Deborah Meier - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 29 Oct 2020 16:51:18 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Deborah Meier - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Deborah Meier – Mission Hill in Boston oder Warum ich die USA immer noch liebe. 2. Teil https://condorcet.ch/2020/10/deborah-meier-mission-hill-in-boston-oder-warum-ich-die-usa-immer-noch-liebe-2-teil/ https://condorcet.ch/2020/10/deborah-meier-mission-hill-in-boston-oder-warum-ich-die-usa-immer-noch-liebe-2-teil/#respond Thu, 29 Oct 2020 16:51:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=6827

Im zweiten Teil seiner USA-Reportage über die Mission Hill-Schule in Boston erzählt uns Condorcet-Autor Alain Pichard, wie sich diese Schule entwickelte und schliesslich zum Opfer ihres eigenen Erfolgs wurde. Der Condorcet-Blog bringt diese Reportage gerade noch rechtzeitig vor den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Besuchte während eines Monats die Mission Hill Schule in Boston.

1996 hatte sich Deborah Meier auf der ganzen Linie durchgesetzt. Sie gab die Leitplanken vor, führte mit den demoralisierten Lehrkräften intensive Gespräche und erklärte ihr pädagogisches Konzept. Nur wenige gingen. Wer blieb, nahm aber «an einer einzigartigen Erfolgsstory teil», erklärte mir Jacob Wheeler, Lehrer an einer Oberstufenklasse. Als Schulleiterin machte die ehemalige Trotzkistin auch Zugeständnisse. Ihren verdutzten Lehrkräften erklärte die vehemente Kritikerin der Standards, dass man diese Teste nur machen solle. «Führt sie durch, schickt sie ab und kümmert euch nicht weiter darum. Wir haben Wichtigeres zu tun.» Deborah Meier setzte in ihrer Agenda klare Prioritäten und vermied stets Grabenkämpfe, die den Weg zu behindern drohten.

Eine prickelnde Atmosphäre

Eine prickelnde Atmosphäre

Es gibt Konzerte, da stellt sich unmittelbar beim Betreten der Bühne durch die Musiker eine eigene emotionale Stimmung ein. So erging es mir, als ich das schäbige Gebäude des Mission Hill Schulhauses betrat. Es war acht Uhr morgens, einzelne Schüler, vor allem aber die Lehrkräfte liefen durch die Gänge, in denen Plakate voller Botschaften hingen: «What did you learn in School today?», fragte das eine Spruchband die austretenden Schüler über der Ausgangstüre.

Visualisierte Lernfragen

 

Viele amerikanische Schulen haben ihre Ziele visualisiert und sichtbar für alle in den Gängen aufgehängt. Die Mission Hill Schule spricht von «Habits of graduate»

in Anlehnung an den amerikanischen Lehrer und Bildungsphilosophen John Dewey und dessen Werk «Habits of Mind». Am ehesten liesse sich dies mit pädagogischen Leitideen übersetzen: In der Mission Hill werden sie unter dem Leitwort „RICO“ zusammengefasst: «Refine – Invent – Connect – Own»

 

Habits of minds: Von der Mission Hill abgekupfert an der Türe des Klassenzimmer unseres Autors.

Entwickle und führe weiter:

Habe ich meine Botschaft übermittelt? Wo sind

meine Schwächen und meine Stärken?

 

Sei innovativ:

Was macht meine Arbeit innovativ? Wage ich

etwas und gebe ich mich nicht mit dem Erstbesten

zufrieden?

 

Verbinde:

An wen richte ich meine Botschaft, woran knüpft

meine Arbeit an, in welchem Umfeld ist sie

entstanden?

 

Vertraue auf dich selbst:

Bin ich stolz auf das, was ich mache? Was benötige

ich, um erfolgreich zu sein?

Der Spezialunterricht ist gebündelt. Alle Lektionen, welche für besondere Fördermassnahmen gesprochen, sprich finanziert sind, werden zusammengefasst und in einer Assistenzlehrkraft vereinigt. Das hat zur Folge, dass in den meisten Lektionen das “Vier-Augen-Prinzip” herrscht.

