Condorcet - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 22 Jan 2024 08:21:52 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Condorcet - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wie weiland Don Quijote https://condorcet.ch/2024/01/wie-weiland-don-quijote-copy/ https://condorcet.ch/2024/01/wie-weiland-don-quijote-copy/#respond Sun, 21 Jan 2024 09:10:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=15730

Nach bald fünf Jahren Condorcet wagt der Mitbegründer unseres Bildungsblogs, Alain Pichard, eine augenzwinkernde Tour d'horizon - von Luther über Don Quichote - erklärt den neuen, einfacheren Spendenmodus und verspricht mit einer Aufsehen erregenden Personalie mehr Professionalität.

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Alain Pichard, Mitbegründer des Condorcet-Blogs: Zuerst liefern.

Wie wir ja alle wissen, sagte schon Martin Luther, dass aus einem traurigen Arsch niemals ein fröhlicher Furz entweicht. Und so kämpfen wir, wie weiland Don Quichote, einfach fröhlich weiter gegen die Windmühlen fortschreitender Wunschprosa der Bildungsbürokratie, die sich in Standardisierung, Kompetenzorientierung, Vermessung der Gesinnung, Top-Down-Politik und viel Ideologie breitmacht. Aber was wir nicht ändern können, das müssen wir ja nicht auch noch ernst nehmen. Für uns fängt bekanntlich der Spass erst an, wo er für die gescheiterten Möchtegernreformer aufhört.

Wenn uns die ganzen Feingeister in ihren Hochglanzprospekten, in ihren gestylten Büros der Bildungszentralen fernab der Praxis verfluchen und ins Pfefferland wünschen. Wir halten das aus. Und das schon seit 5 Jahren.

Auf unseren November-Spendenaufruf haben wir dieses Mal verzichtet. Wir künden ja seit einem Jahr gewisse Neuerungen an, haben diese aber noch nicht umgesetzt. Wir wollen zuerst liefern und dann schauen, ob es gefällt. Das ist wahrlich wenig kaufmännisch, aber wir betreiben unseren Blog ja nicht um des schnöden Mammons Willen.

Unterstützung leicht gemacht!

Trotzdem, ohne Ihre Unterstützung geht es nicht. Das Spenden wird Ihnen, liebe Freunde des Bildungsblogs, leichter gemacht. Im oberen Balken haben wir eine Rubrik “Spenden” eingerichtet (Zwischen dem Autorenteam und Kontakte). Dort können Sie ganz einfach eine Patenschaft lösen oder für uns eine Spende tätigen, unkompliziert mit Kreditkarte. Auch die IBAN-Nummer unseres neugeschaffenen Kontos finden Sie dort und mit dem QR-Code können Sie den Einzahlungsschein herunterladen.

Und endlich sind wir auch auf den sozialen Medien präsent. Sie können uns auf Meta und X (vormals Twitter) folgen, bewerten, liken und weiterempfehlen.

Aber das Selbstverständnis, das uns der Marquis de Condorcet eingehaucht hat, nämlich einen klugen, diversen und witzigen Bildungskurs in Gang zu bringen, der auf Mündigkeit setzt, wird bleiben.

Claudia Wirz, Journalistin: Verstärkt ab 1. April unsere Redaktion

Ja, und am 1. April können wir Condorcet-Anarchisten uns auch einen journalistischen Zuzug in Form einer Anstellung leisten. Die freie Journalistin Claudia Wirz, ehemalige Gestalterin der Bildungsseiten der NZZ, wird unser Team verstärken und versuchen, uns auf den Pfad der Professionalität zu bringen. Zugegeben, kein leichtes Unterfangen.

Aber das Selbstverständnis, das uns der Marquis de Condorcet eingehaucht hat, nämlich einen klugen, diversen und witzigen Bildungskurs in Gang zu bringen, der auf Mündigkeit setzt, wird bleiben. Bei uns diskutieren, analysieren und kommentieren weiterhin linke, liberale und konservativ-rechte Persönlichkeiten das Bildungsgeschehen in der Schweiz, in Deutschland und – wie es sich für uns Prahlhanse gehört – auf der Welt. Und für alle, die uns nicht mögen, bzw. sich über einzelne Beiträge ärgern: Landen Sie einen Konter, schreiben Sie uns, beteiligen Sie sich am Bildungsdiskurs! Vor allem aber, bleiben Sie offen, unverzagt und uns treu.

 

 

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Ein Mathematiker und Menschenfreund https://condorcet.ch/2023/10/ein-mathematiker-und-menschenfreund/ https://condorcet.ch/2023/10/ein-mathematiker-und-menschenfreund/#respond Sat, 21 Oct 2023 12:00:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=15155

Professor Walter Krämer ist Ökonom und war bis zu seiner Emeritierung 2018 Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er durch populärwissenschaftliche Literatur zur Statistik und als Verfechter der deutschen Sprache. In seinem Beitrag erklärt uns Professor Krämer eine der grossen Entdeckungen des Mathematikers und Philosophen Jean Marie de Condorcet: das nach ihm benannte Paradoxon.

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Jeder Student der Soziologie oder Wirtschaftswissenschaften begegnet in mindestens einer Vorlesung dem französischen Marquis der Condorcet, mit den schönen Vornamen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat. Denn immer, wenn es darum geht, aus den Wünschen, Vorlieben und individuellen Ranglisten von Einzelpersonen eine Präferenzordnung der Gesamtgesellschaft herzustellen, treten zuweilen sehr irritierende Phänomene auf. Das hat als erster Condorcet erkannt. Bei einer Wahl zum beliebtesten Schweizer Sportler, mit den Kandidaten Roger Federer und Martina Hingis, votiert eine Mehrheit für Hingis. Heißen die Kandidaten dagegen Federer und Vreni Schneider (55 Ski-Weltcupsiege, drei olympische Goldmedaillien), gewinnt Federer. Heißen die Kandidaten dann Hingis und Schneider, muss man gar nicht fragen, denn das Ergebnis ist klar: Hingis gewinnt: Sie liegt vor Federer, der vor Schneider, also auch Hingis vor Schneider.

Professor Walter Krämer, Deutscher Ökonom, Mathematiker und Statistiker, Technische Universität in Dortmund. Der Autor verschiedener wissenschaftlicher Bücher (Wie lügt man mit Statitstik) betreibt auch die Webseite "Die Unstatistik des Monats". Er gründete auch den Verein "Deutsche Sprache".
Professor Walter Krämer, Deutscher Ökonom, Mathematiker und Statistiker, Technische Universität in Dortmund. Der Autor verschiedener wissenschaftlicher Bücher (Wie lügt man mit Statistik) betreibt auch die Webseite “Die Unstatistik des Monats”.

Pustekuchen, sagt Condorcet. Es ist sehr wohl möglich, ganz ohne mentale Derangiertheit der Wählenden, dass jetzt Schneider vorne liegt.

Als weltweit erster beschrieb der dieses Paradoxon in seinem Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix (Paris 1785).

Wann immer man per Mehrheitsentscheidung zwischen zwei Alternativen eine Gesamtrangordnung konstruiert, lauert diese Falle im Hintergrund. Sie muss nicht zuschnappen, aber sie kann, man ist nie sicher.

Also muss man eben auf andere Weise die individuellen Präferenzen aggregieren. Aber auch das klappt nicht immer. Wie der amerikanische Ökonom Kenneth Arrow aufbauend auf Condorcet in seinen nobelpreisgekrönten Arbeiten zeigen konnte (Wirtschaftsnobelpreis 1972 zusammen mit John R. Hicks „für ihre bahnbrechenden Arbeiten zur allgemeinen Theorie des ökonomischen Gleichgewichts und zur Wohlfahrtstheorie“), gibt es kein einziges soziales Auswahlsystem, das aus völlig rationalen Individuellen Präferenzen eine wasserdichte, immer das gleiche

Wann immer man per Mehrheitsentscheidung zwischen zwei Alternativen eine Gesamtrangordnung konstruiert, lauert diese Falle im Hintergrund.

Endergebnis produzierende individuenübergreifende Rangordnung herstellen kann. Je nach Reihenfolge oder Organisation der Wahlgänge kommt möglicherweise etwas anderes heraus. So hat etwa der Dortmunder Ökonom Wolfgang Leininger überzeugend nachgewiesen, dass die heutige deutsche Bundeshauptstadt Berlin ein Artefakt der Reihenfolge der Wahlgänge an jenem schicksalsträchtigen Nachmittag des 20. Juni 1991 gewesen ist. Da wurde in einem mehrstufigen Verfahren im Deutschen Bundestag in Bonn über die künftige Hauptstadt abgestimmt. Und wie Leininger beweist, hätte bei einer anderen Reihenfolge der Abstimmungen nicht Berlin, sondern Bonn gewonnen (W. Leininger: The Fatal Vote: Bonn versus Berlin“, Finanzarchiv, Neue Folge, Heft 1, 1993, 1-20) .

Er war ein großer Aufklärer und Liberaler, schon früh in der französischen Revolution trat er mit der damals unerhörten Forderung hervor, dass die gerade proklamierten Bürgerrechte auch für Frauen gelten sollten.

Jean-Marie de Condorcet
1742 – 1794: Namensgeber unseres Blogs

Das ewige Verdienst, als erster auf solche Probleme hingewiesen zu haben, gebührt aber dem Marquis de Condorcet. Außer in der Mathematik hat er auch einen großen Fußabdruck in der Politik und in den Gesellschaftswissenschaften hinterlassen. Er war ein großer Aufklärer und Liberaler, schon früh in der französischen Revolution trat er mit der damals unerhörten Forderung hervor, dass die gerade proklamierten Bürgerrechte auch für Frauen gelten sollten, und in seiner Abhandlung vom Juli 1790  Sur l’admission des femmes au droit de cité sprach er sich für das Frauenwahlrecht aus. Mehr als 150 Jahre später wurde es dann in Frankreich, als einem der letzten Länder Europas, tatsächlich eingeführt. Auch gleiche Rechte für Farbige und die Abschaffung der Sklaverei gehörten zu Condorcets Forderungen. Seinen Landsleuten damals muss er wie aus der Zeit gefallen vorgekommen sein. Heute wissen wir, dass er einer der humansten und größten Denker  seines Jahrhunderts war.

Walter Krämer

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Schulreformen der Helvetik https://condorcet.ch/2022/03/schulreformen-der-helvetik/ https://condorcet.ch/2022/03/schulreformen-der-helvetik/#comments Wed, 02 Mar 2022 10:35:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=10617

Der bei uns weitgehend unbekannte Mathematiker, Philosoph und Aufklärer Jean Marie de Condorcet stand auch Pate beim Beginn des Aufbaus des schweizerischen Schulsystems. Der massgebliche Antreiber war Albert Stapfer, der sich im Wesentlichen auf die Entwürfe von Condorcet abstützte. Unser Haushistoriker Peter Aebersold ruft uns die atemberaubende Bildungsgeschichte der Helvetischen Republik noch einmal in Erinnerung und überrascht wieder einmal mit seinen Detailkenntnissen. Oder wussten Sie, dass um 1800 fast alle Schulabgänger lesen konnten?

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Philipp Albert Stapfer 1766 – 1840, Bildungsminister der Helvetischen Republik und massgeblich an der Entstehung des Kantons Aargau beteiligt. Wikipedia

Als französischer Revolutionsexport wurde mit dem Franzoseneinfall in der Alten Eidgenossenschaft die «Helvetische Republik» am 12. April 1798 ausgerufen und am 10. März 1803 aufgelöst.

Erziehungsräte und Schulinspektoren

Philipp Albert Stapfer, Minister der 1. Helvetischen Republik für Schöne Künste und Wissenschaften und späterer Botschafter in Paris befasste sich mit der Schulreform. Dazu wurde im Sommer 1798 in jedem Kanton ein achtköpfiger Erziehungsrat geschaffen, der unabhängig von der Kirche das Schulwesen des Kantons leiten sollte. Für jeden Distrikt wurde ein Schulinspektor ernannt. Weitere Pläne waren die Einführung eines dreigliedrigen Schulsystems mit Elementarschule, Industrieschule (Gymnasium) und einer Nationaluniversität. Auch sollte die allgemeine Schulpflicht durchgesetzt werden, dies als Voraussetzung für eine Republik. Einer seiner engsten Mitarbeiter im Ministerium war der aus Magdeburg stammende Heinrich Zschokke und auch mit Johann Heinrich Pestalozzi hatte er beruflich zu tun.

Orientierung an der Aufklärung

Marquis de Condorcet 1742 -1794: Seine Vorschläge wurden in der Helvetischen Republik umgesetzt.

Mit seinen Erziehungskonzepten und konkreten Reformplänen orientierte sich Stapfer auch an französischen Vorbildern wie Condorcet und verband deutsche und französische Aufklärung theoretisch und in einem praktischen Reformprogramm. Der Schulreformplan, den Stapfer der Regierung und dem Parlament vorlegte, war grösstenteils eine angepasste Kopie des Vorschlages, den Condorcet bereits 1793 der französischen Nationalversammlung vorgelegt hatte.

Die Orientierung an der Aufklärung charakterisierte die gesamte helvetische Regierung. Der Theologe Stapfer blieb mit seiner konstant christlichen Orientierung (Rolle der Geistlichkeit und der Kirche im neuen Staat) in einer Minderheitenposition. Die Regierung war auf aktuelles Wissen angewiesen, um ihre zentralstaatliche Politik gestalten zu können. Mit den Konzepten der „politischen Arithmetik“ (Young 1777) bzw. „sozialen Mathematik“ (Condorcet 1793) widmeten sie sich der Frage der effizienten Planung von Fortschritt und Perfektibilität (Vervollkommnungsfähigkeit), die bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Bildungswesen eine zentrale Rolle spielten.

Der Schulreformplan, den Stapfer der Regierung und dem Parlament vorlegte, war grösstenteils eine angepasste Kopie des Vorschlages, den Condorcet bereits 1793 der französischen Nationalversammlung vorgelegt hatte.

Pädagogische Vorstellungen der Helvetischen Gesellschaft

Die „Helvetische Gesellschaft” hatte in der Spätaufklärung vor allem in Süddeutschland und Frankreich das Renommee eines Modells aufklärerisch-reformerischen Wirkens. Viele namhafte Mitglieder bauten ihre pädagogischen Beiträge in der Gesellschaft auf ein breites Studium der pädagogischen Literatur, eigene Ausarbeitung und breite Korrespondenz über beides auf. Die pädagogische Auseinandersetzung ging weit über die Werke der „klassischen” Vertreter „schweizerischer” Pädagogik, Pestalozzi und Fellenberg hinaus.

Der Gegensatz von «instruction» und «education» wurde aufgehoben und dem Begriff der Öffentlichkeit gegenüber der Staatlichkeit eine Eigenständigkeit gegeben.

