Aufstiegschancen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 27 Oct 2021 08:27:18 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Aufstiegschancen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wenn Bildungsreformen die Bildungsschere weiten https://condorcet.ch/2021/10/wenn-bildungsreformen-die-bildungsschere-weiten/ https://condorcet.ch/2021/10/wenn-bildungsreformen-die-bildungsschere-weiten/#comments Wed, 27 Oct 2021 08:27:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=9636

Bildung erzeugt immer Differenz. Das ist so. Und gleichzeitig muss die Schule für Chancengleichheit sorgen. So will es der Auftrag. Doch wie weit wird er durch die aktuelle Reformwelle erschwert? Diese Frage beschäftigt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Jugendliche aus sozial schwächerem Milieu haben es schwerer als Akademikerkinder.

Seit bald 30 Jahren jagt eine Schulreform die andere. Es sind Hunderte von Teilprojekten. Und die Wirkung im Ganzen? Kaum jemand hat den Überblick; die Effekte ernüchtern nicht selten.[i] Und es wird weiterreformiert – immer auch mit dem Ziel: mehr Chancengleichheit bei ungleichen Startchancen erzielen oder Chancengerechtigkeit schaffen, wie es der neue Begriff postuliert.

Der elterliche Status prägt

Unzählige empirische Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Lernerfolg junger Menschen und ihrer sozialen Herkunft. Dieses Feld zählt wohl zu den bestuntersuchten Forschungsgebieten der Pädagogik. Da werden Korrelationen hergestellt, da werden die Bücher im Elternhaus überprüft und die Bildungszertifikate gezählt und daraus der akademische Abschluss der Kinder prognostiziert. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Jugendliche aus sozial schwächerem Milieu haben es schwerer als Akademikerkinder. Diagnostiziert wird der berühmte Matthäus-Effekt: „Wer hat, dem wird gegeben.“ Das generelle Fazit aus den Studien zur Bildungsungleichheit: Der elterliche Hintergrund prägt, der sozioökonomische Status determiniert.

Die Zahlen zeigen es: 2016 stammten gem. Bundesamt für Statistik 43 Prozent der Studierenden aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil über einen Hochschulabschluss verfügte.[ii] Die Folge: Man ruft nach Massnahmen auf systemischer Ebene, man verlangt Eingriffe in die Strukturen, man fordert beispielsweise spätere Übertritte oder gar die Abschaffung der Übertrittsprüfung.

Was der bildungspolitische Diskurs oft vergisst

Und doch gelingt vielen der berühmte Aufstieg durch Bildung. Aus der Forschung wissen wir: Wirkung erzielen nicht primär Strukturen; das Systemische allein schafft die erhofften Effekte und Lernerfolge kaum. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit auf systemischer Ebene bleiben letztlich Utopie – ebenso wie die Losung, gesellschaftliche Gleichheit durch pädagogische Gleichheit zu erreichen zu können. Wirkung geht immer von Menschen aus, in der Schule konkret von den einzelnen Lehrpersonen. Entscheidend ist, was innerhalb der Strukturen, was in den zwischenmenschlichen Interaktionen passiert – oder anders ausgedrückt: Wie gut der Unterricht ist. Im bildungspolitischen Diskurs geht das schnell vergessen. Ein Denkfehler!

Darum können auf personaler Ebene Lehrerinnen und Lehrer einen Unterschied machen und vor allem die weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen auf ihrem Lern- und Lebensweg unterstützen.

