Belastung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 18 Aug 2023 20:00:04 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Belastung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 “Lehrerinnen und Lehrer wählen mehr Freizeit statt mehr Arbeit” https://condorcet.ch/2023/08/lehrerinnen-und-lehrer-waehlen-mehr-freizeit-statt-mehr-arbeit/ https://condorcet.ch/2023/08/lehrerinnen-und-lehrer-waehlen-mehr-freizeit-statt-mehr-arbeit/#respond Fri, 18 Aug 2023 20:00:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=14841

Die grossen Belastungen trieben Lehrkräfte in die Flucht, sagen die Lehrerverbände – Bildungsforscher Stefan Wolter sieht die Gründe für den Lehrermangel aber woanders. Er orientiert sich an den Zahlen seiner Forschung und diese ergäben einen klaren Befund, allen Gefühlen aus der Froschperspektive zum Trotz. Wir bringen einen Artikel der Journalistin Nadja Pastega, der in der SonntagsZeitung erschienen ist.

The post “Lehrerinnen und Lehrer wählen mehr Freizeit statt mehr Arbeit” first appeared on Condorcet.

]]>

Es ist inzwischen ein Ritual: Jedes Jahr warnen die Lehrerverbände vor einer Gefährdung der Bildungsqualität. Diese Woche war es der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Schuld am Niedergang der Schulen sei der Lehrermangel. Mit anderen Worten: Schuld sind die Laien, die ohne Lehrerdiplom vor den Klassen stehen, um die Lücken zu füllen – denn genug Lehrpersonen mit Diplom gebe es seit längerem nicht mehr. Stimmt das? Die Antworten von Stefan Wolter, Verfasser des Schweizer Bildungsberichts.

Gastautorin Nadja Pastega, Journalistin der Sonntagszeitung

Die Bildungsqualität sei gefährdet, weil vor den Klassen Lehrpersonen ohne angemessene Qualifizierung stünden – mit dieser Nachricht suchte der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer diese Woche die Öffentlichkeit. Die Zahlen aus einzelnen Kantonen sind in der Tat eindrücklich: 1000 ‘unqualifizierte’ Lehrerinnen und Lehrer sollen im Kanton Bern derzeit angestellt sein, im Kanton Zürich 500. Dabei müsste man allerdings darauf hinweisen, dass gerade im Kanton Bern sehr viele PH-Studierende darunter sind, die nach einem grösseren Teil ihrer Ausbildung nun parallel zum Rest des Studiums in einer Primarschule unterrichten. Hinzu kommen Quereinsteiger mit einem abgeschlossenen Unistudium, zum Beispiel in Biologie, die dann Naturwissenschaften in einer Sekundarschule unterrichten. Interessant ist hier der Vergleich mit der Berufsbildung, wo Lehrpersonen der Berufskunde immer parallel zur Ausbildung schon unterrichten, ohne dass deswegen die Ausbildungsqualität leidet.

Diese Story, dass die Lehrerinnen und Lehrer davonlaufen, ist statistisch widerlegt

Die Behauptung, die Bildungsqualität der Schulen leide wegen Lehrkräften, die das ordnungsgemässe Lehrerdiplom nicht hätten, stimmt so pauschal sicher nicht. Es wird dann zum Problem, wenn Leute vor eine Schulklasse gestellt werden, die die Schulsprache kaum beherrschen oder im Umgang mit Kindern Mühe haben.

Der Mangel an Personal in den Schulzimmern wird auch immer damit begründet, dass viele ausgebildete Lehrkräfte den Beruf rasch wieder verlassen. Fakt ist, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass in keinem anderen Beruf eine so hohe Jobtreue besteht wie bei den Lehrerinnen und Lehrern. Diese Story, dass die Lehrerinnen und Lehrer davonlaufen, ist statistisch widerlegt.

“Wir müssen heute zwei Lehrpersonen ausbilden, um ein 100-Prozent-Pensum im Klassenzimmer abzudecken.”

