Berthele - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 05 Aug 2020 15:42:37 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Berthele - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Frühfremdsprachenunterricht und Mehrsprachendidaktik – eine Chronik des Grauens https://condorcet.ch/2020/08/fruehfremdsprachenunterricht-und-mehrsprachendidaktik-eine-chronik-des-grauens/ https://condorcet.ch/2020/08/fruehfremdsprachenunterricht-und-mehrsprachendidaktik-eine-chronik-des-grauens/#respond Wed, 05 Aug 2020 15:08:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=6027

Die Condorcet-Autoren Alain Pichard, Urs Kalberer und Felix Schmutz haben eine Zeitleiste des monumentalen bildungspolitischen Irrtums erstellt. Mit den Baustellen Frühfremsprachenunterricht und Mehrsprachendidaktik wurden Hunderte von Millionen Franken in den Sand gesetzt. Zugeben will es niemand!

The post Frühfremdsprachenunterricht und Mehrsprachendidaktik – eine Chronik des Grauens first appeared on Condorcet.

]]>

1998   

Die EDK erlässt ein Gesamtsprachenkonzept. Die Empfehlungen werden Thesen genannt. Damit unterstreicht die EDK deren programmatischen und empirisch nicht abgestützten Charakter.

 

2001  

Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER 2001) bildet den Eckpfeiler für die Neukonzipierung des Fremdsprachenunterrichts (was später zur Einführung der Mehrsprachendidkatik führen wird. Stichwort: Passepartout).

2002  

1. PISA-Test 2000. Obwohl die Fremdsprachen gar nicht Teil des Pisa-Tests sind, werden auch sie durch den inszenierten «Pisa-Schock» im Jahr 2000 erfasst. Erschüttert vom angeblichen Beleg für das Ungenügen des hiesigen Schulsystems, sieht man über die Grenzen hinaus und stellt fest, dass in Nachbarländern die Schulkinder viel früher mit Fremdsprachen beginnen. EDK-Erklärung verlangt einen früheren Fremdsprachenunterricht.

2002  

Um die berechtigten Einwände betreffend der fehlenden wissenschaftlichen Legitimation zu «entkräften», bestellt die Zürcher Erziehungsdirektion 2002 ein Gutachten an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Unglaublich, aber wahr: Der Urheber der Expertise ist an Frühfremdsprachenprojekten und der Entwicklung der entsprechenden Lehrmittel persönlich massgeblich beteiligt. Von einem unabhängigen Gutachten kann nicht die Rede sein.

2003  

Der Kanton Zürich zieht Englisch vor und verhindert damit eine Harmonisierung des Fremdsprachenunterrichts.

2004  

Überhastet erfolgt die Verabschiedung des neuen EDK-Sprachenkonzepts, demgemäss die erste Fremdsprache im dritten und die zweite im fünften Schuljahr einzusetzen habe sowie eine davon eine Landessprache sein müsse. Diese Lösung ist ein rein politischer Kompromiss zwischen den Kantonen, die sich nicht einigen konnten, ob zuerst Französisch oder Englisch gelehrt werden sollte. Um die Romandie zu besänftigen, versüsst man das in Zürich und anderswo favorisierte Primat des Englischen mit der Pille der Festlegung der zweiten Fremdsprache auf der Primarstufe.

2004   

Erste Hinweise, dass das frühe schulische Vermitteln einer Fremdsprache keine Wunder wirkt, liefert die spanische Studie. Carmen Muñoz von der Universität Barcelona verglich zwei Gruppen von Schülern: Die eine wurde bereits ab dem 8. Lebensjahr, die andere erst ab dem 11. Lebensjahr in Englisch unterrichtet. Im Alter von 15 testet sie die beiden Gruppen auf ihre Sprachkompetenz. Das Ergebnis ist ernüchternd: Gegenüber denen, die erst später begonnen haben, haben die Frühlerner kaum Vorteile. Lediglich bei der Aussprache schneiden sie etwas besser ab.

2005    

Zwei zeitgleiche Artikel in SPIEGEL und ZEIT bezeichnen die Einführung von Frühenglisch in Deutschland als «Murks» und «Blödsinn».