Stapfers Plan einer fortschreitenden Volksbildung waren dem Konzept von Condorcet ähnlich, unterschieden sich jedoch in der Begründung: Der Gegensatz von «instruction» und «education» wurde aufgehoben und dem Begriff der Öffentlichkeit gegenüber der Staatlichkeit eine Eigenständigkeit gegeben. Bezeichnend dafür war, dass die Gesellschaft nach den Kriegswirren und der Auflösung der Helvetischen Republik alles daransetzte, wenigstens die von Stapfer geplanten Bürgerschulen durch Umwandlung der ehemaligen kirchlichen Landschulen umzusetzen.

Der Vernunftbegriff, wie ihn Condorcet in der Tradition der Aufklärungsphilosphie entwickelt hatte und wie ihn auch die Helvetische Gesellschaft verstand, ist empirisch bestimmt. Der Staat dürfe sich keine Eingriffe in die inneren, freien und vernünftigen Zwecke der Schule erlauben, weil die Schule dem Staate nicht untergeordnet sei, sondern zur Seite stehen.

Die Bedeutung der sich bildenden Öffentlichkeit der Erziehung begründete die Gesellschaft mit dem ehemals besseren Zustand der Eidgenossenschaft und mit der Bedeutung der Erziehung aus der naturrechtlichen, vernünftigen Bestimmung des Menschen und seiner Entwicklungsfähigkeit. Weil der Mensch von Natur aus frei und vernunftbegabt sei, müsse und dürfe er nicht unterjocht, sondern entwickelt (neuer Begriff: erzogen) werden.

Der Vernunftbegriff, wie ihn Condorcet in der Tradition der Aufklärungsphilosphie entwickelt hatte und wie ihn auch die Helvetische Gesellschaft verstand, ist empirisch bestimmt. Der Staat dürfe sich keine Eingriffe in die inneren, freien und vernünftigen Zwecke der Schule erlauben, weil die Schule dem Staate nicht untergeordnet sei, sondern zur Seite stehen. Diese inneren Zwecke der Schule können nur aus der Öffentlichkeit der Vernunft hervorgehen und kritisiert werden, „je lauter und öffentlicher, desto besser” (Schulthess 1799). In Stapfers Erziehungsplan für die Helvetik wurden diese Vorstellungen übernommen, da „nichts den Fortgang der Kultur so belebt, als die Publizität” (Stapfer 1799). Neben der Institutionalisierung der Schule galt dieser Öffentlichkeit die Hauptanstrengung indem die Institution der Erziehungsräte geschaffen wurde, die ihr gegenüber dem Staat ein grösseres Gewicht geben sollte.

War der Staat nach französischem Vorbild streng zentralistisch, so blieben die Erziehungsräte föderalistisch.

Föderalistische Erziehungsräte zur Herstellung von Öffentlichkeit

Noch vor der Ausarbeitung des Erziehungsplanes setzte die Helvetische Regierung in allen Kantonen Erziehungsräte ein. Diese sollten das Gefäss sein, worin sich die Öffentlichkeit sammeln, sogar gegen den Staat bilden kann. War der Staat nach französischem Vorbild streng zentralistisch, so blieben die Erziehungsräte föderalistisch. War der Staat streng laizistisch – wie die neue staatliche Schule so sollten die Pfarrer in den Erziehungsräten mitarbeiten. Diese Räte sollten auch den inneren Gang jeder einzelnen Schule und der Institution insgesamt bestimmen, und zwar nach den Gesetzen der Vernunft (Stapfer 1799). Die Erziehungsräte dienten nicht nur als Vermittlung zwischen Regierung und Schule, Volk und Schule, sondern sie hatten eine eigenständige Funktion: nämlich der Öffentlichkeit Einlass in die Schule und der Schule Einlass in die Öffentlichkeit zu gewähren.

Die Schule sollte den «Citoyen» heranbilden, den Menschen für die Öffentlichkeit erziehen.

Dieser Vorstellung entsprach auch die Bestimmung der Aufgabe des neuen Schulsystems. Die unterste Stufe, die Bürgerschule, sollte allen Bürgern Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln, die es ihnen erlauben, sich beruflich, gesellschaftlich und dem Staat gegenüber vernunftgemäß zu verhalten. So war auch vorgesehen, jenen Bürgern, die nicht über die Kenntnisse der Volksschule verfügen, die staatsbürgerlichen Rechte zu entziehen. Die Schule sollte den «Citoyen» heranbilden, den Menschen für die Öffentlichkeit erziehen.

In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Helvetischen Republik wurden nicht nur diese Vorstellungen in die Helvetische Gesellschaft und ihren Konsens integriert, sondern die bestehenden Erziehungsräte konnten sich im Gegensatz zum Regime, das sie ins Leben rief, halten und wurden damit selbst zum Sammelpunkt der Öffentlichkeit und der pädagogischen Erneuerung bis zum liberalen Aufschwung. In diesem Aufschwung wurde diesem doppelt fixierten Verhältnis von Öffentlichkeit und Erziehung noch eine dritte Bestimmung zugeführt: dass Öffentlichkeit überhaupt erst durch Erziehung, das heißt Volksbildung und Nationalerziehung, entstehen könne.

Stapfer-Enquête

Um einen Überblick über den damaligen Zustand des Schulwesens zu erhalten, führte Stapfer im Januar 1799 bei allen Lehrern der Helvetischen Republik eine Umfrage (Stapfer-Enquête) durch. Sie war eine reichhaltige Momentaufnahme der Schweizer Schulverhältnisse jener Zeit, die ihresgleichen sucht und auch heute noch als historische Quelle dient.

Die Stapfer-Enquête im Appenzell

Die Enquête weist nach, dass Elementarschullehrer (wenige Lehrerinnen) in der Schweiz um 1800 meist sozial hoch geachtete, fachkompetente Spezialisten mit lebenslanger Amtsausübung waren. Entgegen landläufiger Klischees wies die Schweizer Elementarschullehrerschaft am Ende der Frühen Neuzeit trotz ihrer sozio-ökonomischen und konfessionellen Heterogenität eine Vielzahl von biografischen Gemeinsamkeiten auf und war weder von kollektiver Armut noch von sozialer Verachtung geprägt.

Rolle der Pfarrer im Schulwesen

Das Schulwesen war noch zur Zeit der Helvetik lokalpolitisch organisiert und unterlag weiterhin kirchlicher Obhut. Die Geistlichen waren lange Zeit die einzigen (akademisch) Gebildeten in den Landgemeinden. Obwohl Stapfer offiziell für die Ernennung neu zu wählender Lehrkräfte zuständig war, überliess er die Entscheidung den Pfarrern oder lokalen Beamten. Es war ihm bewusst, dass die Reformen ohne die Unterstützung der Kirche nicht durchgesetzt werden konnten.  Die bildungspolitischen Massnahmen waren für Stapfer die Grundvoraussetzung für das Überleben der Republik. Dazu gehörte auch die aktive Einbindung der Pfarrer in den Bildungsbetrieb.

Die Pfarrer erteilten den heranwachsenden Kindern einen weiterführenden Schreibunterricht, blieben Ansprechpartner für Schulmeister und Eltern, Vertrauensperson der Gemeinde, Vermittler behördlicher Erlasse und Schulordnungen und gehörten der neuen Schulaufsichtsbehörde als Schulinspektoren wie Jeremias Gotthelf an.

Die Pfarrer erteilten den heranwachsenden Kindern einen weiterführenden Schreibunterricht, blieben Ansprechpartner für Schulmeister und Eltern, Vertrauensperson der Gemeinde, Vermittler behördlicher Erlasse und Schulordnungen und gehörten der neuen Schulaufsichtsbehörde als Schulinspektoren wie Jeremias Gotthelf an. Die sahen die Antworten der Lehrer bei der Stapfer-Enquête durch und versahen sie mit Anmerkungen oder Zusätzen, da sie eine lesbare Schrift beherrschten und in der Rechtschreibung meist sicherer waren.

Pfarrer waren auch in der Lehrerausbildung tätig, wie Johann Rudolf Steinmüller in Rheineck (Kanton Säntis/St. Gallen), der nebenberuflich über 800 Jünglinge zu Lehrern ausbildete und eine Reihe von methodisch-pädagogischen Veröffentlichungen für Lehrer und Schulbücher veröffentlichte.

Lese- und Schreibunterricht als Einführung in bürgerliche Rechte und Pflichten

Während das Buchstabieren und Lesen von den Eltern noch vermittelt werden konnte, reichten deren Fähigkeiten im Schreiben und Rechnen oft nicht aus. Diese Lücke konnte nur die Schule schliessen, die auf Lehrer angewiesen war, die das Schreiben und Rechnen beherrschten. Das ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb die Schule immer wichtiger wurde und hierdurch zu einer progressiven Institution avancierte.

Kinder lernten den Umgang mit Feder, Tinte und Papier für das Schreiben.

Für die im deutschsprachigen Raum entwickelten pädagogischen Richtlinien zum Schreibenlernen in der Schule waren verschiedene Lehr- und Lernprozesse erforderlich. Neben der häuslichen Erziehung übernahm die Schule hierbei eine zunehmend grössere Rolle. Dort lernten die Kinder den Umgang mit Feder, Tinte und Papier für das Schreiben. Ziel des Schreibunterrichts war es, den Kindern das Federschreiben beizubringen und sie damit in ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten einzuführen, um aus „lallenden und hülflosen Zöglingen der Natur“ (Stapfer 1799) eigenständige und glückliche Bürger zu formen.

Für den Schreibunterricht kamen die Kinder mit fünf oder sechs Jahren in die Schule. Sie lernten  Buchstaben zu unterscheiden und wurden in die Buchstabiermethode eingeführt, durch die sie schliesslich auch lesen lernten. Ab dem achten Lebensjahr wechselten die Leseschüler in den Schreibunterricht. Schüler dieser Stufe hatten damit jene Voraussetzungen zu selbstbestimmten Bürgern zu werden, wie sie der Staat und seine Intellektuellen verlangte und brauchte.

Auf dieser Stufe wurden den Kindern Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze, zuweilen auch Zahlen vorgeschrieben und den fortschreitenden Schülern erst kleinere (religiöse Texte), dann grössere (literarisch, historisch, naturkundliche) Schreibvorlagen (handschriftlich oder Kupferstiche) vorgelegt.

Der Schreibunterricht in der Schweiz um 1800 war auf dieser Stufe für viele Kinder beendet, weil sie als Arbeitskräfte in der Familie gebraucht wurden oder eine Handwerkslehre begannen.

Stapfer schwebte dabei folgendes vor: „Der Elementarunterricht in den Bürgerschulen sollte sich freylich auf alle Kenntnisse und Übungen erstrecken, ohne welche der Mensch nie zum vollen Gefühl seiner Würde und Bestimmung, der Bürger nie zur genauen Kenntnis seiner Rechten und Pflichten gelangt“.

Der Schreibunterricht in der Schweiz um 1800 war auf dieser Stufe für viele Kinder beendet, weil sie als Arbeitskräfte in der Familie gebraucht wurden oder eine Handwerkslehre begannen. Der Schreibunterricht für fortgeschrittene Schüler zwischen 12 und 17 Jahre war didaktisch und inhaltlich komplex. Die Lehrer diktierten und liessen ihre Schüler anspruchsvolle Vorlagen und Alphabete nachschreiben, aus gedruckten Büchern abschreiben, Briefe und Aufsätze abfassen. Die Rechtschreibung rückte in den Mittelpunkt der Übungen. Der weiterführende Schreibunterricht bot begabten und lernwilligen Kindern die Möglichkeit sich zu vervollkommnen, indem man sie in ihre bürgerlichen Pflichten einführte und sie „nützliche Sachen“ abschreiben ließ. Für unentbehrlich hielt man Vorschriften mit alltagspraktischen Inhalten, deren Beherrschung im bürgerlichen Leben hilfreich sein konnten (Aufsetzen einer Quittung, eines Schuldscheines, einer Rechnung, eines Kauf- oder Tauschbriefes).

Um 1800 konnten alle Schweizer lesen (vollständig alphabetisiert), wenn sie die Schule verliessen, die Mädchen etwas besser.

Diese Textvorlagen waren bei den Schülern so beliebt, dass sie ein Schreiblehrer im Oberemmental hinter Glas fasste. Wer diese Dinge beherrschte, hatte Korrespondenzfähigkeit und war für das berufliche Fortkommen gewappnet. Stapfers ambitionierter Schulreformplan wurde vom Parlament auf ein Mindestmass zurechtgestutzt und konnte im Vorfeld des Zweiten Koalitionskrieges nicht mehr umgesetzt werden.  Seine während der Helvetischen Republik ausgearbeiteten Ideen im Bildungsbereich, die ihrer Zeit teilweise weit voraus waren, wurden durch andere erfolgreich umgesetzt:

Um 1800 konnten alle Schweizer lesen (vollständig alphabetisiert), wenn sie die Schule verliessen, die Mädchen etwas besser. Schreiben konnten noch nicht überall gleich viele, in den Städten jedoch fast 100% der Knaben und Mädchen. 1829 waren noch 17.5% der Rekruten Analphabeten, aber bereits 1835 konnten 95% der Rekruten sowohl lesen als auch schreiben.

Quellen:

Fritz Osterwalder: Die pädagogischen Vorstellungen in der Helvetischen Gesellschaft und die
Französische Revolution. Über die Zusammenhänge von
Nationalerziehung, Volksbildung, Staatsschule und Öffentlichkeit, Beltz Basel 1989

Daniel Tröhler (Hrsg.): Volksschule um 1800. Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799

https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Rudolf_Steinm%C3%BCller Johann Rudolf Steinmüller

https://stapferenquete.ch/  Stapfer-Enquête 1799

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Ein Plädoyer für die Fächer https://condorcet.ch/2021/12/ein-plaedoyer-fuer-die-faecher/ https://condorcet.ch/2021/12/ein-plaedoyer-fuer-die-faecher/#respond Mon, 27 Dec 2021 09:33:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=10213

Der Genfer Professor Bernard Schneuwly, der bei der Entstehungsgeschichte unseres Bildungsblogs Pate stand und uns allen die Bedeutung des Marquis de Condorcet bewusst machte, stellte uns ein wichtiges Bildungsdokument aus seiner Werkstatt zur Verfügung. Es geht um die Bedeutung der Fächer, die er als Garant für die Universalität der Bildung hält. In einer Zeit, in der Fächer aufgehoben, Kombinationen wie ERG, NMG, RGM die Runde machen und überfachliche Kompetenzen gepredigt werden, setzt Bernard Schneuwly einen deutlichen Kontrapunkt und weist nach, dass damit auch der Bildungsbegriff verwässert zu werden droht.

