Buchbesprechung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 26 Feb 2024 20:57:22 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Buchbesprechung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Bildungsforschung hat keinen grossen Erkenntnisgewinn gebracht https://condorcet.ch/2024/02/16009/ https://condorcet.ch/2024/02/16009/#comments Mon, 26 Feb 2024 16:25:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=16009

Mit etwas Verspätung - am Montag, statt am Sonntag - veröffentlichen wir den Sontagseinspruch von Professor Wolfgang Kühnel, der uns den leider verstorbenen Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke in Erinnerung ruft. Der "Weisse Rabe" der Erziehungswissenschaft erklärt uns auch den wichtigen Unterschied zwischen Korrelationen und Kausalitäten.

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Normalerweise diskutieren wir aktuelle Entwicklungen, den letzten internationalen Test, seltsame neue Lehrpläne, eine Fehlentscheidung wichtiger Institutionen, die Einrichtung einer neuen Kommission, die Digitalisierung, das Wirken unternehmensnaher Stiftungen usw.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Heute möchte ich ausnahmesweise auf etwas zurückgreifen, das vor 20 Jahren formuliert wurde, aber doch eine erstaunliche Aktualität zu besitzen scheint. Würde man das Datum der Veröffentlichung nicht sehen, könnte man das für einen aktuellen Beitrag halten, dabei war der Autor weder Hellseher noch hatte er prophetische Gaben. Es geht um den folgenden Text von Hermann Giesecke (1932-2021), bekannt als so etwas wie ein Altmeister der Pädagogik in Deutschland:

http://www.hermann-giesecke.de/erzwiss.pdf

Seine legendäre Formulierung “So ziemlich alles, was die moderne Pädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt Kinder aus bildungsfernem Milieu” haben vermutlich die meisten schon gesehen.

Neben solchen grundsätzlichen Äußerungen sollte man aber auch seine Einschätzung zu der modernen empirischen Bildungswissenschaft und dem damit zusammenhängenden “pädagogisch-

9. August 1932 in Duisburg; † 4. September 2021 in Lenglern, deutscher Erziehungswissenschaftler: Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernem Milieu.

industriellen Komplex” (das Wort fällt auf S. 155 unten) beachten. Das ist durchaus aktuell: Auf der gerade zu Ende gegangenen Didacta 2024 in Köln wurde man von dieser Reklame-Glitzerwelt der Bildungsindustrie geradezu erdrückt. Das Heil scheint nur noch in der profitablen Digitalisierung zu liegen, anderes gibt es nicht mehr.

Schon der dritte Satz spricht von einem “Auseinanderdriften” der Wissenschaft und der schulischen Praxis. Und dann heißt es: “Die Leitfrage lautet: Was hat ein Lehrer von der modernen Bildungsforschung bzw. von den systematischen Ergebnissen der Erziehungswissenschaft?”

Immerhin sind die ersten PISA-Studien bereits in die Diskussion einbezogen und waren vielleicht sogar ein Anlass für Giesecke, das zu schreiben: “Lehrer gelten in diesem Zusammenhang nicht als Akteure, sondern eher als Publikum, Abnehmer und Adressaten.” Auf der zweiten Seite stellt er fest: “Die Praxis hat ihre eigene Logik …

Unsere Bildung wird nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”.

Deshalb sind alle Versuche unbefriedigend geblieben, das System von Bildung und Erziehung von außen in eine gewünschte Richtung zu steuern.” Da mögen allen Mitgliedern aller “Steuerungsgruppen” im Bildungswesen die Ohren klingen, besonders von dieser hochrangigen Steuerungsgruppe, besetzt mit Staatssekretärinnen und Staatssekretären:

https://www.bildungsbericht.de/de/autor-innengruppe-bildungsbericht/autorengruppe#1

“Bildungsmanagement” heißt das heute, unsere Bildung wird also nicht mehr aktiv erworben, sondern von höherer Warte aus “gemanagt”. Da kann wohl jeder froh sein, der seine Bildung noch in der Zeit vor dem “Bildungsmanagement” erworben hat.

Bildungsmanagement: Der Ertrag der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis ist sehr gering.

Und es geht um die “Erwartungen der politischen Öffentlichkeit”: “Man erhofft sich insbesondere von den umfangreichen und kostspieligen Bildungsforschungen Handlungsanweisungen … Insbesondere die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man doch, worauf es ankommt, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.” Dass das in den 20 Jahren der bisherigen PISA-Tests so einfach nicht funktioniert hat, wissen wir heute, aber Giesecke erklärt eine prinzipielle Unmöglichkeit schon auf der dritten Seite, weil “der Ertrag  der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis sehr gering ist.” Er spricht von einer “künstlichen und auf den Forschungszweck hin konstruierten Wirklichkeit, die mit der, die dem Handeln gegeben ist, nicht mehr viel zu tun hat.”

Das gipfelt neuerdings in den nationalen IQB-Tests darin, dass es als Ergebnis immer heißt, x Prozent der Teilnehmer hätten leider die Mindeststandards verfehlt, andererseits aber fast niemand weiß, wie diese Mindeststandards genau aussehen. Die Lehrer wissen nicht, was sie  machen sollen, damit ihre Schützlinge die Mindeststandards erreichen.