2006

Der Bildungsartikel wird mit grosser Mehrheit angenommen und verlangt eine weitgehende Harmonisierung der Bildungslandschaft Schweiz.

2006

Sechs Kantone starten das Projekt Passepartout.

2007 

Urs Kalberer vergleicht in seiner Master-Arbeit Schüler, die nach dem neuen Lehrplan bereits in der Primarschule in Frühenglisch unterrichtet wurden, mit solchen, die erst in der Sekundarstufe die Fremdsprache aufnahmen. Fazit: Die frühen Lerner erbringen trotz viel mehr Unterricht keine besseren Leistungen.

2009

15 Kantone nehmen das HarmoS-Konkordat an, 7 lehnen es ab.

Ab 2009

Tausende von Unterstufenlehrerinnen und -lehrer werden mit Kursen zu Französisch- bzw. Englischlehrkräften «gemacht».

2011/12  

Passepartout wird ohne vorherige Erprobungsphase flächendeckend eingeführt. Es gilt als das teuerste Lehrmittel ever und ist eine Einwegmappe aus Plastik für jedes Schuljahr.

2011

An einer Orientierung über Frühfranzösisch fragt eine Schulleiterin den damaligen Erziehungsdirektor Pulver, was denn das Ziel von Frühfranzösisch sei: «Sollen die Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit besser Französisch können oder gleich gut oder will man einfach Frühfranzösisch einführen?» Herr Pulver fragt darauf seinen Zentralsekretär: «Ja, haben wir da eine Zieldefinition?»

An 2011

Beginn der berüchtigten Passepartout-Kurse in den 6 Passepartout-Kantonen.

2012 

Die Berner Zeitung titelt: Frühfranzösisch kommt den Kanton teuer zu stehen. Sie spricht von 40 Mio Franken!

2012

Ohrfeige für Frühfremdsprachler, titelt die Luzerner Zeitung und berichtet von einer Evaluation der Englischkenntnisse von 6. KlässlerInnen. Im Bereich Hören schaffen 53,9 Prozent die Lehrplanziele nicht. Im Lesen sind es gar 65,3 Prozent, die unter den gesetzten Zielen liegen, im Sprechen bleiben 3,2 Prozent unter den Lehrplanzielen und im Schreiben 25,3 Prozent. Dabei handelt es sich wohlverstanden um Minimalanforderungen, die grundsätzlich von allen Schülern erreicht werden sollten.

2014 

An einem Podium vor der Delegiertenversammlung des lvb in Muttenz werden die Passepartout-Vertreter regelrecht vorgeführt. «Das Podium geriet zum Tribunal», titelt die BAZ.

2015 

Die Evalutation Französischunterricht in der Zentralschweiz zeigt erschreckende Resultate. Ein Grossteil der Schüler erreicht die Ziele nicht.

2016

«Unmut der Eltern» titelt die BAZ und berichtet von einer öffentlichen Veranstaltung, in der Regierungsrat Eymann seitens der Eltern heftige Kritik abwehren muss.

Horrende Kosten

2016  

Der Basellandschaftliche Lehrerverein spricht von insgesamt 100 Mio Fr. für die sechs Passepartout-Kantone, die das Frühfranzösisch und Frühenglisch kosten sollen.

2016  

Simone Pfenninger und David Singleton legen ihre erste Studie zu Frühenglisch vor. Sie resümieren: Frühenglisch bringt nichts. Regierungsrat Eymann bezeichnet die preisgekrönte Arbeit als «unwissenschaftlich» und erntet heftige Kritik.

2017 

Die Passepartout-Lehrmittel «Milles Feuilles» sollen überarbeitet werden. Das beschliessen die Bildungsdirektoren der sechs Passepartout-Kantone.

2017 

Mit 62 gegen 60 Stimmen hat das Thurgauer Kantonsparlament am Mittwochmorgen in zweiter Lesung die Verschiebung des Französischunterrichts von der Primar- in die Sekundarschule abgelehnt.

2017  

Luzern lehnt die Initiative ab, welche nur noch eine obligatorische Fremdsprache an der Primarschule fordert.