 

Später Schulbeginn

Für SchülerInnen beginnt der Unterricht sage und schreibe erst um 9.30 Uhr. Er dauert dann ohne Unterbruch bis 12.00 Uhr. Nach einer Mittagspause von einer Stunde – die Mission Hill ist eine Ganztagsschule und die Schülerinnen ud Schüler werden in der Kantine verpflegt – geht es dann um 13.00 Uhr weiter bis 15.30 oder 16.00 Uhr. Es sind rund fünf bis sechs Lektionen pro Tag, fünf Tage lang. Die Lehrkräfte finden sich bereits um 8.00 Uhr im Schulhaus ein. Es ist die Zeit für Vorbereitungen und Teamsitzungen. Nach 16.00 Uhr, wenn die SchülerInnen bereits weg sind, bleiben die Lehrkräfte noch bis 17.00 Uhr in der Schule. Zeit für Korrekturen und Absprachen. Wenn ein Lehrer an der Mission Hill nach Hause geht, dann tut er dies meistens ohne Tasche, die mit Heftern vollgestopft sind. Er kann sich seiner Familie, seinen Hobbys oder seiner Regeneration widmen. Die Klassenlehrkräfte arbeiten alle 100 %, das sind 24 Lektionen pro Woche. Der Spezialunterricht ist gebündelt. Alle Lektionen, welche für besondere Fördermassnahmen gesprochen, sprich finanziert sind, werden zusammengefasst und in einer Assistenzlehrkraft vereinigt. Das hat zur Folge, dass in den meisten Lektionen das “Vier-Augen-Prinzip” herrscht. Ein Prinzip, das meine Frau, selber Schulleiterin, die mich auf der Reise begleitetete, in ihrer Schule später entgegen allen Vorgaben selber installierte.

Sämtliche Schulanlässe mit Elternbeteiligung finden in diesem Zeitgefäss statt. Eltern in Boston haben das Recht, vier Halbtage für die Schule freizunehmen.

Eltern bekommen auch Halbtage

Friday sharing: Wochenabschluss mit den Eltern

Sämtliche Schulanlässe mit Elternbeteiligung finden in diesem Zeitgefäss statt. Eltern in Boston haben das Recht, vier Halbtage für die Schule freizunehmen. Deswegen finden Schulfeiern, Theaterstücke und «presentations» immer während der Unterrichtszeit statt und selten am Abend. Eine Ausnahme bildet das Governance Board, eine Art Sitzung der Aufsichtsbehörden. Allerdings spielen hier nicht die Behördenvertreter die Hauptrolle, sondern die Eltern und SchülerInnen.

Die Lehrkräfte sind das Zentrum dieser Schule. Sie bilden eine verschworene Gemeinschaft und sind stolz, in dieser Schule zu unterrichten.

Es gibt jeweils ein feines Catering und dann wird gearbeitet, besprochen, gelobt, kritisiert und entschieden. Der Schulleiterin werden Rückmeldungen über ihre Führung gegeben, von Seiten der Lehrer-, Eltern- und der Schülervertreter, das Essen in der Kantine wird bemängelt, das Foundraising für die Renovation des Esssaals besprochen.

Die Lehrkräfte sind eine verschworene Gemeinschaft.

Die Lehrkräfte sind das Zentrum dieser Schule. Sie bilden eine verschworene Gemeinschaft und sind stolz, in dieser Schule zu unterrichten. Nichts geht ohne sie. Sie schlagen jahrgangsgemischte Klassen vor, wenn sie überzeugt sind, dass es der Unterrichtsqualität dient, sie schaffen sie ab, wenn der Aufwand den Ertrag übersteigt. Intensive und heftige Diskussionen gehen da jeweils voraus.

Jedes Kind hat eine Vertrauensperson, einen Paten, die Türen zu den Schulzimmern sind immer offen und jede Lehrperson fühlt sich für jeden Schüler verantwortlich.

Vertrauensperson

Ich sass im Unterricht einer achten Klasse, als ein jüngeres Mädchen hereinkam, direkt auf den Lehrer zuging, ihn umarmte und schluchzte: «Sie hat mich rausgeworfen.» Der Lehrer beruhigte sie. Er war ihr Vertrauenslehrer, und gleichzeitig sass auch ihre «Patin» in der Klasse. Das Mädchen wurde zur älteren Schülerin gebracht, diese richtete ihr einen Computerplatz ein, und die Ruhestörerin arbeitete still am Computer weiter. Ein wenig später kam die Lehrerin, erkundigte sich nach dem Kind, das sie soeben hinausgeworden hatte. Die beiden Lehrkräfte beschlossen gemeinsam, sie noch etwas in der anderen Klasse zu lassen. Die Szene war bezeichnend für die Mission Hill: Jedes Kind hat eine Vertrauensperson, einen Paten, die Türen zu den Schulzimmern sind immer offen und jede Lehrperson fühlt sich für jeden Schüler verantwortlich. Später, als sich das Kind beruhigt hatte, ging es wieder zurück in seine Klasse.