Die Haltung zum Lernen verändern

Und noch etwas wissen wir: Jeder Bereich einer förderlichen Begegnung ist personal und hängt in hohem Masse davon ab, wie sehr wir als Person berührt werden und uns angesprochen fühlen. Das gilt ganz besonders für den Unterricht. Darum können auf personaler Ebene Lehrerinnen und Lehrer einen Unterschied machen und vor allem die weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen auf ihrem Lern- und Lebensweg unterstützen. Sie haben es in der Hand, dass (auch) diese Schülerinnen und Schüler fachlich und menschlich besonders gefördert und vor allem gefordert werden. Darum betont Roland Reichenbach, Pädagogikprofessor an der Universität Zürich, dezidiert: „Nicht Tablets und digitale Techniken sind dringlich, vielmehr benötigen heute zahlreiche Kinder und Jugendliche vermehrt Anleitung, Unterstützung, Rückmeldung und Ermutigung.“[iii] Das fördert sie auch in ihrer Haltung zum Lernen. Und das kann allein von vital präsenten Menschen geleistet werden.

Darum fordert Reichenbach angeleitete Lernprozesse. Sie erzielen hohe Wirkwerte. Gleichzeitig erstaunt immer wieder, wie viele Schulreformer jegliches pädagogische Denken und Handeln ausschliesslich vom Lernenden her sehen wollen.

Prof. Roland Reichenbach: Die empirischen Studien belegen es einfach.

Selbstbestimmung erfordert angeleitete Lernprozesse

Wichtig ist eben die Lehrperson und entscheidend ihr Unterricht. Die empirische Unterrichtsforschung belegt es vielfach. Darum fordert Reichenbach angeleitete Lernprozesse. Sie erzielen hohe Wirkwerte. Gleichzeitig erstaunt immer wieder, wie viele Schulreformer jegliches pädagogische Denken und Handeln ausschliesslich vom Lernenden her sehen wollen. Sie marginalisieren so das Bedeutsame der Lehrerin und degradieren den Lehrer zum blossen Lernbegleiter. Unter dem propagierten „Shift from Teaching to Learning“ darf er nicht mehr Lehrer sein, sondern nur noch „Guide at the Side“.[iv]

Zur Verantwortung fürs autonome Lernen führen

Dieser reformpädagogische Überoptimismus geht vom kindlichen Können und Vermögen ohne jede Anleitung aus. Verschiedene Lernpsychologen wie der Berner Hochschullehrer Hans Aebli zeigen aber auf, dass die kognitive Entwicklung der Kinder von aussen nach innen verläuft und – je nach Voraussetzung – mehr oder weniger angeleitet von einem kompetenteren Gegenüber.[v]

Lernen, Denken und Problemlösen sind zunächst immer sozial. Das Ich wird am Du ein Selbst – im Dialog zwischen zunächst ungleichen Partnern. Nach und nach übernehmen die Lernenden die Verantwortung für ihr Lernen und ihr autonomes Weiterkommen. Doch von selbst entsteht das nur bei wenigen. „Im Andern zu sich selbst kommen,“ resümiert darum der Philosophen Georg Friedrich Hegel das Wesen der Bildung. Oder konkret auf das pädagogische Parterre übertragen: Vor allem leistungsschwächere und mittelstarke Kinder und Jugendliche sind mit Selbstorganisation und Eigenverantwortung für ihr Lernen oft überfordert; das weiss jede engagierte Lehrerin, das ist jedem erfahrenen Pädagogen bewusst.

Professor Juergen Oelkers: Meine Frau und ich mussten das korrigieren.

Die Hilfe aus dem Elternhaus

Viele moderne Reformen aber gehen von der Utopie des selbstregulierten Lernens und der selbstorganisierten Bildung aus. Mit diesem Blickwinkel wird das Lernen unbemerkt zunächst an die Eltern delegiert – und in letzter Konsequenz den Kindern und Jugendlichen selbst überantwortet. Ob das die vielzitierte Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit stärkt?

Zwei Beispiele illustrieren die Tendenz. Die Reform hat viele Namen: Schreiben nach Gehör, lauttreues Schreiben, Lesen durch Schreiben oder „Reichen-Methode“, benannt nach dem Erfinder, dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen.[vi] Die Kinder lernen mit einer „Anlauttabelle“ texten – selbstgesteuert. Sie schreiben dann drauflos, ohne auf die Rechtschreibung zu achten. Die Lehrerin darf weder intervenieren noch korrigieren. Dazu der emeritierte Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers, Universität Zürich: „Schüler prägen sich durch falsches Schreiben die eigenen Fehler ein. Unsere Söhne haben nach diesem Prinzip schreiben gelernt. Aber meine Frau und ich haben das zu Hause einfach immer korrigiert.“[vii] Der Vorteil des bildungsaffinen Elternhauses! Und die anderen Kinder?