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Bernard Schneuwly, emer. Professor für Pädagogik in Genf. Er war der Gastreferent bei der Gründungsversammlung des Condorcet-Blogs am 18. Mai 2019 in Bern

Der Begriff der Bildung, maßgeblich von Wilhelm von Humboldt entwickelt, und derjenige der instruction, entscheidend vom Marquis de Condorcet definiert, prägen bis heute die Schule in deutsch- und französischsprachigen Kulturen. Sobald Bildung/instruction für alle durch öffentliche Institutionen garantiert wird, setzt sich das Schulfach als allgemeines Prinzip der Ordnung schulischen Wissens durch. Ich vertrete die These, dass das Schulfach die sozio-historische Form des modernen Schulsystems darstellt, in der der Begriff „Bildung/instruction“ sich in widersprüchlicher Art und Weise ständig weiterentwickelt hat. Ausgehend von der von Humboldt geprägten Definition von Bildung, die in Condorcets Begriff der „instruction“ gespiegelt wird, diskutiere ich vier Thesen:

1. Der Kanon der Schulfächer bietet Schülern, Humboldts und Condorcets Begriffe zum Teil realisierend, eine „Mannigfaltigkeit von Situationen“ zur Entwicklung von Fähigkeiten.

2. Schulfächer sind Gebilde, die widersprüchliche Erwartungen an Schule integrieren: Bildung als
Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, Kontrolle des Denkens und Verhaltens als „governing de soul“; nationale Kohäsion, Auslese und Unterscheidung von Schülern.

3. Die Tatsache, dass die Schulfächer allen Schulstufen gemeinsam sind, macht
es möglich, dass Wissen und Können mehr Schülern zugänglich gemacht werden kann, als dies zuvor der Fall gewesen ist.

4. Schulfächer verbinden globale, universale mit lokalen und regionalen Inhalten und Zielen.

Marquis de Condorcet 1742 -1794: Jedem die Möglichkeit gewährleisten…
Willhelm von Humboldt, 1767 – 1835: Schulfächer sind vielschichtige, historisch gewachsene Gebilde.

1. Einleitung
Seit über 150 Jahren heißen in der deutschen Schweiz die meisten den deutschen Kultusministerien analogen Institutionen „Bildungsdepartement“, und in der französischen Schweiz „départements de l’instruction publique“. Dies verweist auf eine lange Geschichte, die sich in den vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen, oft gesellschaftlich umkämpften Bedeutungen dieser beiden Wörter niedergeschlagen hat, die die Diskurse über Schule als hauptsächliche gesellschaftliche Anstalt für die Ermöglichung und Beförderung der Bildung und der instruction beeinflussten. Sie beinhalten zentrale Anliegen, die mit Demokratie und Gleichheit zu tun haben, auch wenn sie zugleich ihr Gegenteil einschließen können. Die Institutionen mit ihren bedeutungsbeladenen Namen entstehen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ungefähr gleichzeitig mit der Verallgemeinerung der Ordnung des zu lehrenden und lernenden Wissens und Könnens durch Schulfächer.

Schulfächer sind vielschichtige, historisch gewachsene Gebilde.

Diese Gleichzeitigkeit ist mehr als anekdotisch: Bildung und Schulfach, instruction und discipline scolaire stehen seit dem Entstehen der modernen Schulsysteme in einem engen Zusammenhang. In vorliegendem Beitrag bestimme und illustriere ich einige zentrale Aspekte dieses Zusammenhangs. Dafür skizziere ich in einem ersten Schritt den Begriff der Bildung und kontrastierend dazu denjenigen der instruction. Ich zeige dann auf, dass Schulfächer Resultat der Entwicklung der modernen Schulform sind, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte und gebe eine erste, allgemeine Definition des Schulfachs, die ich auf der Grundlage einer kurzen Darstellung der Hauptthesen zweier gegensätzlicher Ansätze der Geschichte von Schulfächern vertiefe und präzisiere. Darauf aufbauend beschreibe ich wesentliche Dimensionen des Verhältnisses von Bildung und Schulfach in vier Thesen, die ich in den darauf folgenden Teilen vertiefe und durch Resultate wissenschaftlicher Arbeiten illustriere:

1. Die Organisation in Schulfächer garantiert „Mannigfaltigkeit von Situationen“ (Humboldt), und geht in Richtung des „ganzen Systems menschlicher Kenntnisse“ (Condorcet).
2. In Schulfächern sind zentrale Elemente der Bildung in widersprüchlicher Form aufgehoben. Diese Elemente sind Ausdruck der Multifunktionalität des Schulsystems: Schulfächer sind Kampfplätze.
3. Aus der Veränderbarkeit der Schulfächer ergibt sich die Möglichkeit, mehr Schülern Zugang zu breiterem Wissen zu geben.
4. Das institutionelle Gefäß „Schulfach“ bietet die Möglichkeit, lokale, regionale oder nationale mit universalen Ansprüchen an Bildung zu verbinden.

Bernard Schneuwly, Genf

Den ganzen Teil der Überlegungen von Herrn Schneuwly können Sie hier herunterladen.

Schulfächer_Vermittlungsinstanzen-1

 

 

 

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Buchbesprechung: «Condorcets Irrtum» von Per Molander https://condorcet.ch/2021/10/buchbesprechung-condorcets-irrtum-von-per-molander/ https://condorcet.ch/2021/10/buchbesprechung-condorcets-irrtum-von-per-molander/#respond Wed, 13 Oct 2021 08:06:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=9522

Wenn ein renommierter Autor ein Buch über den Philosophen Jean-Marie de Condorcet schreibt, weckt dies natürlich unter den Freunden unseres Bildungsblogs Interesse. Und wenn der Titel des Buches «Condorcets Irrtum» heisst, ist die Neugierde besonders gross. Immerhin ist unser Blog dem Aufklärer und Mathematiker Jean-Marie de Condorcet und seiner Frau Sophie de Condorcet gewidmet. Alain Pichard hat das Buch gelesen und stellt es unserer Leserschaft vor. Sein Fazit vorneweg: Wir müssen den Namen nicht ändern.

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Alain Pichard, pens. Lehrer Sekundarstufe 1: Condorcet betrieb keine deterministische Geschichtswissenschaft.
Per Molander, Mathematiker, Buchautor, Berater: Condorcet war zu optimistisch.

Per Molander ist ein schwedischer Mathematiker und war in leitenden Positionen für die schwedische Regierung, den IWF und die Weltbank tätig. Er hat bereits eine imposante Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten veröffentlicht und gilt in Schweden als anerkannter Fachmann für Sozialpolitik. Man durfte sehr gespannt sein, weshalb Per Molander sich an der Person Condorcets abarbeitete.

Der Untertitel des Buches «Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann» verrät eine Programmatik, die sich bei der Lektüre immer aufs Neue bestätigt. Per Molander vertritt klassische sozialdemokratische Positionen vornehmlich skandinavischer Prägung. Was diese Ausgangslage mit Jean-Marie de Condorcet zu tun hat, erschliesst sich dem Leser oder der Leserin zu Beginn kaum. Denn Molander schwärmt in höchsten Tönen vom französischen Aufklärer, nennt ihn einen brillanten Mathematiker, einen aufrechten Demokraten, einen wahren Humanisten.

«Bei keinem anderen Philosophen der Aufklärung lässt sich ein derart entwickeltes Bild der modernen Gesellschaft finden und seine Forderungen waren seiner Zeit weit voraus. Ein allgemeines und obligatorisches Bildungssystem, Gleichstellung von Frauen und Männern, sozio-ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse und sogar der Entwurf einer Sozialversicherung sind in seinem Katalog enthalten (S. 9)»

Nur wenig über Sophie der Condorcet

Buchtitel “Condorcets Irrtum”: Molander ist es hoch anzurechnen, diesen grossen Denker einem breiten Publikum bekannt zu machen.

Das Buch beginnt denn auch mit einem Porträt des Aufklärers, das die wesentlichen Stationen seiner Laufbahn und seines Wirkens kompakt zusammenfasst. Seine Tätigkeit als Berater von Turgot, dem später geschassten Finanzminister unter Ludwig XVI, lässt er aus. Er konzentriert sich auf die Zeit der Französischen Revolution und beschreibt mit unverhohlener Bewunderung die Leistung, die Standfestigkeit und die Weitsicht dieses Mannes. Schade, dass Molander nur sehr kurz die Frau an seiner Seite, Sophie de Condorcet, erwähnt. Auf ihre Rolle ist bereits 1988 im Buch des Ehepaars Badinter «Condorcet – un intellectuel en politique» hingewiesen worden. Sophie de Condorcet, deren hervorragenden Englischkenntnissen die französischen Intellektuellen wie Voltaire, D’Alembert und eben auch Condorcet die Übersetzungen von Thomas Paines und Adam Smith’ Schriften verdanken, hatte einen grossen Einfluss auf das Denken von Condorcet. Sie führte einen der berühmten Salons, wo man sich traf, diskutierte und in denen auch Leute wie Thomas Jefferson und Benjamin Franklin verkehrten.

Molander hebt immer wieder den Einsatz von Condorcet für die Installierung eines für alle zugänglichen Bildungssystems hervor. Dessen Entwürfe waren – nebenbei vermerkt – auch für die Helvetische Republik und die Gründung unserer Volksschule von zentraler Bedeutung.

«Er betont, dass Bildung nicht nur darauf ziele, nützliche Sachen zu lernen und Fertigkeiten zu trainieren, sondern auch und vor allem darauf, Kinder und Jugendliche zu selbständigen (mündigen) Individuen zu erziehen, die in der Gesellschaft ihre angeborenen Fähigkeiten entfalten und ihre Rechte verteidigen können.» (S.59)

Natürlich darf die Schilderung seiner Standfestigkeit, mit der er gegen die Todesstrafe des Königs stimmte, nicht fehlen. Sein verzweifeltes Anrennen gegen die zunehmende und blutrünstige Radikalität der jakobinischen Herrschaft, seine Verurteilung und schliesslich sein tragischer Tod werden präzis wiedergegeben. Nicht unerwähnt bleibt auch Condorcets Widerspruch zu Rousseau und seiner «volonté générale».

Er war überzeugt, dass die Ideale der Aufklärung sich mehr oder minder automatisch verwirklichen liessen, wenn die Bevölkerung das Joch des «Ancien Régime» abgeschüttelt hätte und Zugang zu einer Allgemeinbildung erhielte, was den Erwerb von Lesen und Schreiben implizierte.

Letzthin aber war und blieb Condorcet ein Optimist. Er war überzeugt, dass die Ideale der Aufklärung sich mehr oder minder automatisch verwirklichen liessen, wenn die Bevölkerung das Joch des «Ancien Régime» abgeschüttelt hätte und Zugang zu einer Allgemeinbildung erhielte, was den Erwerb von Lesen und Schreiben implizierte.

Und genau dieser Hypothese hat Per Molander sein Buch gewidmet. Er interpretiert sie deterministsch und spricht von einem kolossalen Irrtum. Mit dem Satz «Und doch unterschätzte er das Problem» verlässt Molander das Wirken unseres Namensgebers bereits auf S. 59 und wendet sich zuerst einer Geschichte der Philosophie und der europäischen Expansion zu, um anschliessend in die aktuelle Auseinandersetzung über die Rolle des Staates einzusteigen.

Baruch de Spinoza: in seiner Rationalität und Radikalität epochal.

Das ist nicht uninteressant, vor allem, wenn man an den philosophischen Erkenntnissen der vorrevolutionären Zeit interessiert ist. Hier widmet Per Molander dem jüdisch-niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza ein spannendes Kapitel. Die Rationalität und Radikalität, mit der Spinoza die Rolle der Religion, insbesondere der Bibel analysierte, ist für Per Molander epochal und soll auch Condorcet massgeblich beeinflusst haben.

Trotz der offensichtlichen Programmatik und der klar staatsfreundlichen Haltung, schreibt der Autor ausgesprochen sachlich und  unaufgeregt über diese Entwicklungen, was dem Buch sehr gut tut.

Beeindruckendes Quellenverzeichnis

Danach folgt – wie erwähnt – die Auseinandersetzung mit der Moderne. Per Molander zeigt sich hier besorgt über die staatsfeindlichen Tendenzen und zieht einen grossen Bogen von den

Milton Friedman, neoliberaler Ökonom: stellte den starken Staat in Frage.

faschistischen, kommunistischen Exzessen bis zu den neoliberalen Attacken eines Milton Friedmann oder eines August von Hayek. Er beschreibt die neuen EU-feindlichen Parteien, den aufkommenden Populismus und das Erstarken der neuen Rechten. Nüchtern legt er dar, wie auch die Sozialdemokraten zusehends in die Mühlen des neoliberalen Denkens gerieten und nach Wahlsiegen die Politik einer Frau Thatcher weiterführten. Molander setzt sich dabei durchaus fair mit den Ideen und Theorien der staatskritischen Denker auseinander, versucht sie dann aber anhand von Studien, die er eifrig zitiert, zu widerlegen. Eines muss man dabei klar feststellen. Trotz der offensichtlichen Programmatik und der klar staatsfreundlichen Haltung schreibt der Autor ausgesprochen sachlich und  unaufgeregt über diese Entwicklungen, was dem Buch sehr gut tut. Das Quellenverzeichnis (fast 60 Seiten!) weist ihn als einen äusserst belesenen und sachverständigen Autor aus. Wer sich auf hohem Niveau mit der Rolle des Staates und seiner Vordenker auseinandersetzen will, für den ist dieses Buch zweifellos ein Gewinn. Manchmal scheint er zu viel zu wollen. So geht er mit dem Begriff «neoliberal» zu wenig differenziert um und seine Aussagen über Nietzsche sind gar etwas oberflächlich geraten.

Elisabeth Badinter, Autorin: Condorcet betrieb keine deterministische Geschichtsphilosophie.

Den entscheidenden Fehler aber macht Molander, wenn er Condorcets Sicht einer automatischen Progression des Humanismus aufgrund heutiger die Demokratie gefährdender Entwicklungen als Irrtum abtut. Condorcet, das zeigt auch Elisabeth und Robert Badinters Buch («Condorcet – Un intellectuel en politique», 1988) wie auch die Analysen von Fritz Osterwalder («Condorcet – eine demokratisch und öffentlich legitimierte Bildungstheorie». In: Grundlagen der Weiterbildung, 5 (1), S. 36-38, 1994), hatte bei weitem nicht die starre Geschichtsprogrammatik eines Karl Marx oder Friedrich Engels. Condorcet schloss Rückschläge nie aus, er mahnte wohl einfach einen längeren Atem in der Menschheitsgeschichte an. Den Satz, den Molander eingangs formuliert:

«Die Ideale der Aufklärung lassen sich nie endgültig realisieren. Jede Generation muss sie aufs Neue verteidigen und weiterentwickeln» (S.10)

hätte vermutlich auch Condorcet unterschrieben.

Insgesamt ist die Lektüre dieses Buches zu empfehlen: Es ist Per Molander hoch anzurechnen, dass er die Bedeutung dieses grossen Denkers, der in unseren Weiten kaum bekannt ist und in unseren Medien sträflich vernachlässigt wird, erkennt und würdigt. Molander erweist sich dabei als Anwalt der «Aufklärung», was in der heutigen Zeit nicht selbstverständlich zu sein scheint. Doch diese Haltung teilen ja auch die meisten Leserinnen und Leser unseres Blogs.

