Architektur - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 13 Jul 2023 13:42:02 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Architektur - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ein Palast für die Bildung https://condorcet.ch/2023/07/ein-palast-fuer-die-bildung/ https://condorcet.ch/2023/07/ein-palast-fuer-die-bildung/#respond Thu, 13 Jul 2023 13:42:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=14549

Wer ein Auge für Schweizer Schulhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat, staunt über die architektonische Pracht dieser Bauten. Viele weisen Residenzcharakter auf. Sie signalisieren Aufbruch und Fortschritt. Ein Blick in die damalige Kleinstadt Zug von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Bis weit ins 19. Jahrhunderts hinein haben es Schule und Unterricht schwer: Einen regelmässigen Schulbesuch gibt es nicht. In einer bäuerlich-gewerblichen Gesellschaft besitzt Bildung einen bescheidenen Stellenwert. Sie bleibt das Vorrecht weniger. Die Bevölkerung ist arm, das Leben vieler kärglich, der Unterricht darum schmal. Man braucht die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik von 1800 postuliert und der liberale Bundesstaat von 1848 vorsieht, ist darum schwierig zu konkretisieren.

Von der schmalen Schulstube zum majestätischen Bildungstempel

Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) von 1874 müssen alle Kantone die Primarschulpflicht durchsetzen: Die neue BV verordnet die allgemeine Schulpflicht. Der Primarunterricht wird für alle Kinder obligatorisch und unentgeltlich. Der Weg dahin aber ist steil und steinig. Bildung muss mühsam aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreit und zeitgerecht institutionalisiert werden. Doch es geht vorwärts.

Das Burgbachschulhaus in der Stadt Zug von 1875 (Bild: Stadtarchiv Zug)

Die Bildungsexpansion nach 1850 ruft nach Raum. Die Stadt Zug beispielsweise errichtet auf den Kellergewölben des alten Spittels ein repräsentatives Schulgebäude – aus Natursandstein und gehalten ganz im Stil der zeitgenössischen Neugotik: das Burgbachschulhaus. Der Bau wird 1875 eingeweiht und zum zentralen Schulhaus der Stadt Zug – allerdings nur für Knaben.[1] Die oft stickige Enge des Zimmers weicht nun der Weite eines Gebäudes. Der Wechsel aus der muffig-maroden Schulstube früherer Zeiten ins geräumig-grosse Burgbach-Schulhaus gleicht einem Siebenmeilenschritt. Es umfasst sechs luftige und helle Unterrichtsräume, dazu einen Musiksaal und auch Fachräume. Das Neue wird fassbar und konkret.

Die Schulhausuhr signalisiert eine neue Epoche

Jede Gemeinde baut ihr Schulhaus, oft mit klassizistischen Säulen, meist mit klar gegliederter Fassade, weiten Fenstern und einem grossen Treppenaufgang: Die Kinder steigen nun zur Bildung empor – und durchschreiten für den Unterricht die grosse Eingangspforte. Symbol und Auftrag zugleich. Auch beim Burgbachschulhaus.

Eindrücklich kommt das beim imposanten Stadtzuger Neustadtschulhaus (heute Musikschule) zum Ausdruck: die breite Stiege und die markante Türe mit dem Rundbogen und den allegorischen Figuren. Sie steht auch Mädchen offen – allerdings erst nach hartem politischem Ringen.

Das Stadtzuger Neustadtschulhaus von 1909 mit dem Aufgang und Eingang zur Bildung (Foto: Stadt Zug/zVg)

Neben der Kirche erhält vielfach auch das Schulhaus eine Uhr. Sie signalisiert die neue Epoche: Das Schulleben geht im Takt – die Zeit der Uhr als standardisierte Normalität. Zeiten der Schule sind Zeiten des Lernens. 