Stefan Wolter

Woran liegt der Lehrermangel dann? Halt doch an der Teilzeit. Man muss heute in der Schweiz zwei Lehrpersonen ausbilden, um ein 100-Prozent-Pensum im Klassenzimmer abzudecken. Im Kanton Neuenburg arbeitet beispielsweise jede fünfte Lehrkraft maximal 20 Prozent. Da fragt sich nicht nur, woher die Lehrpersonen kommen sollen, sondern auch, wie man so noch eine Schule organisieren soll. Die Kantone Zürich und Genf haben gezeigt, dass Mindestpensen ein taugliches Mittel sind. Lehrpersonen sind deswegen nicht abgesprungen.

Verständlicherweise kommt bei Personalmangel die Forderung nach höheren Löhnen. Nur, wie in anderen Berufen mit hohen Durchschnittslöhnen, ist zu befürchten, dass wenn die Saläre raufgehen, noch mehr Lehrpersonen Teilzeit arbeiten werden. Bei diesen Löhnen tauschen viele Lehrerinnen und Lehrer mehr Geld gegen mehr Freizeit ein. Oder anders gesagt: Sie wählen bei einer Lohnerhöhung lieber mehr Freizeit statt mehr Arbeit.»

The post “Lehrerinnen und Lehrer wählen mehr Freizeit statt mehr Arbeit” first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/08/lehrerinnen-und-lehrer-waehlen-mehr-freizeit-statt-mehr-arbeit/feed/ 0
464 Tage und Nächte https://condorcet.ch/2023/06/464-tage-und-naechte/ https://condorcet.ch/2023/06/464-tage-und-naechte/#respond Tue, 27 Jun 2023 21:17:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=14399

Condorcet-Autor Alain Pichard wird in zwei Wochen - nach einer Ehrenrunde von drei zusätzlichen Jahren - zum zweiten Mal pensioniert. Der Mathematiklehrer liess während seiner letzten Abschlussreise mit einer 9. Klasse alle seine Lager Revue passieren und zählte die Tage und Nächte, die er mit seinen Schülerinnen und Schülern verbracht hatte. Die Zahl wurde von der Redaktion zur Zahl des Monats gekürt.

The post 464 Tage und Nächte first appeared on Condorcet.

]]>
Alain Pichard während seiner letzten Abschlussreise.

Ich befinde mich zurzeit auf meiner letzten Abschlussreise mit einer 9. Klasse, die uns nach Venedig führte. Während der langen Reise im Flixbus hatte ich Zeit, all meine Lager, Projektwochen und Ferienkolonien durchzugehen. In meiner nun zu Ende gehenden Schulmeisterzeit (46 Schuljahre) habe ich 40 Skilager (200 Tage),  12 Abschlussreisen (60 Tage), 30 Projekt- oder Landschulwochen (150 Tage) und 3 Ferienkolonien (54 Tage) geleitet.

Das ergibt insgesamt 464 Tage oder 1 Jahr und drei Monate und zwei Wochen.

Nicht darin eingeschlossen sind die zwei- oder dreitägigen Schulreisen, die ich auch noch organisieren durfte. Neben Polizeieinsätzen, Helikopterflügen, Lawinenalarm, Liebesdramen, sexuellen Übergriffen und Diebstählen erlebte ich in dieser Zeit wohl die wunderbarsten Geschichten, die uns unser Beruf beschert. Fröhlichkeit, ausgelassene Partys, enge Vertrautheit, Dankbarkeit, Solidarität und jede Menge lustige Momente. Vor allem aber erlebte ich die wohl wirksamsten schulischen Momente.

The post 464 Tage und Nächte first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/06/464-tage-und-naechte/feed/ 0
LEHRPERSONENMANGEL: WAS SICH ÄNDERN MUSS https://condorcet.ch/2023/01/lehrpersonenmangel-was-sich-aendern-muss/ https://condorcet.ch/2023/01/lehrpersonenmangel-was-sich-aendern-muss/#respond Tue, 24 Jan 2023 13:19:11 +0000 https://condorcet.ch/?p=12947

Um dem sich verschärfenden Lehrpersonenmangel wirksam entgegentreten zu können, braucht es Anpassungen hinsichtlich Anstellungsbedingungen, Integration und Ausbildung, einen Abbau der Bürokratie sowie eine Reduktion der Anzahl Ansprüche an Schule und Lehrpersonen auf ein leistbares Mass. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie des Lehrerinnen- und Lehrervereins LVB. Sie basiert auf einer inhaltlich umfassenden, repräsentativen Umfrage unter Baselbieter Lehrkräften aller Stufen. Mit 1072 Teilnehmenden handelt es sich um die schweizweit grösste von einem Berufsverband durchgeführte Befragung zum Lehrpersonenmangel seit dessen Akzentuierung. Der LVB fordert einen Mix aus personal- und bildungspolitischen Massnahmen und ortet den dringlichsten Handlungsbedarf auf der Primarstufe. Die Redaktion des Condorcet-Blogs veröffentlich die Medienmitteilung des lvb.

