgen und Nöten im pädagogischen Parterre, kein Querblick auf die Defizite der Schule und die Tatsache beispielsweise, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Wenn sie diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Lerninstitute dahinter – und leider viel zu wenig lernwirksame Unterrichtsstunden. Im Übrigen erhalten heute rund 35 Prozent der Schüler:innen Nachhilfeunterricht. Was das für die angeblich so wichtige Chancengerechtigkeit bedeutet, ist selbstredend.

Skandal einer Bildungspolitik, die den Alltag negiert

Der “Beobachter” spricht sogar von einem “Towubahohu” im Klassenzimmer.

Kein Wort auch von den Folgen der Integration ganz unterschiedlicher, zum Teil sehr schwieriger Kinder in die gleiche Klasse – mit dem administrativ horrenden Koordinationsaufwand und den teilweise gravierenden Unterrichtsstörungen. Der «Beobachter» spricht gar vom «Towubahohu im Klassenzimmer» und davon, dass es heute selten mehr eine Klasse gäbe, «in der man sich auf die Vermittlung des Schulstoffs konzentrieren kann».[2] Doch wen überrascht das, wenn die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner die Integration im Sinne eines Menschenrechts als gegeben annimmt. Steiner wörtlich: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.»[3] Da verbietet sich aus ideologischen Gründen jedes Justieren und jedes Korrigieren. Da gibt’s aus dogmatischen Gründen nur eines: weiter wie bisher! Kollateralschäden hin, gravierende Lerndefizite in den kulturellen Basiskompetenzen her.

Und diese Unterrichtsform ist mit ein Grund für die spürbare Flucht vieler Lehrpersonen aus dem Schulzimmer. Auch darüber sehen die Verantwortlichen geflissentlich hinweg. Ihre Devise: nichts hören, nichts sehen und auch nichts sagen – das ist der Skandal einer Bildungspolitik, die sich in Visionen flüchtet und den Alltag negiert und dabei so tut, als ob alles in Ordnung sei – wie seit Jahren beispielsweise beim Frühfranzösisch.

Bei gewissen Defiziten liegt ein Systemversagen vor

Was bräuchte es denn? Viele vermissen in der Schweizer Bildungspolitik eine kritisch-analytische (Klar-)Sicht auf den Ist-Zustand, und zwar eine systemische und radikal-ehrliche. Während Jahren wurde die Schule umgebaut und reformiert – in Hunderten von Einzelschritten. Was haben die Innovationen denn insgesamt gebracht? Und warum rutscht die Schweiz in den internationalen Vergleichsstudien trotzdem dauernd ab?

Jede:r Fünfte unserer 15-Jährigen verlässt die Schule ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse.

Es darf, um ein einziges Beispiel zu nennen, doch nicht sein, dass jede:r Fünfte unserer 15-Jährigen die Schule ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse verlässt. Das sei schlicht «ein Systemversagen», wie es Stefan C. Wolter, der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, auf den Punkt bringt. Er fügt bei: «Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern und Schülerinnen können in der Schweiz bei Schulabschluss zwei bis drei Schüler:innen pro Klasse nur unzureichend schreiben und lesen.» Die Bildungsverantwortlichen schweigen. Das Systemversagen scheint sie nicht zu stören. Nach den Gründen fragt kaum jemand.

Die PH sind zum Durchlauferhitzer geworden

Der kritische Blick auf die Pädagogischen Hochschulen

Ein zweiter wichtiger Blickpunkt gälte der Frage, wo in der Ausbildung Fehler gemacht werden und warum so viele junge Lehrpersonen das Schulzimmer so schnell wieder verlassen: sieben Prozent pro Jahr, am meisten in den ersten drei bis fünf Berufsjahren. Wir haben, und das wissen wir, nicht zu wenig ausgebildete Lehrpersonen, wir haben zu viele, die den Beruf zu schnell wieder an den Nagel hängen oder ihn nicht einmal aufnehmen. Die Pädagogischen Hochschulen sind eine Art Durchlauferhitzer geworden für Leute, die gar nicht unterrichten wollen. Dazu gehört die Frage: Wie genügend für einen guten Unterricht vorbereitet sind die neuen Lehrerinnen und Lehrer, und wie gezielt eingeübt beginnen sie ihre erste Stelle?

Wiederbesinnung auf die pädagogische Freiheit

Und noch etwas wäre zwingend zu analysieren: Wie belastend wirken sich die vielen Top-down-Reformen der vergangenen Jahre aus? Bildung wurde «vernormisiert» und «veradministriert». Das Organisatorische dominiert das Pädagogische. Die Belastung der Lehrpersonen als Folge dieser Reformen mit der verstärkten Integration und der Verzettelung ins fachliche Vielerlei ist gestiegen.

Vieles, zu vieles wird vorgeschrieben und von oben verordnet – oder eben gesteuert.

Viele Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich gefangen im Korsett einer künstlich konstruierten Komplexität, die sie nicht mehr bewältigen können. Darum wollen auch immer weniger das wichtige Amt von Klassenverantwortlichen übernehmen. Vieles, zu vieles wird vorgeschrieben und von oben verordnet – oder eben gesteuert. Das minimiert die pädagogische Freiheit. Und die Freiheit gehört zur DNA jeder Lehrperson.

Eine schonungslos ehrliche Systemanalyse

Wir wissen: An unserer Volksschule läuft nicht alles rund. Ganz und gar nicht. Vieles wird leider unter den Tisch gekehrt oder nur hinter vorgehaltener Hand formuliert. Das bringt uns nicht weiter. Allerdings brauchen wir weder schöngeistige Illusionen noch irgendwelche praxisfernen Visionen; was wir brauchen, ist eine ehrliche Systemanalyse, schonungslos und radikal wirklichkeitsbezogen. Mit dem bisherigen So-tun-als-ob kommen wir nicht weiter. Leidtragende im Schulsystem sind immer die Schülerinnen und Schüler.

 

[1] Matthias Niederberger, Welche Schule braucht der Mensch?, in: NZZ, 17.09.2022, S. 15: Am Podium unter Leitung von NZZ-Redaktor Martin Meyer diskutierten: Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin, Silvia Steiner, Zürcher Bildungsdirektorin, Sergio P. Ermotti, Swiss-Re-Verwaltungsratspräsident, und Oliver Meier, Hochbauprojektleiter Marti AG.

[2] Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92f.

[3] Nils Pfändler, Lena Schenkel, «Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule». Interview mit Silvia Steiner, in: NZZ, 28.01.2019, S. 15.

 

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