Die Schere im Bildungsmilieu weitet sich

Ein zweites Beispiel: Verschiedene kommunale Schulen streichen die offiziellen Hausaufgaben. Man postuliert Chancengleichheit. Die Bildung aber kennt das „Gesetz der nicht beabsichtigen Nebenwirkungen“. Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Kaum jemand beachtet es – so wenig vielleicht wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen. Wer die Hausaufgaben abschafft, schafft sie trotzdem nicht ab. Bildungsbewusste Eltern werden mit ihren Kindern weiterhin wiederholen und automatisieren. Sie wissen um den Wert des Übens und Festigens. Kinder aus anderen Familien haben diese Chance vielleicht nicht. Die nicht beabsichtigte Folge: Die Schere im Bildungsmilieu öffnet sich weiter.

Junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie. Das unterscheidet sie von industriellen Produktionsgütern. Mit Werkstücken kann man experimentieren; mit jungen Menschen sollte man das nicht. Bildungspolitiker müssten darum bei jeder Reform die altrömische Devise beachten: „[…] et respice finem“ – die Folgen abschätzen. Ein Grundsatz ohne Verfalldatum!

[i] Martin Beglinger: „Das ist vernichtend!“ Die Antworten der Bildungsforscher über die Wirkung der Schulreformen in der Schweiz sind ernüchternd, in: NZZ, 31.08.2018.

[ii] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsindikatoren/themen/zugang-und-teilnahme/soziale-herkunft-hs.html [Status: 23.10.2021]

[iii] Roland Reichenbach (2020): Homeschooling, Distant Learning und das selbstorganisierte Kind, in: Merkur 08, S. 38.

[iv] Ewald Terhart (2018): Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.

[v] Hans Aebli (1978): Von Piagets Entwicklungspsychologie zur Theorie der kognitiven Sozialisation, in: Gerhard Steiner (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band VII: Piaget und die Folgen. Zürich: Kindler S. 604-627.

[vi] Barbara Höfler (2019): Sind fiele Feler schädlich? In: NZZ Folio 4, S. 32.

[vii] https://www.wireltern.ch/artikel/wer-sagt-dass-kinder-sich-nicht-anstrengen-sollen [Status: 23.10.2021]

 

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Träumen erlaubt https://condorcet.ch/2020/12/traeumen-erlaubt/ https://condorcet.ch/2020/12/traeumen-erlaubt/#respond Tue, 29 Dec 2020 08:08:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=7344

Julia Klebs löste mit ihrem engagierten Votum für ein Schulsystem, das die unterprivilegierten Schichten nicht weiter benachteiligt, eine spannende Debatte auf unserem Blog aus. Diesmal ist die Reihe wieder an unserem Condorcet-Autor Felix Schmutz, der Frau Klebs in einigen Punkten recht gibt, aber auch die positiven Seiten unseres Bildungssystems betont.

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Felix Schmutz, Baselland: Gab es je soziale Gerechtigkeit?

In ihrer präzisierenden Antwort versucht Julia Klebs, ihren linken Standpunkt vor Fehlinterpretationen zu retten. Im Wesentlichen geht es ihr um die soziale Gerechtigkeit, die sie in unserer Gesellschaft durch das Auseinanderdriften der Einkommens- und Vermögensschere in Schieflage sieht.