The post LEHRPERSONENMANGEL: WAS SICH ÄNDERN MUSS first appeared on Condorcet.

]]>
Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1,Präsident des lvb: Überfrachtung beenden.

Bildungsdirektorin Monica Gschwind hat im Sommer 2022 die Baselbieter Anspruchsgruppen um Vorschläge zum Umgang mit dem Lehrpersonenmangel gebeten. Der LVB leitet seine Forderungen aus der eigens im Herbst 2022 durchgeführten Mitgliederbefragung «Belastungsfaktoren im Lehrberuf» ab. Er wird sie in das bestehende kantonale «Projektteam Lehrpersonenmangel» tragen und den Austausch mit Landratsmitgliedern suchen.

Bürokratie abbauen

93.1 % aller Teilnehmenden – auf der Primarstufe (inkl. Kindergarten) sogar 97 % – geben an, wegen administrativer und weiterer Zusatzaufgaben zu wenig Zeit für das Kerngeschäft Unterricht zu haben. Fast 90 % der Primar- sowie knapp 80 % der Sekundarlehrpersonen erleben die schulinterne Sitzungsdichte als Belastung.

  • Die Sitzungsdichte, die Anzahl schulinterner Gremien und das Ausmass verordneter Teamarbeit sind auf das Notwendige zu reduzieren.
  • Der persönlichen Vor- und Nachbereitung des Unterrichts durch die Lehrpersonen gebührt Vorrang vor einer sich ausbreitenden Regulierungsmentalität.
  • Grad und Umfang der Teilautonomie der Volksschule sind zu klären, auch mit dem Ziel, dort Ressourcen zu schonen, wo ein einheitlicheres Vorgehen zielführend ist.

Klassenlehrpersonen entlasten

Monika Gschwind, Bildungsdirektorin BL: Will wiedergewählt werden.

Viele Klassenlehrpersonen (KLP) sind massiv überlastet, am stärksten an der Volksschule. Am
1. Dezember 2022 hat der Landrat endlich eine Entlastung für die KLP der Primarstufe im Umfang einer Jahreslektion beschlossen. Aber von den KLP der Sekundarschulen, die bereits im gleichen Umfang entlastet sind, finden 95.7 %, dieses Volumen genüge nicht.
Zudem erleben zwischen 40 und 55 % der Primarlehrpersonen Aspekte der Elternarbeit (respektloses Verhalten, fehlende Bereitschaft zur Zusammenarbeit, sehr forderndes bis drohendes Auftreten etwa bei Übertrittsentscheiden, inflationäre Kontaktaufnahmen per Telefon und E-Mail) als belastend.

  • Eine noch stärkere Entlastung der Klassenlehrpersonen ist zu prüfen, auf der Primarstufe gegebenenfalls in Kombination mit einem gezielten Abbau in der Stundentafel.
  • Die Volksschulen benötigen betreffend Elternarbeit klare Reglementarien entlang kantonaler Standards, die konsequent durchgesetzt werden.
  • Die Einführung einer Übertrittsprüfung vor dem Übertritt an die Sekundarschule ist, in Ergänzung zu den Zeugnisnoten, zu prüfen.

Integration mässigen

Mit der Integrativen Schulung in der bestehenden Form ist kaum jemand zufrieden. Für 82.4 % der Primar-, 72.3 % der Sekundarlehrpersonen und 70.6 % der Schulischen Heilpädagog*innen (SHP) sind stark verhaltensauffällige Schüler*innen ein Belastungsfaktor. Über die Hälfte der Primarlehrpersonen und SHP geben an, die Besetzung der ISF-Stellen (Integrative Spezielle Förderung) an ihren Schulen sei nicht oder nicht mit dafür ausgebildetem Personal erfolgt.