2017  

Susanne Zbinden weist in einer empirischen Studie der Uni Freiburg über das Verstehen von französischen Texten nach, dass die Passepartout-Lernenden gegenüber den Bonne-Chance-Lernenden massiv im Rückstand seien.

2017

Die Fremdspracheninitiative im Kanton Zürich, welche nur eine Fremdsprache auf der Primarstufe fordert, wird mit 60% der Stimmen abgelehnt.

2017 

Der Kanton Solothurn verzichtet auf Passepartout für die gymnasiale Vorstufe.

2018  

Die Berner Gymnasien streichen die französische Grammatik aus den Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium und führen nur noch mündliche Prüfungen durch.

Schlagzeile in der BAZ. Dieses Lehrmittel ist nicht mehr haltbar

2018

Baselland beschliesst den Austritt aus dem Passepartout-Konkordat.

2018  

Graubünden lehnt eine umstrittene Initiative ab, welche nur noch eine obligatorische Fremdsprache an der Primarschule fordert. Die Initiative wird vorgängig von den Gegnern bis vors Bundesgericht gezogen, dort aber in allen Punkten als rechtmässig beurteilt.

2018  

Das Hearing der Baselbieter Bildungsdirektion zum Französischlehrmittel «Mille Feuilles» ergibt ein vernichtendes Urteil.

2019

Die Ergebnisse der EDK-Tests (ÜGK) zeigen miserable Ergebnisse für die Französischkenntnisse der Passepartout-Kantone (Ausnahme Fribourg).

2019 

Die lange angekündigte Evaluation der Passepartout-Lehrmittel durch das Freiburger Institut für Mehrsprachigkeit liegt vor: Sie stellt dem Lehrmittel ein miserables Zeugnis aus. Die Studie sollte geheim gehalten werden («Die geheime Studie», titelt die Berner Zeitung).

2019 

Die Passepartout-Verantwortlichen verzichten auf eine Evaluation des Oberstufen-Lehrmittels Clin d’Oeil, obwohl diese zugesichert war.

2019

Mit überwältigendem Mehr stimmt der Kanton Baselland für die Lehrmittelfreiheit, was einem Aus für Passepartout gleichkommt.

Pfenningers und Singletons Langzeitstudie liegt nun vor!

2017   

Die Sprachforscherin Frau Dr. Simone Pfenninger und ihr Kollege David Singleton legen ihre Langzeitstudie «Beyon Age Effects in Instructional Learning» vor. Sie zeigt, dass Frühstarter gegenüber Spätstartern keinerlei Vorteile haben und endet mit folgender Feststellung:

 

“Schließlich, und vielleicht am wichtigsten, stellt sich die Frage des möglichen Gesichtsverlusts; Bildungspolitiker sind nicht bereit, eine Intensivierung des Fremdsprachenunterrichts über kürzere Zeiträume später im schulischen Lehrplan (d.h. in der Sekundarschule) in Betracht zu ziehen, da dies mit ziemlicher Sicherheit als ‘Rückzieher’ und als Eingeständnis des Scheiterns der neuen Bildungsgesetze betrachtet würde”.

 

 2020    

Bern zeigt sich offene für alternative Französischlehrmittel.

Auch Basel-Stadt führt die Lehrmittelfreiheit ein, d.h. die Passepartout-Lehrmittel für Englisch und Französisch werden auf elegante Art und Weise entsorgt.

 

The post Frühfremdsprachenunterricht und Mehrsprachendidaktik – eine Chronik des Grauens first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/08/fruehfremdsprachenunterricht-und-mehrsprachendidaktik-eine-chronik-des-grauens/feed/ 0
Wissenschaft und Pseudowissenschaft in der Sprachdidaktik https://condorcet.ch/2020/02/wissenschaft-und-pseudowissenschaft-in-der-sprachdidaktik/ https://condorcet.ch/2020/02/wissenschaft-und-pseudowissenschaft-in-der-sprachdidaktik/#comments Sat, 22 Feb 2020 20:04:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=4091

Der Mehrsprachigkeitsforscher Berthele plädiert in einem brisanten Artikel für strengere Massstäbe bei der Auswertung von Forschungsergebnissen und bei der Abgabe von Empfehlungen an die Bildungspolitiker im Bereich Fremdsprachenunterricht. Und er tut dies nicht ohne Selbstkritik. Etwas, was den Passepartout- und Frühfranzösisch-Promotoren auch anstehen würde. Condorcet-Autor Felix Schmutz übersetzte den bemerkenswerten Artikel aus dem Englischen und stellt ihn den Condorcet-Leserinnen und Lesern vor.