Das Buch von Per Molander umfasst 335 Seiten (darunter 60 Seiten Quellenangaben und ein umfangreiches Namens- und Sachregister) und ist im Verlag «Westend» erschienen.

 

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Wann gilt ein Bildungssystem als demokratisch? https://condorcet.ch/2021/08/wann-gilt-ein-bildungssystem-als-demokratisch/ https://condorcet.ch/2021/08/wann-gilt-ein-bildungssystem-als-demokratisch/#comments Tue, 31 Aug 2021 09:51:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=9241

Nach dem Beitrag von Condorcet-Autorin Yasmine Bourgeois über die Entmündigung des Stimmbürgers in Bildungsfragen beschäftigt sich nun unser "Haushistoriker" Peter Aebersold grundsätzlich mit der staatsrechtlichen Problematik der Bildungsausfsicht. Der Befund von Peter Aebersold ist klar!

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Aus der Perspektive einer demokratischen Organisation des Bildungssystems müssen drei Grundanforderungen erfüllt sein, damit es als demokratisch bezeichnet werden kann: Erstens eine Bildung für alle im Sinne der Rechtsgleichheit, zweitens eine Selektion aufgrund von schulischen Leistungen und drittens müssen die Instanzen, an die Kompetenzen delegiert werden, demokratisch legitimiert und kontrolliert werden. Letzteres gilt auch für Handlungsinstanzen wie Schulleitungen oder autonome Schulen.

Heinrich Grunhozer (1819 – 1873): Die Schule unserem Volke und der Jugen bekanntmachen.

Heinrich Grunholzer, einer der bekanntesten Vertreter der demokratischen Volksbildung in der Schweiz im 19. Jahrhundert sah deren Aufgabe folgendermassen: «Es ist die Aufgabe eines jeden Freundes der Volksbildung, unsere republikanischen Institutionen, unsere Verfassung und staatlichen Einrichtungen unserer Jugend und unserem Volke bekannt zu machen.» Die Schule wurde im 19. Jahrhundert von den liberalen Staatsgründern als «republikanische Institution» konzipiert. Das Wissen um die demokratische Konzeption und Legitimation der Schule kann trotz politischem Unterricht in der Schule bei den heutigen Diskussionen um Privatisierung, Autonomisierung und Ökonomisierung der Schule (New Public Management) offenbar nicht mehr vorausgesetzt werden.

Wie also steht es um die institutionelle Verfasstheit der Schule, wenn man staats- und verwaltungsrechtliche Überlegungen in den Vordergrund stellt?

In den 1830er Jahren wurden in vielen Kantonen liberale Verfassungen eingesetzt, welche das Volk als Souverän bezeichneten, ein Parlament als dessen Stellvertreter vorsah, Rechtsgleichheit einführten und die Vorrechte von Stand und Geburt abschafften. Diese Entwicklung wurde 1848 im neu gegründeten Bundesstaat schweizweit nachvollzogen. Die Rechtsgleichheit aller Bürger versuchte man mit einem modernen Bildungssystem umzusetzen.

Ludwig Snell (1785-1854): Republikanische Verfassungen brauchen ein gebildetes Volk.

Es war allgemein anerkannt, dass republikanische Verfassungen notwendig «ein Volk verlangen, welches einen Grad von Ausbildung zur Vernunft besitzt, der Freiheit und Humanität des Staates gewährleistet. Das in geistiger Hinsicht ein freies und selbständiges Urteil fällen kann und das in sittlicher Hinsicht so viel Selbstverleugnung erbringt, dass es im Stande ist, das Privatinteresse dem allgemeinen Wohl unterzuordnen» (Ludwig Snell 1834). Der Grundsatz der Rechtsgleichheit hat zu einer Totalreform der Volksbildung geführt, die auf der Grundlage von Vernunft und Freiheit beruht. «Der oberste Zweck aller öffentlichen Erziehung ist demnach: alle werdenden Bürger der allgemeinen gleichen Menschenbestimmung entgegen zu führen – oder mit anderen Worten: sie alle zur Würde freier Vernunftwesen auszubilden» (Ludwig Snell 1840).

Die Schulpflicht war bereits in den Landschulordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts verankert. Nun wurden die Instrumente zur Durchsetzung etabliert und das Schulsystem ausgebaut. Um die Bildung aller, mit den Zugängen zu mittleren und höheren Schulen, zu gewährleisten, mussten diese Schulen flächendeckend erst gegründet werden, wobei das Gymnasium vorerst ein Vorrecht der Städte blieb. Um die Landbevölkerung nicht zu benachteiligen, konnte etwa die Universität Bern um 1850 auch schon nach Abschluss einer Sekundarschule besucht werden.

Der Bildungsausbau und die Idee der Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit gehörten zum Kernprogramm der liberalen und radikalen Staatsträger des 19. Jahrhunderts.

Chancengleichheit: Zugang zur Bildung für alle

Der Bildungsausbau und die Idee der Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit gehörten zum Kernprogramm der liberalen und radikalen Staatsträger des 19. Jahrhunderts. Es war jedoch nie deren Meinung, dass jedermann die Universität besuchen solle. Zum politischen Programm gehörte auch, dass Stellung und Position in der Gesellschaft nicht mehr durch Stand und Geburt, sondern durch Leistung zugeteilt werden solle. Weil dies auch für die Bildungs- und Lebenschancen gelten soll und gleichzeitig allen, aus naturrechtlichen und staatspolitischen Gründen, zukommen soll, ergibt sich dadurch ein doppeltes Regelungsproblem, das auch heute noch für bildungspolitische Diskussionen sorgt: Um Bildung für alle zu ermöglichen, muss erstens ein «Bildungssockelniveau» für alle festgelegt werden, zweitens müssen die Zugänge zu höheren Bildungsinstitutionen etabliert werden, die nicht von allen, sondern nach erbrachten Leistungen besucht werden können. Damit ersetzt das moderne Bildungssystem die Vorrechte von Geburt und Stand durch die Leistung.

Die Verfassungen garantieren zwar Rechtsgleichheit, jedoch nicht Gleichheit der Individuen.

Die Verfassungen garantieren zwar Rechtsgleichheit, jedoch nicht Gleichheit der Individuen. Da sich Leistungsmöglichkeiten und Leistungsgrenzen individuell unterscheiden, ergeben sich daraus die Fragen, wieviel Bildung allen zu kommen soll und wie der Zugang zur höheren Bildungsinstitutionen geregelt werden soll.

Wieviel Bildung kommt allen zu, unabhängig von ihren Leistungsmöglichkeiten und -grenzen?

Die neunjährige Volksschulzeit als Bildungssockelniveau (Sekundarstufe I) konnte in der Schweiz nach 150jährigem Kampf während der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit durchgesetzt werden. Für eine reale Chance auf dem heutigen Arbeitsmarkt ist jedoch eine Ausbildung auf der Sekundarstufe II (Berufs- und Mittelschulen) quasi obligatorisch. 90% der Jugendlichen haben einen Abschluss auf Sekundarstufe II. Für die übrigen 10% wurden niederschwellige Ausbildungsangebote geschaffen.

Wie wird der Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen demokratisch geregelt?

Das moderne Bildungswesen hat die Mechanismen Selektion und Berechtigung eingeführt, um unter den Bedingungen der Rechtsgleichheit auf unterschiedliche Berufe und soziale Positionen vorzubereiten. Damit soll mit derselben Ausbildung auf unterschiedliche Berufe vorbereitet und allen dieselbe Ausbildung (bis zum Universitätsabschluss) ermöglicht werden.

Das Selektionsproblem, das beim alten ständischen System der Schule vorgelagert war, wurde nun in die Schule hineinverlagert und dort seit 1830 mit einer Selektion von Schulstufe zu Schulstufe.

Das demokratische Schweizer Schulsystem wurde von Condorcet übernommen

Im Zuge der Demokratisierung wurde das traditionelle ständische Modell mit der vertikalen Gliederung, das für unterschiedliche Berufe unterschiedliche Schultypen von der Einschulung an vorsah, allmählich in ein horizontal gegliedertes Schulsystem umgewandelt. Dieses moderne, demokratische System, das der Schweizer Schulrefomer Grégoire Girard von Condorcet übernommen hatte, brachte das Problem von Selektion und Berechtigung zwischen den Schulstufen. Das Selektionsproblem, das beim alten ständischen System der Schule vorgelagert war, wurde nun in die Schule hineinverlagert und dort seit 1830 mit einer Selektion von Schulstufe zu Schulstufe. Wer die Selektion nicht schaffte, verliess die Schule und wechselte in die Arbeitswelt. Mit der allmählichen Verlängerung der Schulpflicht wurden unterschiedliche Schultypen geschaffen, die wiederum die Notwendigkeit auf Selektion erhöhten.

Reduktion der Selektivität

In neuerer Zeit wurden im Selektionsbereich tiefgreifende Veränderungen vorgenommen: Selektionshürden wurden abgebaut, Selektionsinstanzen werden anders gewichtet, die Selektion wurde von der Gesamtnote auf die Hauptfächer eingegrenzt und zusätzlich weiche Kriterien wie die Sozial- und Selbstkompetenz einbezogen. Diese Entwicklungen sind für ein demokratisches Bildungssystem an und für sich schon problematisch.

Mit dem Übergang zur Kompetenzorientierung werden der Selektion die Grundlagen völlig entzogen: Erstens können die Leistungen nach Fächern nicht mehr gemessen werden, weil die Fächer abgeschafft werden und zweitens bleibt die Ableitung der Zeugnisnoten von den Kompetenzen ein Ermessensentscheid und kann weder mathematisch noch sonst wie nachvollzogen und kontrolliert werden, womit die Rechtsgleichheit nicht mehr gegeben ist.

Mit der Reduktion der Selektivität schleicht sich die Schule und die Lehrprofession aus der Verantwortung für die Zuweisung von gesellschaftlichen Chancen durch Bildung davon. Damit entsteht nicht eine klassenlose Gesellschaft ohne Hierarchie, wie man Ende der 1960er Jahr noch glaubte, sondern die Selektion wird von den kompetenzorientierten Bildungseinrichtungen zu den nachfolgenden Institutionen (Gymnasium, Hochschule, Lehrbetrieb usw.) verschoben. Diese müssen sich, weil Kompetenzbenotungen wenig aussagefähig sind, mit Zugangsprüfungen Klarheit verschaffen, womit die Chancengleichheit nicht mehr gewährleistet ist. Die Frage ist nicht, ob durch Selektion gesellschaftlichen Positionen zugewiesen werden oder nicht, dies geschieht so oder so.

Geringere Selektivität macht das Bildungssystem nicht gerechter.

Wer selektioniert mit welcher Legitimation?

Die Lehrerschaft ist durch ihre Ausbildung für die Durchführung der Selektion am besten qualifiziert und kennt die Schüler und ihr persönliches Umfeld. Diese Funktion ist mit viel Sozialprestige verbunden und machte einen wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Einflusses der Lehrerschaft aus. Wird diese Funktion nicht wahrgenommen, schadet es dem Beruf und der Schule als Institution. Die Öffnung des Bildungssystems durch die Reduktion der Selektivität erhöht die Chancen der unteren Sozialschichten nicht, sondern der Zugang zur höheren Bildung wird für alle erleichtert bzw. das notwendige Leistungsniveau wird herabgesetzt. Geringere Selektivität macht das Bildungssystem nicht gerechter.

Mechanismus der Berechtigungen

Neben der Selektion gibt es die Berechtigungen, die die Selektion ersetzen können. Die Selektion erfolgt bei den Berechtigungen nicht durch die aufnehmende sondern durch die abgebende Institution. In der Schweiz ist das klassische Beispiel die Matur, weil sie zu einem allgemeinen Hochschulzugang (ohne Zugangsprüfung) berechtigt. Das Problem in Sinne einer demokratischen Regelung bei den Berechtigungen ist, dass sie bei den verschiedenen Ausbildungstypen auf der Sekundarstufe II nicht einheitlich geregelt sind. Das Gymnasium hat aufgrund der von ihm definierten Eingangsselektion und abgebenden Berechtigung eine starke Position im Schweizer Bildungswesen und weil es ihm bisher gelungen ist, die Selektivität hoch zu halten.

Condorcets Ideen zielten in die Richtung einer unabhängigen Gewalt (Edukative), die die öffentliche Kontrolle der Bildungsinstitutionen gegenüber den drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) gewährleisten sollte.

Selektion und Berechtigung aufgrund von Leistung ist die notwendige Ergänzung des Bildungssystems zur Forderung nach Bildung für alle. Nur beide Prinzipien zusammen ermöglichen die Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit sowie die Berücksichtigung der individuellen Unterschiede im System ohne falsche Nivellierung. Nur zusammen ermöglichen sie ein Bildungssockelniveau für alle flächendeckend zu realisieren und gleichzeitig die Lernstarken zu fördern sowie eine faire Zuweisung von Bildungschancen auf objektivierbaren Kriterien.

Weiche Kriterien für Selektionsabbau

Demokratische Bildungspolitik und öffentliche Kontrolle

In einer Demokratie gibt es drei zentrale Grundprinzipien zur Machtausübung: Erstens muss die Macht demokratisch legitimiert sein, zweitens muss sie durch Teilung beschränkt werden und drittens muss sie mit verschiedenen Mechanismen kontrolliert werden können. Die Kontrolle der Kompetenzen durch demokratische Mechanismen waren eine der Stärken der traditionellen Bildungsorganisation. Die theoretische Begründung dieses Modells geht auf Condorcet zurück und wurde in der Helvetik im Projekt für die öffentlichen Schulen übernommen und in den 1830er Jahren in den liberalen Kantonen eingeführt. Condorcets Ideen zielten in die Richtung einer unabhängigen Gewalt (Edukative), die die öffentliche Kontrolle der Bildungsinstitutionen gegenüber den drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) gewährleisten sollte.

Zentraler Aspekt ist die Legitimation der einzelnen Instanzen und deren Kompetenzen (Entscheidungsbefugnisse) im System. Der Grad der Öffentlichkeit hängt vom Verhältnis zwischen der direkten Legitimation durch Volkswahl und der abgeleiteten Legitimation ab und welche Kompetenzbereiche direkt und welche nur indirekt demokratisch legitimiert sind. Instanzen mit wichtiger bildungspolitischer Steuerungs- und Kontrollfunktion werden normalerweise durch Volkswahl legitimiert. Neben Parlament und Regierung sind in den kantonalen Schulsystemen auch die Schulpflegen/-kommissionen (auf kommunaler Ebene) direkt-demokratisch legitimiert. Letztere bilden zusammen mit den von den kantonalen Verwaltungen eingesetzten Schulinspektoraten die Schulaufsicht.