Oft hilft es auch schon, dass die Lehrer für jede Unterrichtsstunde einen Assistenten zur Seite haben. Wenn ein Schüler Schwierigkeiten hat, überfordert ist oder stört, kann sich die zweite Lehrkraft um ihn kümmern, ohne dass der Unterricht dadurch gestört wird.

Anne fragte die Runde, was sie falsch gemacht habe. Ich staunte. Sie beklagte sich nicht über die rotzfrechen Teenies, sie fragte, was sie hätte besser machen sollen. Diese ureigene amerikanische Fehlerkultur wäre an vielen Schulen bei uns undenkbar.

Beeindruckende Selbstkritik

Anne Ruggerio: Beeindruckende Selbstkritik

Anne Ruggerio, eine junge Assistenzlehrerin an der 8. Klasse, hatte einmal einen miserablen Morgen. Sie war alleine mit den Schülern, weil Jacob Wheeler, der Klassenlehrer, gerade mit einer Krisensituation absorbiert war. Die Physiklektion entglitt ihr vollends. Motivationslos lümmelten sich die Teenager an ihren Tischen herum, kaum eine Anweisung wurde befolgt. Ich sass da und war gespannt, wie sich die Lektion entwickeln würde. Nach etwa einer halben Stunde lief Ann aus dem Klassenzimmer und kam mit einer Videokamera wieder zurück. Sie bat mich, ihren Unterricht aufzunehmen. Ich solle die Kamera vor allem auf sie richten. Der Unterricht wurde dadurch nicht besser, es war ein Alptraum. Am nächsten Tag wurde meine Filmsequenz dem Klassenteam und der Schulleiterin vorgeführt. Ann fragte die Runde, was sie falsch gemacht habe. Ich staunte. Sie beklagte sich nicht über die rotzfrechen Teenies, sie fragte, was sie hätte besser machen sollen. Diese ureigene amerikanische Fehlerkultur wäre an vielen Schulen bei uns undenkbar.

50% der Schüler sind Schwarze, 25% Latinos und 25% kommen aus dem vorwiegend weissen Mittelstand.

Vom Kindergarten bis in die achte Klasse werden die Kinder integriert unterrichtet. Noten gibt es ab der 4. Klasse. Auch behinderte und leistungsschwache Schüler besuchen hier die Regelschule. 50% der Schüler sind Schwarze, 25% Latinos und 25% kommen aus dem vorwiegend weissen Mittelstand.

Mitunter werden Tische mit Schülern repariert

Im Fach Mathematik sind die Leistungen der Mission Hill-Schüler wesentlich schwächer als bei uns. Eine Orientierungsarbeit am Ende der sechsten Klasse in der Schweiz würde den 8.-Klässlern in Mission Hill grosse Schwierigkeiten bereiten. Es werden auch keine Fremdsprachen unterrichtet. Englisch ist, was zählt. Und hier haben die selbst verfassten Texte eine ausserordentliche Qualität. Der Lesefertigkeit wird grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Jeder Schüler erhält von Beginn an eine Bücherbox und einen Lesepass.

Auffallend ist der investigative Unterricht mit einem

Physikalische Experimente ä gogo, und wo auch immer.

starken Gewicht auf die technischen und wissenschaftlichen Fächer. Es gibt im Unterricht keine Arbeitsblätter, nur weisse Hefte, die mit Beobachtungen und Zeichnungen gefüllt werden. Bereits ab der 1. Klasse forschen, tüfteln und untersuchen die Kinder Naturphänomene. Die Schüler experimentieren mit Feuer und Rauch, erforschen schon in der Unterstufe das Wesen der Flamme und das CO2. Sie feilen an Eisen herum, entwickeln eigene Experimente. Sie reparieren kaputtgegangenes Mobiliar, entwickeln Produkte, die sie dann verkaufen.

Verbundenheit mit den Lehrkräften

Auffallend und für einen Europäer auch seltsam ist die unglaubliche Verbundenheit der Lehrkräfte zu ihren Schülern. Da sind auch physische Berührungen wie Umarmung kein Tabu, sondern Standard.

Ziad Clark, Vater einer Tochter der Mission Hill, ist ein Bostoner Jugendanwalt. Er erzählte mir, er habe vor kurzem einen schwarzen Jungen aus der Schule vor Gericht verteidigen müssen und es habe ihn erstaunt, dass sämtliche seiner Lehrer der Verhandlung beigewohnt hätten.