  • Es sind mehr separative Angebote zu schaffen für verhaltensauffällige Schüler*innen, die den Unterricht massiv stören bis lahmlegen.
  • Die Schwellen, damit Lehrpersonen erfolglose Integrationen abbrechen können, müssen so niedrig ausgestaltet sein, dass der Leidensdruck auf Beteiligte nicht schädigende Ausmasse annehmen kann.

Primarstufe aufwerten

Die Anstellungsbedingungen auf der Primarstufe sind interkantonal nicht mehr konkurrenzfähig. Basel-Landschaft bildet hier im Vergleich mit den umliegenden Kantonen (AG, BS, SO) bei allen lohnrelevanten Faktoren (Einstiegslöhne, Lohnanstiegskurve, Maximallöhne) das Schlusslicht. Weitere Problemfelder sind zusätzliche Fächerqualifikationen ohne Lohnrelevanz, teils schlechte Infrastruktur sowie unbezahlte Zusatzarbeiten von Schulhausvorständen.

  • Lohnband 12 für die Lehrpersonen der Primarstufe ist zwingend.
  • Ausgewählte, vom Arbeitgeber gewünschte und zwischen den Sozialpartnern ausgehandelte Zusatzausbildungen müssen lohnwirksam werden.
  • Bei der schulischen Infrastruktur müssen verbindliche Mindeststandards (WLAN, rostfreie Wasserleitungen, Raumgrössen) auch für Schulen mit kommunaler Trägerschaft gelten.
  • An Schulen mit Schulhausvorständen müssen deren Aufgaben klar definiert, von jenen der Schulleitungen abgegrenzt und angemessen ressourciert werden.

Überfrachtung beenden

Die Vielzahl der Ansprüche an Schule und Lehrpersonen ist nicht mehr leistbar. In den letzten 20 Jahren kam immer noch mehr dazu: das 6. Schuljahr und zusätzliche Fächer (Fremdsprachen, Medien & Informatik) auf der Primarstufe, Integrative Schule, massiver Anstieg administrativer Arbeiten, ein überfüllter Lehrplan auf der Volksschule. Parallel dazu wurde als Sparmassnahme die Altersentlastung für Lehrpersonen – schweizweit einzigartig! – gestrichen.

  • Es braucht eine tabulose Auslegeordnung und Priorisierung der Aufgaben und Ansprüche an die Primarstufe: Was ist leist- und bezahlbar und was nicht?
  • Der vom LVB seit Jahren geforderte Prozess zur inhaltlichen Straffung der Lehrpläne auf der Ebene Volksschule muss konsequent weiterverfolgt werden.
  • Die Altersentlastung der Unterrichtsverpflichtung für Lehrpersonen muss wieder eingeführt werden, um sie länger gesund und leistungsfähig im Beruf halten zu können.

Ausbildung verbessern

Unzufriedenheit mit der Ausbildung an der PH kommt in vielen Kommentaren zum Ausdruck, wobei die Praxisferne im Zentrum der Kritik steht. Die PH entgegnet seit Jahren, die Praktika der Studierenden seien zeitlich ausgedehnt worden. Aber das allein genügt nicht. In diesen vergleichsweise wenigen Wochen der Praktika kann nicht alles an Praxistauglichkeit aufgebaut werden, wofür nicht in Veranstaltungen an der PH der Grundstein gelegt wurde.

  • Dozierende für Fachdidaktik müssen über mehrjährige, erfolgreiche Unterrichtstätigkeit in jenen Fächern und auf jenen Stufen verfügen, für welche sie Studierende ausbilden.
  • Die Ausbildung für die Sekundarstufe I ist dahingehend zu modularisieren, dass angehende Lehrpersonen gezielter auf die Erfordernisse der unterschiedlichen Leistungszüge vorbereitet werden können.