Ein neoklassizistischer Schulpalast

Wer die beiden Stadtzuger Schulhäuser betrachtet, wundert sich über die architektonische Eleganz dieser Bauten. Beide weisen Residenzcharakter auf. Sie gelten – wie viele Schulhäuser aus dieser Zeit – als Tempel des bildungspolitischen Aufbruchs und Fortschritts. Der Bau signalisiert die neue Ära: Das Land realisiert ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was bereits die Helvetische Republik (1798–1803) unter ihrem Bildungsminister Philipp Albert Stapfer erreichen wollte: eine umfassende und für alle Kinder obligatorische Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates.

1870 entsteht etwas ausserhalb der Stadt Zug eine private Knabenschule. Errichtet wird ein eindrücklicher Schulpalast im neoklassizistischen Stil. Dazu gehört auch eine Turnhalle – die erste im Kanton Zug; dazu zählen Spielplätze, eine Allee und ein weiter Park mit Springbrunnen, Grotten und einem Weiher. Das Areal reicht bis zum See. Die Gotthardbahn existiert noch nicht. Erst 1897 durchschneiden ihre Geleise die weitläufige Grünfläche dieser herrschaftlichen Schulanlage.

«Minerva» bei Zug, Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt für Knaben – um 1880 (Bild: Stadtarchiv Zug)

Zeitzeuge und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge

Die Schule trägt den Namen Minerva, nach der römischen Göttin der Weisheit. 1906 entsteht auf dem Campus ein privates «Mädchengymnasium und eine internationale höhere Töchterschule»; Namensträgerin wird Athene, die griechische Göttin der Wissenschaft. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs muss die Schule schliessen.

1920 zieht die Kantonsschule Zug ins imposante Schulgebäude der Athene ein – mit rund 100 Schülern und einigen wenigen Schülerinnen. Der Name Athene ist Programm und Auftrag: humanistische Bildung, orientiert an der griechisch-​römischen Klassik – für unzählige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. 50 Jahre später zählt die Schule über 700 Personen. Das Bauwerk ist zu klein geworden. 1975 zieht das Zuger Gymnasium an einen neuen Standort – nach einem rauschenden Abschiedsfest und einer «wilden Nacht mit Athene».[2]

Der alte Schulpalast von 1870 soll einem Neubau weichen. Doch eine Volksinitiative rettet diesen Zeitzeugen und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge vor dem Abriss. Das Gebäude wird sorgfältig renoviert.[3] Heute beherbergt die Athene die kantonale Fachmittelschule FMS und die Berufsvorbereitungsschule BVS.

Bildung als Bergaufprozess

Das «Volk im Zwilch», die einfachen Leute, aus seiner Not herausführen und emporführen – und es dem «Volk in Seide» über Bildung gleichstellen, das ist Johann Heinrich Pestalozzis Idee, davon träumen die Repräsentanten der Helvetik, das realisiert der neue Bundesstaat von 1848. Doch Bildung ist anstrengend und anspruchsvoll, lernen und sich bilden ein steter Bergaufprozess und kein linearer Schnellpfad – das weiss die Gründergeneration der Schweizer Volksschule. Die Treppe zum Schulhaus symbolisiert es. Keine Spur von der aktuellen Leichtigkeitsillusion! Viele alte Schulhäuser erinnern an diesen Aufbruch – und den Aufstieg zur Bildung.

Die repräsentativen Schulgebäude von damals zeigen zugleich, welche eindrückliche Form man der Formatio, der Bildung, gegeben hat: Der Weg führte aus der engen, stickigen Schulstube hinaus zum majestätischen Bildungstempel. Bildung als Befreiung. Ganz im Sinne des Philosophen Immanuel Kant. Das erstaunt nicht. Die frühen Promotoren einer besseren Bildung waren vielfach am Denker aus Königsberg geschult. Das galt für Stapfer wie für Pestalozzi.

 

[1] Die Mädchen gehen weiterhin zu den Lehrschwestern von Maria Opferung oberhalb der Stadt Zug zur Schule.

[2] Andreas Grosz, ATHENE oder: Aus der Schule plaudern, in: NZZ, 25./26.02.1989, S. 86-88

[3] Renato Morosoli, Göttin am Zugersee, in: Personalziitig 86/2018, S. 14f.