Die Legimitation

Die Bildungsverwaltung und die Lehrerschaft haben nur eine abgeleitete Legitimation. Die Verantwortung für die Steuerung des Systems liegt bei den demokratisch legitimierten Instanzen, denen diejenigen mit abgeleiteter Legitimation hierarchisch untergeordnet sind. Für die abgeleitete Legitimation (Verwaltung, Lehrerschaft, Schulleitung) besteht normalerweise eine Rechenschaftspflicht. Macht- und Steuerungsmittel der Lehrerschaft sind der Unterricht nach Lehrplan, die Möglichkeit von Schwerpunktsetzungen, die freie Methodenwahl sowie die Selektion und Berechtigung, wobei ihr im Umfang der Reduktion der Selektivität Steuerungsmöglichkeiten entzogen werden.

Die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens, im Sinne eines sozialen Ausgleichs, ist von der öffentlichen Kontrolle und der demokratischen Legitimation abhängig.

Die Instanzen mit abgeleiteter Legitimation werden in der Regel durch ihre übergeordneten Instanzen mit direkter demokratischer Legitimation kontrolliert. Kompetenzdelegation ist immer mit Kontrolle verbunden, die damit die Kompetenzdelegation demokratisch legitimiert. Die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens, im Sinne eines sozialen Ausgleichs, ist von der öffentlichen Kontrolle und der demokratischen Legitimation abhängig.

Konsequenzen für eine demokratische Organisation des Bildungssystems

Das traditionelle Verständnis über Demokratie und Bildung begann mit der Forderung nach Schulen für alle. Als diese Forderung mit der Schulpflicht erfüllt war, ging es um die Dauer der Schulbesuchspflicht, die mit einem «genügenden Primarunterricht» in der Bundesverfassung von 1874 festgeschrieben wurde. Neben dem Ausbau des Bildungssystems wurde die Funktion der Bildung im Hinblick auf den demokratischen Staat diskutiert. Weil sich alle Bürger an den politischen Entscheiden beteiligen konnten, sollte die nationale Erziehung tugendhafte und demokratisch gesinnte Staatsbürger erziehen. Die Schüler sollten im Sinne einer kleinen politischen Gemeinschaft unterrichtet werden. Seit den 1960er Jahren soll ein demokratisches Bildungswesen die Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss für alle Sozialschichten gewährleisten.

Die neueren Diskussionen um die Steuerungsmechanismen im Bildungswesen (Schulleitungen, Schulautonomie usw.) zielen auf die Organisation des Bildungswesens und nicht mehr auf eine demokratische Erziehung der Individuen im System.

Die neueren Diskussionen um die Steuerungsmechanismen im Bildungswesen (Schulleitungen, Schulautonomie usw.) zielen auf die Organisation des Bildungswesens und nicht mehr auf eine demokratische Erziehung der Individuen im System. Das Ziel wurde eine Bildung für alle auf der Sekundarstufe II. Dem wirkt die Verringerung der Selektivität der Schule entgegen, weil ein sozialer Ausgleich nur möglich ist, wenn die Schule weiterhin und aufgrund von schulischen Leistungen selektioniert. Zugang für alle, Selektion und Berechtigung müssen dem Anspruch auf ausgewogene Freiheit und Gleichheit genügen, nur dann ist ein demokratisches Bildungssystem realisierbar. Freiheit bedeutet, dass nicht alle, die im Rennen gestartet sind, auch gleichzeitig am Ziel ankommen. Solchen Differenzen dürfen in einem demokratischen Bildungssystem nur aufgrund von Schulleistungsunterschieden entstehen, weshalb dieses der Selektion aufgrund von Leistung einen hohen Stellenwert einräumt.

Machtkonzentrationen bei den Behörden sind eine Gefahr für die Demokratie

Demokratische Legitimation, Kompetenzdelegation, Steuerungsmöglichkeiten und demokratische Kontrolle stehen in der bisherigen Organisation des Bildungswesens in einem ausgewogenen, labilen Gleichgewicht zueinander. Hohe Entscheidungsbefugnisse erfordern nach der modernen, demokratischen Staatstheorie eine direktdemokratische Legitimation, damit die Macht demokratisch legitimiert ist. Machtkonzentrationen bei den Behörden sind eine Gefahr für die Demokratie, deshalb hat man die Grundsätze der Gewaltentrennung, die Rechenschaftspflicht der Behörden und die Öffentlichkeit des Staatshaushaltes eingeführt.

Seit den 1990er Jahren werden immer mehr direktdemokratische Instanzen abgeschafft oder entmachtet (Abschaffung der Lehrerwahl, der Bezirksschulpflege und der Schulgemeinden, Entmachtung der Schulpflegen usw.) und durch solche mit abgeleiteter Legitimation ersetzt (Schulleiter, «professionelle» Schulaufsicht usw.).

Pseudodemokratische Instanzen, die nicht delegiert und nicht kontrolliert werden, sich selber «legitimieren» (Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK, Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz SBBK usw.)

Mangelnde Legitimation

Gleichzeitig werden neue, pseudodemokratische Instanzen geschaffen, die nicht delegiert und nicht kontrolliert werden, sich selber «legitimieren» (Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK, Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz SBBK usw.) und Kompetenzen geben (Einheitslehrplan 21, Berufsbildung 2030, Kompetenzorientierung usw.). Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass für die flächendeckende Durchsetzung des Lehrplans 21 extra die D-EDK geschaffen wurden, die sich dazu mit einer «Verwaltungsvereinbarung» selber eine gesetzliche Grundlage «im weiteren Sinne» schuf, die als «interkantonales Soft Law» mit Demokratiedefizit gilt, weil weder Parlamente noch das Volk darüber abstimmen konnten.

Wenn man sich über die staatsrechtliche Dimension des Problems hinwegsetzt, darf man sich nicht darüber beklagen, wenn die Lehrer nicht mehr als öffentliche Personen wahrgenommen werden.

Wenn Reformen (Einheitslehrplan 21, KV-Reform 2022, Berufsbildung 2030 usw.) und Diskussionen über Schulautonomie, New Public Management, «neue Steuerung» (Soft Governance) auf Bundesebene, «Professionalisierung» der Schulaufsicht, Abschaffung von Schulpflegen und Noten usw. die Schule ausserhalb des demokratischen Legitimationssystems versetzt, wird sie als öffentlich-demokratische Institution aufs Spiel gesetzt, ohne dass man sich der Tragweite dieser Entwicklung bewusst ist. Wenn man sich über die staatsrechtliche Dimension des Problems hinwegsetzt, darf man sich nicht darüber beklagen, wenn die Lehrer nicht mehr als öffentliche Personen wahrgenommen werden, wenn die Bürger bei der Finanzierung der öffentlichen Schule zurückhaltend werden sowie die Schule mit privatwirtschaftlichen Institutionen (Profit Center) verwechselt wird, die beliebig nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisiert werden kann und bei der die Chancengleichheit auf der Strecke bleibt: Heute besucht im Schulkreis Zürichberg rund jedes sechste Kind eine Privatschule. In Schwamendingen nicht einmal jedes fünfunddreissigste.

 

Quellen:

Lucien Criblez: Anforderungen an eine demokratische Bildungsorganisation. In: Jürgen Oelkers und Fritz Osterwalder [Hrsg.]: Bildung, Öffentlichkeit und Demokratie. Beltz, Weinheim 1998,

Ursula Hofer: «Instruction publique» im französischen Modernisierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. «La leçon de Condorcet».

Tonia Bieber: “Soft Governance in Education”. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland. „Staatlichkeit im Wandel“ − „Transformations of the State“ Bremen, 2010

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Der Fall Markus Häni – Mehr Condorcet, bitte! https://condorcet.ch/2021/06/der-fall-markus-haeni-mehr-condorcet-bitte/ https://condorcet.ch/2021/06/der-fall-markus-haeni-mehr-condorcet-bitte/#comments Thu, 10 Jun 2021 23:50:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=8753

Das Interview mit dem Lehrer Markus Häni hat in der Redaktion des Condorcet-Blogs Diskussionen ausgelöst. Die Aussagen von Markus Häni widersprachen der Meinung einer Mehrheit der Redaktion. Aber das Selbstverständnis unserer Autorinnen und Autoren, welche sich dem Toleranzgedanken des Aufklärers Jean-Marie de Condorcet und seiner Frau Sophie de Condorcet verpflichtet fühlen, verbietet jede Art von Zensur. Diese Entlassung ist ein Skandal, meint denn auch Condorcet-Autor Alain Pichard. Eine Demokratie müsse so etwas aushalten, und er warnt vor unabsehbaren Konsequenzen.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE):
Besonders unseren reformkritischen Kolleginnen und Kollegen müsste dieser Fall zu denken geben.

 

Jean-Jacques Rousseau: la volonté générale – die Freiheit des Einzelnen einschränken

Für Condorcet war die Freiheit des Einzelnen unantastbar. Schon früh setzte sich dieser grosse Denker für die Emanzipation der Frau, die Gleichberechtigung der Juden oder die Befreiung der Sklaven ein. Damit unterschied er sich von seinem unheimlichen Schweizer Zeitgefährten Jean-Jacques Rousseau, der in seiner «Volonté générale» die Freiheit des Einzelnen in einem homogenen Kollektiv aufzuheben anmahnte. Der Historiker Volker Reinhardt erinnert in einem beachtenswerten Artikel im Schweizer Monat «Mehr Voltaire, weniger Rousseau»  (Monatsausgabe Juni 2021) an die heute wieder dominierenden Ideen, dass das aufgeklärte Gebot der Toleranz nicht für die Intoleranten gelten dürfe, dass Nachrichten gefiltert und gegensätzliche Meinungen unterdrückt werden müssten.»

Condorcet, Freund und Weggefährte von Voltaire, meinte hingegen, dass wirklich alles sagbar und publizierbar bleiben müsse, gerade auch das Falsche.

Volker Reinhardt, Historiker, Universität Freiburg: Rousseau hat auf der ganzen Linie gewonnen.

Condorcet, Freund und Weggefährte von Voltaire, meinte hingegen, dass wirklich alles sagbar und publizierbar bleiben müsse, gerade auch das Falsche.

Der Aargauer Kantonsschullehrer Markus Häni hatte sich in seinem Handeln am Ort seiner Berufstätigkeit nie etwas zu Schulden kommen lassen. Im Gegenteil, sein Einsatz für die Sprache Latein, seine Tätigkeit als Bindeglied zwischen der Vindonissa-Stiftung und seiner Schule wurde von der Schulleitung und vielen Kolleginnen und Kollegen gelobt und verdankt. Markus Häni hatte an seiner eigenen Schule nie indoktriniert und sich jederzeit an die behördlichen Vorgaben gehalten. Aber er glaubte an die Grundrechte, die ihm unsere Verfassung gewährte, und trat als Redner an einer – notabene bewilligten – Demonstration auf. Diese Rede ist heute noch auf Youtube zu sehen. Er wandte sich gegen die Maskenpflicht und zweifelte die behördlichen Massnahmen an (siehe Interview: «Es geht nicht nur um die Entlassung eines Lehrers» auf condorcet.ch). Er wurde aufgrund dieser Rede umgehend freigestellt und ist heute entlassen. Das Mitleid mit demjenigen, dem deswegen nun de facto ein Berufsverbot erteilt wird, hält sich in Grenzen. Es herrscht eisernes Schweigen. Reinhardt: «Rousseau scheint heute auf der ganzen Linie gesiegt zu haben.»

Die gegenwärtige Debatte über die Art und Weise, wie sich die Pandemie am ehesten bekämpfen lässt, hat nicht zu einer Freiheit des Diskurses geführt, sondern zu einer ideologischen Polarisierung sondergleichen, die nicht einmal im Kalten Krieg herrschte.

Daniel Goepfert, Gymnasiallehrer, Basel, ehem. Parteipräsident der SP: mit Hänis Meinung nicht einverstanden, aber er muss sie sagen können.

Innerhalb der Redaktion des Condorcet-Blogs gehen die Meinungen über das gegenwärtige Narrativ der Krankheit ebenfalls stark auseinander. Der ehemalige SP-Grossratspräsident und Gründungsmitglied unseres Condorcet-Blogs, Daniel Goepfert, ist in keiner Weise mit den Ideen von Markus Häni einverstanden. Aber er lässt – wie auch die anderen Redaktionsmitglieder – keinen Zweifel darüber gelten, dass es diesem erlaubt sein müsse, seine Meinung frei zu äussern. Hier geht es um die verfassungsmässig garantierten Rechte der BürgerInnen und der öffentlich-rechtlich Angestellten. Die Schulleitung der Kantonsschule Wohlen fordert in diesem Fall nicht nur Folgsamkeit, sondern auch Gesinnungsgleichheit. Das gilt selbstredend nicht für den Einsatz gegen den Klimawandel oder den Kampf gegen Sparmassnahmen in der Bildung. Vorerst nicht! Wo soll das aber hinführen, wenn positiv konnotierte Aktivitäten von der Obrigkeit akzeptiert werden, während der Kampf gegen Coronamassnahmen als böse und verwerflich gilt. Tief blicken lässt auch die Begründung, Herr Häni habe den Bundesrat desavouiert und dem Ruf der Schule geschadet. Das ist gerade auch durch den Umstand, dass die Meinungen der Expertinnen und Experten zu vielen relevanten Aspekten der Pandemie keineswegs einheitlich oder auch nur eindeutig sind, mehr als irritierend.

Besonders unseren reformkritischen Kolleginnen und Kollegen müsste dieser Fall zu denken geben.

Markus Häni: de facto ein Berufsverbot

Besonders unseren reformkritischen Kolleginnen und Kollegen müsste dieser Fall zu denken geben. Es gab viele Berichte, wonach Lehrkräfte während der Lehrplandiskussion von ihren Schulleitungen unter Druck gesetzt wurden. Ein Vorgang, der auch bei der aktuellen KV-Reform gegenüber Zweiflerinnen und Zweiflern wiederholt wurde, und das massiv. Befremdend, aber irgendwie auch bezeichnend ist daher auch das Stillschweigen des aargauischen Lehrerverbandes und des LCH gegenüber seinem Vereinsmitglied.

Wenn diese Entlassung vor dem Verwaltungsgericht durchkommt, dann ist es vorbei mit der Freiheit, die der Philosoph und Aufklärer Jean-Marie Condorcet auch dann vertrat, als die jakobinischen Horden während der Französischen Revolution wüteten. Jean-Marie Condorcet bezahlte für seinen Einsatz für die Freiheit mit dem Leben. Es ist an uns, wieder mehr Condorcet einzufordern.

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Condorcet – ein revolutionärer Paukenschlag für das Bildungswesen Teil 2 https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen-teil-2/ https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen-teil-2/#comments Wed, 27 Jan 2021 15:18:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=7560

Wir publizieren hier den 2. Teil der historischen Würdigung unseres Namensgebers, Jean-Marie de Condorcet. Der 1. Teil wurde am 17. Januar 2021 veröffentlicht (https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen/). Peter Aebersold stellt den Leserinnen und Lesern die erstaunlich modernen Gedanken dieses französischen Mathematikers und Aufklärers vor.