 

Kontakte für Rückfragen:

Philipp Loretz, Präsident LVB, 077 417 57 54, philipp.loretz@lvb.ch

Roger von Wartburg, Geschäftsleitungsmitglied LVB, 079 261 84 63, roger.vonwartburg@lvb.ch

The post LEHRPERSONENMANGEL: WAS SICH ÄNDERN MUSS first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/01/lehrpersonenmangel-was-sich-aendern-muss/feed/ 0
Die Krokodilstränen der Lehrer- und Lehrerinnenorganisationen https://condorcet.ch/2022/09/die-krokodilstraenen-der-lehrer-und-lehrerinnenorganisationen/ https://condorcet.ch/2022/09/die-krokodilstraenen-der-lehrer-und-lehrerinnenorganisationen/#comments Sun, 11 Sep 2022 08:22:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=11484

Die Lehrer- und Lehrerinnenverbände der Schweiz und ihr Zentralorgan LCH überbieten sich derzeit mit Forderungen und Ratschlägen, wie dem Lehrpersonenmangel zu begegnen sei. In diesem Basar der gut gemeinten Tipps und Halbanalysen mischen sich interessante Erkenntnisse, meint Condorcet-Autor Alain Pichard.

The post Die Krokodilstränen der Lehrer- und Lehrerinnenorganisationen first appeared on Condorcet.

]]>
Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission

In einem kürzlich erschienenen BUND-Beitrag (23.8.22) wird die Sekretärin von Bildung Bern, Anna Katharina Zenger folgendermassen zitiert: «Die Ansprüche der Gesellschaft an die Schule hätten stark zugenommen. Das Volksschulgesetz verlangt, dass nach Möglichkeit alle Kinder unabhängig von ihren Möglichkeiten und allfälligen Beeinträchtigungen in der Volksschule integriert werden. Die Zahl der fremdsprachigen Kinder hat stark zugenommen. Dabei soll die Schule möglichst jedem Kind nach seinen individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Diese Ansprüche an die Schule sind berechtigt. Aber entsprechend hat der Aufwand der Lehrkräfte nicht nur im Unterricht, sondern auch bei der Koordination der verschiedenen Angebote und bei der Arbeit mit den Eltern stark zugenommen.»

Anna-Katharina Zenger, Sekreträrin von Bildung Bern: Teamteaching und maximal 20 Schülerinnen pro Klasse.

Es ist eine Art Offenbarungseid, den die Personalvertreterin da von sich gibt. Es ist die Unterstützung des Prinzips «Bestellen, ohne zu bezahlen». Im Nachhinein, wenn sich dann herausstellt, dass die Neuerungen nicht den Effekt haben, wie es sich die Wunschprosa-Fabrikanten der Reformen vorgestellt hatten, wird dann immer auf ominöse Gelingensbedingungen verwiesen, im Prinzip die Forderung nach mehr. Aber davon später.

Heute sprechen die Lehrpersonenverbände von Entlastungen, Überforderungen und – man höre und staune – über eine Minderung der bürokratischen Belastung der Lehrkräfte.

Exemplarisch für diese Haltung war das Agieren der ehemaligen VPOD-Lehrergruppen-Sekretärin Corinne Schärer (Grüne), welche sich im bernischen Grossrat 2007 für den Integrationsartikel stark machte. Als damaliges Gewerkschaftsmitglied im VPOD informierte ich meine Kollegin über unsere Einwände, die in einem offenen Brief von über 30 Lehrerinnen und Lehrern formuliert worden waren. Unsere Sekretärin kämpfte wacker für eine genügende Finanzierung des historischen Inklusionsvorhabens. Als aber deutlich wurde, dass dieser Integrationsartikel mit den vorgesehenen Mitteln gar nicht zu bewältigen war, konnte sie nicht über ihren ideologischen Hintergrund springen, vergass ihren gewerkschaftlichen Auftrag und stimmte dem unterfinanzierten Reformvorhaben zu. Dass diese Reform dabei nicht nur die Realklassen im Kanton an den Rand der Funktionsfähigkeit und eine erkleckliche Zahl von Lehrkräften in die Nähe des Burnouts brachte, sondern auch den zahlreichen Kindern in den aufgelösten Kleinklassen einen Bärendienst erwies, ist ihr vermutlich noch heute nicht bewusst. Heute sprechen die Lehrpersonenverbände von Entlastungen, Überforderungen und – man höre und staune – über eine Minderung der bürokratischen Belastung der Lehrkräfte. Dabei vergessen sie, dass wesentliche Teile der heute beklagten Fehlentwicklungen von den Lehrerorganisationen mitgetragen worden sind. Sie erwiesen sich als Steigbügelhalter absurdester Bildungsreformen, deren Effekt nicht garantiert waren und deren Kosten nicht selten ins Unermessliche stiegen.