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Architektur und Pädagogik als Inspirations-Tandem https://condorcet.ch/2021/09/architektur-und-paedagogik-als-inspirations-tandem/ https://condorcet.ch/2021/09/architektur-und-paedagogik-als-inspirations-tandem/#respond Tue, 07 Sep 2021 12:21:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=9258

Es ist „ein architektonisch herausragender Schulhausbau“. Darum steht es unter Denkmalschutz, das ehemalige Lehrerseminar St. Michael, die heutige PH Zug. Wegleitend waren reformpädagogische Ideen. Eine Spurensuche von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Ideen brauchen eine Gestalt.

Eine Creatio ex nihilo ist der Traum vieler Visionäre, ein Neubeginn auf grüner Wiese: die Idealität mit der Realität verbinden und die eigenen Ideen in der Architektur konkretisieren. Das können nur wenige. Zu ihnen zählt der charismatische Zuger Theologe und Pädagoge Leo Kunz (1912-1978).

Innovation in einer stabilen Schulwelt

Wir kehren kurz zurück in die Zeit des Kalten Krieges, in die bipolare Welt der 50er- und 60er-Jahre. Wandel ist wenig, die Stabilität stark. Das Gleiche gilt für die Schule: ein gefestigter, wohl geordneter Mikrokosmos – und mitten drin die Lehrerin, der Lehrer als Inkarnation fachlicher und pädagogischer Autorität. Nur selten zu hören ist die Vokabel Innovation. Vordergründig verlangt sie die Zeit nicht.

Und doch rufen die jahrlangen Konstanten nach Reformen. Bildungsinnovationen kommen vielfach aus dynamischen Privatschulen. Sie orientieren sich an neuen pädagogischen Idealen; sie suchen alternative Wege. Zu diesen Institutionen gehört beispielsweise das ehemalige „Evangelische Seminar Unterstrass“ in Zürich; dazu zählt das Zuger Lehrerseminar St. Michael. 1880 gegründet, wird es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geschlossen und 1958 wieder eröffnet. Spiritus Rector der Neugründung ist der der theologische Reformpädagoge Leo Kunz. Der legendäre Seminardirektor weilt während der Weimarer Republik an deutschen Reformschulen. Ihre pädagogische Grundidee fasziniert und inspiriert ihn. Manches davon will er in die Tat umsetzen.

Die Schule als Lernort mit einem klaren Fokus: die Kernprozesse des Lernens, räumlich realisiert im Symbol des Innenhofs. Darauf ist alles ausgerichtet.

Die pädagogische Vision in der Architektur

Ideen brauchen eine Gestalt; nur so werden sie kenntlich und prägen sich ein. Genauso benötigt die neu konzipierte Lehrerbildung ein frisches Gesicht, ein andersartiges Gebäude. Davon ist Leo Kunz überzeugt. Zentrales Anliegen ist ihm eine umfassende Schülermitwirkung – konkreter Vorbote eines pädagogischen Wandels. Die imposante alte Anlage aus dem Gründerjahr 1880 passt da nicht zum neuen Konzept. Für seine visionären Grundgedanken findet er im renommierten Zuger Architektenteam Hafner & Wiederkehr zwei kongeniale Partner.

Subtil ist sie gestaltet, die räumliche Folge von Eingangshalle, Atrium, Aula und Innenhof.

Die Anlage aus den Jahren 1959-61 wurzelt ganz in der Tradition der schweizerischen Nachkriegsmoderne, ein „architektonisch herausragender Schulhausbau“.[i] Darum steht er seit 2002 unter Denkmalschutz. Klare Formen und präzise Materialwahl sind typisch. Das Haus ist eindrückliches Beispiel für eine Architektur, die sich explizit auf eine konkrete Nutzung bezieht. Leo Hafner und Alfons Wiederkehr realisieren baulich, wovon Leo Kunz pädagogisch träumt: eine zeitgemässe Lehrerbildung, konzentriert auf das Eigentliche und Wesentliche, ohne Flucht ins pädagogische Vielerlei. Die Schule als Lernort mit einem klaren Fokus: die Kernprozesse des Lernens, räumlich realisiert im Symbol des Innenhofs. Darauf ist alles ausgerichtet.