Soziale Gerechtigkeit ist ein Begriff, der von Aristoteles bis John Rawls auf ganz unterschiedliche Art beschrieben wird. Klebs nennt vor allem die heutigen Defizite, sie bleibt jedoch ziemlich vage, wenn es darum geht, wie man sich eine Gesellschaft oder einen Zustand vorstellen müsste, in dem soziale Gerechtigkeit tatsächlich herrscht. Gab es in der Menschheitsgeschichte überhaupt jemals einen Ort oder eine Epoche mit «sozialer Gerechtigkeit»? Träumen davon ist nach wie vor erlaubt und wichtig.

Allerdings stellt Klebs einige Behauptungen auf, die ich als zu grosse Verallgemeinerungen sehe:

  1. Behauptung: Im gesellschaftlichen Diskurs dominierten Begriffe wie «Bildungsferne», mit der die Verachtung für «einfache» Menschen verbunden ist.
Julia Klebs, Redaktorin Widerspruch, Lehrerin: Es geht um die soziale Ungleichheit

Stimmt das wirklich? Der Begriff Bildungsferne ist tatsächlich wegen der abwertenden Konnotationen umstritten. Allerdings soll mit der Ortsmetapher eine real existierende Tatsache beschrieben werden, die sich nicht bestreiten lässt, da sie statistisch erhärtet ist: Der Zutritt zur wissenschaftlich-humanistisch geprägten Schulbildung fällt jenen leichter, die im akademischen Milieu, eben bildungsnah aufwachsen, während diejenigen, die in andern Milieus aufwachsen, grössere Hürden überwinden müssen.

Tabuisierung ist kein guter Ausgangspunkt, wenn es zum Beispiel darum geht, gerechtere Lösungen zu finden für begabte Kinder, die aus Migrationsfamilien stammen.

Wie auch immer man diese soziologische Tatsache benennen will, es muss erlaubt sein, darüber zu sprechen, ohne gleich den Vorwurf hören zu müssen, man «verachte» einfache Menschen. Tabuisierung ist kein guter Ausgangspunkt, wenn es zum Beispiel darum geht, gerechtere Lösungen zu finden für begabte Kinder, die aus Migrationsfamilien stammen.

Deutliche Lohnfortschritte

Gewerbliche Berufe haben zum Teil deutliche Lohnfortschritte gemacht

Dass die Lohnschere gewisse Dienstleistungsberufe und die Landwirtschaft benachteiligt, trifft nach wie vor zu. Dies hat sicher ursprünglich mit dem Prestige der Berufe zu tun. Ob es allerdings heute noch auf «Verachtung» zurückzuführen ist, darf bezweifelt werden. Gewerbliche Berufe haben je nach Sektor deutliche Lohnfortschritte gemacht und an gesellschaftlichem Ansehen gewonnen. Vielmehr sind wohl Gegebenheiten des Marktes zur Hauptsache für Preis- und Lohndruck verantwortlich: Konkurrenz, Mieten, Investitionen, Druck der Grossverteiler*Innen (um diese Gender- und LGBT-gerechte Schreibweise auch einmal zu verwenden).

 

  1. Behauptung: Gute schulische Leistungen garantieren nicht mehr den sozialen Aufstieg in höhere Einkommens- und Vermögensklassen, weil die sozio-ökonomischen Strukturen den weniger Privilegierten ungerechtfertigte Nachteile in den Weg legen.

Lässt sich diese Behauptung wirklich derart pauschal aufrechterhalten? Haben wir nicht dank unseren Volksschulen, Berufslehren, Fachhochschulen neben den Gymnasien und Universitäten in den letzten 40 Jahren einen enormen sozialen Aufstieg ursprünglich benachteiligter Schichten erlebt? Haben wir nicht im kapitalistischen Land der Schweiz deswegen eine gegenüber andern Ländern verschwindend kleine Arbeitslosigkeit? Dass die Umwälzungen in der Wirtschaft auch zu neuer Armut geführt haben, soll nicht bestritten werden. Jedoch dürfte klar sein, dass es nach wie vor einen Konnex zwischen Ausbildung und sozialer Stellung gibt, unabhängig von der sozialen Herkunft.