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Condorcet: Im Zentrum steht die Ausbildung der Vernunft

Denkschrift 2: Der öffentliche Unterricht für alle Kinder

In seinem Erziehungsplan unterteilt Condorcet den allgemeinen Unterricht – nach der Familienerziehung – in drei Stufen, „um die Mittel zu vereinfachen, mit denen der Unterricht an die Fähigkeiten der Schüler angepasst werden kann“. Der Unterricht der ersten Stufe soll vier Jahre dauern, mit neun Jahren beginnen und bis zum dreizehnten Lebensjahr dauern. Die weiteren zwei Stufen dauern ebenfalls je vier Jahre bis zur Volljährigkeit mit einundzwanzig Jahren. Die Primarschule soll von allen Kindern eines Jahrgangs (Knaben und Mädchen aus allen Schichten) besucht werden und wäre unentgeltlich. Eltern, die ihre Kinder nicht für die häusliche Mitarbeit benötigen, können die Kinder in die stärker berufsorientierte Sekundarschule schicken. Das höhere Schulwesen könnte – mindestens in der Anfangszeit – durch eine nationale Gesellschaft der Wissenschaft und Künste kontrolliert werden, und zwar dahingehend, ob es die politisch-pädagogische Konstruktion der Einheit von Volkssouveränität und schulischen Bedürfnissen der Bürger erfüllt. In der dritten Stufe wird der Unterricht nach Fachlehrern aufgeteilt.

Ein moderner, einfacher und plausibler Aufbau

 

Im Zentrum seiner Überlegungen steht vor allem die Ausbildung der Vernunft in jedem einzelnen Menschen. Weil der Mensch das Vermögen der Vernunft habe, soll es voll ausgebildet werden. Dadurch werde jeder befähigt, als freier Mensch zu handeln, eine der Grundideen des Naturrechts seit den Anfängen:

Auf allen Schulstufen sollen die Prinzipien aufgeklärter Politik und Moral sowie die Grundlagen der Wissenschaften gelehrt, bzw. erforscht und verwirklicht werden. Übungen in klarem Denken, exakter Begriffsbildung und schlüssigem Urteilen beginnen schon in derPrimarschule.“

Zuerst das Basiswissen

Die Primarschule soll ab der ersten Klasse darauf ausgerichtet sein, den zukünftigen Bürgern und Berufsleuten das notwendige Basiswissen zu vermitteln. Dazu gehören für Condorcet grundlegende Kenntnisse der Kulturtechniken, der Landwirtschaft und des Handwerks sowie Aufklärung über gesellschaftliche Ordnungsstrukturen. Ziel sei die Verwirklichung der politischen Gleichheit aller Bürger, wozu die Sicherung des individuellen Wohlergehens und der eigenen Existenz gehöre sowie eine fortschreitende Vervollkommnung des Menschengeschlechts:

In jedem Dorf eine öffentliche Schule

„Der Zweck der ersten Stufe der allgemeinen Erziehung besteht darin, die Allgemeinheit der Bewohner eines Landes in die Lage zu versetzen, ihre Rechte und Pflichten zu kennen, so dass sie die einen ausüben und die anderen erfüllen können, ohne auf irgendeinen fremden Grund zurückgreifen zu müssen. Ausserdem muss dieser erste Grad ausreichen, um sie fähig zu machen, die öffentlichen Aufgaben zu erfüllen, zu denen sinnvollerweise alle Bürger berufen werden können, und die in den letzten territorialen Unterteilungen (Gemeindeebene) ausgeübt werden müssen“.

 Deshalb müsse in jedem Dorf eine öffentliche Schule eingerichtet werden, die von einem oder mehreren Lehrern geleitet wird.

Der Unterricht sollte einfach, kleinschrittig und verständlich sein, vom Einfachen zum Schwierigen führen, an bereits Gelerntes, Bekanntes und Beobachtetes anknüpfen und dem Alter der Kinder angemessen sein.

Unterricht der Elementarbildung

Vom Einfachen zum Schwierigen

Der Unterricht sollte einfach, kleinschrittig und verständlich sein, vom Einfachen zum Schwierigen führen, an bereits Gelerntes, Bekanntes und Beobachtetes anknüpfen und dem Alter der Kinder angemessen sein. Im ersten Jahr werde Lesen und Schreiben und das dezimale Zahlensystem gelernt. Im Lesebuch müsse das Grundwissen vorhanden sein und der Lehrer solle die Wörter und deren Bedeutung erklären. Neben dem Grundwissen würde ab dem ersten Jahr sittlich-moralisches Wissen vermittelt:

„Ein zweiter Teil des Buches würde kurze moralische Geschichten enthalten, die geeignet sind, ihre Aufmerksamkeit auf die ersten Gefühle zu lenken, die sie nach der Ordnung der Natur erleben müssen. Es sollte darauf geachtet werden, jegliche Maximen oder Reflexionen zu vermeiden, denn es geht noch nicht darum, ihnen Verhaltensgrundsätze zu geben oder sie Wahrheiten zu lehren, sondern sie darauf vorzubereiten, über ihre Gefühle nachzudenken und sie auf die moralischen Ideen vorzubereiten, die eines Tages aus diesen Überlegungen entstehen müssen.“

Condorcet betrachtete es als grossen Gewinn für den Charakter der Schüler, wenn ein Lehrer die gleiche Klasse vier Jahre unterrichten würde.

Condorcet betrachtete es als grossen Gewinn für den Charakter der Schüler, wenn ein Lehrer die gleiche Klasse vier Jahre unterrichten würde. Jeder Lehrer müsste deshalb in der Lage sein, den ganzen Kurs zu unterrichten.

Überlegungen zur Methode des Unterrichts und zur Ermutigung im Elternhaus

Condorcet war es wichtig, dass die richtigen Grundlagen gelegt werden, auf denen später aufgebaut werden kann:

„Die Kinder werden nicht trainiert, viel auswendig zu lernen, aber sie werden dazu gebracht, die Geschichte, die Beschreibung, die sie gerade gelesen haben, die Bedeutung eines Wortes, das sie gerade geschrieben haben, wiederzugeben und auf diese Weise werden sie lernen, Ideen zu behalten, was besser ist als das Wiederholen von Worten. Wenn wir dieses Bild des Anfangsunterrichts untersuchen, hoffen wir, den dreifachen Vorteil zu sehen, dass er das notwendigste Wissen enthält, dass er die Intelligenz schult, indem er genaue Vorstellungen vermittelt, dass er das Gedächtnis und das logische Denken trainiert, und dass er es ermöglicht, einem umfangreicheren und vollständigeren Unterricht zu folgen”.

Condorcet wies auf die Ermutigung, als unverzichtbare psychologische Voraussetzung für jeden Schulerfolg hin, was über 100 Jahre später vom Psychologen Alfred Adler bestätigt werden sollte:

Ermutigung ist eine unverzichtbare Voraussetzung

„Aber gerade im Elternhaus sollten die Kinder am meisten zum Lernen ermutigt werden; sie werden das sein, was ihre Eltern wollen. Der Wunsch, von ihnen anerkannt zu werden, von ihnen geliebt zu werden, ist die erste ihrer Leidenschaften; und es wäre ein Frevel an der Natur, eine weitere Ermutigung für die Arbeit zu suchen, einen weiteren Reiz gegen den vorübergehenden Ekel, den sie bei denen hervorruft, für die eine glückliche Leichtigkeit sie nicht zu einem Vergnügen gemacht hat“.

Denkschrift 3: Die allgemeine Ausbildung der Menschen

Condorcet sah den Zweck der allgemeinen Ausbildung in der Vervollkommnung des Menschen:

 „Den Unterricht so zu leiten, dass die Vervollkommnung der Bildung und Fähigkeiten den Lebensgenuss der Allgemeinheit der Bürger erhöht und den Wohlstand derjenigen, die sie betreiben; dass immer mehr Menschen fähig werden, die für die Gesellschaft notwendigen Aufgaben bestens zu erfüllen; dass die stets wachsenden Fortschritte der Aufklärung unerschöpfliche Hilfsquellen zur Befriedigung unserer Bedürfnisse erschliessen, Heilmittel für unsere Leiden bereitstellen und Beiträge zum persönlichen Glück und allgemeinen Gedeihen leisten: in jeder Generation die körperlichen, geistigen und moralischen Fähigkeiten zu pflegen und damit zu der allgemeinen von Stufe zu Stufe fortschreitenden  Vervollkommnung des Menschengeschlechtes beizusteuern, dem letzten Ziel, auf das alle gesellschaftlichen Einrichtungen gerichtet sein sollten; das alles muss ausser dem der Zweck des Unterrichts sein; und darauf zu achten, dass dies so sei, ist eine der öffentlichen Gewalt vom allgemeinen Interesse der Gesellschaft, ja von dem der gesamten Menschheit auferlegte Pflicht“.

Wie jede andere Bildung wird sie sich auf die allgemeinen Bedürfnisse konzentrieren und sich hauptsächlich mit Folgendem befassen: 1. politisches Wissen, 2. Moral, 3. Haus- und Landwirtschaft, 4. die Teile der Wissenschaft und Kunst, die von allgemeinem Nutzen sein können, 5. körperliche und moralische Erziehung. Der Unterricht dieser verschiedenen Fächer muss auf den in der Erstausbildung erworbenen Kenntnissen aufgebaut werden.

Politische Bildung darf sich nicht auf das Wissen über die bestehenden Gesetze beschränken, sondern muss sich auf die der Prinzipien und Gründe der vorgeschlagenen Gesetze erstrecken. Der Zweck der moralischen Unterweisung muss sein, tugendhafte Gewohnheiten zu stärken und andere zu verhindern oder zu zerstören. Das Wissen über die Lernmöglichkeiten mittels Bücher muss Teil des Unterrichts sein. Für diesen Unterricht notwendige Bücher sind: 1. elementare Bücher, als Grundlage für die Ausbildung der Schüler, 2. historische Bücher, 3. Wörterbücher, Zeitungen, Almanache. Es ist notwendig, die Mittel der Selbstbildung durch Beobachtung und vor allem durch Übungen zur Wetterbeobachtung zu lehren.

Condorcet teilt die Berufsbildung auf in Berufe der Privatwirtschaft, die gewinnbringend, und diejenigen der öffentlichen Hand, die gemeinwohlorientiert sein sollten.

Denkschrift 4: Die duale Berufsausbildung

Auf die Elementarbildung bauen die weiterführenden Sekundarschulen und Lyzeen auf. Dadurch soll jeder die Chance zu einer beruflichen Ausbildung bekommen, die seinen natürlichen Anlagen und Neigungen entspricht. Condorcet teilt die Berufsbildung auf in Berufe der Privatwirtschaft, die gewinnbringend, und diejenigen der öffentlichen Hand, die gemeinwohlorientiert sein sollten.

“In einem Land, in dem die Berufsausbildung blüht, sind die Armen besser untergebracht, besser beschlagen, besser gekleidet als in solchen Ländern, in denen sie noch in den Anfängen steckt.“

Eine berufsbegleitende Ausbildung aller Schichten, würde den allgemeinen Wohlstand erhöhen:

„Wir müssen versuchen, andere zu verbessern, um für die Allgemeinheit der Individuen den Genuss und das Wohlbefinden zu erhöhen, dass ihnen die Arbeit dieser Berufe bringt, und einen Teil dieses Wohlbefindens auf die arme Klasse selbst auszudehnen. In einem Land, in dem die Berufsausbildung blüht, sind die Armen besser untergebracht, besser beschlagen, besser gekleidet als in solchen Ländern, in denen sie noch in den Anfängen steckt.“

In der Bildung, vor allem der in den Städten wohnenden Arbeiter, sieht er einen zusätzlichen, zu wenig beachteten, politischen Nutzen:

„Indem man die Aufklärung unter den Menschen verbreitet, kann man verhindern, dass ihre Bewegungen gefährlich werden; und bis zu dem Augenblick, in dem sie aufgeklärt werden können, ist es eine Pflicht für diejenigen, die einen starken Verstand, eine mutige Seele erhalten haben, sie vor Illusionen zu schützen, ihnen die Fallen zu zeigen, die ihre leichtgläubige Einfalt ständig umhüllen“.

Für die gemeinwohlorientierten Berufe, zu denen er jene der Gesundheit, Bildung, Sicherheit (Militärwissenschaft), des öffentlichen Bauwesens und der Künste zählte, sah er eine zusätzliche geisteswissenschaftliche und ethisch-moralische Bildung vor:

„Die Motive für die Bildung öffentlicher Bildungseinrichtungen für die verschiedenen Berufe sind für diese beiden Klassen nicht die gleichen. Bei Berufen, die als öffentlich angesehen werden können, sollte vor allem der Vorteil erwogen werden, sie aufgeklärteren Menschen anzuvertrauen.“  

Denkschrift 5: Die naturwissenschaftliche Ausbildung

Der naturwissenschaftliche Unterricht ist eine wichtige Voraussetzung für die Mündigkeit

 Zur öffentlichen Bildung zählt Condorcet auch die naturwissenschaftliche Ausbildung. Ihr fällt eine für das Gemeinwohl besonders wichtige Aufgabe zu:

 „Dieser letzte Teil der öffentlichen Erziehung ist für diejenigen bestimmt, die dazu berufen sind, die Masse der Wahrheiten durch Beobachtung oder Entdeckung zu vermehren, um aus der Ferne das Glück künftiger Generationen vorzubereiten; es ist auch notwendig, die Lehrer auszubilden, die den Anstalten beigegeben werden müssen, in denen die allgemeine Bildung vervollständigt wird und denjenigen, in denen man sich auf Berufe vorbereitet, die umfangreiches Wissen erfordern.“

„Die Bücher, die für diesen Unterricht bestimmt sind, müssen von den Lehrern angefertigt oder ausgewählt werden, und zwar in selbständiger Weise.”

Condorcet weist auf die Notwendigkeit der Freiheit der Wissenschaften und der Unabhängigkeit von der Politik hin, damit der Fortschritt der Aufklärung nicht aufgehalten wird:

„Die Bücher, die für diesen Unterricht bestimmt sind, müssen von den Lehrern angefertigt oder ausgewählt werden, und zwar in selbständiger Weise; diese Bücher sind nicht, wie die Elementarbücher des gemeinen Unterrichts, dazu bestimmt, nur vermittelte Dinge zu enthalten; sie sind nicht darauf beschränkt, das zu lehren, was für einen bestimmten Beruf für nützlich gehalten wird. Es wäre eine Gefahr für die Freiheit, wenn die öffentliche Gewalt den geringsten Einfluss auf diese Arbeit bekäme; es wäre für den Fortschritt der Aufklärung zu befürchten, dass die Akademien den Geist des Systems in sie einführen würden“.

