Bildungsbürokratie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 28 Apr 2024 10:36:51 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bildungsbürokratie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Es trifft immer die Schwächsten https://condorcet.ch/2024/04/es-trifft-immer-die-schwaechsten/ https://condorcet.ch/2024/04/es-trifft-immer-die-schwaechsten/#comments Sat, 27 Apr 2024 14:52:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=16607

Condorcet-Autor Alain Pichard über eine aufschlussreiche Begegnung mit einem ehemaligen Schüler.

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Gestern kehrte ich in meinem Bieler Lieblingslokal ein, um dort einen Kaffee zu trinken und einige Geschäfte zu besprechen. Am Tresen entdeckte ich Matthias G.* einen Ex-Schüler, der bereits seit zwei Jahren in diesem Betrieb arbeitet. Mathias war vor rund 12 Jahren einer meiner «schwierigen» Schüler. Intelligent, aber frech, robust und stinkfaul. Zu mir in die Klasse kam er nach einem befristeten Timeout, weil er sich mit dem vorherigen Klassenlehrer nicht verstand. Auch bei mir knallte es ab und zu, aber er erwies sich als führbar. Wir suchten für ihn eine Leerstelle als Motorradmechaniker, sein Traumberuf. In der Schnupperlehre brillierte der schulmüde Rabauke und das Geschäft offerierte ihm sofort einen Lehrvertrag. Er konnte sich sogar – wenn es in der Schule nicht ging – kurzfristig abmelden, und an den Motorrädern herumwerkeln. Die Lehre freilich brach er – bedingt auch durch den tragischen Tod seiner Mutter – nach anderthalb Jahren wieder ab. Mit grossem Einsatz durch den Vater und den Behörden konnte er seine Lehre in einem anderen 2-Radgeschäft abschliessen.

Alain Pichard, Sekundarlehrer, Grossrat und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Ein paar Tipps geben.

Es folgten Wanderjahre durch das juvenile Leben eines Mitglieds der Generation Z. Vor zwei Jahren traf ich Matthias hinter der Bar des besagten Lokals wieder. Er sah blendend aus, wirkte aufgestellt und freundlich und erwies sich als ein richtiger Chrampfer. «Die Arbeit macht mir richtig Spass. Der alternative Groove der Beiz, die vielen jungen Leute, die Gespräche, ich merkte, ich brauche das,», erklärte er mir nach seinem Arbeitseinsatz bei einem Bier. Bald einmal übernahm er auch Verantwortung für eine Schicht und war laut den Besitzern des Restaurants eine unverzichtbare Arbeitskraft. Seinen Schilderungen ergaben das Bild eines für solche Jungs nicht seltenen Reifeprozesses und eine nicht für möglich gehaltene Wandlung zu einem bodenständigen Erwachsenen.

In letzter Zeit aber habe ich Matthias nicht mehr hinter dem Tresen gesehen, bis eben gestern. Ich ging erfreut zu ihm und meinte, es sei schön, ihn mal wieder hier zu erleben. Er antwortete, dass er mich eh mal sprechen müsse. Er hätte jetzt noch einen anderen Job. Er sei jetzt Lehrer an einem Oberstufenzentrum. Auf meinen verdutzten Blick lächelte er: «Es ist keine richtige Klasse, sondern eine Förderklasse, 7. bis 9.!» Etwas naiv fragte ich ihn, ob er denn eine Zusatzausbildung gemacht hätte. Er verneinte, aber – so fügte er hinzu – das werde er sicher nachholen. Die Arbeit mache ihm nämlich Spass. «Gell», meinte er augenzwinkernd, «das hättest du nicht gedacht!» Ich schluckte meine aufkommende Empörung runter, weil ich Matthias sehr mochte und fragte ihn weiter, wie es denn so ginge. Er meinte, dass es am Anfang etwas chaotisch gewesen sei, aber es jetzt gut ginge. Vielleicht, könne ich ihm ja noch ein paar Tipps geben.

Zuzufügen ist noch, dass diese Förderklasse in Biel eigentlich eine Kleinklasse ist. 12 Schüler, allesamt mit einem spezifischen Förderbedarf und fast ausschliesslich mit Migrationshintergrund. Sie seien brav, die Eltern auch.

Reklamationen sind wohl keine zu erwarten. Heilpädagoginnen sind rar gesät, und diejenigen Pädagogen, die eine solche Klasse führen und wirklich fördern könnten, haben sich längstens in gut alimentierte Bürojobs verzogen, wo sie an neuen Inklusionsmodellen , an einer notenfreie Schulstube oder an der Abschaffung  der Hausaufgaben arbeiten.

*Name geändert

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“Die gegenwärtige Reformdiskussion geht an den realen Problemen der Volksschule vorbei” https://condorcet.ch/2024/03/die-gegenwaertige-reformdiskussion-geht-an-den-realen-problemen-der-volksschule-vorbei/ https://condorcet.ch/2024/03/die-gegenwaertige-reformdiskussion-geht-an-den-realen-problemen-der-volksschule-vorbei/#respond Sat, 23 Mar 2024 13:54:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=16254

Während einer halben Stunde tauschten sich Lukas Leuzinger, Redakteur des Schweizer Monats und Alain Pichard, Condorcet-Autor und Sekundarlehrer und Grossrat über die derzeitigen Schuldebatten aus. Dabei ging es um Antisemitismus, Lehrkräftemangel und die medial inszenierte Reformdebatte.

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Wie moderne und gerechte Schule für alle geht https://condorcet.ch/2023/11/wie-moderne-und-gerechte-schule-fuer-alle-geht/ https://condorcet.ch/2023/11/wie-moderne-und-gerechte-schule-fuer-alle-geht/#comments Sat, 11 Nov 2023 09:19:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=15279

Ein erstaunlicher Beitrag von Andreas Schleicher, Vater der PISA-Studien. Absage an die Bürokratie, eine Ode an die guten Lehrkräfte, überfordernde Lehrpläne. Das Herz der Bildungsidee sei verloren gegangen. Wir reiben uns die Augen und fragen unsere Leserinnen und Leser: Ist hier jemand vom Paulus zum Saulus geworden? Der Bericht von Herrn Schleicher erschien auf der Homepage des ZDF, gefolgt von einem Interview mit dem unermüdlichen Richard David Precht.

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Wir sehen in der heutigen Gesellschaft, dass sich die Menschen wirtschaftlich, kulturell und politisch immer stärker polarisieren und voneinander unterscheiden. Um eine gemeinsame Grundlage für mehr Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen, gibt es nur eine Lösung: gute Bildung. Wir haben viele Instrumente, um Ressourcen umzuverteilen, aber an den Ursachen von Ungleichheit können wir nur durch bessere Bildung arbeiten und deswegen ist dieses Thema so wichtig.

Gastautor Andreas Schleicher, OECD-Bildungsexperte

Die meisten Schülerinnen und Schüler sind heute Konsumenten vorgefertigter Lerninhalte, Lehrkräfte sind zu Dienstleistern, Kinder und Eltern zu Kunden geworden. Das Herz der Bildungsidee ist verloren gegangen. In vielen anderen Ländern werden gleichzeitig alte, verkrustete Lernsysteme radikal verändert.

Lernen aus dem Lockdown: Unsere Schulen sind nicht mehr zeitgemäß! Doch an der Schule der Zukunft wird bereits gearbeitet. Lesch Kosmos zeigt neue Studien zum Lernverhalten und was neue Lernsysteme wirklich brauchen.

Wenn Schüler mitbestimmen, entstehen neue Dynamiken

Ein spannendes Beispiel: Portugals Schulsystem war sehr vertikal ausgerichtet und überaus bürokratisch. Dann hat man beschlossen: Wir machen einen Versuch und geben Schulen einen Euro pro Schüler extra und dieser Euro wird von den Schülern ausgegeben, sie konnten selbst entscheiden, wie sie diese Ressourcen einsetzen.

 

Mit finanziellen Anreizen gewinnt man in Schweden die engagiertesten und erfolgreichsten Lehrkräfte für besonders problembelastete Schulen.

 

Das hat zu einem grundlegenden Mentalitätswandel geführt. Plötzlich waren die Schüler Akteure, nicht mehr Konsumenten, und sie haben dann zum Beispiel auch bei der Schulleitung nachgefragt: Warum leckt hier das Dach? Warum haben einzelne Schüler nicht die Mittel für eine Teilhabe an schulischen Aktivitäten? So kann man Dinge verändern, es ist tatsächlich gar nicht so schwer.

Gute Bildung beginnt mit Ausbildung guter Lehrer

Der Blick nach Finnland zeigt: Alle jungen Menschen, die Lehramt studieren wollen, machen dort einen Zulassungstest. Die Auswahl aber findet erst im zweiten Studienjahr statt, wo die Studierenden sich in der Praxis bewähren und unter Beweis stellen müssen, dass sie erfolgreich mit Kindern und Jugendlichen und mit dem Kollegium zusammenarbeiten können. Von zehn Bewerbungen wird im Schnitt nur eine ausgewählt.

Um dem Lehrermangel entgegenzuwirken soll eine neue Plattform Quereinsteigern den Einstieg in den Schuldienst ermöglichen und erleichtern.

Schweden bezahlt Lehrer individuell

Was wäre, wenn wir Schulen finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen, die sich vorrangig daran bemessen, vor welchen Herausforderungen sie im Einzelnen stehen? Plötzlich würde es interessant, sich in diesen Schulen um die schwierigsten Kinder und Jugendlichen zu kümmern.

Schweden hat das genauso gemacht und dort werden sogar die Lehrkräfte individuell bezahlt. Mit finanziellen Anreizen gewinnt man die engagiertesten und erfolgreichsten Lehrkräfte für besonders problembelastete Schulen.

Schulen brauchen mehr Entscheidungsfreiheit

An deutschen Schulen herrscht oft noch ein falsch verstandener Konformismus, nicht zuletzt durch eine erdrückende Bürokratie, die über das Schulsystem entscheidet. Nur 17 Prozent der Entscheidungen darüber werden in Deutschland in den Schulen selbst getroffen. Daher braucht es mehr Entscheidungsfreiheit. Im Nachbarland Niederlande sind es neun von zehn Entscheidungen, um genau zu sein 93 Prozent.

Ich glaube, wir können vor Ort viel mehr Dinge verändern, als uns das oft bewusst ist. Dieser Glaube an die Bürokratie ist eigentlich schlimmer als die Bürokratie selber.

 

Die meisten Schülerinnen und Schüler sind heute Konsumenten vorgefertigter Lerninhalte, Lehrkräfte sind zu Dienstleistern, Kinder und Eltern zu Kunden geworden. Das Herz der Bildungsidee ist verloren gegangen.

 

Zu wenig Lehrer*innen, zu viele Hausaufgaben, überfordernde Lehrpläne und unmotivierte Schüler*innen – Kritik am Schulsystem gibt’s in Deutschland nicht zu wenig.

Man muss aber auch ehrlich sein, ganz einfach ist ein solcher Wandel nicht. Teilweise sind auch wir als Eltern Teil des Problems. Wir werden sehr schnell nervös, wenn unsere Kinder nicht mehr das lernen, was früher einmal wichtig für uns war oder wenn sie Dinge lernen, die wir nicht verstehen. Und als Politiker gewinnt man meist auch keine Wahlen mit Bildungsreformen, weil es mitunter sehr lange dauern kann, gute Ideen umzusetzen.