Immer mehr Eltern, vor allem auch Weisse, nahmen ihre Kinder aus den Privatschulen und stellten den Antrag, ihre Kinder in die Mission Hill Schule schicken zu können.

Ziad Clark, Anwalt, nahm sein Kind aus der Privatschule und schickte es in die Mission Hill.

Der Mittelstand reagiert

Der gebeutelte Mittelstand in Mission Hill erkannte die wachsende Qualität ihrer Schule. Da war eine Schule, die auf das Können und die Kreativität der Kinder setzte. Chaos und Ghetto verschwanden allmählich, die Abschlüsse und Übertritte begannen zu funktionieren. Immer mehr Eltern, vor allem auch Weisse, nahmen ihre Kinder aus den Privatschulen und stellten den Antrag, ihre Kinder in die Mission Hill Schule schicken zu können. Für sie bedeutete dies auch eine enorme finanzielle Entlastung.

Da Boston aber auf ein ausgedehntes Bussing setzt, um in allen Quartieren eine einigermassen ausgewogene Schülerschaft an den Public Schools zu garantieren, ist die Chance, einen Platz an der Schule ihres Wohnortes zu erhalten, eingeschränkt. Es gab mehr Anmeldungen, als die Schule aufnehmen konnte.

Die Behörden erkannten die Erfolge der Mission Hill Schule, die sich bald einmal einen landesübergreifenden Ruf erarbeitete.

Die Schule zieht um

Jacob Wheeler: Das ist Verrat!

Diese Entwicklung blieb Thomas Menino, der immer noch Bürgermeister von Boston ist, nicht verborgen. Erstaunt nahm man im Schuldepartement zur Kenntnis, dass es auch ausserhalb des Mission Hill-Quartiers sehr viele Eltern gab, welche ihre Kinder unbedingt in die Mission Hill schicken wollten.

US-Amerikaner sind in der Regel sehr pragmatisch und das galt auch für die Leute um Bürgermeister Menino. Die Behörden erkannten die Erfolge der Mission Hill Schule, die sich bald einmal einen landesübergreifenden Ruf erarbeitete. Sie eröffneten ihnen daraufhin folgenden Entscheid: Die Mission Hill Schule sei sehr erfolgreich. Deshalb wolle man sie auch vergrössern. Die Schule solle umziehen in den Jamaica Plain, ein aufstrebendes Trendquartier. Das Gebäude sei dort frisch renoviert worden und es biete Platz für mehr Schüler.

Ayla Gavins: Gab am Schluss nach und quittierte den Job als Schulleiterin.

In der Mission Hill Schule war man fassungslos. «Was passiert denn mit unseren Schülern?» – «Die nehmt ihr natürlich mit». Jeder, der an der Mission Hill Schule unterrichtet werde, könne weiterhin Schüler bleiben, hiess es.

Man muss sich dies einmal in Zürich vorstellen, wenn das Schulhaus Letten mitsamt der Schülerschaft in den Kreis Wipkingen umziehen soll.

Der Widerstand war heftig. Deborah Meier, die ihr Amt als Schulleiterin 2004 an ihre Nachfolgerin Ayla Gavins übergeben hatte, war an vielen Sitzungen dabei und versuchte zu vermitteln. Die Schule wuchs so auf über 350 Schülerinnen und Schüler, was für Debora Meier natürlich bereits zu gross war.

Verrat oder Export?

Im Grunde wiederholte sich hier der Harlem-Effekt. Harlem war ebenfalls zu einem Trendquartier geworden. Die Oberschicht und viele gut situierte Familien wohnen heute in dem ehemaligen Ghettoquartier. Inwieweit hier auch das erfolgreiche Schulmodell von Deborah Meier mitgewirkt hat, wäre noch zu untersuchen. Aber mit dem Einzug der neuen Schichten gerieten auch die progressiven Ideen der East Harlem School unter Druck. Heute sind die von Deborah Meier gegründeten Schulen in New York solide Mittelstandsschulen, viele Innovationen wurden rückgängig gemacht.

Heftiger Widerstand

Die Lehrer der Mission Hill wehrten sich mehrheitlich gegen den Umzug, vor allem aber die Quartierbewohner waren ausser sich. Man nahm ihnen ihren ganzen Stolz weg, eine Schule, die sich eine nationale Ausstrahlung erworben hatte und mit der ihre Kinder mit Stolz und Freude identifizierten.