Wen kümmert es, wenn das Land einige Milliardäre aufweist, solange bis auf wenige Prozent allen die Möglichkeit gegeben ist, aus eigener Kraft ihr Leben zu fristen und politisch mitzubestimmen?

Viele sind am Wohlstand beteiligt

Wen kümmert es, wenn das Land einige Milliardäre aufweist, solange bis auf wenige Prozent allen die Möglichkeit gegeben ist, aus eigener Kraft ihr Leben zu fristen und politisch mitzubestimmen? Solange die Firmen, die Besserverdienenden und Vermögenden Arbeitsplätze schaffen und durch ihre Steuern den grossen Teil der staatlichen und sozialen Aufgaben berappen, sollte sich der Neid in Grenzen halten. Der Sozialstaat als Umverteilungsmaschine hat durchaus Korrekturmöglichkeiten, die er nutzen kann, wenn sich grosse Gräben zwischen Benachteiligten und Bevorteilten auftun. Keine Frage, dass er sie nutzen sollte.

  1. Behauptung: Klebs empfiehlt einen «emanzipatorischen Bildungsbegriff, der sich von einer Bildung distanziert, die herrschende Verhältnisse legitimiert».

Es wird nicht näher begründet, inwiefern der gängige Bildungsbegriff herrschende Verhältnisse legitimiert. Prohibitiv seien die Standards, PISA, die Abschlüsse und Zertifikate, m.a.W. die Selektion. Und da darf man Klebs Recht geben.

Klebs müsste also beweisen, dass die Wissenschaften «herrschende Verhältnisse» abbilden und die Lehrpersonen systematisch die Förderung der wenig Privilegierten torpedieren.

Unterricht stützt sich auf wissenschaftliche Grundlagenfächer

Ist das jedoch der Bildungsbegriff der Schweiz? Jedenfalls nicht dann, wenn die verfassungsmässige Grundlage der Volksschule und der Aufbau des Unterrichts berücksichtigt werden. Diese verlangen einerseits die ganzheitliche Förderung der Kinder und Jugendlichen und stützen den Unterricht anderseits auf wissenschaftliche Grundlagenfächer, die den Stand des Wissens und der Technik abbilden. Klebs müsste also beweisen, dass die Wissenschaften «herrschende Verhältnisse» abbilden und die Lehrpersonen systematisch die Förderung der wenig Privilegierten torpedieren.

Der emanzipatorische Bildungsbegriff meint einen Unterricht, der alle Inhalte jeweils kritisch auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse reflektiert. Das erinnert an die Literaturdidaktik des Bremer Kollektivs in den Siebzigerjahren: Märchen mit Kindern so umschreiben, dass sie der herrschaftsfreien Idealwelt entsprechen.

Emanzipation im ursprünglichen Sinn der Befreiung zur Autonomie entsteht nicht durch Bevormundung, sondern durch breitest mögliche Aufklärung und durch Ermutigung zur begründeten eigenständigen Meinung.

Da besteht die Gefahr, die Menschen zu überfahren, die sich mit Reflexion schwertun, ihnen die Lust zu nehmen, sich auch «inkorrekt» mit einem Thema zu beschäftigen. Es besteht weiter die Gefahr, die Inhalte einseitig auszuwählen und abzuhandeln. Die Volksschule sollte jedoch jede Form von Einseitigkeit vermeiden. Weder religiös-fundamental, noch psychologisierend, noch politisch eingefärbt wünscht man sich die Schule. Emanzipation im ursprünglichen Sinn der Befreiung zur Autonomie entsteht nicht durch Bevormundung, sondern durch breitest mögliche Aufklärung und durch Ermutigung zur begründeten eigenständigen Meinung.

 

Felix Schmutz, 18. 12. 2020

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Condorcet-Autor Felix Schmutz bezweifelte, ob die Gastautorin Julia Klebs in ihrem Beitrag (Bildung und Strukturen: Gesellschaft ist gestalt- und veränderbar! 8.12.20) wirklich - wie von ihr behauptet - linke Positionen einnahm. Darauf antwortet die Gastautorin aus Basel mit einer Präzisierung. Es geht um Gerechtigkeit und ein Überwinden des neoliberalen Narrativs.