Ideen müssen umgesetzt werden – und alle müssen mitmachen

Aber wir haben keine andere Wahl. In der Vergangenheit konnte man sagen: Wir nehmen das Geld der Reichen, geben es den Armen und leben einfach mit den Konsequenzen einer solchen Umverteilung. Das funktioniert heute nicht mehr.

Soziale Beteiligung ist das große Thema unserer Zeit und tatsächlich sind die spannendsten Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie für mich, dass wir das erreichen können, dass wir das Potenzial aller jungen Menschen wirklich einbringen können in dieser Gesellschaft. Was man dafür braucht, ist wirkliches “Leadership”, Menschen, die bereit sind, das Richtige zu tun und sich einzusetzen, auf jeder Ebene des Systems.

Andreas Schleicher ist Bildungsforscher und Direktor für Bildung und Kompetenzen bei der OECD und Erfinder der Pisa-Studien. Die neuesten Ergebnisse der Erhebungen werden im Dezember 2023 veröffentlicht.

 

Andreas Schleicher wurde 1964 in Hamburg geboren. Obwohl er als ungeeignet für das Gymnasium eingestuft wurde, absolvierte er später das Abitur an der Waldorfschule mit einem Notendurchschnitt von 1,0. Anschließend studierte er in Hamburg Physik. Dort hörte er auch Vorlesungen des englischen Erziehungswissenschaftlers Neville Postlethwaite und machte den Master of Science für Mathematik an der Deakin University in Melbourne. Schleicher erhielt neben anderen Auszeichnungen 2003 den Theodor-Heuss-Preis für sein beispielhaftes demokratisches Engagement.

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Eine Leseprobe des Schreckens https://condorcet.ch/2023/10/eine-leseprobe-des-schreckens/ https://condorcet.ch/2023/10/eine-leseprobe-des-schreckens/#comments Fri, 06 Oct 2023 07:06:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=15069

Fast 10 Jahre nach der Vorstellung des Monstrums Lehrplan 21 entdeckt der fünffache Vater Markus Somm die absurden Kompetenzziele dieses bürokratischen Machwerks und schüttelt den Kopf ob so viel Heilslehre. In seinem Newsletter im Nebelspalter seziert der Herausgeber des Nebelspalter die absurden Zielformulierungen und weist darauf hin, dass dieses Machwerk nur schwach legitimiert gewesen sei. Verkauft habe man diesen Lehrplan als Harmonisierungsvorlage.

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Die Fakten: Der Lehrplan 21 wurde inzwischen in allen Deutschschweizer Kantonen eingeführt. Er umfasst 470 Seiten, 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen.

Markus Somm: Herausgeber und Chefredakteur des Nebelspalter: Ein Irrsinn

Warum das wichtig ist: Selten haben Bürokraten und Theoretiker einen grösseren Unsinn hervorgebracht. Eine Leseprobe des Schreckens.

Wenn ich Ihnen jetzt unterstelle, dass Sie den Lehrplan 21 nie gelesen haben, dann tue ich das aus zwei Gründen:

Weil ich nicht besser bin: Ich habe fünf Kinder, die in den letzten Jahren alle die öffentliche Schule besucht haben, trotzdem habe ich mich nie darum gekümmert, welchem Lehrplan sie dabei unterworfen waren

Und weil ich zweitens sicher bin: Hätten Sie diesen Lehrplan je gelesen, Sie hätten entweder Ihren Bildungsdirektor abgewählt oder Sie wären an irgendeine Universität gefahren und hätten dort das Institut für Erziehungswissenschaft in die Luft gesprengt.

Warum?

Lesen Sie selbst!

 

 

 

Unter dem Stichwort «Personale Kompetenzen» zum Beispiel (Lehrplan 21, Fassung des Kantons Zug) wird aufgeführt, was die Schüler alles so lernen müssen – wir reden hier von Primarschülern, Alter 6 bis 12. Um den wunderbaren O-Ton nicht zu beschädigen, zitiere ich vollständig:

«Schülerinnen und Schüler

  • können eigene Gefühle wahrnehmen und situationsangemessen ausdrücken.
  • können ihre Interessen und Bedürfnisse wahrnehmen und formulieren.
  • können Stärken und Schwächen ihres Lern- und Sozialverhaltens einschätzen.
  • können auf ihre Stärken zurückgreifen und diese gezielt einsetzen.
  • können Fehler analysieren und über alternative Lösungen nachdenken.
  • können auf Lernwege zurückschauen, diese beschreiben und beurteilen.
  • können eigene Einschätzungen und Beurteilungen mit solchen von aussen vergleichen und Schlüsse ziehen (Selbst- und Fremdeinschätzung).
  • können aus Selbst- und Fremdeinschätzungen gewonnene Schlüsse umsetzen»

Warum auch nicht? Sie sind mit 10 Jahren ja praktisch erwachsen. Wann dürfen Sie einen Grosskonzern gründen?

Selbst die Pädagogen, die diesen monströsen Katalog entworfen haben, dürften ihren eigenen Anforderungen in den seltensten Fällen gerecht werden.

Am meisten hat mich beeindruckt, wie unsere Kinder lernen, Konflikte zu lösen. Hätten die Russen und die Ukrainer doch nur rechtzeitig den Lehrplan 21 eingeführt!

«Die Schülerinnen und Schüler …

  • können sachlich und zielorientiert kommunizieren, Gesprächsregeln anwenden und Konflikte direkt ansprechen.
  • können sich in die Lage einer anderen Person versetzen und sich darüber klar werden, was diese Person denkt und fühlt.
  • können Kritik angemessen, klar und anständig mitteilen und mit konstruktiven Vorschlägen verbinden.
  • können Kritik annehmen und die eigene Position hinterfragen.
  • können Formen und Verfahren konstruktiver Konfliktbearbeitung anwenden.
  • können in einer Konfliktsituation einen Konsens suchen und diesen Konsens anerkennen.
  • können Konfliktsituationen, die sich nicht lösen lassen, aushalten und nach neuen Konfliktlösungsmöglichkeiten suchen; wenn nötig holen sie bei Drittpersonen Unterstützung.
  • können die von der Schule bereitgestellten Hilfen nutzen und Instrumente zur gewaltfreien Konfliktlösung akzeptieren»

Wenn ich daran denke, dass die meisten Erwachsenen (nicht nur russischer Herkunft) noch mit 50 Jahren nicht in der Lage sind, in einem Restaurant sich auch nur angemessen zu beschweren, wenn ihnen der Kellner die Suppe über den Kopf schüttet – wie etwa «Formen und Verfahren konstruktiver Konfliktbearbeitung anzuwenden» –, dann mag man ermessen, wie weltfremd dieses Programm der Menschenverbesserung ist.

Selbst die Pädagogen, die diesen monströsen Katalog entworfen haben, dürften ihren eigenen Anforderungen in den seltensten Fällen gerecht werden. Fragen Sie deren Ehefrauen bzw. Ehemänner. Hinzu kommt, dass dieser Lehrplan 21, der inzwischen in der ganzen Deutschschweiz gilt, demokratisch nur schwach legitimiert ist. Wir stimmten nie darüber ab.

Zwar nahmen Volk und Stände 2006 mit grossem Mehr den Bildungsartikel in der Bundesverfassung an, auf den sich der Lehrplan mit viel interpretatorischer Fantasie abstützen lässt, aber explizit war das damals kein Thema.

Man sprach über eine Harmonisierung der Ferien und der Schulpflicht. Kaum je darüber, dass man den Kindern schweizweit Hunderte von «Kompetenzen»vermitteln will

Es sind vielleicht zwei Dinge, die mich so bestürzen, wenn ich diesen Lehrplan studiere:

  1. Der naive Glaube, dass alles, was man reguliert, sich dann auch nach den Regulierungen richtet:Hauptsache, wir haben es aufgeschrieben, dann ist die Welt bereits gerettet
  2.  Der Detaillierungsgrad des Unsinns. Das sind offensichtlich Menschen, die sich nicht kurzfassen können, weil sie selber einen so grandiosen Salat im Kopf haben, dass sie das, was sie achtjährigen Primarschülern beibringen möchten, wohl selbst zuerst lernen müssten:

Den klaren Gedanken, das pralle Leben, Erfahrung. Die zehn Gebote, denen bis heute die meisten Juden und Christen in irgendeiner Art und Weise nachleben, umfassen: zehn Regeln und je nach Übersetzung rund 313 Wörter (hebräische Originalfassung) bzw. 320 (Deutsch)

Der Lehrplan 21 besteht aus:

  • 470 Seiten
  • 363 Kompetenzen
  • 2304 Kompetenzstufen

Ursprünglich waren es 557 Seiten, 453 Kompetenzen und 3123 Kompetenzstufen. Nachdem Kritik aufgekommen war, kürzte man den Lehrplan 21 um rund 20 Prozent.

Da haben unsere Kinder aber Glück gehabt.

Oder um es mit Karl Kraus, dem österreichischen Schriftsteller, zu sagen:«Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben: man muss ihn auch ausdrücken können.»

Dieser Beitrag erschien zuerst im Nebelspalter: https://www.nebelspalter.ch/lehrplan-21,-lehrplan-des-irrsinns

 

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Es gibt immer noch zu viele Tabus in der Bildungsdebatte https://condorcet.ch/2023/09/es-gibt-immer-noch-zu-viele-tabus-in-der-bildungsdebatte/ https://condorcet.ch/2023/09/es-gibt-immer-noch-zu-viele-tabus-in-der-bildungsdebatte/#respond Thu, 21 Sep 2023 11:22:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=14958

Der Journalist Daniel Wahl hat sich auf Bildungsthemen spezialisiert und hat schon deshalb ein Alleinstellungsmerkmal, weil er die gängigen Bildungsnarrative der Bildungsnomenklatura hartnäckig hinterfragt. Der 54-jährige Vater von vier erwachsenen Kindern lebt im Kanton Baselland und arbeitet beim Nebelspalter. Er war selber einmal Primarlehrer in Seltisberg (BL) und kennt deshalb die Schule als Praktiker, von der Elternseite sowie als politischer Berichterstatter. Seine ersten Schritte in den Journalismus wagte er beim Gratisanzeiger Baselstab. Es folgten die Stationen Telebasel und Baz, bevor er zu seinem aktuellen Tätigkeitsfeld wechselte, dem Nebelspalter. Der Condorcet-Blog veröffentlichte schon viele seiner Berichte. Ein Grund, sich einmal mit diesem Journalisten zu unterhalten. Alain Pichard traf ihn in Basel.

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Condorcet:

Wenn man die Bildungsberichterstattung in der Schweiz liest, haben Sie schon fast ein Alleinstellungsmerkmal. Sie hinterfragen und sind stets kritisch. Könnte das damit zu tun haben, dass Sie als Vater oder selbst als Schüler eigene Erfahrungen aufarbeiten mussten?

Daniel Wahl

Ich hatte eine unauffällige Schulkarriere, die im damals dörflichen Therwil begann, wo ich die Primarschule besuchte. Durch einen Umzug hatte ich auf der Sekundarstufe 1 im Nachbardorf Oberwil gewisse Anbindungsschwierigkeiten, aber sicher kein Trauma (lacht). Prägender waren da meine Erfahrungen als Vater von vier Kindern.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Sie liegen oft auf der Linie unseres Bildungsblogs.

Ganz frech gefragt: Wie waren Sie als Schüler?

Nach der Primarschule war ich war kein besonders guter Schüler mehr. Die Beziehungen zu den Lehrern habe ich als distanziert erlebt. Vieles funktionierte bei mir über die Beziehung. Eine Ausnahme darin war der Mathematiklehrer, auf der Sekstufe 1, auf dessen Citroën Deux chevaux ein Kleber «Atomkraft, nein danke» prangte.