Die neue Schulleiterin Ayla Gavins kam massiv unter Druck. Sie wehrte sich gegen den Umzug. Eine öffentliche Äusserung, in welcher sie die High Stake-Tests stark kritisierte und meinte, man solle die Millionen Dollar, die für diesen Unsinn ausgegeben werden, gescheiter in die Praxis investieren, brachte ihr ein Disziplinarverfahren ein. Sogar ihre Mentorin und grosse Unterstützerin, Deborah Meier, kritisierte sie deswegen. «Du musst dir nicht jetzt eine neue Front aufbauen», meinte die mittlerweile 80-jährige Schulgründerin.

Das Vorlesen hat einen grossen Stellenwert.

Als ich Ayla Gavins, Jacob Wheeler, Deborah Meier und Ann Ruggerio im Sommer 2013 besuchte, war die Mission Hill Schule im Jamaica Plain angesiedelt. Die Schülerschaft hatte sich langsam verändert, der Anteil der schwarzen Unterschicht war gesunken, die Zahl der Weissen und der Latinos gestiegen. Ayla Gavins sah müde aus. Sie musste in den Ferien an einem Managerkurs teilnehmen. Thema: Wie können die Schulen ihr Label entwickeln und es professionell vermarkten. Bei unserer letzten Begegnung hat Ayla die Schulleitung abgegeben. Sie unterrichtet neuerdings eine Klasse im Jamaica Plane. Jacob Wheeler hat die Mission Hill verlassen, er empfand diesen Umzug als einen Verrat. Ann Ruggerio hingegen arbeitet weiter in der Mission Hill. «Unsere Arbeit ist wichtig, und ich mache sie immer noch gerne», meint die inzwischen zur Klassenlehrerin mutierte ehemalige Hilfskraft.

Das ganze Kollegium flog für fünf Tage nach Detroit, machte sich ein Bild über die Agonie der ehemaligen Autometropole und besuchte Nachbarschaftsprojekte.

Scheinbares Chaos aus dem kreative Ideen nur so sprudeln.

Und Debora Meier? Sie kämpft weiterhin gegen den Untergang der Public School in den USA. Und sie besucht immer noch regelmässig das Governance Bard der Mission Hill Schule, die sich im Jamaica Plain befindet. In einer leidenschaftlichen Rede überzeugte sie das Kollegium, einen Weiterbildungsurlaub in Detroit zu machen, um dort die lokalen Kräfte, die sich für den Erhalt der öffentlichen Schulen einsetzen, zu unterstützen. Das ganze Kollegium flog für fünf Tage nach Detroit, machte sich ein Bild über die Agonie der ehemaligen Autometropole und besuchte Nachbarschaftsprojekte. Dafür bezahlte jede Lehrkraft 500 Dollar aus der eigenen Tasche.

Jacob Wheeler, der diese Reise noch mitgemacht hatte, bevor er ausstieg, meinte, dass man auch viel Hoffnungsvolles gesehen habe. «Es entsteht wieder etwas in diesem Irrsinn, und es beginnt in den Schulen.» Und er fügte hinzu: «Wo denn auch sonst?»

Nächstes Jahr, nach meiner Pensionierung werde ich – sofern es Covid19 zulässt – wieder nach Boston reisen. Nicht mehr als interessierter Lehrer, sondern als Freund einer wunderbaren Stadt mit ihren offenen Menschen. Trump hin oder her. Und ich werde am 90. Geburtstag von Debora Meier teilnehmen. Sie erfreut sich immer noch guter Gesundheit und ist geistig vollkommen präsent.

Alain Pichard hat die Mission Hill 2009, 20013, 2015 besucht

 

 

 

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In zwei Wochen finden in den USA die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Für viele Menschen in Europa scheinen die USA zurzeit eine schlimmere Bedrohung zu sein als der Klimawandel oder China. Condorcet-Autor Alain Pichard stellt uns die Geschichte einer aussergewöhnliche Schule in Boston vor, erklärt, warum er dieses Land immer noch liebt und weshalb er auch nicht glaubt, dass die USA untergehen werden. Menschen, wie die von ihm porträtierte Deborah Meier, bestärken ihn in diesem Glauben. Lesen Sie den ersten Teil seiner spannenden Reportage.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Besuchte während eines Monats die Mission Hill Schule in Boston.