Die Befreiung der Wissenschaft von den Autoritätsketten ist für ihn die Voraussetzung der Freiheit:

„Die Lehre von der Metaphysik, von der Kunst des Argumentierens, von den verschiedenen Zweigen der politischen Wissenschaft, muss als völlig neu betrachtet werden. Zuallererst muss sie von allen Autoritätsketten, von allen religiösen oder politischen Bindungen befreit werden. Man muss es wagen, alles zu untersuchen, alles zu diskutieren, sogar alles zu lehren.“

Der Geschichtsunterricht erfordert gemäss Condorcet besondere Aufmerksamkeit, weil die bisherige Geschichte von Interessen geleitet war:

Geschichtsunterricht hat eine besondere Bedeutung

„Dieses weite Feld moralischer Beobachtungen, die in grosser Tiefe gemacht wurden, kann eine reiche Ernte nützlicher Wahrheiten bieten; aber fast alles, was in der Geschichte existiert, würde eher dazu geeignet sein, die Geister zu verführen als sie zu erleuchten. Wir brauchen daher eine neue Geschichte, vor allem die der Menschenrechte, der Wechselfälle, denen die Kenntnis und der Genuss dieser Rechte überall unterworfen waren; eine Geschichte, in der wir, den Wohlstand und die Weisheit der Nationen an dieser einzigartigen Grundlage messend, den Fortschritt und den Verfall der sozialen Ungleichheit verfolgen, der fast einzigartigen Quelle der Güter und Übel des zivilisierten Menschen“.

Die Auswahl der Lehrer hat einen entscheidenden Einfluss auf Freiheit der Lehre:

„Aber es ist in gewisser Weise noch wichtiger, dass die Ernennung derjenigen, deren Lehre auf den Fortschritt der Wissenschaft gerichtet ist, unabhängig von der öffentlichen Autorität sein sollte, um ihr die Mittel zu entziehen, die Wahrheiten, die sie vielleicht zu fürchten hat, in ihrer Wiege zu ersticken. Im Allgemeinen ist jede Macht, welcher Art auch immer, in welche Hände sie gegeben wurde, auf welche Weise sie auch immer verliehen wurde, natürlich ein Feind der Aufklärung.“

Condorcet sieht die gelehrten Gesellschaften als Beschleuniger der Kommunikation und als Besitzstandswahrer der Aufklärung:

„Diese Unternehmen werden für einen viel längeren Zeitraum aus einem viel wichtigeren Gesichtspunkt heraus nützlich sein. Mittels ihrer Memoiren, die periodisch veröffentlicht werden, können alle Entdeckungen, Beobachtungen, Expeditionen und sogar einfache Ansichten und Forschungsprojekte verbreitet und bewahrt werden“.

Für Condorcet sind die Naturwissenschaften, indem sie die Vervollkommnung der menschlichen Gattung vorantreiben, im Unterschied zur allgemeinen Erziehung, Wegbereiter für kommende Generationen:

„Während der Rest der Erziehung ihn lehren würde, aus dem erworbenen Wissen Nutzen zu ziehen, ihn fähiger machen würde, über sein Wohlergehen zu wachen oder seine Pflichten zu erfüllen, Frieden und Tugenden über die Gesellschaft zu verbreiten, ihre Freuden zu vervielfachen, würde sie grösseren Nutzen für die Generationen vorbereiten, die noch nicht existieren, und die Auswirkungen verhindern, die weit von den Ursachen entfernt sind, die diejenigen zu zerstören drohen, die wir hoffen können, an sie weiterzugeben“.

„Die eine wird dem Vaterlande Bürger geben, die der Freiheit würdig sind, die andere muss die Freiheit selbst verteidigen und vervollkommnen; die eine wird die Intriganten daran hindern, ihre Zeitgenossen zu Instrumenten oder Komplizen ihrer Pläne zu machen, die andere wird künftige Völker davor bewahren, dass neue Vorurteile dem Menschen seine Unabhängigkeit und Würde wieder nehmen“. 

Condorcets Fazit

Condorcet betrachtete seine Ideen über die öffentliche Bildung als Utopien, die erst in einer unbestimmten Zukunft wahr werden sollten, und zwar für eine Welt, in der er nicht mehr existieren würde. Als sie dann in der Verfassung der ersten Republik auftauchten, war er völlig überrascht:

“Keinen mehr über ihnen zu haben, zu spüren, dass ihre Kräfte, ihr Fleiss, ihre Ideen, ihr Wille nur ihnen selbst gehören.”

„Ein glückliches Ereignis eröffnete den Hoffnungen des Menschengeschlechts plötzlich einen Sprung vorwärts; ein einziger Augenblick legte eine Jahrhundertdistanz zwischen den Menschen von heute und den Menschen von morgen zurück. Sklaven, ausgebildet für den Dienst oder das Vergnügen eines Herren, wachten erstaunt auf: Keinen mehr über ihnen zu haben, zu spüren, dass ihre Kräfte, ihr Fleiss, ihre Ideen, ihr Wille nur ihnen selbst gehören. In einer Zeit der Dunkelheit hätte dieses Erwachen nur einen Augenblick gedauert: müde von ihrer Unabhängigkeit, hätten sie in neuen Eisen einen schmerzhaften und qualvollen Schlaf gesucht; in einem Jahrhundert der Aufklärung wird dieses Erwachen ewig sein. Die einzige Inspirationsquelle für die freien Völker, die Wahrheit, deren Diener die Gelehrten sind, wird ihre süsse und unwiderstehliche Kraft über das ganze Universum verbreiten; durch sie werden alle Menschen lernen, was sie für ihr Glück brauchen, und sie werden nur das Gemeinwohl aller wollen. Es ist nicht der Thron eines Dichters, den sie stürzt, es ist der Thron des Irrtums und der freiwilligen Knechtschaft; es ist nicht ein Volk, das seine Fesseln gesprengt hat, es sind die Freunde der Vernunft unter allen Völkern, die einen grossen Sieg errungen haben, ein sicheres Vorzeichen des allgemeinen Triumphes.“

Quelle:

Condorcet: Cinq mémoires sur l’instruction publique 1791 http://classiques.uqac.ca/classiques/condorcet/cinq_memoires_instruction/cinq_memoires.html

 

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Es hat lange gedauert, bis unser "Haushistoriker" Peter Aebersold sich mit unserem Namensgeber beschäftigt. Nun endlich liegt seine Würdigung vor. Die Redaktion des Condorcet-Blogs ist stolz, mit Jean Marie Condorcet einen Mann zu ehren, der in weiten Teilen der Deutschschweiz noch völlig unbekannt ist, dessen Bedeutung aber für das schweizerische Bildungssystem immens ist. Im ersten Teil seiner umfangreichen Würdigung zeigt Peter Aebersold, wie Condorcet sein Bildungskonzept durch den Nationalkonvent brachte, trotz heftiger Kritik der revolutionären Fanatiker.

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Es war ein revolutionärer Paukenschlag für das Bildungswesen, als der französische Nationalkonvent (September 1792 bis Oktober 1795) am 24. Juni 1793 die Verfassung der ersten Republik proklamierte, in der im Artikel 22 ein staatliches Bildungswesen verankert wurde: „Der Unterricht ist für alle ein Bedürfnis. Die Gesellschaft soll mit aller Macht die Fortschritte der öffentlichen Aufklärung fördern und den Unterricht allen Bürgern zugänglich machen.“

Damit hatte der moderne Staat 2000 Jahre nach Aristoteles neben Demokratie, Menschenrechte und Gewaltenteilung den vierten Pfeiler, die öffentliche Erziehung und Bildung, erhalten und John Lockes Überlegungen zu Naturrecht, Staatsphilosophie und Erziehung wurden mit der Forderung nach einer allgemeinen, öffentlichen Volksbildung weitergeführt.

Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet war im Februar 1792 Präsident der Gesetzgebenden Nationalversammlung (Oktober 1791 bis September 1792) und 1792 Mitglied des Konvents geworden, wo er die Unterrichtskommission leitete. 1791 hatte er für das staatliche Bildungswesen ein weitreichendes Modell entworfen, das richtungsweisend für die Einrichtung öffentlicher Volksschulen in ganz Europa wurde.
 

Öffentliches Bildungswesen auf dem Fundament von Natur-und Menschenrecht

Mit seinen Schriften «Cinq mémoires sur l’instruction publique» (1791 veröffentlicht) und dem «Rapport sur l’instruction publique » (1793 veröffentlicht) stellte Condorcet seine moderne Theorie der republikanischen Schule auf das Fundament des Naturrechts und der Menschenrechte, ganz im Sinne der Westschweizer Naturrechtsschule.

Zur Legitimation seiner schulpädagogischen Überlegungen und deren ethischer und politischer Begründung stützte sich Condorcet auf die beiden ersten Artikel der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Nationalversammlung von 1789:

Artikel 1: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“

Artikel 2: „Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“

Das gleiche Anliegen, die Volksbildung als Voraussetzung für den Zugang zur Freiheit zu fördern, verfolgte in der Schweiz Condorcets Zeitgenosse Pestalozzi, der 1792 von der französischen Nationalversammlung zum Ehrenbürger ernannt wurde.

Im Rahmen der Unterrichtskommission des Konvents entstanden mehrere Schriften zur Umgestaltung des Unterrichtswesens. Deren Ergebnisse und Thesen, die als Gesetzesentwurf vorlagen, fasste Condorcet in einer Rede zusammen, die er am 20. und 21. Juni 1792 hielt. Für Condorcet ist die Bildung, hier steht er ganz auf dem Boden der Aufklärung, die sicherste Grenze gegen Fanatismus, Tyrannei und Aberglauben, der beste Garant für Demokratie und Fortschritt. Die ersten Worte seiner Rede lauten:

„Allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel darzubieten, dass sie für ihre Bedürfnisse sorgen und ihr Wohlergehen sicherstellen können, dass sie ihre Rechte kennenzulernen und auszuüben, ihre Pflichten zu begreifen und zu erfüllen vermögen; jedem die Gelegenheit zu verschaffen, dass er seine beruflichen Geschicklichkeiten vervollkommnen und die Fähigkeiten zur Ausübung sozialer Funktionen erwerben kann, zu denen berufen zu werden er das Recht hat, dass er das ganze Ausmass seiner Talente zu entfalten imstande ist; und durch dies alles unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit herzustellen und die durch das Gesetz zuerkannte politische Gleichheit zu einer wirklichen zu machen; das muss das erste Ziel eines nationalen Unterrichtswesens sein; und für ein solches Sorge zu tragen, ist unter diesem Gesichtspunkt für die öffentliche Gewalt ein Gebot der Gerechtigkeit.“

„Die Verwirklichung des Menschenrechts auf Unterricht und Bildung soll [aber] nicht nivellieren, sondern, «alle […] auf einen höheren Stand heben».“ Und die allgemeine, öffentliche Bildung soll auch das Recht auf freie Berufswahl ermöglichen und sichern.

Pestalozzi: Ehrenbürger der Französischen Revolution

Das gleiche Anliegen, die Volksbildung als Voraussetzung für den Zugang zur Freiheit zu fördern, verfolgte in der Schweiz Condorcets Zeitgenosse Pestalozzi, der 1792 von der französischen Nationalversammlung zum Ehrenbürger ernannt wurde.

 Wissen allen zugänglich machen und vor der Macht schützen

Zum ersten Mal wurde die philosophische Idee der Institution Schule in ihrer Komplexität und in Bezug auf die Volkssouveränität durchdacht. Condorcets wichtigste Forderungen waren, das Wissen vor der Macht zu schützen, die Exzellenz als höchste Form der Gleichheit zu betrachten, jedes Kind als vernünftiges Rechtssubjekt zu sehen, die öffentliche Bildung nicht dem Partikularwillen und der unmittelbaren Nützlichkeit zu unterwerfen.

„Die Republik muss die Unabhängigkeit der öffentlichen Bildung von allen Mächten, selbst von der Politik, sicherstellen“.

Im «Rapport „Sur l’instruction publique“ ruft Condorcet zwei Themen in Erinnerung: „Die Republik muss die Unabhängigkeit der öffentlichen Bildung von allen Mächten, selbst von der Politik, sicherstellen“. Als Antwort auf Marats Angriffe betont er, wie in den «Cinq mémoires sur l’instruction publique», die Rolle der Gelehrten bei der Bestimmung des Grundwissens, das vermittelt werden soll. Wenn diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind, verliert die öffentliche Bildung ihre Freiheit und die Gleichheit aller Bürger verkommt zur leeren Worthülse.

Es gibt ein Bürgerrecht auf Bildung

Condorcets „Fünf Denkschriften zum öffentlichen Bildungswesen“ begründeten die Verantwortung der Gesellschaft, den Menschen 1. eine öffentliche Bildung in Form 2. einer Volksschule für Kinder, 3. einer Ausbildung für die allgemeinen Bedürfnisse der Menschen, 4. einer Berufsausbildung und 5. einer naturwissenschaftlichen Ausbildung anzubieten.

Denkschrift 1: Die Gesellschaft schuldet den Menschen eine öffentliche Bildung, ein „Bürgerrecht auf Bildung“

In der ersten Denkschrift begründet Condorcet die Notwendigkeit einer allgemeinen, öffentlichen Bildung aus dem Naturrecht. Mit der öffentlichen Bildung soll die Gleichberechtigung verwirklicht werden:

„Öffentliche Bildung ist eine Pflicht der Gesellschaft gegenüber ihren Bürgern. Vergeblich wäre erklärt worden, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben; vergeblich hätten die Gesetze dieses erste Prinzip der ewigen Gerechtigkeit respektiert, wenn die Ungleichheit der moralischen Fähigkeiten die grösste Zahl daran hinderte, diese Rechte in vollem Umfang zu geniessen. Der Sozialstaat vermindert notwendigerweise die natürliche Ungleichheit, indem er die gemeinsamen Kräfte zum Wohlergehen der Einzelnen beitragen lässt“.

Die Ungleichheit in der Bildung erachtet Condorcet als eine der Hauptquellen der Tyrannei: „Die Gesellschaft darf keine Ungleichheiten zulassen, die zu Abhängigkeiten führen“. Mit der Gemeinbildung sollen nicht gleiche Bürger, sondern Kritiker des Gesetzgebers geschaffen werden. Die staatliche Volksschule für alle Kinder soll den neuen Generationen die Kultur ihrer Vorfahren vermitteln. Die Gesellschaft ist verantwortlich für eine öffentliche Erziehung als Mittel zur Vervollkommnung der menschlichen Spezies, in dem ihre geistige Entwicklung gefördert wird. Die allgemeine Bildung soll alle Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, öffentliche Funktionen auszuführen zu können.

Schluss des ersten Teils von Peter Aebersolds Ehrung unseres Namensgebers. Im 2. Teil wird auf die Bedeutung von Condorcets Thesen für unsere Volksschule eingegangen.