Ganz stereotyp damals…

Genau, der hatte eine tolle Beziehung zu den Schülern und fiel mir durch seine Menschlichkeit auf.

Mit Ihrer Kritik an der gegenwärtigen Bildungspolitik liegen Sie sehr oft auf der Linie des Condorcet-Blogs. Könnten Sie mir zwei, drei Hauptfehlentwicklungen des derzeitigen Bildungsgeschehens nennen?

Beginnen wir mal mit den Lernlandschaften und dem Werkstattunterricht, die ja der Individualisierung dienen sollten…

Und die Eigenaktivität der Schüler fördern wollten…

Diese Lernformen haben amerikanische Grossraumbüros zum Vorbild und die Schulstube zur anonymisierten Bürolandschaft umfunktioniert. Sie entwickelten sich zu einer «Papierliwirtschaft», waren in Wirklichkeit Frontalunterricht vom Feinsten und erzeugten eine unheilvolle Distanz zur Lehrkraft. Dann halte ich die Umsetzung der integrativen Schule für einen der schwerwiegendsten Eingriffe in unser Schulsystem. Sie hat zu viel Unruhe, zu viele Akteure ins Schulzimmer gebracht, erfordert zu viele Absprachen, sprich Bürokratisierung. Sie ist zu kompliziert. Und schliesslich finde ich, dass mit der Einführung des kompetenzorientierten Unterrichts das Fundament des Bildungsbürgertums erodiert. Die auf allen Ebenen kompetenten Schüler wissen nicht mehr, was sie wissen sollten.

Daniel Wahl, Journalist beim Nebelspalter: Vorgefasste Meinungen sind nicht so mein Ding.

Von welchem Fundament sprechen Sie da? Und wer soll denn definieren, was sie wissen sollen?

Grundsätzlich wird der Bildungskanon durch das Leben und die Erwartung an eine selbstbestimmte, mündige Existenz definiert. Ich denke natürlich auch, dass sich der Bildungskanon im Laufe der Zeit verändert.

Können Sie das etwas konkreter ausdrücken?

Ohne Basiswissen geht es nicht. Dazu ein Beispiel. Die Bundestagsabgeordnete Emilia Fester blamierte sich in der Öffentlichkeit, weil sie das Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland nicht nennen konnte und ebenso wenig wusste sie, dass Bismarck der erste Reichskanzler war. Ich bin überzeugt, dass die Schule ihr die Kompetenz vermittelt hat, solche Informationen zu erarbeiten. Aber ihr Wissen war im richtigen Moment nicht abrufbar. Und schlimmer noch: Sie verspürte gar keine Notwendigkeit dazu, das Wissen je abrufen und sich einprägen zu müssen. Ohne feste Bezüge kann aber keine Entwicklung entstehen, es bleibt alles bruchstückhaft. Die Formel «These – Antithese – Synthese», die in der Aufklärung ihre grosse Blüte erfuhr, lässt sich nicht ohne Wissen anwenden. Die immer schriller und polemisch werdenden Debatten in den Medien sind Ausdruck dass wir die Formel gar nicht mehr anwenden.

 Noch einmal: Wer definiert, was die Schüler wissen sollen?

Er wird vom jeweiligen kulturellen Raum auf Basis seiner Werte von seinen Kindern eingefordert. Es ist eine kulturelle Vereinbarung, die sich «buttom up» definieren sollte. Auch dazu ein Beispiel: Was ist uns die Rechtschreibung wert, warum sollten wir sie einfordern? Wer einen Liebesbrief ohne profunde Kenntnisse der Rechtschreibung verfassen will, hat ein soziales Problem. Der oder die Empfängerin denkt beim Lesen: Er oder sie gibt sich keine Mühe und nimmt sich keine Zeit für mich. Sollten wir also die Rechtschreibung nun aus Bequemlichkeit preisgeben und heute der KI überlassen?

Man bleibst den formalen Plattitüden verhaftet und ist nicht selbstbestimmt.

Aber Schreiben ist eine Kompetenz…

Gewiss doch …. und immer an konkrete Formen gebunden, welche die Literatur hervor- und zur Blüte gebracht hat. Leider hängt die heutige Generation zunehmend auf Whatsapp-Niveau.

Was ist da falsch?

Die heutige Jugend schreibt viel, kommuniziert viel, kritisierte eine Germanistin von der Universität Basel meine skeptische Einstellung gegenüber den heutigen Deutschunterricht. Aber mal ehrlich: Die Kommunikation in den Sozialen Medien, die von Hieroglyphen dominiert wird, ist getrieben, ohne Reflexionsfähigkeit. Man bleibt den formalen Plattitüden verhaftet und ist nicht selbstbestimmt.

Wie informieren Sie sich über die Bildungsthemen?

Ich habe mittlerweile ein festes Netzwerk von Lehrkräften, Unternehmern, Lehrlingsausbildnern. Dazu kommen meine Erfahrungen als Vater und dann ist ja da noch die immer grösser werdende Bildungsliteratur. Und, das darf man nicht vergessen, jedes Interview, das man führt, jede Recherche führt zu Exzellenz, also zu vermehrtem Wissen.

Und wie vermeiden Sie Einseitigkeit?

Margrit Stamm: Erfrischend undogmatisch

Ich habe mir die Neugier bewahrt und nehme für mich in Anspruch, ehrlich zu fragen, um hinhören zu können. Vorgefertigte Meinungen sind nicht mein Ding.

Sie treffen in Ihrer täglichen Arbeit viele Menschen aus dem Bildungsbereich. Wer ist Ihnen da besonders aufgefallen?

Da fällt mir die Bildungsforscherin Margit Stamm ein. Sie ist erfrischend immun gegen ideologische Behauptungen und hat einen pragmatischen Zugang zu ihren Untersuchungsfeldern. Das führt hin und wieder zu überraschenden Thesen, wie zum Beispiel ihre Ergebnisse über den phänomenalen Bildungswert der Secondos. Auch das Gespräch mit dem emeritierten Bildungsforscher Juergen Oelkers über den Reformwahn im Bildungswesen blieb mir nachhaltig in Erinnerung.

Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.

Eines der Narrative der derzeitigen Bildungspolitik ist die Gleichung «mehr Geld = bessere Leistungen». Sie haben letzthin im Nebelspalter den Bericht des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern vorgestellt, der dieses Narrativ in Frage stellt. Haben Sie das Gefühl, dass im Bildungsbereich Geld auch verschwendet wird?

Ich sehe derzeit vor allem im universitären Bereich, der ja unglaubliche Summen verschlingt, eine problematische Mengenausweitung. Besonders im Bereich Geisteswissenschaften. Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.

Wir haben da als Gegenstück die Fachhochschulen…

Um ihre Hörsäle und Klassenzimmer füllen zu können, müssen sie Studenten im Ausland rekrutieren. In Shanghai und so weiter. Und sie drängen leider auch immer mehr in die universitären Gebiete vor und treiben parallel zu den Universitäten die Grundlagenforschung voran, statt bei den angewandten Wissenschaften zu bleiben.

Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie.

Die Player in der Bildungspolitik finden sich derzeit in den Bildungszentralen unseres Landes. Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben. Wo sollte die Bildungspolitik nach Ihrer Meinung ansetzen?

Eine grosse Frage. Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie. Mit der Möglichkeit, alles messbar zu machen und zu dokumentieren, will man heute angeblich die Bildungsqualität steigern. Aber da sind praxisferne Leute in den Schaltzentralen grosser Bildungstanker mit dem Unvermögen, auf Fehl- und Kollisionskurse zu reagieren. Die Einführung von Frühfranzösisch mit ihren Lehrmitteln «Mille feuilles» und «Clin d’oeil» ist ein solches Beispiel. Bis das korrigiert ist, vergeht eine Generation.

Welche Rolle spielen dabei die Lehrerverbände?

Sie sind den Bildungsverwaltungen zu nah und hörig. Sie orientieren sich nach «oben»; seltsam, dass sie kaum auf ihre Basis hören.

Dagmar Rösler, LCH-Präsidentin: Ihre Forderungen entsprechen genau den Vorstellungen der Bildungsbürokratie.

Aber die LCH-Präsidentin Dagmar Rösler gibt ja selber noch Schule!

Während in zahlreichen Kantonen Eltern und Lehrer die integrative Schule in Frage stellen, entsprechen Röslers Stellungnahmen genau den Vorstellungen der Bildungsbürokratie. Vielleicht ist eine solche Haltung das Eintrittsbillett, um die Pforten zum Palast des Bildungsestablishments zu durchschreiten. Ein paar Jahre war ich in der Schulpflege, beziehungsweise im Schulrat. Da habe ich selbst erlebt, dass man mit der Einführung der Schulleitungen die Korporale eingesetzt hat, welche die behördlichen «Glücksverheissungen» durchsetzen sollen. Ich will das System Schulleitung dabei nicht schlecht reden. Es gibt einige hervorragende, kritische und umsichtige Schulleitungen. Aber sie haben es im System schwer und müssen sich immer wieder absichern.

Die weissen Raben, sozusagen

Grossartige Ausnahmen!

Die Bildungsberichterstattung erlebt ja derzeit eine regelrechte Blüte. Berichte aus der Schule sind en vogue, oder sehen Sie das anders?

Ich denke, es macht sich ein Malaise bemerkbar. Die Gesellschaft merkt, dass da etwas nicht mehr stimmt. Vielen Jugendlichen geht es nicht mehr gut. Sie sind psychisch anfällig, wenig kritikfähig, zu wenig resilient. Ich kenne Lehrmeister, die daran fast verzweifeln. Zudem produziert das teuerste Schulsystem der Welt an die 20 Prozent Illetristen. Da kann doch etwas nicht stimmen. Somit spiegelt die Berichterstattung in den Medien dieses gesellschaftliche Unbehagen.

Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen.

Und woran krankt die Bildungsberichterstattung?

Es gibt immer noch zu viele Tabus. Man sieht den Elefanten im Raum nicht oder weigert sich, ihn zu benennen. Dazu zähle ich die Migration, die die Volkschule an den Anschlag gebracht hat. Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen. Was passiert gesellschaftlich: Wir haben zu wenig Nachwuchs, die Geburtenziffer ist weit unter dem Wert, damit sich die Bevölkerung erhält. Wir kompensieren das Manko mit der Migration. Ökonomisch ausgedrückt: Die Paare haben ihre Erziehungsleistung ins Ausland ausgelagert, die Gesellschaft kauft den Nachwuchs mit der Einwanderung ein. Der Preis dafür ist sehr hoch und muss von der Volksschule bezahlt werden. Das sollte man ansprechen.

Eltern in die Pflicht nehmen. Der Kanton Thurgau wurde vom Bundesgericht zurückgepfiffen.

Ein heisses Eisen…

Und nicht das einzige… Ein anderes ist, dass viele Eltern ihre Erziehungsverantwortung abgeben. Und sie tun das auch nur, weil sie es sich erlauben können. Mit offenen Armen übernimmt vielerorts die Schule diese Erziehungsleistung.

Um nachher darüber zu klagen, was sie alles übernehmen muss…

Und mit den entsprechenden Forderungen nach Aufstockung der Ressourcen… Die Schule meiner Kinder glaubte, sie müsse mit den Schülern den Jahrmarkt, in Basel, die Herbstmesse, besuchen. Dabei ist das die Aufgabe der Eltern, der Göttis und der Grosseltern. Weil das Zeitbudget der Schule beschränkt ist, geht diese Erziehungsleistung der Schule immer auf Kosten der Bildung.