Im Juni 2009 besuchte ich als Realschullehrer einer Bieler Oberstufenklasse während eines Bildungsurlaubs die Mission Hill Schule in Boston. Ich war damals auf der Suche nach Schulen, die behaupteten, erfolgreich integrativ zu unterrichten. Meine Reisen führten mich nach Deutschland, Dänemark und in verschiedene Schulen in der Schweiz.  Auf Anraten von Professor Oelkers entschloss ich mich, auch noch die Mission Hill Schule in Boston zu besuchen. Die Schule empfing mich mit offenen Armen. Es wurde mir erlaubt, einen Monat lang in dieser Unterrichtsstätte zu Gast zu sein, die Ereignisse in dieser Institution mitzumachen, an Kommissionssitzungen, Lehrerkonferenzen, Prüfungsritualen und Schulanlässen teilzunehmen, eigene Unterrichtseinheiten durchzuführen und mit Eltern, SchülerInnen und Behördenmitgliedern zu sprechen.

In dieser Zeit lernte ich auch die Pädagogin, Schulleiterin und Lehrerin Deborah Meier kennen. Diese Frau, ihre Schule, die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler haben mein Verhältnis zu diesem Land von Grund auf verändert und sich dramatisch auf mein berufliches Wirken ausgewirkt. Ich besuchte die Schule in der Folge noch weitere Male, führte mit meinen Schülerinnen und Schülern in Biel eine Zeitlang einen Briefkontakt mit ihren amerikanischen Altersgenossen und pflege mit den Lehrkräften wie auch mit Deborah Meier auch heute noch einen regen Austausch. In einer Zeit der Schreckensmeldungen aus den USA, einem zerrissenen Land, geschüttelt von Rassenunruhen, Cancel Culture und einer maßlosen Präsidentschaft möchte ich die Leserinnen und Leser des Condorcet-Blogs daran erinnern, dass es auch ein anderes Amerika gibt. Ein Land mit wunderbaren Menschen, voller Tatkraft, Toleranz und Kreativität. Und mit Schulen, die so anders sind als das, was von unseren Medien in der Regel kolportiert wird.

Mission Hill: Es begann mit einem Schock

Die ehemalige Mission Hill Schule in Boston: Eine Brennpunkt-Schule

Beim Besuch einer US-amerikanischen Schule in einer Grossstadt wird man jeweils eines bewaffneten Polizisten gewahr, der sich – sofern es sich um einen Fremdling handelt – freundlich nach dem Namen erkundigt. Ansonsten verhalten sich diese Männer und Frauen in Uniform eher zurückhaltend, immer bereit einzugreifen, sollte etwas passieren.

Man kann nur ahnen, was sich der seit drei Jahren im Amt sitzende Bürgermeister von Boston, Thomas Menino, dachte, als er im September 1995 die Nachricht aus seinem School Departement erhielt, dass sich in der Mission Hill Schule der Schulwachmann Alejandro Ruiz vor den Augen einer entsetzten Schülerschaft mit seiner Dienstwaffe erschossen hatte. Es war zwar nur eine Hiobsbotschaft unter vielen, die aus dieser rauen Bostoner Gegend auf den Schreibtisch des Bürgermeisters flatterten, Menino aber wusste, es war eine zu viel.

Mission Hill – ein heruntergekommenes Ghettoquartier

Die Mission Hill, Teil des Roxbury-Viertels im Süden von Boston, war eine Problemzone mit all den bekannten Nebenerscheinungen eines Ghettoquartiers. Verfallene Häuser, steigende Kriminalität, hohe Arbeitslosigkeit, Auszug des (vorwiegend) weissen Mittelstands und chaotische Schulverhältnisse.

Boston: Vibrierende Intellektualität

Boston, die Havard-Stadt an der Ostküste, eine 700’000 Einwohner zählende Metropole des Bundesstaates Massachusetts, die viel auf ihren Liberalismus hält, stand immer in grosser Rivalität zu New York.

Boston und New York, das ist ein wenig wie Basel und Zürich. Wenn das Red Sox-Baseball-Team die Yankees aus New York schlägt, steht die ganze Stadt Kopf.

Im Selbstverständnis vieler Bostoner sind die New Yorker neureiche Blender. Diese Mischung aus Big Business, mondänem Habitus, schrillen Kulturevents passt nicht zu Boston. Ghettoquartiere, Rassenunruhen, Korruption, das alles stand für New York, aber sicher nicht für Boston. Überhaupt, wo stände das Land, so die Überzeugung der Bostoner Oberschicht, ohne die intellektuelle Kraft ihrer Stadt.

Das Beispiel East Harlem

Trotzdem schauten Menino und seine Leute des Schuldepartments damals seit einiger Zeit auf den New Yorker Distrikt East Harlem, der in den 70er Jahren in Chaos und Kriminalität nicht nur zu versinken drohte, sondern schon längstens ertrunken war.