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Die rhetorische Strategie von Felix Schmutz besteht teilweise in einem argumentum ad hominem, einem auf den Menschen, statt auf die Sache zielenden Argument. Sie versucht die vorangegangene Position zu diskreditieren, indem die Bildungsbiographie bzw. der mutmassliche soziale Hintergrund der Autorin angegriffen wird. Nun wissen wir gemäss Schmutzʼ psychologisierender Ferndiagnose, dass eine sich politisch links verortende Position «vielleicht aus dem Schuldgefühl heraus (entstanden ist), selbst Privilegien genossen zu haben, die andern verschlossen sind». Und eigentlich zutreffender als «zutiefst bürgerlich» bezeichnet werden müsste. Ohne auf biographische Einzelheiten oder persönliche Motivlagen einzugehen, sei Felix Schmutz gefragt: Ja, und wenn? Täten Schuldgefühle oder dergleichen den zur Diskussion gestellten Argumenten einen Abbruch?

Felix Schmutz: Ferndiagnosen mit karikativer Gouvernantenmentalität

Da ich Felix Schmutzʼ Artikel als Debattenbeitrag verstehe, nehme ich gerne dazu Stellung. Ich freue mich über seine Anregungen, denen ich unter dem Strich im einen und anderen Punkten zustimmen kann. Im Folgenden verdeutliche ich meine Argumentation unter Berücksichtigung der Kritik.

Es handelt sich um Erfahrungen der sozialen Herabsetzung, die beelenden, zumal ja nicht abgestritten werden kann, dass im gesellschaftlichen Diskurs Begriffe wie «Bildungsferne» und die damit verbundene Verachtung für «einfache» Menschen – was auch immer damit gemeint ist – nach wie vor dominieren.

Würde die unterstellte karitativ-gouvernantenhafte Haltung zutreffen, so müsste ich Schmutz am Ende zustimmen. Nur mag ich mich nicht daran erinnern, einen Artikel über «Bildungsgerechtigkeit» geschrieben zu haben, der «die klassische Schulbildung der gymnasial Gebildeten» zur «Messlatte» nimmt, um soziale Chancen zu bemessen. Nein, das Automechaniker-Beispiel steht für eine Reihe von Erfahrungen, die ich nicht nur im weiteren gesellschaftlichen, sondern auch im näheren persönlichen Umfeld beobachte. Es handelt sich um Erfahrungen der sozialen Herabsetzung, die beelenden, zumal ja nicht abgestritten werden kann, dass

Beispiel Automechaniker: Verachtung für “einfache Menschen”?

im gesellschaftlichen Diskurs Begriffe wie «Bildungsferne» und die damit verbundene Verachtung für «einfache» Menschen – was auch immer damit gemeint ist – nach wie vor dominieren. Auch mit ausreichend Selbstbewusstsein ist es nicht einfach, solcherart gesellschaftlich dominante Deutungen zu ignorieren. Dass, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, im Umkehrschluss Bildung nicht verteufelt werden darf, steht wohl ausser Frage. Ebenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, einen Artikel geschrieben zu haben, in dem es mir und «vielen anderen Besorgten» darum geht, Schüler*innen in eine «bürgerliche Optimierungsoptik» einzupassen, um gleichzeitig als Entlastungsmassnahme Reformen vorzuschlagen, «die einfach das Niveau so lange senken möchten, bis man auch den Jugendlichen im A-Zug-Niveau gymnasiale Kenntnisse bescheinigen kann». Interpretation ist aber bekanntlich ein weites Feld.

Keineswegs soll irgendein Niveau gesenkt werden, vielmehr sollte der dominierende Bildungsbegriff hinterfragt werden, ohne irgendjemandem die Lust auf Wissen wegzunehmen.