Es bleibt ihr auch nichts anderes übrig; wir haben ja Schulpflicht.

Der Kanton Thurgau wollte Eltern, die nicht dafür sorgten, dass ihre Kinder vor dem Schuleintritt angemessen Deutsch können, bezahlen lassen – für Deutschkurse entsprechend ihrem Niveau. Das Bundesgericht pfiff die Behörden zurück. Ganz dahingestellt, ob dies wirklich die richtige Massnahme war, gilt es doch festzuhalten, dass es diese Ansätze gäbe. In einem Milizsystem wird auch erwartet, dass man gemeinsam Feuerwehrdienst leistet oder der Armee dient. Warum soll nicht von Eltern eingefordert werden, ihrem Nachwuchs das Sprechen so beizubringen, dass ihr Kind schulreif ist? Leider fehlt die Bereitschaft, dies offen zu diskutieren.

Wie haben Sie dies als Vater gelöst?

Als ich merkte, dass meine Kinder in der Schule bis zur fünften Klasse keinen Aufsatz schreiben mussten, dass das Verständnis in ihren Texten nach drei, vier Sätzen völlig auseinanderbricht, habe ich sie gezwungen, jeweils in den Ferien einen Aufsatz zu schreiben.

Sie werden Sie dafür geliebt haben…. Haben Sie sie auch korrigiert?

Sie haben mich gehasst. Und ja, selbstverständlich habe ich sie korrigiert.

Und benotet?

Nein. Ich habe sie mit ihnen ausführlich besprochen – und oh Himmel – sogar ins Reine schreiben lassen. Heute lachen wir am Abendtisch darüber.

Daniel Wahl, ich danke Ihnen für das Gespräch

 

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Humane Energie kommt aus Freiheit https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/ https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/#comments Sat, 24 Jun 2023 07:09:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=14363

Viele Schulreformen kommen in guter Absicht. Nur fragen sie kaum: «Was bedeutet das für die Klasse, für die Lehrperson, für das Gesamte?» Genau das aber fragt Björn Bestgen in seinem bildungspolitischen Weckruf «Wenn jetzt nichts geschieht, geht die Volksschule kaputt». Publiziert hat ihn die «Schweiz am Wochenende» vom 03. Juni 2023 (S. 10-11). Condorcet-Autor Carl Bossard kommentiert in der CH Media vom 13. Juni das aufrüttelnde Interview – dies unter dem Stichwort: Wenn Überkomplexität das Entscheidende der Schulbildung erschwert.

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Börn Bestgen, Schulleiter: «Wenn wir jetzt nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt.

Börn Bestgen ist Schulleiter und kennt die Nöte des pädagogischen Parterres hautnah. Der Praktiker redet Klartext. In seiner nüchternen Analyse fragt er nach den Folgen der vielen Reformen. Sein Fazit: «Unser System ist am Anschlag angelangt.» Wir sind überfordert und gefährden unsere Volksschule. Er verlangt von der Bildungspolitik nur eines: «Weniger ist mehr. Qualität statt Quantität. Wir müssen uns auf das Wesentliche einigen. Das nimmt Druck weg und verbessert die Qualität.»

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Mit dem Umbau erfolgte ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus

Bestgen weiss, wovon er spricht. Seit über 40 Jahren steht er in der Schule. Diese Schule sah sich in letzter Zeit einem Feuerwerk an Reformen gegenübergestellt. Die umfangreichen Innovationen wurden meist von oben verordnet, oft gar gegen die langjährige Erfahrung der Praktiker und gegen wissenschaftlich erhärtete Befunde. Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Die Stichworte heissen: früher Fremdsprachenunterricht, Integration und Inklusion, selbst- und kompetenzorientiertes Lernen, Qualitätsmanagement und Lehrplan 21 «mit seiner gnadenlosen Überforderung aller Beteiligten», so Bestgen wörtlich. Es sind unzählige Teilprojekte. Kaum jemand hat den Überblick. Die Schule wurde nicht nur radikal umgebaut; mit diesem Umbau erfolgte auch ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus. Die Schuladministration nahm zu; die Bildungsbürokratie wuchs und entfernte sich von der Praxis. Die Institution Schule ist zum Verwaltungsapparat geworden. Auch darauf verweist Bestgen: «Da wird in einem Verwaltungsbüro irgendetwas entschieden, ohne dass man dort die Realität kennt.» Von den Stäben fühlt er sich darum nicht ernst genommen.

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden.

Mit der Zunahme der Bürokratie nahmen auch die Vorschriften zu. Jede Reform brachte neue Vorgaben, erzeugte zusätzliche Dekrete und Direktiven, produzierte Papier und beanspruchte Berichte. Das alles engt den pädagogisch notwendigen Freiraum ein. Das Verantwortlich-Sein für die komplexen Lernprozesse der Kinder und Jugendlichen aber braucht Freiheit. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus Reglementen. Darum sagt Bestgen dezidiert: «Wir sollten die Lehrpersonen administrativ entlasten. Die klagen ja nie über die Kinder, sondern über das Drumherum. Das führt zur Überforderung.»

Nicht an kleinen Stellschrauben drehen

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt ihre beabsichtige Wirkung gar um. Die Überkomplexität des Bildungssystems aufs Wesentliche und Grundlegende zu reduzieren, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten.

Bestgen, der Praktiker aus dem pulsierenden Schulparterre, fordert darum ein «gemeinsames Commitment der Bildung». Ob man aber seinen Mahnruf in der erfahrungsverdünnten Luft der Dachterrassen hört? Wieder ein Rufer in der Wüste? Vielleicht winkt darum Friedrich Dürrenmatt aus dem Grab: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Die Geschichte um die Folgen der Bildungsreformen ist noch nicht zu Ende. Leider.

An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht.

 

 

 

 

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Wie man einem Lehrer die Zeit stiehlt https://condorcet.ch/2023/05/wie-man-einem-lehrer-die-zeit-stiehlt/ https://condorcet.ch/2023/05/wie-man-einem-lehrer-die-zeit-stiehlt/#comments Sat, 27 May 2023 15:27:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=14138 Condorcet-Autor Alain Pichard befindet sich - wie viele seiner Berufskolleginnen und -kollegen - im Abschlussstress. Zeugnisse, Abschlusstheater, Abschlussreise und das grosse Schulfest stehen bevor. Ja, und dann sind noch die Schüler, die alles verpatzt haben und einer Triagestelle gemeldet werden müssen.

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Almir* und Vanessa* stehen einen Monat vor Schulschluss ohne eine Anschlusslösung da. Der eine ist aufgrund seines Verhaltens kaum vermittelbar und hat auch schon einen befristeten Schulausschluss hinter sich, die andere hatte eine „absolut sichere“ Zusage für eine Lehrstelle in der Tasche, was sich letztendlich als Illusion herausstellte.

Ich erspare Ihnen nun die Ursachenforschung, wie es zu den oben geschilderten Situationen kam. Sie kommen immer wieder vor.

Deshalb muss nun eine Lösung gefunden werden. Die Anmeldetermine für die staatlichen Brückenangebote sind zwar längst verstrichen, aber es gibt natürlich immer noch Gefässe, solche Jugendliche in ein Programm zu schicken. Im Folgenden möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einmal schildern, wie ein solches – im Prinzip banales – Anmeldeverfahren im Kanton Bern abläuft.

Nach Elterngesprächen beschliessen wir, Almir an das BVS anzumelden.

Freitag, den 19. Mai, 15.00 Uhr

Ich rufe das Sekretariat des BVS an. Es kommt der Telefonbeantworter. Rufen Sie bitte während der Büroöffnungszeiten an.

Montag, den 22. Mai, 12.00 Uhr

Ich telefoniere mit dem BVS.  Und frage, ob es noch möglich sei, Schüler an das BVS zu melden. Es wird mir mitgeteilt, dass man die Nachzügler nicht mehr direkt bei ihnen anmelden könne, sondern sich an die Triagestelle wenden müsse. Das müsse man mittels des elektronischen Anmeldeverfahrens lösen. Nein, sie könne mir den Link nicht mitteilen, er ist aber auf der Webseite der BKD unter Brückenangebote zu finden.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Versuchen Sie es später.

13.30 Uhr, SOL (Selbstorganisiertes Lernen)

Ich logge mich in das Anmeldeprozedere ein und beginne im Beisein von Almir alle nötigen Daten einzugeben. Vorher habe ich noch das Zwischenzeugnis scannen müssen, weil Almir es nicht mehr in seinen elektronischen Unterlagen finden konnte. Auf Seite 2 erhalte ich einen Code. Der wird mir an meine Mailadresse geschickt. Ich öffne diesen, setze ihn in der Anmeldeseite ein und fahre fort. Es kommt eine Fehlermeldung: “Sie haben nicht alle Fragen beantwortet. Bitte ergänzen Sie Ihre Angaben (1)” Und es geht nicht weiter. Ich überprüfe das Ganze noch einmal, aber es kommt immer noch die Fehlermeldung. Ich setze das Ganze neu auf und fülle noch einmal im Beisein von Almir alle benötigten Daten ein. Erneut erhalte ich einen Code, setze ihn ein, aber wieder kommt die Fehlermeldung. Ich sage Almir, dass ich anrufen werde, er solle in den Unterricht gehen.

15.30 Uhr, Unterricht beendet. Ich rufe die angegebene Nummer (Brückenangebote) an. Es kommt die Nachricht: „Es sind alle Leitungen besetzt, bitte gedulden Sie sich.“ Es folgt eine Musik. Dann: “Im Moment kann Ihr Anruf nicht entgegengenommen werden, versuchen Sie es später noch einmal.“

Ich versuche es noch zweimal. Immer dasselbe. Ich gebe auf und denke, dass ich es morgen erneut probieren werde.

Donnerstag, den 25. Mai, 13.00 Uhr

Es wurde inzwischen Donnerstag, weil ich am Diensrag und Mittwoch alle Hände mit dem Abschlusstheater und der Organisation der Abschlussreise zu tun hatte. Inzwischen hat sich auch Vanessa dazu durchgerungen, dass ich sie bei der Triagestelle anmelde. Ich stelle mit ihr die Dokumente zusammen und  versuche, sie mittels des elektronischen Anmeldeverfahrens anzumelden. Dasselbe Prozedere, der Code und die Fehlermeldung. Um 14.00 Uhr (Bürozeit) versuche ich erneut, das Sekretariat der Brückenangebote zu erreichen. Wieder kommt die Mitteilung: “Im Moment können wir Ihren Anruf nicht entgegennehmen, versuchen Sie es später noch einmal.” Es habe am Donnerstagnachmittag unterrichtsfrei, schnappe mir einen Computercrack aus meinem Kollegium und wir versuchen es zu zweit. Wieder ein Fehlschlag. Mein Kollege meint, da müssten wir anrufen.