Deborah Meier übernahm die Schulen in Harlem und erhielt eine “carte blanche”

Seit 1974 übernahm dort die US-amerikanische Pädagogin Deborah Meier die gigantische Aufgabe, die ausser Kontrolle geratenen Schulen in East Harlem zu sanieren.

Deborah Meier war eine inzwischen bekannte Grösse in der amerikanischen Bildungspolitik. Die 1931 geborene Grand Old Lady der amerikanischen Linken begann ihre Karriere als Lehrerin im Kindergarten. Sie arbeitete dann als Primarlehrerin an verschiedenen Schulen in Chicago, Philadelphia und New York City und unterrichtete später auch auf der Sekundarstufe (Middle School). Als Schulgründerin und politische Autorin erlangte die ehemalige Trotzkistin landesweite Bekanntheit.

Deborah Meier erhielt den Auftrag, Harlems Schulen zu sanieren

Harlem: Meier setzte auf kleine Schulen

Der damalige New Yorker Bürgermeister Abraham Beame, 1973 ins Amt gewählt, erbte von seinem Vorgänger eine desolate Haushaltslage und sah sich zu schmerzhaften Sparmaßnahmen gezwungen. Er reduzierte die Zahl der städtischen Beschäftigten um 65.000, die Zahl der Krankenhausbetten um 3000 und für die City University wurden Studiengebühren eingeführt. Neben seinen harten Sparmassnahmen bewies der als Buchhalter verschriene Beame aber auch Mut zu unkonventionellen Massnahmen. Der Republikaner bat die linke Deborah Meier, “den Sauladen in East Harlem” zu übernehmen, und sicherte ihr alle Freiheiten zu, die sie für ihr Werk benötigen sollte.

Deborah Meier kam aus der Praxis. Sie war eine, die aus ganzem Herzen und voller Überzeugung Lehrerin war und vermutlich nie etwas anderes sein wollte. Eine ihrer wichtigsten aus der Erfahrung geborenen Überzeugungen lautete: Die Schulen müssen klein sein, überschaubar, die Lehrkräfte müssen zu ihren Schülerinnen und Schülern eine Beziehung haben, sie kennen. Ausserdem war sie eine überzeugte Anhängerin der Public School. All ihre Schulkonzepte entwickelte sie immer auf dem Boden des öffentlichen Schulsystems, dessen Grenzen sie aber stets aufbrach.

Ausgerechnet Zürich

Professor Juergen Oelkers hielt 2007 die Laudatio

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das Wirken dieser Frau, deren pädagogische Grundhaltung allem widerspricht, was heute in der Schweiz unter dem Begriff HarmoS durchgesetzt werden soll, in der Hochburg der realitätsfremden, praxisfeindlichen Reformen entdeckt und gewürdigt werden sollte.

2007 verlieh nämlich die Pädagogische Hochschule Zürich ihren jährlichen Bildungspreis an Deborah Meier. Die Laudatio hielt kein geringerer als der Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers, ein kluger Beobachter der hiesigen Reformdebatte und ausgewiesener Kenner der ostamerikanischen Reformschulen.

Juergen Oelkers sprach damals eindrückliche Worte:

«Mit ihren kraftvollen Ideen gründete Deborah Meier 1974 im öffentlichen Schulsystem der Stadt New York eine alternative Primarschule, der rasch zwei weitere Schulen folgten, alle in East Harlem. Die Schulen wurde als «CPE» – Central Park East – bekannt. Die Idee war, die besten Methoden des Lernens dort anzuwenden, wo sie am wenigsten erwartet wurden und wo eigentlich nur klar war, dass sie keinen Erfolg haben könnten.»

Jürgen Oelkers fasste im Weiteren ihr Denken in folgenden Sätzen zusammen:

«Wir haben uns längst an eine neue Sprache gewöhnt, nämlich die der Psychometrie und Leistungsmessung, in der es nur noch Tests und Standards zu geben scheint. Dagegen setzt Deborah Meier die Stimme und Weisheit der Praxis.»

Es sind Worte, die man in der hiesigen Reformdebatte selten hört. Im monströsen Lehrplan 21 kommen Experten zu Wort, Leute, die an den Schaltstellen der Bildungspolitik sitzen, aber den Herausforderungen des Unterrichts weitgehend fernbleiben. Dies war auch in den USA mit seiner konservativen Wende nicht anders. High-Stake-Tests, Standards, vereinheitlichte Lehrpläne und alle Arten von Evaluationen nahmen die chronisch unterfinanzierten Public Schools, wie die Grundschulen in den USA immer noch heissen, in ihren Griff.