The post Wissenschaft und Pseudowissenschaft in der Sprachdidaktik first appeared on Condorcet.

]]>
Professor Raphael Berthele, Universität Freiburg: Es wurde nicht unterschieden zwischen Hypothese und Evidenz.
Felix Schmutz, BL:
Übersetzte den Artikel von Prof. Berthele.

Wir erinnern uns: Der Fremdsprachenunterricht in Schweizer Schulen beruht auf dem Sprachenkonzept der EDK von 2004. Im Wesentlichen brachte er zwei Neuerungen:

1. die Vorverlegung zweier Fremdsprachen in die 3. und 5. Primarklasse für alle Kinder,

2. die Einführung einer neuen Unterrichtsmethode, der so genannten «Mehrsprachigkeitsdidaktik».

Massgeblich stützte sich die EDK auf Expertenmeinungen, die eine markante Verbesserung der schulischen Leistungen versprachen. In seinem Artikel im «Journal of the European Second Language Association» von 2019 äussert nun aber Raphael Berthele, der frühere Leiter des Instituts für Mehrsprachigkeitsforschung der Universität Fribourg, grosse Bedenken gegen die wissenschaftliche Qualität der Empfehlungen, welche die Experten zuhanden der Bildungspolitik abgaben.[1]

An zwei Fallstudien zeigt er auf, wie leicht sich bei der Erforschung des Zweitsprachenerwerbs abgesicherte Wissenschaft mit reinem «Fürwahrhalten» (doxa) und Pseudowissenschaft vermischt hat. Er legt dar, dass im Falle des schweizerischen Sprachenkonzeptes oft nicht unterschieden wurde zwischen programmatisch (= spekulativ) formulierten Hypothesen und gesicherten evidenzbasierten Erkenntnissen[2], dass ausserdem evidenzbasierte Erkenntnisse, die auf eine bestimmte Situation zutrafen, unzulässigerweise auf Situationen mit andern Bedingungen übertragen wurden.[3] Das führte in der Konsequenz zu unsicheren Schlussfolgerungen, die sich nachteilig auf die Umsetzung im Schulbereich  auswirken konnten.

Es wurde nicht unterschieden zwischen hypothetisch (spekulativ) und evident (datenbasiert).

Korrekt durchgeführte experimentelle Studien zu Transferwirkungen, die beim Lernen neuer Sprachen entstehen, weisen ebenfalls ihre Tücken auf: Wenn es darum geht, Lerneffekte (Interdependenz) nachzuweisen, können leicht Korrelationen als Kausalitäten interpretiert werden, obwohl auch andere, nicht untersuchte Parameter für die Korrelation verantwortlich sein könnten: z.B. Auswahl der Probandengruppe, generelle kognitive Voraussetzungen.

Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst.

Ferner besteht die Gefahr, dass bei unerwarteten Ergebnissen die zugrunde gelegte Hypothese nachträglich verändert wird, damit die gewonnenen Daten mit der Hypothese wieder übereinstimmen, wobei vergessen geht, dass die neue Hypothese mit einem zusätzlichen Test verifiziert werden müsste. Tritt ein erwarteter Effekt nicht ein, wird zur Rettung der Hypothese ein Schwellenwert angenommen, bei dessen Überschreitung die Theorie erst ihre Gültigkeit erweisen solle. Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst, um die nach ihrer Überzeugung erwünschten Lerneffekte bestätigt zu bekommen.