Ich versuche es insgesamt an diesem Tag sechsmal. Ohne Erfolg. Daraufhin schreibe ich der Behörde folgende Mail:

Sehr geehrte Damen und Herren

Mein Name ist Alain Pichard. Ich versuche seit einigen Tagen Sie telefonisch zu erreichen und werde durch den Sprachautomaten jeweils abgewiesen. Ich möchte einen Schüler und eine Schülerin bei Ihnen an die Triagestelle anmelden. Ich komme dabei immer zur Codeeingabe und dann, beim Weiter, kommt die Meldung: “Sie haben nicht alle Fragen beantwortet. Bitte ergänzen Sie Ihre Angaben (1)” Und es geht nicht weiter. Ich habe alles überprüft, aber es geht nicht weiter.

https://www.bkd.be.ch/de/start/themen/bildung-im-kanton-bern/berufsbildung/brueckenangebote/anmeldung-brueckenangebote/onlineanmeldung-brueckenangebot.html?action=createPublicForm&accessKey=fb55284a-6ea9-4224-a453-be3e03ea88d5&language=de&mandant=MBA

Der Zulassungscode ist XXXXXXXX (dem Autor bekannt)

Was soll ich machen? Auch bei meinem anderen Schüler geht es nicht.

Freundliche Grüsse

Alain Pichard

Etwas später füge ich noch eine 2. Mail hinzu:

Ist es normal, dass ich während insgesamt acht Telefonaten immer mit der Voicemail abgespeist werde, dass mein Anruf im Moment nicht entgegengenommen werden kann?

Freitag, den 26. Mai, 16.30 Uhr

Ich erhalte folgende Mail:

Guten Tag Herr Pichard

Bitte entschuldigen Sie die Unerreichbarkeit. Auf welche Nummer haben Sie angerufen? Denn wenn Sie auf die Fachstellen-Nr. (031 633 84 54) anrufen und von uns tatsächlich, aufgrund von Sitzungen, Ferien oder Teilzeitarbeit, gerad alle besetzt sind, sollten Sie grundsätzlich an den Empfang weitergeleitet werden und nicht nur an die Voicemail verwiesen werden.

Zu Ihrer Anfrage betreffend Anmeldung an die Triagestelle. Schülerinnen und Schüler aus der 9. Klasse können erst wieder ab der Woche 23 an die Triagestelle angemeldet werden. Daher kommt aktuell eine Fehlermeldung. Diese und weitere Informationen finden Sie ebenfalls auf unserer Webseite: Anmeldung über die Triagestelle Brückenangebote.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Pfingstwochenende.

Freundliche Grüsse

A. B. , Sachbearbeiterin

Game over

Frage an die Wissenschaft: Wo ist es auf der Webseite vermerkt, dass man die Schüler erst ab Woche 23. wieder anmelden darf? Und wenn ich es übersehen habe, weshalb kommt diese Meldung nicht, wenn man das Prozedere beginnt? Wenn lediglich eine Fehlermeldung gemeldet wird, glaubt man in der Regel, man habe einen Fehler begangen. Und ja, ich habe genau bei dieser Nummer angerufen – und bin nicht weitergeleitet worden.

*Namen geändert

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Politische Migration: Tabubrecher Alain Pichard https://condorcet.ch/2023/04/politische-migration-tabubrecher-alain-pichard/ https://condorcet.ch/2023/04/politische-migration-tabubrecher-alain-pichard/#comments Fri, 07 Apr 2023 19:53:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=13614

Der Nebelspalter widmet unserem Redaktionsmitglied und Condorcet-Autor Alain Pichard einen längeren Beitrag. Dabei geht es nicht nur um Bildung, aber auch. Den Beitrag des Nebelspalter-Journalisten Hans-Ueli Aebi wollen wir unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten.

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Hans-Ueli Aebi, Nebelspalter-und Biel-Bienne-Journalist: Der Tabubrecher kritisierte auch die Bildungsbürokratie.

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat es getan, Gewerbeverbandspräsident Hans-Ulrich Bigler oder Nationalrätin und Ständeratskandidatin Esther Friedli auch: Sie wechselten die Partei. Die Jurassierin Baume-Schneider war in ihren wilden Jahren bei der kommunistischen Sozialistischen Arbeiterpartei und wechselte zur SP, Bigler begann bei der FDP, wurde 2019 aus dem Nationalrat abgewählt und versucht sein Glück nun bei der SVP, und Toni Brunners Berndeutsch sprechende Lebenspartnerin verliess die CVP ebenfalls Richtung SVP.

Aufsehen erregte die Zürcher Kantonsrätin Isabel Garcia: Zwei Wochen nach der Bestätigung im Amt wechselte sie von den Grünliberalen zur FDP und kippte die «Klima-Allianz». Empörungsprofis starteten eine Petition, welche Garcia zum Rücktritt auffordert. Allen gemeinsam: die politische Marschrichtung nach rechts. Die Gegenrichtung ist selten: Der Arboner Lokalpolitiker Lukas Auer wechselte 2021 von der CVP zur SP, damit er Präsident der regionalen Unia werden konnte.

Warum tun sie das? Stellen sie mit den Jahren fest, dass Sozialismus, Etatismus und Planwirtschaft keine bessere Welt erschaffen? Werden mit dem Alter Werte wie Traditionen, Zuverlässigkeit und Sicherheit wichtiger? Mutieren jugendliche Gutmenschen zu altväterischen Egoisten? Die Politikwissenschaft tappt im Dunkeln: Politik-Professor Adrian Vatter von der Uni Bern kann auf Anfrage «keine vertiefte systematische Studie zum Thema» nennen. Sein Kollege Michael Hermann wählte einen anderen Ansatz. Er untersuchte während 30 Jahren das Abstimmungsverhalten und stellte 2015 im Tagesanzeiger fest: «Es ist die Jahrgangsgruppe von 1956 bis 1970, die eine markante Wende vollzogen hat. Einst war dies die progressivste aller Generationen, heute stimmt sie etwas konservativer als der Schnitt.»

Der «Nebelspalter» geht auf die Suche nach weiteren «politischen Migranten» und wird in der Bielerseeregion fündig.

Alain Pichard – Der Tabubrecher

Alain Pichard, heute Mitglied der GLP und Betreiber des Bildungsblogs condorcet.ch

Alain Pichard ist der «bekannteste Lehrer der Schweiz». Der gebürtige Basler begann sein politisches Leben bei der Partei der Arbeit (PdA), war Gewerkschafter und trat später den Grünen bei. Pichard ist ein Lehrer von der Front, unterrichtete während Jahren an einer sogenannten «Brennpunktschule» mit einem Migrantenanteil von 90 Prozent plus. Wegen des akuten Lehrermangels übernahm er kurz nach seiner Pensionierung erneut eine Oberstufenklasse in Biel.

Der junge Lehrer setzte zunächst auf Partizipation und Basisdemokratie. Weil die Schüler deswegen weder motivierter waren noch mehr lernten, wechselte er mit den Jahren zum Prinzip «fördern und fordern». 2006 beging er einen Tabubruch, genauer gesagt zwei: Er verfasste für die VPOD-Zeitung einen Beitrag über Integrationsprobleme an Bieler Realschulen und benannte die problematischsten Volksgruppen. «Weil nicht sein kann, was nicht sein darf», verweigerte der VPOD die Publikation und Pichard veröffentlichte den Artikel «Türken, Albaner, Brasilianer» in der Weltwoche, dem Hofblatt des Klassenfeindes.

Kritik an Sozialindustrie und Lehrplan 21

Obwohl sich das Social-Media-Zeitalter erst am Horizont abzeichnete, brach ein Shitstorm über Pichard und seine Familie herein. «Man beschimpfte mich als Schweinehund und Blocher-Gesellen», erinnert er sich. Schulkameraden seiner Kinder wechselten die Strassenseite, die Grüne Partei Biels erwog Sanktionen bis zum Parteiausschluss. Pichard ging schliesslich von selber. Für die Grünliberalen sass er von 2009 bis 2016 im Bieler Parlament, seit 2022 ist er im Grossen Rat des Kantons Bern. Seine Schwerpunkte waren und sind Bildungs- und Gesellschaftspolitik. Mit scharfer Zunge und spitzer Feder kritisiert er Auswüchse der Sozialindustrie oder das Bürokratenmonster Lehrplan 21. Er betreibt für «Freunde des gepflegten Bildungsdiskurses» den Blog condorcet.ch, verfasst für diverse Medien (auch den Nebelspalter) Artikel und Kolumnen, ist regelmässiger Gast bei Radio und Fernsehen. Sein Credo: “Die Schule ist gut, wenn die Schüler und Schülerinnen in der Schule etwas lernen, und sie ist nicht gut, wenn sie das nicht tun.” Und warum Condorcet? “Der französische Philosoph, Mathematiker und Aufklärer hat eine immense Bedeutung für die Bildungsgeschichte der Schweiz. Und er steht ein für die Erziehung zu Mündigkeit.”

«Sozialismus heisst: Weniger Gerechtigkeit, mehr Armut, weniger Freiheit und mehr Umweltzerstörung.»

Pichard schildert seinen politischen Werdegang: «Ich wuchs in einem sozialdemokratisch geprägten Milieu der 60er- und 70er-Jahre auf.» Seine deutsche Mutter war eine glühende Anhängerin von Helmut Schmidt. Der Vater war aufstiegsorientiert, konservativ, aber ebenfalls eher links. «Meine erste politische Aktion war der Kampf gegen die Schwarzenbach-Initiative als 15-jähriger Gymnasiast.»

«Socialism doesn’t work»

Vietnamkrieg: Ein etwas naiver Protest gegen die Amerikafreundlichkeit meiner Eltern.

Als Gegner des Vietnamkriegs und beeindruckt von der Widerstandskraft des kommunistischen Vietcongs trat er als 16-Jähriger in die PdA ein. «Auch ein naiver Protest gegen meine amerikafreundlichen Eltern.» Schon damals wirkte Pichard an der Basis: als Vertreter im Schülerrat des Gymnasiums, im Soldatenkomitee in der Armee oder im N5-Komitee als Vogelliebhaber «und vor allem als Gewerkschafter». So gründete er die VPOD-Lehrergruppe in Biel, eine linke Lehrergewerkschaft.

Pichard war mehrfach in der Sowjetunion und lernte Russisch, hatte dort Freunde. Mit den Jahren reifte die Erkenntnis: «Socialism doesn’t work.» Denn Sozialismus heisst: «Weniger Gerechtigkeit, mehr Armut, weniger Freiheit und mehr Umweltzerstörung.» Als die Solidarnosc in Polen verboten wurde, trat er aus der PdA aus. Pichard attestiert der Partei im Rückblick trotzdem eine hohe Authentizität: «Wir haben im Gegensatz zu politischen Aktivisten der POCH und der Revolutionären Marxistischen Liga im Facharbeitermilieu politisiert.» Er fühlte sich unter diesen Leuten immer wohl. “Sie waren solid unterwegs, waren für Umverteilung, hatten nichts gegen billigen Strom und ein Stück Fleisch auf dem Teller, fuhren gerne Auto und legten grossen Wert auf Bildung. Wenn ich verlangt hätte, dass 16-Jährige, die nicht aufstehen wollen, Sozialhilfe bekommen, hätten die mir den Vogel gezeigt.” Ihr Motto: «Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts.»

Kritik an tendenziöser Ausstellung

Alain Pichard: Die Nakba-Austellung war eine antiisraelische Agitrop-Propaganda-Veranstaltung

Bei den Grünen gab es zwei Themenbereiche, die intern jeweils heftige Reaktionen auslösten: die Migrationsfrage, «beziehungsweise meine Haltung, dass die Integration keine Einbahnstrasse ist» und sein Engagement für Israel, «ein Teil meiner Verwandtschaft in den USA ist jüdisch». So kritisierte er 2012 eine tendenziöse Ausstellung zur Nakba, der Vertreibung von 700 000 Palästinensern. Pichard, Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Israel, sprach von «Geschichtsklitterung». Das brachte die damalige grüne Gemeinderätin in Bern, Mitglied des Patronatskomiees der Ausstellung und spätere Nationalrätin Regula Rytz auf die Palme. Pichard aber beharrte: Wichtige Fakten würden unterschlagen, «etwa die enge Beziehung des arabischen Grossmuftis zu Hitler oder die Vertreibung von Juden aus arabischen Ländern».