Deborah Meier führte dagegen die öffentlichen Schulen in den Ghettos oder den Wohngebieten der Unterprivilegierten in Harlem progressiv, das heisst, unter Einbezug der Schüler, Eltern und Lehrkräfte. Sie bildete kleine Schuleinheiten, denen sie grosse Freiheiten gab. Und sie hatte Erfolg. In ihrem Buch mit dem selbstbewussten Titel «The Power of their Ideas: Lessons for America from a Small School in Harlem», beschrieb sie 1995 ihre Erfahrungen in Harlem.

Der verzweifelte Telefonanruf vom Bürgermeister

Das blieb auch Menino nicht verborgen. Der Bürgermeister telefonierte mit Deborah Meier, wie es damals Abraham Beame getan hatte. Er bot ihr nicht mehr und nicht weniger an als eine marode Schule, aus der die Lehrkräfte, die Eltern und die Kinder nur noch weglaufen wollten.

Die damals 65-jährige Schulleiterin aus New York wäre zum damaligen Zeitpunkt eigentlich in den Ruhestand entlassen worden. Gestärkt durch ihren Erfolg in Harlem, ihre finanzielle Unabhängigkeit und ihre im ostamerikanischen Judentum geschulte Debattierfreude trat sie – wie es mir der damalige Superintendent der Bostoner Schulen Mc Donough 2009 anvertraute, ziemlich unverschämt auf:

Eigene Curricula, nicht mehr als 220 SchülerInnen, kein Einmischen in die pädagogischen Entscheidungen, Eltern- und Schülermitsprache und die Möglichkeit, sich ihre Lehrkräfte selber auszuwählen.

Eigene Curricula, nicht mehr als 220 SchülerInnen, kein Einmischen in die pädagogischen Entscheidungen, Eltern- und Schülermitsprache und die Möglichkeit, sich ihre Lehrkräfte selber auszuwählen.

Deborah Meier im Gespräch mit dem Autor: Die Knacknuss waren die Gewerkschaften.

Als hartnäckigster Verhandlungspartner traten nicht – wie erwartet – die Bostoner Bildungsbehörden auf, sondern die lokale Lehrergewerkschaft. Neben den anstehenden Kündigungen verlangte Debora Meier nämlich von den neu anzustellenden Lehrkräften auch die Bereitschaft, rund 10 % mehr zu arbeiten als es der Tarifvertrag vorschrieb. «Das erwies sich als die grösste Knacknuss», schmunzelte Deborah Meier in einem längeren Interview, das ich 2009 mit ihr führen durfte.

Die Frau kann überzeugen, das spürte man nicht nur, wenn man in Ihrem Landsitz im Staat New York (nicht zu verwechseln mit der City of New York) den Diskussionen im Kreise ihrer Freunde zuhörte. Dort gab sich nämlich das «Who is who» der amerikanischen Altlinken die Klinke in die Hand. Sei es der ehemalige Pressesprecher von Martin Luther King oder die grosse Pädagogin Diane Ravitch, mit der sie phasenweise eine innige Gegnerschaft verband. Juergen Oelkers dazu: «Ihre Gegnerin war Diane Ravitch, die 1995 eine Theorie der Bildungsstandards vorgelegt hat und die danach eine entschiedene Kritik der progressiven Pädagogik geschrieben hatte.»

Der Disput zwischen Diane Ravitsch und Deborah Meier

Education Week, ein Vorbild auch für den Condorcet-Blog

 

 

Diane Ravitch sah ihren Fehler ein und gab Deborah Meier nachträglich recht

Diane Ravitch liess sich in der Tat in das Programm «No Child Left Behind» einspannen, das neben durchaus positiven Absichten eine abstruse, auf Kompetenzen aufbauende Vermessungsphilosophie in die Schulen brachte. Debora Meier hingegen lehnte dies immer ab. Später bekannte Ravitch, dass sie sich geirrt habe, und schrieb dazu ihr bemerkenswertes Buch «Reign of Error».

Beide sprachen immer miteinander, trotz ihrer Gegensätze. Und mehr noch, beide schreiben für einen gemeinsamen Blog, den die Zeitschrift Education Week organisiert und der mit das Beste ist, was ich in Sachen Bildungsthematik habe lesen können. Der Blog heisst «Bridging Differences», und wer ihn konsultiert, erfährt mehr als gerade einmal «we agree that we disagree». Der Condorcet-Blog lehnt sich in seiner Ausrichtung stark an diesen Leuchtturm des Diskurses an.

Schluss des 1. Teils

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