Die Architektur unterstützt das Anliegen, einen identitätsstiftenden Lern- und Lebensort zu schaffen.

Atmosphäre der Konzentration

Das Lernen der jungen Menschen konsequent in den Mittelpunkt stellen: Das Seminargebäude ist Abbild dieses Gedankens. Im Zentrum steht daher der Studienhof – der archimedische Punkt der intendierten Bildung. Um ihn herum sind die Klassenräume angeordnet, verbunden mit einem kreuzgangähnlichen Korridor.

Subtil ist sie gestaltet, die räumliche Folge von Eingangshalle, Atrium, Aula und Innenhof. Es ist eine Abfolge von differenzierten Innen- und Aussenraumbeziehungen. Das fördert eine Atmosphäre der Stille und der Konzentration auf das pädagogisch Entscheidende. Die grosszügige Ordnung und die klaren Linien helfen mit. Die Architektur unterstützt das Anliegen, einen identitätsstiftenden Lern- und Lebensort zu schaffen.

Zugänge zur Welt ermöglichen

Atrium, Aula, Innenhof: eine Abfolge von differenzierten Innen- und Aussenraumbeziehungen

Innen und aussen zusammenführen; das will Bildung – und damit den jungen Menschen die Zugänge zur Welt ermöglichen: sprachlich-kommunikativ, mathematisch-naturwissenschaftlich, musisch-künstlerisch, historisch-philosophisch. Wie sehr diese pädagogische Idee im Bau zum Ausdruck kommt, zeigt sich an der Aula als engerem Sammelpunkt der Schulgemeinschaft. Sie ist nicht abgeschlossen, sondern nach innen und nach aussen transparent. Symbol und Auftrag zugleich: im Mikrokosmos der Schule das Leben lernen.

Das lebte der Gründungsdirektor Leo Kunz vor, das verinnerlichte sein Nachfolger Werner Hegglin. Noch heute erinnere ich mich an seine erste Lehrerkonferenz – ganz der Architektur entsprechend: gut gegliedert, gradlinig und schnörkellos, klar und konsequent. Wenige Punkte – viel Denkleistung. Und vor allem eines: konzentriert auf den Kern der Lehrerbildung, auf die menschlichen Lernprozesse und das Mitverantwortlich-Sein aller Beteiligten. Eine Bildung jenseits des Funktionierens und Belehrens, fern aller unreflektierter Modeslogans, fern jeder Techné. Eine Bildung, die auf die humane Kraft des zwischenmenschlichen Austausches und die Kraft des dialogischen Lernens baut. Achtsam aufeinander sein und aufmerksam, wahrnehmen und darüber nachdenken. Immer wieder: denken lernen, mehr fragen als reden.

Der Genius loci als pädagogischer Inspirator

Eine thematische Konferenz und ein persönliches Gespräch – und ich wusste, was dem neuen Seminardirektor pädagogisch bedeutsam war: die fachlichen Lernprozesse in den Dienst menschlicher Entfaltung stellen – orientiert an der individuellen Persönlichkeit, ausgerichtet auf den kommenden Berufsauftrag, wie es die Architektur vorzeichnete: innen und aussen verbinden.

Wer heute mit Absolventen dieser Schule spricht, den überrascht immer wieder eines: die grosse Identifikation der Ehemaligen mit dieser Schule.

Das Zusammenspiel von Schulbau und Pädagogik belebt. Darauf basierte Leo Kunz‘ Idee. Wer heute mit Absolventen dieser Schule spricht, den überrascht immer wieder eines: die grosse Identifikation der Ehemaligen mit dieser Schule. Die Atmosphäre vor Ort, der sogenannte Genius loci, habe sie geprägt, berichten sie. Und zwar nachhaltig, fügen viele bei. Architektur und Pädagogik als inspirierendes Tandem.

 

[i] Sabine Windlin, „Denk-Mal ist Programm“. In: Personalzeitung Kanton Zug. SA 2.7.2013, S. 2.

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