«Innerhalb der Linken ist die Stimmung sehr oft intolerant und ideologisch.»

Bei den Grünliberalen fühlt sich Pichard gut aufgehoben. «Vorschläge zu Problemlösungen prüfen wir unter drei Gesichtspunkten: Bringt die Lösung wirklich etwas? Wie ist der Aufwand im Verhältnis zum Ertrag? Hat die Lösung Nebenwirkungen?» Wenn die Prüfung positiv ausfällt, dann unterstützen die Grünliberalen diesen Vorschlag, «egal woher er kommt». Und: “Wir fallen nicht um, wenn es heiss wird.” In der GLP herrsche ein freier Geist und guter Umgang. Hier werden auch Minderheitsmeinungen akzeptiert. Innerhalb der Linken, «dazu gehören auch die Grünen», sei die Stimmung sehr oft «zum Abschneiden», will sagen «intolerant und ideologisch».

Alain Pichard (Mitte) anlässlich seiner Wahl in den Grossrat: Bei den Grünliberalen bin ich gut aufgehoben. Es herrscht dort der freie Geist.

Linke «extrem humorlos»

Zum Phänomen, warum sich Politiker mit den Jahren eher nach rechts orientieren, sagt Pichard: «Dies müsste man noch genauer untersuchen.» Das Links-Rechts-Schema habe indes ausgedient, heute sei es eher eine Milieu-Frage. «Urbane, universitätsnahe und staatsnahe Kreise, Kulturschaffende, Medienleute und Staatsangestellte gegenüber dem produktiven Sektor, Arbeitern, Mittelständlern sowie Unternehmern.» Sind eher rechts eingestellte Personen toleranter als Linke? «So pauschal kann man das nicht sagen», meint Pichard. Aber in der Tendenz würden Linke «sehr oft mit Diffamierung, Kontaktschuld, also wenn man mit den ’falschen Leuten’ zusammen ist, Verboten, Unterdrückung und Canceln» reagieren und zudem «extrem humorlos» daherkommen.

Pichard malt ein düsteres Bild. «Was heute in den Medien und in der Debatte abgeht, muss einem Sorgen bereiten.» Als Linker in den 70er-Jahren sei er nie diesen Druckversuchen ausgesetzt gewesen wie heutzutage Leute, die andere Thesen als den Mainstream vertreten. Diese linke Diskursverweigerung führe auch zu einer flachen intellektuellen Argumentationsfähigkeit. «Die linke Themensetzung ist öde, die Lösungsvorschläge stereotyp und die Diskurskultur ist geprägt vom dauernden Beleidigtsein. Die interessanten Themen kommen heute von der liberal-konservativen Seite.»

 

 

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Der Elfenbeinturm hisst die weisse Fahne https://condorcet.ch/2023/02/der-elfenbeinturm-hisst-die-weisse-fahne/ https://condorcet.ch/2023/02/der-elfenbeinturm-hisst-die-weisse-fahne/#comments Tue, 07 Feb 2023 20:00:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=13077

Condorcet-Autor und Professor Ralf Lankau berichtet uns über unglaubliche Entwicklungen in Sachen Digitalisierung der Schulen in Deutschland. Zu welchen Fehlentscheidungen eine reduzierte statt multiperspektivische Sicht auf Bildungseinrichtungen und die Beteiligten führt, hat man zuletzt in voller Schärfe bei der Corona-Pandemie gesehen.

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Mangelverwaltung statt wissenschaftliche Expertise

Condorcet-Autor Professor Ralf Lankau, Offenburg (D).

Im Frühjahr 2021 hat die Kultusministerkonferenz eine „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ berufen, die die Kultusministerien in allen Fragen beraten soll: von der frühkindlichen Bildung bis zur beruflichen Weiterbildung. Berufen wurden ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter der empirischen Bildungsforschung, eine Einseitigkeit, die dem Anspruch des Wissenschaftlichen kaum gerecht wird. Daher verwundert es nicht, dass Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Disziplinen in einem gemeinsamen „Positionspapier zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie ‹Bildung in der digitalen Welt›“ ein Gutachten der Kommission zur Digitalisierung kritisierten:

„Die tatsächliche Vielfalt an Forschungsbefunden zur Digitalisierung in Bildung bleibt entsprechend systematisch unberücksichtigt. Dazu zählen, um nur einige Beispiele zu nennen, Beiträge aus der Medienpädagogik, der Bildungsinformatik, der kulturellen und politischen Bildung, der Medienethik, der Kindergesundheitsforschung, der Techniksoziologie oder der Datafizierungsforschung, die insgesamt ebenso zum Feld der für Politik relevanten Bildungsforschungsbereiche gezählt werden müssen.” [1]

Zu welchen Fehlentscheidungen eine reduzierte statt multiperspektivische Sicht auf Bildungseinrichtungen und die Beteiligten führt, hat man zuletzt in voller Schärfe bei der Corona-Pandemie gesehen. Für die Entscheidungsgrundlagen kamen überwiegend Experten der Virologie und Epidemiologie zu Wort, was nicht nur zu massiven Lerndefiziten und psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen führte. Im Nachhinein erwiesen sich auch die empfohlenen Schulschließungen als falsch und unbegründet, vor der nicht nur Pädagogen gewarnt hatten. Die Vielfalt der wissenschaftlich begründeten Perspektiven auf das Schulsystem fehlt auch in der Stellungnahme “Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“. Sie hat nicht nur zu teils wütenden – gleichwohl berechtigten – Protesten der Lehrerverbände geführt, sondern rein verwaltungstechnische Empfehlungen formuliert.

Schulpolitisches Versagen unter Einfluss der Think Tanks

Das schulpolitische Versagen der Kultusministerien unter dem Einfluss der Think Tanks diverser Stiftungen in den letzten 20 bis 30 Jahren kann man der Kommission nicht anlasten. Aber für die die vorgeschlagenen Verwaltungsakte braucht es keinerlei wissenschaftliche Expertise. Es gibt zu wenig Lehrkräfte an Schulen? Hier die Vorschläge der Kommission:

  • Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften, dazu gehört die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung in Anlehnung an das Konzept der Vorgriffsstunden. Angesichts eines prognostizierten Lehrermangels für die nächsten 20 Jahre (!) wirft das die Frage auf, wann die vorgegriffenen Überstunden ausgeglichen werden sollen.
  • Verzicht auf die Reduktion der Unterrichtsverpflichtung aus Altersgründen, und Reduktion der Möglichkeiten zu Teilzeitbeschäftigungen (unabhängig davon, ob verkürzte Arbeitszeit dazu dienen, eigene Kinder oder Angehörige zu betreuen oder beruflichen Belastung geschuldet sind).
  • Abordnung von Lehrkräften an Dienststellen mit besonderem Bedarf. Das fordert von den Lehrkräften nicht nur längere Fahrtzeiten und ggf. Umzüge und soziale Neuorientierung. Zudem unterläuft es das pädagogische Grundprinzip von Beziehung und Vertrauen als Basis von Unterricht in einer Klassen- als Sozialgemeinschaft.
  • Hybridunterricht, bei dem ein Teil der Schülerinnen und Schüler vor Ort ist, während andere Schülerinnen und Schüler, auch aus anderen Schulen, per Video zugeschaltet werden. Dabei hat der durch Corona erzwungen Fernunterricht doch gerade in der Praxis gezeigt, dass diese Form des Unterrichts die schlechteste Variante überhaupt ist. (Sinnvoller sind Präsenzunterricht in kleiner Gruppe im Wechsel oder Online-Sitzungen für alle.)
  • Die Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte durch Studierende für das Lehramt. Der Vorschlag ist an sich richtig. Sie sollte aber zu Ende gedacht werden zu einem Dualen Studium mit Unterrichtsbesuchen vom ersten Semester an (Hospitation) und zunehmend eigenverantwortlichen Unterrichtseinheiten (Assistenz und eigene Kleingruppen), damit man in Schulen auf formal nicht (vollständig) qualifizierte Personen und vor allem Quereinsteiger verzichten kann, die in Berufsschulen möglicherweise eine Hilfe sind, in Grundschulen aber ein bereits erkanntes Problem.
  • Erhöhung der Selbstlernzeiten von Schülerinnen und Schüler. Der Vorschlag ignoriert belegte Fakten. Danach sind nur wenige, vor allem ältere Schülerinnen und Schüler dazu überhaupt in der Lage, und für den Lernerfolg kommt es entscheidend darauf an, ob sie zu Haue von einem Elternteil betreut werden können oder nicht. Diese Form von Nicht-Unterricht ist vor allem die effektivste Verstärkung der sozialen Spaltung zu Lasten der Kinder und Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern und/oder mit Migrationshintergrund.
  • Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften für andere Schulformen sowie Nachqualifizierung in Mangelfächern. Das schränkt die an sich freie Berufs- und Fächerwahl spätestens dann ein, wenn die (Weiter-)Beschäftigung an den Fachwechsel gebunden wird.
  • Anpassung der Klassenfrequenzen. h. Erhöhung der Klassenstärke, wohl wissend, dass große Klassen anstrengender zu unterrichten sind, Gruppenarbeiten mit vielen Gruppen schwieriger zu betreuen und der Unterricht daher notwendig stärker lehrerzentriert und frontal ausgerichtet sein muss (wie bei Hochschul-Vorlesungen mit hohen Teilnehmerzahlen).
  • Und zu guter Letzt Maßnahmen zur Gesundheitsförderung per Internet: Achtsamkeitstraining und eMental-Health-Angebote.

Ist das noch eine Empfehlung oder bereits Zynismus? Über die Erleichterung über im Ausland erworbene Abschlüsse für das Lehramt kann man streiten, die Entlastung der Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsaufgaben ist unbedingt zu begrüßen. Allerdings sind gerade diese Aufgeben der empirischen Bildungsforschung, der „datengestützten Schulentwicklung“ und ihrem ständigen Datenhunger geschuldet.[2]

Im Wesentlichen laufen die Vorschläge der Kommission darauf hinaus, dass die heute aktiven Lehrerinnen und Lehrer mehr und länger arbeiten, (noch) größere Klassen betreuen, auf Teilzeit und Stundenreduktion im Alter verzichten und zur Manövriermasse werden, die bei Bedarf abgeordnet werden kann.

Aktive Lehrerinnen und Lehrer als Manövriermasse

Im Wesentlichen laufen die Vorschläge der Kommission darauf hinaus, dass die heute aktiven Lehrerinnen und Lehrer mehr und länger arbeiten, (noch) größere Klassen betreuen, auf Teilzeit und Stundenreduktion im Alter verzichten und zur Manövriermasse werden, die bei Bedarf abgeordnet werden kann. Dafür gibt es bei Überlastung dann ein Online-Achtsamkeitstraining und Supervisionsangebote. Ob man so den Lehrberuf für die nachfolgende Generation attraktiv macht, darf bezweifelt werden.