Jedenfalls warnt Berthele eindringlich davor, allgemeine Empfehlungen zur Sprachenpolitik und zum Unterricht abzugeben, wenn nicht mehrere unabhängige Studien vorhanden sind, deren Ergebnisse in die gleiche Richtung tendieren.[4]

Bertheles bemerkenswerte Selbstkritik

Im ersten Fallbeispiel nimmt sich Berthele mit bewundernswerter Selbstkritik selbst an der Nase. 2006 erklärte er auf die Frage eines Journalisten in «La liberté» am 22.9., ob Primarschulkinder mit dem Lernen von zwei Fremdsprachen nicht überfordert seien:

«You have only to look at the African example to prove the opposite. There, it is not rare to see children growing up with four or five languages, and that does not pose any problems.”[5]

Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem.

Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem. Seine damalige Äusserung sei von unwissenschaftlichen Faktoren beeinflusst gewesen: von seiner Begeisterung für mehrsprachiges Lernen, von programmatischer, nicht evidenz-basierter Fachliteratur, vom Erwartungsdruck aufgrund seiner kürzlichen Ernennung zum Professor am Institut für Mehrsprachigkeit, das speziell zur Beförderung der Mehrsprachigkeitsdidaktik gegründet worden und auf externe Finanzierung angewiesen war[6], von der Bestätigung durch Kollegen mit den gleichen Überzeugungen («group conformity bias»).

Völlig unzulässige Übertragungen

In eigenen empirischen Forschungen untersuchte er die verbreitete und plausible These, inwiefern sorgfältiger Unterricht portugiesischer Kinder in ihrer Muttersprache deren Fähigkeiten in der Schweizer Schulsprache (Französisch bzw. Deutsch) förderten.

Dass es zwischensprachliche Transfereffekte gibt, ist tatsächlich wissenschaftlich erhärtet. Allerdings – und das ist das entscheidende Handicap – nicht durch Studien, die im schulischen Umfeld (d.h. im Unterricht) durchgeführt wurden, sondern durch Ergebnisse, die von mehrsprachigen Probanden oder in psycholinguistischen Laborexperimenten gewonnen wurden. Zudem befasst sich die Mehrheit der Studien mit negativen Transfereffekten. Diese Studien sind demnach ein Beispiel für unzulässige Übertragungen («surrogate outcomes») von speziellen Situationen auf die schulische bzw. für Umdeutungen von negativen auf positive Effekte.[7]

Bertheles eigene Daten aus dem schulischen Umfeld zeigen nun aber, dass es wohl positive Lerneffekte gibt, allerdings funktionieren sie in beide Richtungen: sowohl vom Portugiesischen zur Schulsprache als auch von der Schulsprache zur portugiesischen Muttersprache, ohne eine statistisch signifikante Präferenz. Die Gründe für die Korrelation können nicht bestimmt werden. Sie könnten auch in kognitiven oder motivationalen Unterschieden liegen. Jedenfalls liefern die Daten keinen ausreichenden Beweis für die Richtigkeit der These, dass man in die Migrantensprache investieren müsse, um die Leistung in der Schulsprache zu verbessern.[8]

Zwei Fremdsprachen in der Primarschule: Fallstudie 2

 Das Fremdsprachenkonzept von 2004 hatte den Schönheitsfehler, dass man sich nicht auf die Reihenfolge der Fremdsprachen einigen konnte: Die Mehrheit der Kantone beginnt mit Englisch, die Kantone VS, FR, BE, SO, BL und BS beginnen mit Französisch. Diesen Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten.

Den Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten. Das war spekulativ und steht auf wissenschaftlich wackligen Füssen.

Damit sind wir wiederum bei einer These, die wissenschaftlich auf wackligen Füssen steht:

  1. In der Forschung besteht Einigkeit, dass «an earlier start of Foreign Language Teaching does not consistently lead to better proficiency” (ein früher Start des Fremdsprachenunterrichts nicht konsequenterweise zu besserer Leistung führt). [9]
  2. Bei der Frage, welche Sprache zuerst gelernt werden soll (Französisch oder Englisch), muss zwischen politischen Gründen und wissenschaftlich bewiesenen Lerneffekten unterschieden werden.
  3. Als Beweis für den frühen Lernbeginn führten Imgrund und Le Pape 2005 Erkenntnisse aus der Hirnforschung an: Beim jüngeren Gehirn sind mehr Gehirnaktivierungsmuster in spezifischen Arealen zu beobachten als bei älteren. Die neurowissenschaftliche Studie, auf die sich Imgrund und Le Pape bezogen, ergab jedoch keine Resultate in Bezug auf unterschiedliche Leistungen in beiden Altersstufen. Damit sind die Beobachtungen der Aktivierungsmuster für die Frage des frühen Lernbeginns von Fremdsprachen völlig irrelevant. Mit Bezug auf eine kritische Studie von McCabe und Castel meint Berthele, dass Forscher gerne Hirnforschung zitieren, um ihre Thesen zu untermauern, da Lesende dadurch leicht zu beeindrucken seien.[10]
  4. Ob ein früher Unterrichtsbeginn mit einer Fremdsprache sich tatsächlich auf die Leistung auswirkt, müsste in Vergleichsstudien eruiert werden, bei denen mehrere Kohorten in unterschiedlichen Klassenstufen mit dem Unterricht beginnen.
  5. Zum Transfer von Fremdsprache 1 auf Fremdsprache 2 und umgekehrt: Die Hypothese ist stark beeinflusst von der holistischen Theorie eines mehrsprachigen Repertoires im Gehirn, die ein grosser Teil spekulativ-programmatischer Fachliteratur suggeriert. Aus eigenen Untersuchungen zu rezeptiven Kompetenzen (Hörverstehen und Lesen) kann Berthele bestätigen, dass es spontane Transfers von einer Sprache zur andern gibt. In bilingualen Umgebungen (z.B. Baskenland, Südtirol) sind die Resultate nicht eindeutig: Manchmal gibt es Effekte, manchmal nicht. Diese Situation kann jedoch nicht auf das systematische schulische Lernen der dritten Fremdsprache in der Schweiz mit 2 bis 4 Wochenlektionen angewendet werden – eine unzulässige Übertragung («surrogate outcomes»). Zudem sind die beobachteten positiven Transfers an Erwachsenen und an Linguistikstudenten festgestellt worden, bei denen von begabten Sprachlernern ausgegangen werden kann, was man nicht mit Schweizer Primarschülern vergleichen kann.
  6. Zur oft angeführten Vergleichsstudie von Haenni Hoti 2011: Hier wurden Primarklassen verglichen, die mit einer bzw. mit zwei Fremdsprachen unterrichtet wurden. Die Klassen, die Französisch als Zweitfremdsprache lernten, wiesen im 5. Schuljahr bessere Leistungen im Hören und Lesen auf als diejenigen, die nur Französisch hatten. Allerdings war der Effekt in der meist unerwähnten Folgestudie von Heinzmann, 2009, ein Jahr später nicht mehr erkennbar. Die Verfasser nehmen an, das Nullresultat wäre mit besseren Tests positiver ausgefallen, ein Fall von CARKING (Kritisieren, nachdem die Resultate bekannt sind).[11]
  7. Zur Studie von Manno 2017: In dieser korrekt durchgeführten Vergleichsstudie fand der Forscher ebenfalls keine positiven Transfereffekte bei Kindern, die Französisch als zweite Fremdsprache lernten. Allerdings traut Manno seinen Resultaten nicht, sondern operiert mit einem nachträglich angenommenen «Schwellenwert», ein Fall von HARKING (Hypothesen bilden, nachdem die Daten ausgewertet sind, ohne diese neu zu überprüfen).

Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin, 1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen.

Christine Le Pape-Racine:
Frivole Zitate aus der Hirnforschung zusammengebastelt.
Bild: HP Paperace

So kommt Berthele zum Schluss, dass es sich bei der Theorie des positiven Transfers um «vague theories and an optimistic view of language teaching and learning» (vage Theorien und ein optimistisches Bild vom Sprachunterricht und vom Sprachenlernen) handele. Er bekennt: «The more I learn about transfer, the less I feel comfortable when asked to give recommendations.” (Je mehr ich über Transferwirkungen lerne, desto weniger fühle ich mich wohl, wenn ich gebeten werden, Empfehlungen abzugeben.)[12]

Fazit

 Berthele empfiehlt den Kolleginnen und Kollegen seiner Zunft, sich künftig streng wissenschaftlicher Erkenntnismethoden zu bedienen und nicht in spekulativen Annahmen stecken zu bleiben. Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin,  1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen. Eigene Werte (Mehrsprachigkeit, kulturelle Offenheit) zu vertreten, ist erwünscht, jedoch sollten einem diese bei der Forschung nicht in die Quere kommen, wenn die Resultate anders ausfallen, als man es gerne hätte.