Keineswegs soll irgendein Niveau gesenkt werden, vielmehr sollte der dominierende Bildungsbegriff hinterfragt werden, ohne irgendjemandem die Lust auf Wissen wegzunehmen.

Wer sich nicht bildet, muss dann eben mit den Folgen leben. Das spüren auch Schüler*innen nur zu gut.

Ein Bildungsbegriff, der mit dem Adjektiv «bildungsbürgerlich» nicht adäquat beschrieben wird. Wir leben vielmehr in einer Gesellschaft, in der sich gefälligst alle und ein ganzes Leben lang zu bilden haben – dass Ziel und Zweck dabei unterreflektiert bleiben bzw. letztlich in ökonomischen Entwicklungen zu suchen sind, ist vielfach kritisch beschrieben worden (z. B. Münch 2009). Wer sich nicht bildet, muss dann eben mit den Folgen leben. Das spüren auch Schüler*innen nur zu gut, die sich im städtischen Umfeld oftmals kaum mehr vorstellen können, dass ein gutes Leben ohne akademische Bildung und hohes Einkommen möglich sein könnte (und natürlich, als akademisch Gebildete will ich ihnen zumindest Ersteres nicht verwehren, stelle es auf der reflexiven Ebene aber dennoch in Frage). (Formaler) Bildung wird an dieser Stelle eine Funktion zugesprochen, die mehrheitlich nicht eingelöst wird, nämlich Aufstieg zu ermöglichen oder zumindest fehlende Chancen auszugleichen. Dies kritisiere ich ausdrücklich, wenn ich darauf verweise, dass es nicht die fehlenden schulischen Chancen sind, die sozial unterprivilegierten Jugendlichen das Leben erschweren, sondern bestimmte sozioökonomische Strukturen, die das demokratische Prinzip gleicher Rechte permanent unterlaufen.

Die Frage nach der Gerechtigkeit unserer Gesellschaft lässt sich nicht pädagogisch beantworten.

Soziale Gerechtigkeit ist nicht durch Schule lösbar

Denn darüber hinaus, dass auf diese Weise meritokratische, von der Realität längst überholte Normen verfestigt werden, wird mit dem Fokus auf schulisch herzustellende Chancengleichheit auch eine weitergehende Frage ausgeblendet. Diejenige nach der Gerechtigkeit einer Gesellschaft, die sich nicht pädagogisch beantworten lässt (Bossart 2020, Reichenbach 2020).  Viele Lehrpersonen stehen unter diesen Bedingungen stattdessen am – wie ich Felix Schmutz zustimme: berechtigten – widerständigen Verhalten an, das in den «unteren» Klassen dem Schulsystem doch recht häufig entgegengebracht wird. (Dass ich diesen Begriff in Anführungs- und Schlusszeichen setze, ist allein schon verräterisch: Selbst aus unserer Sprache sind jene wesentlichen Teile der Gesellschaft ausgeschlossen, die nicht ins schiefe Bild der wohl Situierten und sich lebenslang Bildenden passen.)

Das klassische bürgerliche Argument der Leistung, dank der ein jeder seines Glückes Schmied sei, hat angesichts stets zunehmender Vermögens- und Einkommensunterschiede mehr als nur einige Kratzer erhalten.

Gerade deswegen halte ich es für wichtig, auch ausserschulische Entwicklungen zu beachten, wenn man an einer gerechteren Bildung und Gesellschaft interessiert ist (was nicht zu mit Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu verwechseln ist). Wenn ich von Gerechtigkeit spreche, so beziehe ich mich auf einen Gerechtigkeitsbegriff, der sich – siehe oben und den vorangegangenen Artikel – an realen Ressourcen (statt an schulischen Chancen) bemisst, und der fragt, ob in unserer Gesellschaft ausreichend legitimiert werden kann, dass Menschen an dermassen ungleichen sozialen Orten stehen. Ich glaube nicht, dass dem so ist. Das klassische bürgerliche Argument der Leistung, dank der ein jeder seines Glückes Schmied sei, hat angesichts stets zunehmender Vermögens- und Einkommensunterschiede mehr als nur einige Kratzer erhalten.