Als jemand, der selbst fast 40 Jahren in verschiedenen Kontexten von (Hoch)Schule unterrichtet, kann ich mich nur wundern über die einseitige Ausrichtung der Empfehlungen der – akademisch ohne Frage qualifizierten – Kommissionsmitglieder. Neben der fehlenden Unterrichtspraxis der Mitglieder fällt vor allem die Distanz zur Schulpraxis und der heutigen Probleme auf. Seien es die fehlende personelle und sachliche Ausstattung, marode Bauten und Renovierungsstau oder die zunehmende soziale Spaltung durch Armut, Bildungsferne und Medienmissbrauch, (ja, der sozialen Medien), soziales Fehlverhalten u.v.m.

Olaf Köller: Die Kommission befiehlt, die Ministerien folgen.

Dazu kommt Hybris. Die Vorsitzende Felicitas Thiel kann sich nicht vorstellen, dass „Minister die Vorschläge der Kommission einfach ignorieren könnten“. Der Vorsitzende Olaf Köller beharrt darauf, dass die Kommission den Ministern die Themen vorgeben können müsse. Die Ministerien würden „daran gemessen werden, wie frei sie die Kommission arbeiten lassen und was sie aus den Empfehlungen machen. Die erste Stellungnahme, die von den Ministern zerrissen werde, sei das Ende der Idee“, so Köller (zit. nach Schmoll, 2021)[3]. Widerspruch von Seiten der Ministerien ist ebenso wenig vorgesehen wie Kritik von anderen Fachdisziplinen, Verbänden oder Interessenverbänden derjenigen, die in Kitas, Schulen oder Weiterbildungseinrichtungen arbeiten?

Kommission auflösen und Vertreter anderer Professionen berufen

Eine sachliche Bestandsaufnahme der Arbeit der Kommission und der publizierten Papiere lässt zumindest mich zu einem anderen Schluss kommen: Die einzige Empfehlung, die man zu dieser Kommission geben kann, ist, sie in der aktuellen Form aufzulösen und stattdessen Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Professionen (Pädagogen und Medienpädagogen, Sozialarbeiter, Kinder- und Jugendpsychologen, Pädiater, Soziologen, Informatiker u.a.) zu berufen. Und die Kommissionsmitglieder sollten durchaus die Praxis kennen. Die Diskussion in einer multiperspektivisch besetzten Kommission werden sicher anstrengender, aber nur interdisziplinär besetzt kann so eine Kommission in Anspruch nehmen, wissenschaftlich vielfältig zu argumentieren und vor allem ergebnisoffen zu arbeiten. Nur dann kann sie praxisrelevante und praxistaugliche Empfehlungen aussprechen.

27.01.2023: Stellungnahme “Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel”

Der Lehrkräftemangel stellt in den nächsten Jahren eine besondere Herausforderung für die Unterrichtsversorgung und -qualität dar. Vor diesem Hintergrund hat die Kultusministerkonferenz die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) gebeten, Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel vorzulegen. In ihrer Stellungnahme empfiehlt die SWK, den Einsatz qualifizierter Lehrkräfte zu verbessern und den Bedarf zu senken. Die Empfehlungen konzentrieren sich einerseits darauf, das Potenzial qualifizierter Lehrkräfte auszuschöpfen, etwa Teilzeitarbeit zu begrenzen, Lehrkräfte im Ruhestand einzusetzen und Lehrer:innen von Aufgaben jenseits des Unterrichts zu entlasten. Für die Senkung des Lehrkräftebedarfs empfiehlt die Kommission u. a. die Ausweitung von Hybridunterricht und Selbstlernzeiten in der Oberstufe sowie den flexiblen Umgang mit Klassengrößen ab der Sekundarstufe I. Langfristig sind neue Formen der Unterrichtsorganisation und der Ausbildung sowie der Gewinnung von Lehrkräften notwendig, welche die zuvor skizzierten, zeitlich befristeten Notmaßnahmen ablösen sollten.

Download der Stellungnahme als PDF: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2023/SWK-2023-Stellungnahme_Lehrkraeftemangel.pdf

Erfolgreiche individuelle Entwicklungsprozesse über die Lebensspanne sind aus heutiger Sicht ohne die kompetente Nutzung digitaler Medien in Schule, Freizeit und Beruf nahezu unmöglich.

19.09.2022: Gutachten “Digitalisierung im Bildungssystem: Handlungsempfehlungen von der Kita bis zur Hochschule”

Computer in der Kita sind unverzichtbar

Erfolgreiche individuelle Entwicklungsprozesse über die Lebensspanne sind aus heutiger Sicht ohne die kompetente Nutzung digitaler Medien in Schule, Freizeit und Beruf nahezu unmöglich. Das Gutachten „Digitalisierung im Bildungssystem“ der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) beleuchtet für zentrale Bildungsetappen – frühe Bildung in der Kindertagesstätte, allgemeinbildende Schule, berufliche Bildung, Hochschule und daraus folgend für die Lehrkräftebildung – welche Maßnahmen und Strategien in den kommenden Monaten und Jahren umgesetzt werden müssen, um erfolgreiche Lehr- und Lernprozesse und eine erfolgreiche Teilhabe in einer von Digitalisierung geprägten Lebens- und Arbeitswelt zu ermöglichen. Aus einer Situationsanalyse und der Aufarbeitung des Forschungsstands leitet das Gutachten insgesamt 14 Handlungsempfehlungen ab.

Download Gutachten als PDF: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2022/SWK-2022-Gutachten_Digitalisierung.pdf

Download Zusammenfassung als PDF: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2022/SWK-2022-Gutachten_Digitalisierung_Zusammenfassung.pdf

 

[1]Braun, Tom, Andreas Büsch, Valentin Dander, Sabine Eder, Annina Förschler, Max Fuchs, Harald Gapski, Martin Geisler, Sigrid Hartong, Theo Hug, Hans-Dieter Kübler, Heinz Moser, Horst Niesyto, Horst Pohlmann, Christoph Richter, Klaus Rummler, und Gerda Sieben. 2021. «Positionspapier zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie ‹Bildung in der digitalen Welt›». MedienPädagogik, (Statements and Frameworks), 1–7. https://doi.org /10.21240/mpaed/00/2021.11.29.X
[2]Hartong, Sigrid (2018): „Wir brauchen Daten, noch mehr Daten, bessere Daten!“ Kritische Überlegungen zur Expansionsdynamik des Bildungsmonitorings; in Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, S. 15 – 30
[3]Schmoll, Heike (2021) Unbequem sollen sie sein. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission soll sich der großen ungelösten Fragen im gesamten Bildungssystem annehmen – obwohl Widerstand der Kultusminister droht. Von Heike Schmoll, FAZ vom 27.05.2021, S. 6; https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/einberufung-der-staewiko-unbequem-sollen-sie-sein-17359753.html (5.2.23)

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Streitgespräch zu integrativer Schule https://condorcet.ch/2023/01/streitgespraech-zu-integrativer-schule/ https://condorcet.ch/2023/01/streitgespraech-zu-integrativer-schule/#comments Fri, 27 Jan 2023 11:56:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=12980

Der Ruf nach Kleinklassen wird schweizweit immer lauter. Was bedeutet das für die integrative Schule? Eine Kontroverse zwischen dem Bildungsforscher Andrea Lafranchi und dem Lehrer und Präsidenten der Basler Schulsynode, Jean-Michel Héritier. Das Interview führte die Journalistin Alessandra Paone.

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Alessandra Paone, Journalistin in der BAZ.

Ist die integrative Schule am Ende?

Jean-Michel Héritier: Nein, aber es braucht endlich wirkungsvolle Verbesserungen.

Andrea Lanfranchi: Sie ist nicht am Ende, sie steht am Anfang.

Und das, obwohl sie vor 15 Jahren eingeführt wurde?

Lanfranchi: Ja. Heute können wir sagen, dass die integrative Schule nicht optimal eingeführt wurde und besser werden muss. In Zürich dauerte die Weiterbildung der Lehrkräfte drei Nachmittage. Ich war damals einer dieser armen Kerle, die am Mittwochnachmittag von Schulhaus zu Schulhaus pilgerten und erklärten, wie der integrative Unterricht aussehen müsste.

Integration zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Woran krankt die integrative Schule?

Lanfranchi: Die Belastung hat zugenommen: Die Klassen sind tendenziell grösser, die Kinder dominanter als früher, und auch die Eltern sind anspruchsvoller und kritischer geworden. Ein weiteres Problem ist, dass es für jedes Unterstützungsangebot, ob Begabungsförderung, Heilpädagogik oder Deutsch als Zweitsprache, eine Ansprechperson gibt. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen alles selbst koordinieren. Eine Bündelung der Hilfestellungen ist nötig und wird die Arbeit der Lehrkräfte erleichtern. Hinzu kommt, dass die schulische Heilpädagogik effizienter und effektiver werden muss. Sie kommt in vielen Fällen nicht in der nötigen Qualität beim Kind an.

Professor Andrea Lafranchi: Das wird uns Kilometer zurückwerfen.

Genügende Ressourcen sind die Bedingung dafür, dass die integrative Schule funktioniert. Der Mangel an Heilpädagoginnen ist schon länger ein Thema, wieso hat man nichts dagegen unternommen?

Lanfranchi: Der Mangel ist das eine. Dagegen hat zum Beispiel die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Massnahmen ergriffen und neue Zulassungsbedingungen geschaffen, damit sich mehr Interessierte einschreiben und das Studium absolvieren können. Es braucht aber auch eine Neujustierung auf dem Feld, sodass die Ressourcen nicht mit der Giesskanne auf alle Klassen verteilt werden, sondern nach dem spezifischen Bedarf besonders belasteter Klassen in genügender Menge ausgerichtet werden.

Héritier: Das Berufsbild der Heilpädagogin hat sich durch die integrative Schule grundlegend verändert. Früher waren dies die besonders guten Lehrpersonen, die die schwierigsten Klassen unterrichteten. Heute fördern sie punktuell einzelne Kinder oder kleine Lerngruppen während einzelner Lektionen. Natürlich ist das Renommee dieser Profession dadurch nicht gestiegen.

Jean Héritier: Wir wollen nicht zurück, aber wir müssen das Modell der Realität anpassen.

Lanfranchi: Das stimmt. Die Zerstückelung der Lektionen schadet dem Beruf. Eine Neuorganisation der Heilpädagogik ist daher zwingend. In der kleinen Zürcher Gemeinde Stadel betreut zum Beispiel eine Heilpädagogin mit einem 80-Prozent-Pensum zwei parallele Regelklassen. Die beiden Klassenlehrerinnen, die eng zusammenarbeiten, haben also eine dritte Lehrperson, die sie tatkräftig im Unterricht unterstützt und auch hilft, schwierige Situationen zu bewältigen. Das Modell hat sich sehr bewährt.

Eine Neuorganisation der Heilpädagogik ist zwingend.

Die Lehrkräfte hatten schon bei der Einführung 2008 Vorbehalte und warnten vor überlasteten Schulen. Wieso hat man nicht auf sie gehört?

Héritier: In Basel-Stadt waren anfänglich die meisten eher zuversichtlich gestimmt. Uns Lehrerinnen und Lehrern waren damals gute Gelingensbedingungen für die integrative Schule versprochen worden. Dafür hatten wir offiziell unverzichtbare Konditionen wie kleinere Klassen, mehr Schulraum, weniger Pflichtlektionen, keine Selektion innerhalb der Volksschule, genügend adäquat ausgebildetes Personal und weniger komplizierte administrative Abläufe definiert. Aber davon wurde bis heute kaum etwas umgesetzt.

Stattdessen haben wir lange ideologische Debatten darüber geführt, welche die richtige pädagogische Haltung zur Integration ist.