 

[1] Berthele, R. (2019). Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience. Journal of the European Second Language Association, 3(1), 1–11. DOI: https://doi.org/10.22599/jesla.50

[2] «… oftentimes policy is not based on robust scholarly evidence» (Oft beruhen politische Programme nicht auf gesicherten wissenschaftlichen Beweisen.»), Berthele, S. 1

[3]  «surrogate outcomes» (stellvertretend angenommene Wirkungen), Berthele, S. 4

[4] «converging evidence», Berthele, S. 3

[5] «Sie müssen nur das afrikanische Beispiel ansehen, um das Gegenteil zu beweisen. Dort geschieht es nicht selten, dass Kinder mit vier oder fünf Sprachen aufwachsen und dass dabei keinerlei Probleme entstehen.» Berthele, S. 1

[6] “my institution expected me and my colleagues to acquire external funding for multilingualism research, funding that was and still is associated with a multilingual policy agenda”, Berthele, p.2

[7] Berthele, S. 4

[8] «To sum up, the evidence for causal transfer effects from L1 to L2 in the literacy domain is inconclusive … and the evidence for positive effects of Heritage Language instruction on L2 is scarce.” (Zusammenfassend ist der Beweis für kausale Transfereffekte von L1 zu L2 im Bereich der Sprachbeherrschung nicht schlüssig … und der Beweis für positive Effekte von der Migrantensprache zu L2 schwach.), Berthele, S. 5

[9] Berthele, S. 6

[10] Berthele, S. 6

[11] Berthele, S. 7

[12] Berthele, S. 7

The post Wissenschaft und Pseudowissenschaft in der Sprachdidaktik first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/02/wissenschaft-und-pseudowissenschaft-in-der-sprachdidaktik/feed/ 2
Achtung Lesewarnung: Brisante Äusserungen eines Sprachforschers https://condorcet.ch/2020/02/achtung-lesewarnung-brisante-aeusserungen-eines-sprachforschers/ https://condorcet.ch/2020/02/achtung-lesewarnung-brisante-aeusserungen-eines-sprachforschers/#comments Sat, 22 Feb 2020 14:34:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=4087

Der nachfolgende Artikel enthüllt die unglaublichen Vorgänge in der Entstehungsgeschichte der Einführung des Frühfranzösisch und der Mehrsprachendidaktik.

The post Achtung Lesewarnung: Brisante Äusserungen eines Sprachforschers first appeared on Condorcet.

]]>

Liebe Leserinnen und Leser des Condorcet-Blogs,

Alain Pichard, Sekundarlehrer in Orpund: Eigentlich skandalös.

Wie konnte es sein, dass eine 100-Millionen-Investition wider besseres Wissen überstürzt in unserem Lande eingeführt wurde? Und wie kann es sein, dass eine derart unausgegorene Fremdsprachendidaktik ohne flächendeckende Evaluierungen in einem Hauruckverfahren 100’000 Schülerinnen und Schülern dieses Landes übergestülpt wurde?

Welches war die Rolle der Wissenschaft? Der renommierte Sprachforscher Raphael Berthele, ordentlicher Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität Freiburg, schrieb kürzlich im «Journal of the European Second Language Association» einen brisanten Artikel, in dem er aufzeigt, welch grosse Bedenken damals gegen die wissenschaftliche Qualität der Empfehlungen vorherrschten!

Condorcet-Autor Felix Schmutz hat den Text aus dem Englischen übersetzt und stellt ihn den Leserinnen und Lesern im nachfolgenden Artikel vor. Viel Vergnügen kann man bei der Lektüre wahrlich nicht wünschen.

Für die Redaktion

Alain Pichard

The post Achtung Lesewarnung: Brisante Äusserungen eines Sprachforschers first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2020/02/achtung-lesewarnung-brisante-aeusserungen-eines-sprachforschers/feed/ 1