Die Berufsverbände sind heute Sprungbretter für politische und verwaltungstechnische Karrieren.

Die neue Schülerbeurteilung (SCHÜBE), die aus uns Lehrkräften Beurteilungsmaschinen machen wollte? Sie wurde von Bildung Bern unterstützt. Und wenn wir den Pfad der offenen und verhaltenen Unterstützung der Reformen weitergehen, können wir einige Stolpersteine erkennen, an die sich unsere «Gewerkschafter» heute nur ungern erinnern. Die neue Reform der Beurteilung, wo überfachliche Kompetenzen und Progression der Schüler festgehalten, dokumentiert und auf einer Skala von 1–10 benotet werden sollten? Klar, finden wir gut! Frühfranzösisch? Perfekt, brauchen wir! Abschaffung der Kleinklassen? Ist ein Gebot der Stunde! Obligatorische Elterngespräche (mit Protokoll)? Wir sind ja modern! Kompetenzorientierung mit Kompetenzraster? Finden wir toll! Obligatorische Weiterbildung mit Kontrolle und Dokumentierungen? Super! Die grossartig gescheiterte Lehrmittelreihe Passepartout? Eine umwerfende Innovation! Nachteilsausgleiche? Eine wichtige humane Reform! usw.

Die Ursache dieser Fehlentwicklung ist in der Entfremdung der Funktionäre von der Basis zu suchen. Die Berufsverbände sind heute vollständig politisiert und suchen die Nähe der Regierenden. Die Berufsverbände sind heute Sprungbretter für politische und verwaltungstechnische Karrieren.

Die Eingebundenheit und die permanente Nähe zur politischen Macht führen zur Identifikation mit dem Politsystem und enden nicht selten in der Sorge um die politische Resonanz in eigener Sache.

Therese Frösch, ehem.Gewerkschafterin, Regierungsmitglied und Nationalrätin.

Als langjähriger aktiver Gewerkschafter im VPOD sah ich unsere Sekretärinnen kommen und in «höhere» Gefilde verschwinden. Therese Frösch startete als Sekretärin des VPOD-Bern, wurde Stadträtin, Gemeinderätin und schliesslich Nationalrätin. Ihr Nachfolger, Michael Jordi, wurde ins Berner Stadtparlament gewählt und ist heute Zentralsekretär der GDK (Konferenz der Gesundheitsdirektoren). Dessen Nachfolgerin, Corinne Schärer, wurde Grossrätin und später Mitglied der Geschäftsleitung der UNIA. Die ehemalige Zentralsekretärin des LEBE (heute Bildung Bern), Irène Hänseberger, wurde Leiterin des stadtbernischen Schulamtes. Der ehemalige Sekretär von Bildung Bern, Christoph Michel, ist heute Leiter Personalmanagement Lehrpersonen bei der Bildungsdirektion. Der einstige scharfe Kritiker von Standardisierung und Testbatterien, Guy Lévy, Präsident der VPOD-Lehrergruppe Biel wurde Leiter der französischsprachigen Volksschulen in der Bildungsdirektion des Kantons Bern und setzte in dieser Funktion genau die Reformen um, die er einige Jahre zuvor kritisierte.

Irene Hänseberger, Zentralsekretärin von Bildung Bern, anschliessend Leiterin des Berner Schulamts.

Ich möchte hier in aller Deutlichkeit betonen, dass ich mit den meisten obgenannten Gewerkschaftsverantwortlichen gut zusammengearbeitet habe und keinerlei persönliche Ressentiments hege, im Gegenteil. Es geht hier um die Rolle des Funktionärs und seine Verbandelung mit den politischen Gremien. Die Eingebundenheit und die permanente Nähe zur politischen Macht führen zur Identifikation mit dem Politsystem und enden nicht selten in der Sorge um die politische Resonanz in eigener Sache.

Woher man für die Erfüllung dieser Forderungen die Lehrkräfte hernehmen soll, darüber schweigt sich die Personalvertreterin aus.