Vermehrt über den emanzipatorischen Bildungsbegriff nachdenken

Hilft unser Bildungssystem, das System zu verfestigen?

Für umso wichtiger halte ich es, wieder vermehrt über einen emanzipatorischen Bildungsbegriff nachzudenken, der sich von einer Bildung distanziert, die herrschende Verhältnisse legitimiert, im Sinn von: Hauptsache sozialer Aufstieg in gesellschaftlichen Strukturen, die bleiben mögen, wie sie sind, und möglichst viele Abschlüsse mit formal möglichst hoher Bildung (einschliesslich der damit vorangetriebenen Ausschlüsse und des Unsichtbarmachens von praktischer, so genannt «bildungsferner» Arbeit, die – wie wir seit Covid-19 wissen – zwar als «systemrelevant» gilt, aber wenig entlohnt und anerkannt ist). Selbstredend beinhaltet das Nachdenken über Begriffe keine pfannenfertigen Reform- oder wie auch immer geartete Konzepte.

Nicht ohne Einflussmöglichkeiten

Mit der Schilderung einiger weniger Situationen und Strategien aus dem schulischen Alltag habe ich in meinem vorangegangenen Artikel dargestellt, dass – entgegen obiger Ausführungen – Schule, insbesondere die Volksschule, vielleicht doch nicht ganz ohne Einflussmöglichkeiten ist, und dass es sich lohnt, über Handlungsspielräume nachzudenken. Lehrpersonen vermitteln schliesslich nicht nur Wissen, mit dem sich die Welt besser verstehen lässt. Sie können Schüler*innen auch als Gleiche behandeln, jenseits aller sozialen Ungleichheit (Reichenbach 2020) – und damit im Einzelfall das Licht der Sprache oder eines x-beliebigen anderen Feldes entzünden, ohne dabei andere Interessen oder Lebenswege abzuwerten.

Andere Bildungsinhalte und durchaus nicht nur erfolglose.

Felix Schmutz schreibt, dass es bei den «Bevölkerungsschichten», die dem beschriebenen Bildungszustand intuitiven Widerstand entgegensetzen, «eine kulturelle Verankerung» und «soziale Massstäbe» gäbe, «die den Bemühungen auch der wohlmeinendsten Linken und Reformer entgegenstehen». Ich gebe ihm in diesem Punkt recht, bestreite aber, dass es ein soziales Projekt sein sollte, «bildungsbürgerliche Reformen» voranzutreiben. Wenn eine Debatte über emanzipatorische Bildung geführt wird, dann sollte diese vielmehr von gesellschaftlichen Brüchen, Rissen und Widersprüchen ausgehen und in der Lage sein, Bündnisse mit Menschen einzugehen, die früh im Leben Verantwortung übernehmen, sich im Alltag bilden, über praktisches Wissen verfügen oder Tätigkeiten ausüben, die – etwa als Care-Arbeit – dringend notwendig sind. Und dabei kritisieren (statt, wie ich Felix Schmutz lese: schönzureden), dass nicht wenige junge Menschen genötigt werden, sich die Landkarte des Wiss- und Verstehbaren weitgehend ohne in der Schule vermitteltes Wissen anzueignen.

Julia Klebs

Richard Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Verwissenschaftlichung unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co. Frankfurt a. M. 2009

Rolf Bossart, Einleitung. Bildungsferne als Enge und Horizont. In: Roland Reichenbach: Bildungsferne. Essays und Gespräche zur Kritik der Pädagogik, hg. v. Rolf Bossart. Zürich 2020

Roland Reichenbach: Über Bildungsferne. In: In: Roland Reichenbach: Bildungsferne. Essays und Gespräche zur Kritik der Pädagogik, hg. v. Rolf Bossart. Zürich 2020

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