Lanfranchi: Ich streite auch nicht ab, dass eine Verbesserung nötig ist. Eine Rückkehr zum früheren System der Sonder- und Kleinklassen, wie ich es als Lehrer in Graubünden und als Schulpsychologe in der Stadt Zürich erlebt habe, ist aber keine Lösung.

Genau in diese Richtung scheint es nun aber zu gehen. Laut einer Tamedia-Umfrage wünscht sich die Wählerschaft in Zürich die Kleinklassen zurück. Im Kanton Bern stellt das Parlament dieselbe Forderung. Und in Basel-Stadt kämpft Herr Héritier mit einer Initiative an vorderster Front für Förderklassen.

Héritier: Im Schulzimmer sind strukturelle Anpassungen an die Realität überfällig – das zeigen auch Daten, die die Freiwillige Schulsynode Basel-Stadt (Berufsverband der Lehrkräfte, Anm. d. Red.) bei Lehrerinnen und Lehrern erhoben hat.

Lanfranchi: Ja, aber die Wiedereinführung von Sonderklassen wird die Schule keinen Millimeter vorwärtsbringen, sondern Kilometer zurückkatapultieren.

Die Kritik, dass die Diskussionen über die integrative Schule ideologisch geprägt seien, richtet sich vor allem gegen Bildungsexperten. Was sagen Sie dazu, Herr Lanfranchi?

Lanfranchi: In der Forschungssituation hat sich in den vergangenen 15 Jahren nichts Wesentliches verändert. Es ist einerseits erwiesen, dass Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen schneller und besser lernen, wenn sie mit leistungsstärkeren Kindern zusammen sind. Andererseits sind leistungsstarke Kinder in Integrationsklassen nicht benachteiligt – im Gegenteil: Studien belegen, dass ihre Lernfortschritte grösser sind als bei leistungsstarken Kindern in homogenen Klassen. Das ist keine Ideologie, das sind Forschungsergebnisse, die auf Zahlen beruhen.

Andere Studien belegen wiederum, dass lernschwache Kinder und Jugendliche, die in der Regelklasse geschult werden, eine tiefere Selbsteinschätzung haben als ihre gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen in Sonderklassen.

Lanfranchi: Das stimmt, von den vielen positiven Befunden, die für die Integration sprechen, ist dies der einzige negative Effekt. Führt die Konfrontation mit den Besten nicht aber zu einem realistischen Selbstbild, das so oder so nötig ist beim Eintritt in die Berufsbildung?

Héritier: Der aktuelle Selektionsdruck führt gerade sehr leistungsschwachen Kindern täglich vor Augen, dass andere viel besser sind als sie. Sie werden stigmatisiert. Ich mache Ihnen ein Beispiel: In meiner früheren Klasse gab es Schülerinnen und Schüler, denen ich wegen ihrer ungenügenden Leistung schlechte Noten geben musste. Sie fühlten sich deshalb schlecht. Nun besuchen sie das tiefere Leistungsniveau der Sekundarschule und berichten regelmässig freudig über gute Noten. Was ich damit sagen will: Es braucht immer ein Setting, das an die individuellen Bedürfnisse angepasst ist. Nicht für alle ist dasselbe das Richtige.

Nicht für alle ist dasselbe das Richtige.

Jean-Michel Héritier

Lanfranchi: Genau, und deshalb wird auch nicht mehr im Gleichschritt unterrichtet. Es gelingt den meisten Lehrkräften, den Unterricht so zu gestalten, dass niemand blossgestellt wird und eine Kultur des gegenseitigen Respekts entsteht. Wird zum Beispiel ein leistungsschwaches oder verhaltensauffälliges Kind vor der ganzen Klasse gelobt, wenn es Fortschritte macht, stärkt das einerseits sein Selbstwertgefühl und motiviert andererseits die anderen Schüler dazu, ihren Kollegen anzuspornen.

Héritier: Da sind sie wieder, die ideologischen Diskussionen über die pädagogische Haltung der Lehrerinnen und Lehrer. Ich kann Ihnen versichern, wir Lehrer machen sehr viel: Wir besuchen Kurse um Kurse, gründen Selbstreflexionsgruppen und pädagogische Teams, die eng zusammenarbeiten und sich gegenseitig stärken, und optimieren uns ständig. Das strukturelle Problem bleibt jedoch bestehen. Es fehlen Möglichkeiten, die erlauben, eine Schülerin oder einen Schüler temporär aus einer Klasse herauszunehmen, um zu überprüfen, ob das Setting für diese Person stimmt, ohne dass der Unterricht aussetzt oder gar zusammenbricht.

Laut Umfragen unter Lehrkräften sind verhaltensauffällige Schüler, die den Unterrichtsbetrieb erschweren bis verunmöglichen, einer der grössten Belastungsfaktoren. Teilen Sie diese Meinung, Herr Héritier?

Héritier: Ja, dort liegt der springende Punkt für das Gelingen der integrativen Schule. Vor allem die Gruppe der sozioemotional auffälligen Schülerinnen und Schüler findet im heutigen Schulsystem häufig zu wenig geeignete Unterrichtssettings vor, die für ihre Entwicklung förderlich wären. Sie sind oft überfordert und blockieren ganze Unterrichtssequenzen. Da wird es für die Lehrpersonen enorm schwierig, ihrem Bildungsanspruch gerecht zu werden. Es kommt zu einem «Schwelleneffekt», bei dem das System der integrativen Schule kippt und kein geordneter Unterricht mehr möglich ist.

Gewisse Schulen setzen auch auf Time-out-Klassen oder Schulinseln, wo Schüler in Krisensituationen temporär separat beschult werden. Wie gut sind solche Lösungen?

Lanfranchi: Sie sind gut. Kinder, die auf eine Schulinsel kommen oder in ein Time-out geschickt werden, sind noch ihrer Regelklasse zugeteilt; sie kehren nach einigen Wochen oder Monaten wieder zurück. Diese Angebote dienen vor allem der Entlastung der Lehrpersonen.

Héritier: Nicht nur, sie sind auch für die betroffenen Kinder und das gesamte Setting eine Entlastung. Auf die Schnelle ist das für mich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Das sind aber noch keine langfristigen und vor allem keine nachhaltigen Lösungen, die eine präventive Wirkung entfalten können. Deshalb fordern wir in Basel Förderklassen.

«In 15 Jahren sitzen in diesen Förderklassen hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund.»

Andrea Lanfranchi

Wie sollen Sonderklassen das Problem lösen?

Héritier: Ich betone, dass wir weder Sonder- noch Kleinklassen wollen – niemand möchte zum alten, starren Modell zurück. Uns schwebt ein durchlässiges und niederschwelliges Modell vor, das während mehrerer Monate oder maximal ein bis zwei Jahren eine gewisse Separation erlaubt, gleichzeitig aber ermöglicht, dass Kinder rasch und unbürokratisch wieder in die Regelklasse zurückkehren können.

Lanfranchi: Darf ich Ihnen dazu ein paar Fragen stellen?

Héritier: Bitte.

Lanfranchi: Wer gehört in eine solche Förderklasse?

Héritier: Sozioemotional auffällige Schülerinnen und Schüler mit einem normalen IQ und ohne Anspruch auf IV, die in einer Regelklasse überfordert sind. Diese Kinder erleben wegen ihres Verhaltens ständig, dass sie anders sind. Damit sie aus diesem Teufelskreis herauskommen, sich auch einmal anders spüren und als Mensch wachsen können, müssen wir ihnen Schonräume bieten.

Lanfranchi: Wer entscheidet, wer in eine solche Klasse kommt, und aufgrund von welchen Kriterien?

Héritier: Die Lehrkraft stellt den Antrag, der von einer Fachstelle, zum Beispiel vom schulpsychologischen Dienst, geprüft wird.

Lanfranchi: Was passiert, wenn die Eltern mit dem Entscheid nicht einverstanden sind?

Héritier: Beim Modell der Kleinklassen war das Einverständnis der Eltern Bedingung. Bei den Förderklassen soll der Entscheid ebenfalls gemeinsam mit den Eltern gefällt werden.

Lanfranchi: Das Zielpublikum sollen verhaltensauffällige Kinder sein. Wir wissen aber aus soliden Studien, dass für diese Kinder soziale Kontakte mit Kindern ohne Verhaltensauffälligkeiten das wichtigste Förderkriterium sind. Wenn jedoch die Lehrerin oder der Lehrer die einzige Person mit angepasstem Verhalten ist, werden diese Kinder kaum gefördert. Sie sagen, dass Sie nicht zum alten Modell der Kleinklassen zurückkehren möchten. Ich befürchte aber, dass genau das passieren wird.

«Wenn wir aber von Anfang an den Teufel an die Wand malen, dann wird es nicht funktionieren.»

Jean-Michel Héritier

Was wäre so schlimm daran?

Lanfranchi: In 15 Jahren sitzen in diesen Förderklassen hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund, die wegen ihrer ethnischen Herkunft, der Sprache und der sozialen Schicht diskriminiert werden. Eltern, die sich wehren können und finanzielle Möglichkeiten haben, werden ihre Kinder in eine Privatschule schicken. Die Kinder jener Eltern, die sich weder wehren können noch Geld haben, landen in dieser Klasse …

Héritier: … und werden dort vielleicht besser geschult als in ihrer aktuellen Klasse, wo sie andauernd stigmatisiert werden, weil es heisst: Du bist nicht gut, du genügst nicht oder dein Verhalten ist nicht richtig.

Lanfranchi: Aber solche Lehrerinnen, die ein Kind aufgrund seiner Leistungen stigmatisieren, haben in unserem Schulsystem nichts verloren.

Héritier: Das machen die Lehrpersonen nicht bewusst. Die Stigmatisierung ergibt sich aus der Situation heraus, weil zum Beispiel immer dasselbe Kind die Frage nicht verstanden hat und ausgelacht wird. Fakt ist, dass die integrative Schule in der heutigen Form selbst mit der besten und positivsten Haltung der Lehrperson nicht immer funktioniert.

Sonderklassen wie die von Ihnen geplanten Förderklassen sind mit einem Stigma behaftet. Wie wollen Sie das ändern, Herr Héritier?

Héritier: Wir müssen die Vorteile dieses Modells aufzeigen und bereit sein, die nötigen Untersuchungen durchzuführen, um die bestmögliche Lösung zu erreichen. Wenn wir aber von Anfang an den Teufel an die Wand malen, dann wird es nicht funktionieren. Unser Anliegen ist es, dass das, wovor Herr Lanfranchi warnt, eben nicht eintrifft.

Lanfranchi: Früher sprach man von Sonderklassen, später wurde die euphemistische Bezeichnung Kleinklassen eingeführt, um die Eltern zu besänftigen. Und neu sollen sie Förderklassen heissen. Der Name ändert sich, das Prinzip bleibt dasselbe: Die Kinder werden getrennt statt vereint. Internationale, nationale und kantonale Gesetze plädieren für eine Schule für alle, das ist auch eine ethische Position. In der Präambel unserer Verfassung steht: «Gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.»

Héritier: Ich habe diese ideologischen Diskussionen satt. Das Bild, das teilweise in der Politik von der früheren Kleinklasse gezeichnet wird, stimmt nicht in jedem Fall. Ein Beispiel aus Basel ist der beste Beweis dafür: Als der Bildungsdirektor im Parlament davon sprach, dass in Kleinklassen alle stigmatisiert worden seien und niemand eine Anschlusslösung gefunden habe, outete sich ein Grossrat und Präsident einer namhaften Partei als ehemaliger Kleinklassenschüler.

Dieses Interview erschien zuerst in den Tamedia-Medien

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