 

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Die Tragik von Condorcet: Als Philosoph brillant, als Realpolitiker gescheitert https://condorcet.ch/2020/09/die-tragik-von-condorcet-als-philosoph-brillant-als-realpolitiker-gescheitert/ https://condorcet.ch/2020/09/die-tragik-von-condorcet-als-philosoph-brillant-als-realpolitiker-gescheitert/#respond Wed, 30 Sep 2020 08:36:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=6522

In Zeiten der unerbittlichen politischen Kämpfe mit all ihren Diffamierungen und Ausgrenzungen lohnt es sich, ab und zu wieder auf unseren Namensgeber Jean-Marie Caritat de Condorcet und dessen Vermächtnis hinzuweisen. Bettina Rommel hat für das Metzler Philosophen-Lexikon ein kurzes Porträt geschrieben. Erstaunlich, dass Frau Rommel mit keinem Wort auf Spohie de Condorcet eingeht, die einen grossen Einfluss auf das Denken Ihres Ehemannes hatte. Interessant ist hingegen ihre Intepretation des Wirkens von Condorcet. Sie erklärt, weshalb die Galionsfigur der frühliberalistischen Kräfte als Realpolitiker gescheitert ist.

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Sein Tod war unwürdig. Doch als gälte es, das Ende zu überhöhen, haben die Biographen dem fünfzigjährigen Mann, der am Morgen des 28. März 1794 im Gefängnis von Bourg-la-Reine tot aufgefunden wurde, im Nachhinein den Schierlingsbecher in die Hand gedrückt. »Sie sagten: Wähle! Was willst du sein – Unterdrücker oder Opfer? Darauf umarmte ich das Unglück und ließ ihnen das Verbrechen.« – unter diesem Motto hat vor allem die nachrevolutionäre Propaganda den Reformer des Ancien Régime als Opfer der Terreur heroisiert. Und das Gerücht des Philosophentodes im eigenen Interesse genutzt. Denn C. nahm kein Gift. Dieser Denker, der, obwohl schon vogelfrei, furchtlos und ungebrochen in seiner letzten Schrift, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795; Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes), noch einmal den Erkenntnisoptimismus des Aufklärers aufbietet und dem Tribunal der Revolutionäre sein reformerisches Credo an »die Vervollkommnung der Menschen« entgegenschleudert, starb, nervlich erschöpft, nach einem monatelangen Leben im Untergrund, aus Entkräftung, Aufregung, Verzweiflung – nur wenige Tage, nachdem er, aus Angst vor Entdeckung, sein Pariser Versteck verlassen hatte und kurz darauf als verdächtig in dem südlich der Stadt gelegenen Marktflecken gefangengesetzt worden war.

Condorcet erweist sich in der Praxis eher als vernunftgeleiteter Aufklärer denn als taktisch geschickter Politiker.

Condorcet: Eher vernünftiger Aufklärer als taktischer Politiker

Das grauenvolle Ende des letzten Enzyklopädisten entbehrt jedoch nicht ganz der Folgerichtigkeit. Denn Condorcet, dessen intellektuelle Entwicklung von der zunehmenden Politisierung der Aufklärung bestimmt wird und dessen Lebensgeschichte sich wie ein Reflex auf jenen Vorgang ausnimmt, erweist sich in der Praxis eher als vernunftgeleiteter Aufklärer denn als taktisch geschickter Politiker. Seine praktisch-politischen Aktivitäten (als Inspektor Turgots 1774 und 1775, als Mitglied der Legislative 1791 und im Jahr darauf als Abgeordneter des Nationalkonvents) und ebenso sein publizistisches Engagement – für eine Rationalisierung des Strafrechts, für die bürgerliche Gleichstellung der Protestanten und die Befreiung von Fron und Sklaverei –, sie widerlegen de facto das Bild von der Aufklärung als rein kulturellem Prozeß. Doch wird Condorcet, der sich gerade auch als Politiker eher der analytischen Kraft der Vernunft als einer Parteiräson verpflichtet weiß, von der Dynamik der revolutionären Ereignisse seit 1789 überholt.

Eine Bilanz des Scheiterns

Condorcet: Stimmte gegen die Hinrichtung des Königs

Es bleibt die Bilanz seines realpolitischen Mißerfolgs: Sämtliche seiner Projekte scheitern. Entweder sind sie, wie die Reform des Schulwesens, die er 1792 der Gesetzgebenden Versammlung vorträgt, in der aktuellen Krisensituation – Kriegserklärung gegen Österreich, Sturm auf die Tuilerien, Gefangennahme der königlichen Familie – praktisch nicht durchführbar, oder sie gewinnen, wie der Verfassungsentwurf von 1793, keine Mehrheit mehr. Gegen Ende seines Lebens hat nicht nur der Reformer jeglichen Rückhalt verloren. Von seinen Standesgenossen, aber auch von den oft königstreuen Vertretern der zeitgenössischen Kulturelite als Abgeordneter eines Konvents stigmatisiert, der das Todesurteil über Ludwig XVI. fällt, zieht Condorcet als einer der Wortführer der Gironde und damit als eine Galionsfigur der frühliberalistischen Kräfte, die sich erstmals unter der Ersten Republik gegen die Vertreter einer plebiszitären Volksherrschaft formieren, die Haßtiraden der Jakobiner auf sich. Nicht ohne Grund, denn gerade die Isolation scheint Condorcet in seiner Leitvorstellung der Vernunftmäßigkeit nur zu bestärken. Noch die Schriften aus dem Untergrund, in denen die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses unter Robespierre angeprangert wird, zeigen, daß Condorcet das politische Handeln grundsätzlich an den bürger- und menschenrechtlichen Maßstäben der Aufklärung bemißt. Justizterror, Massenliquidierung und Bürgerkrieg sind selbst unter der Bedingung des Staatsnotstandes nicht zu legitimieren. »Das Wort Revolution«, so definiert der Freund Thomas Paines und Lafayettes, »trifft nur auf Umwälzungen zu, welche die Freiheit bezwecken«.

Kaum daß die Konstituante die Menschenrechte verkündet, spricht er sich für ein allgemeines Wahlrecht und die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht (Sur l’admission des femmes au droit de cité; 1790) aus.

Fest in seinen Überzeugungen und mutig, als es gefährlich wurde

»Es gab niemanden, der fester in seinen Überzeugungen, niemand, der beständiger in seinen Gefühlen war«, so charakterisiert Amélie Suard ihren Jugendfreund. In der Tat zeichnet sich Condorcet – der noch als Proskribierter von sich behauptet: »Ich werde mich niemals dazu erniedrigen, meine Grundsätze und mein Verhalten zu rechtfertigen« – durch ins Unerbittliche reichende Unbeugsamkeit aus, wenn es um die Verteidigung des von ihm als richtig Erkannten geht. Ein um so unbequemerer Charakterzug, als sich Condorcet entsprechend hartnäckig für eine konsequente Verwirklichung von Grundsätzen einsetzt: Kaum daß die Konstituante die Menschenrechte verkündet, spricht er sich für ein allgemeines Wahlrecht und die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht (Sur l’admission des femmes au droit de cité; 1790) aus.

Voltaire: Sie werden der Mann sein, den Frankreich am dringendsten braucht

Mathematik statt Waffendienst

Mathematisch ausserordentlich begabt

Unbeugsamkeit stellt bereits der Neunzehnjährige unter Beweis, der radikal mit Erwartung und standesgemäßer Tradition seiner Familie bricht. Die Wahl eines Mathematikstudiums, das der Neigung des durch sein logisch-abstraktes Denkvermögen früh ausgezeichneten Jesuitenzöglings entspricht, ist für die seit Generationen im Waffendienst stehenden Caritats eine unverzeihliche Entscheidung. In Paris, »der Heimat des wahrhaften Philosophen«, kann der Protestler aus dem Schwertadel dann freilich seine Hochbegabung im Kreis der »Académiciens« entfalten; 1765 macht er mit einem Essay

D’Alembert entdeckte den jungen Condorcet

über Integralrechnung (Du calcul intégral) d’Alembert auf sich aufmerksam, der fortan Condorcets wissenschaftliche Karriere in die Hand nimmt, während die Muse der Enzyklopädie, Mademoiselle de Lespinasse, für den gesellschaftlichen Schliff ihres zeitweiligen Privatsekretärs sorgt und dem recht frei aufgewachsenen Marquis aus der Provinz rät, »das Nägelkauen zu lassen und sich die Ohren zu putzen«. Rasch im Zentrum der überständisch-weltläufigen Elite der Pariser »sociéte des gens de lettres«, die den bescheiden lebenden jungen Wissenschaftler als Muster aufklärerischer Lebensführung und gleichsam Prototyp eines »neuen Adels« feiert, lernt Condorcet die Vertreter der Aufklärung kennen, die seinem Einsatz »für die guten Prinzipien« die entscheidende Wende geben. Neben Holbach, Raynal, Hume, Galiani, Beccaria, die er im Salon des Baron Helvétius trifft, und Voltaire – der ihm prophezeit, »Sie werden der Mann, den Frankreich am dringendsten braucht« –, ist es vor allem der Physiokrat Turgot, der den, was den Wappenspruch seiner Familie (caritas!) anbelangt, ohnehin in die Pflicht genommenen Aristokraten zur Auseinandersetzung mit den aktuellen Mißständen des Ancien Régime anregt.

Eine Wirtschafts- und Sozialreform sowie die Neuorganisation der Verwaltung kann sich nur mit Hilfe einer »Regierungskunst« verwirklichen lassen, die den Regeln wissenschaftlicher Vernunft folgt.

Finanzminister Turgot nahm Condorcet in seinen Stab

Während der knapp sechzehn Monate des Reformministeriums von Turgot wird Condorcet fachgerecht mit der Berechnung eines erweiterten Kanalnetzes für die Binnenschiffahrt betraut; er gewinnt auf seinen Inspektionsreisen vor Ort unmittelbar Einsicht in die handels- und verkehrspolitischen Schwierigkeiten des Landes. Fazit seiner Erfahrungen ist die Überlegung, daß sich eine Wirtschafts- und Sozialreform sowie die Neuorganisation der Verwaltung nur mit Hilfe einer »Regierungskunst« verwirklichen lassen, die den Regeln wissenschaftlicher Vernunft folgt. Pilotfunktion für die Rationalisierung der Politik, und das bedeutet für Condorcet die planvolle Beseitigung »der irrationalen Strukturen des Ancien Régime«, übernimmt eine Theorie der Staatskunst, die sich methodisch an den exakten Naturwissenschaften orientiert.

Mathematik als geeignetes Instrumentarium

Damit setzt Condorcet seine schon in den 70er Jahren begonnenen mathematischen Untersuchungen fort, die sich insbesondere mit den methodologischen Prämissen einer umfassenden Anwendung der Statistik befaßten. Er glaubt im Instrumentarium der angewandten Mathematik, vorab einer »Übertragung des Wahrscheinlichkeitskalküls auf die Politik und Sittenlehre« (Essai sur l’application de l’analyse aux probabilités des décisions rendues à la pluralité des voix; 1785), das probate Mittel zu erkennen, den seit 1784 beschleunigten Umwälzungsprozeß gesellschaftlicher Planung zugänglich zu machen. In seiner allgemeinen Darstellung dieser neuen Wissenschaft (Tableau général de la science, qui a pour objet l’application du calcul aux sciences morales et politiques, 1793), die u. a. ein umfassendes Versicherungswesen vorsieht, prägt Condorcet für die von ihm projektierte Sozialtechnologie den Begriff der »mathématique sociale«. Ihre Anwendung, und hier enthüllt Condorcet den optimistischen Grund seines Vernunftglaubens, soll »Willkür vermeiden, die Rechte und Ruhe der Individuen sichern und den Frieden und die Wohlfahrt der Nationen verbürgen«.

Wie lässt sich das Verhältnis von Staat und Bevölkerung vernünftig regeln?

Condorcets »Theorie der Staatskunst« vollzieht einen entscheidenden Bruch mit der tradierten Staatstheorie: An die Stelle der Frage nach der Legitimität der Macht tritt in seinem Denken die Frage, wie sich das Verhältnis von Staat und Bevölkerung vernünftig regeln läßt von einer Regierung, die sich unter dem Vorsatz des Gemeinwohls um ein ausgewogenes soziales Kräfteverhältnis kümmert. Wissen und Wissenschaft werden demzufolge die wichtigsten Garanten einer Führungsmacht, die planerische Kapazität und prognostische Kompetenz als Mittel des Regierens einsetzt.

Condorcet sieht in einem freien und allgemeinen Bildungswesen ein vorrangiges Ziel der gesellschaftlichen Neuorganisation, weil »eine freie Verfassung, die nicht mit der allgemeinen Bildung der Bürger einhergeht, sich selbst zerstört.

Condorcet, der in einem freien und allgemeinen Bildungswesen ein vorrangiges Ziel der gesellschaftlichen Neuorganisation erkennt, weil »eine freie Verfassung, die nicht mit der allgemeinen Bildung der Bürger einhergeht, sich selbst zerstört«, bemißt dementsprechend in der Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain von 1795 die »Fortschritte des menschlichen Geistes« auch an einer allgemeinen umfassenden Alphabetisierung. Hierin ist Condorcet Schüler d’Alemberts und der Enzyklopädie, markieren doch die Beherrschung der primären Kulturtechniken und die Erfindung des Buchdrucks ihm zufolge die entscheidenden Schritte der Akkulturation und damit Voraussetzung der Regierbarkeit.

Heroische Selbsttäuschung?

Folgerichtig haben daher die Reformer der Dritten Republik Condorcets Entwürfe als Vorgriff der eigenen politischen Vorhaben gewürdigt und in dem Aufklärer, der »die Menschen an die Vernunft anketten« wollte, vor allem einen Sozialtechniker rehabilitiert. Dennoch fragt man sich, ob Condorcet in seiner letzten Schrift – ein Manifest für den Fortschritt und zugleich Rechtfertigung wie Legat seines Denkens – nicht einer heroischen Selbsttäuschung unterliegt. Im Versteck geschrieben, scheint sich der Proskribierte mit dem Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes das Bild eines »von allen Ketten befreiten Menschengeschlechts, das sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet«, geradezu vor die Augen gezaubert zu haben: »ein Schauspiel, das ihn über die Irrtümer, die Verbrechen, die Ungerechtigkeiten tröstet, welche die Erde noch immer entstellen und denen er selber so oft zum Opfer fällt! Seine Betrachtung ist ihm eine Stätte der Zuflucht, wohin ihn die Erinnerung an seine Verfolger nicht begleiten kann; dort ist er wahrhaft zusammen mit seinesgleichen in einem Elysium, das seine Vernunft sich zu erschaffen wußte und das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verklärt.« Die Mutter dieses Philosophen, die sehr fromme Tochter eines königlichen Schatzmeisters, hatte ihr Kind der Jungfrau Maria geweih

Bettina Rommel

 

Literatur:
Chandeler, Jean Pierre: Les interprétations de Condorcet. Symboles et concepts (1794–1894). Oxford 2000.

Crépel, Pierre (Hg.): Condorcet. Mathématicien, économiste, philosophe, homme politique. Paris 1989.

Baker, Keith Michael: Condorcet. From Natural Philosophy to Social Mathematics. Chicago/London 1975.

Reichardt, Rolf: Reform und Revolution bei Condorcet. Bonn 1973.

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