Seltsam vage sind denn auch die Statements der heutigen Gewerkschaftsvertreterinnen, wie Pino Mangiaratti, Präsident von Bildung Bern. Auf die Frage in der Berner Schule, was BIBE eigentlich konkret mache, antwortete er: «Wir suchen Lösungen, diskutieren, zeigen Missstände auf, versuchen, Haltungen zu verändern, leisten Überzeugungsarbeit, stellen Angebote bereit, informieren, organisieren Anlässe.» (Berner Schule, 4/22, Seite 3)

Auf die Frage nach Bürokratieabbau meint die BIBE-Sekretärin Zenger: «So wenig wie möglich, so viel wie nötig!»

Unschlagbar sind die Personalverbände im ganzen Land allerdings mit ihren frivolen Forderungen nach immer mehr. LCH, Bildung Bern und andere kennen in ihrem politischen Handeln nur die Quantität.  Lohnerhöhungen? Unbedingt! Arbeitszeitverkürzung? Auf jeden Fall! Harmos? Nur zu! Tagesschulen? Ein Muss! Begabtenförderung? Von uns aus! Qualitätskontrollen? Super! Frühfranzösisch? Perfekt, brauchen wir! Probleme mit der Integration? Mehr Heilpädagoginnen! Probleme mit schwierigen Schulklassen? Teamteaching! Überlastung der Klassenlehrkräfte? Eine zweite Entlastungslektion! Soziale Probleme in Brennpunktschulen? Mehr Schulsozialarbeit! Zu viel Bürokratie? Gemeinden müssen mehr Schulsekretärinnen einstellen, um die Lehrer und Schulleitungen zu entlasten!

Zenger fasste es im BUND-Beitrag folgendermassen zusammen: «Die Gewerkschafterin fordert deshalb maximale Klassengrössen von 20 Kindern und durchgehendes Teamteaching vom Kindergarten bis zur zweiten Klasse sowie mehr zeitliche Ressourcen bei gleichen Aufgaben für die Schulleitungen.»  (https://www.derbund.ch/wieso-lehrpersonen-ihr-pensum-nicht-erhoehen-wollen-761786151125).

Woher man für die Erfüllung dieser Forderungen die Lehrkräfte hernehmen soll, darüber schweigt sich die Personalvertreterin aus. Es mag ja sein, dass all die Forderungen der Gesellschaft an die Schule ihre Berechtigung haben, wie es Frau Zenger formuliert. Wenn man aber die Elemente dieses Wuschkonzerts zusammenzählt, dann wird man feststellen, dass der Markt dies alles gar nicht hergibt. Es fehlen Lehrkräfte, Heilpädagoginnen, und die Ressource Geld ist auch in Zeiten der “Modern Monetary Theory” nicht unbeschränkt vorhanden.

Inzwischen ist ein enormes Ausgabenwachstum in der Bildung im Gang. Im Kanton Bern bilden die Ausgaben im Bildungsbereich mit über 25% den höchsten Posten und betragen 2,270 Milliarden Franken. Von Bildungsabbau und Kaputtsparen keine Spur. Hingegen lohnt sich die Reflexion über die Frage, ob all die Ausgaben auch den gewünschten Effekt haben und auch wohin all dieses Geld fliesst. Das gilt auch für die zurzeit herumgebotenen Vorschläge zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels.

Und zum Schluss noch eine Bemerkung in eigener Sache. Von diesen kritischen Bemerkungen an die Adresse der Lehrerverbände ist der LVB, die Lehrerinnen- und Lehrergewerkschaft des Kantons Baselland, ausdrücklich ausgenommen. Zurzeit versucht deren Präsident, Philipp Loretz, die Bildungsverantwortlichen seines Kantons davon zu überzeugen, dass die Umsetzungshilfen der PHs zu den überfachlichen Kompetenzen (70 Seiten) höchst problematisch sei. Solche Initiativen würde man sich vermehrt von den anderen Personalverbänden wünschen. Vielleicht würde dann auch der Organisationsgrad dieser “Gewerkschaften” (er beträgt derzeit noch knapp 50%, von einst 98%) wieder steigen.

 

 

The post Die Krokodilstränen der Lehrer- und Lehrerinnenorganisationen first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/09/die-krokodilstraenen-der-lehrer-und-lehrerinnenorganisationen/feed/ 3