Die KMK hat nur Regelstandards veröffentlicht, und die haben andere Ansprüche, sie sollen wohl — grob gesagt — der Schulnote “befriedigend” entsprechen, die Mindeststandards dagegen dem, was (nahezu) ALLE erreichen sollen, so die theoretische Vorstellung.

Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können.

Hinzu kommt, dass in all diesen Tests nicht das geprüft wird, was vorher gelehrt und gelernt wurde, sondern bewusst anderes, nämlich übergreifende “Kompetenzen”.

Genau diese Frage stellt auch Giesecke: “Was hat ein Lehrer davon, wenn er diese Untersuchungen zur Kenntnis genommen hat? Erhält er Hinweise darüber, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann?” Überall scheint heute ein Verbesserung des Unterrichts eingefordert zu werden, nur wie die konkret aussehen soll, das scheint kaum jemand sagen zu können. Man definiert die Verbesserung des Unterrichts dann über die Verbesserung der Testergebnisse, aber alle wissen, dass in die Testergebnisse so viele andere (z.B. soziale) Faktoren eingehen, dass man das praktisch gar nicht trennen kann. Jeder kennt die achselzuckenden Statements der prominenten Empiriker, dass sie zu den Ursachen der Ergebnisse und ihrer Veränderungen natürlich keine Aussage machen können, sie messen ja nur. Dann kann aber auch niemand wissen, wie man diese Ergebnisse nun effizient beeinflussen kann.

Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.

Giesecke listet auf Seite 154 als mögliche Ursachen auf: “das Desinteresse vieler Schüler und Eltern, das einseitig als pädagogisches und deshalb fortbildungsbedürftiges Manko der Lehrer und nicht zumindest auch als Resultat der Demontage der Schule als staatliche Institution gedeutet wird; die Verrechtlichung des Lehrerdasein, die sanktionierende Interventionen im Namen der zu fordernden Leistungen im Keim erstickt von bürokratischer Gängelung und materieller Unterausstattung ganz zu schweigen.”

Korrelation hat nichts mit Kausalität zu tun.

Und dann steht auf derselben Seite unten der Kernsatz, den am besten alle auswendig lernen sollten: “Die Zuordnung von Ursachen und Wirkungen ist nämlich das eigentliche Problem. Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auf Kausalitäten hin.”

Die empirische Bildungswissenschaft überschüttet uns geradezu mit Millionen von statistischen Korrelationen, aber die Klärung von Kausalitäten hält damit nicht annähernd Schritt. Nur eine Korrelation habe ich in den großen Testberichten von PISA & Co nie gesehen: Die zwischen Intelligenz (also IQ nach einem der üblichen Intelligenztests) und Testerfolg. Da redet man nur etwas verschämt von “kognitiven Fähigkeiten”, die aber als solche nicht mit Punkten oder Stufen versehen werden. Böse Zungen vermuten gerade in diesem Fall eine Kausalität, und zwar weitgehend unabhängig von dem Wirken der Lehrer, deren praktische Einflussmöglichkeiten nicht so einfach durch statistische Korrellationen beschrieben werden können. Auf Seite 164 heißt es dazu: Politik und Wissenschaft “sehen in den Praktikern im Wesentlichen Objekte ihrer eigenen Bestrebungen, was durch die Output-Orientierung  der Bildungsforschung noch verstärkt wird. Dabei könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig sein, wenn sie von den Problemskizzen derjenigen ausgeht, die die Arbeit tun. …

Warum ist es so schwierig, gewissen Kindern Basiskompetenzen beizubringen.

Die Ergebnisse von PISA würden eine andere Farbe erhalten, wenn Lehrer z.B. öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, WARUM es gegenwärtig kaum möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen beizubringen.” Obwohl wir in Zeiten ständiger Meinungsforschung leben und fast täglich erfahren, wie viele Wähler nun welche Partei wählen würden, scheint es kaum repräsentative Umfragen unter Lehrern zu den vieldiskutierten und heiklen Themen (etwa zu Disparitäten bei den Ergebnissen oder zum Abwärtstrend in den letzten 10 Jahren) zu geben.

Und so nebenbei wendet sich Giesecke auch noch dem ewigen Zankapfel der deutschen Bildungspolitik zu, dem Schulsystem (Seite 163):

“Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit, nicht deren Konstruktion. Demnach steht ihr zu, auf dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse die Mängel des  dreigliedrigen Schulwesens oder der Gesamtschule zu beschreiben und zu begründen, aber nicht für die eine oder andere Variante zu plädieren,  als sei das wissenschaftlich geboten.”

Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern? Das dreigliedrige Schulsystem ist schuld!

Tatsächlich hatten wir damals und haben wir heute einen Mainstream in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft, der fest daran zu glauben scheint, dass das dreigliedrige System ursächlich für vieles ist, was man lieber nicht hätte: Schwache PISA-Werte, spürbaren Einfluss der sozialen Herkunft auf Test- und Schulerfolg, Schulabbrecher, Probleme bei der Integration von Zuwanderern usw. Aber wieder ist die Kausalität nicht stringent begründet. Schon in Frankreich mit seinem einheitlichen Schulsystem gibt es dieselben Probleme, es gibt sogar noch mehr Schulabbrecher, und auch bei PISA rangiert Frankreich bei den sozialen Disparitäten stets hinter Deutschland, Luxemburg und Ungarn auch.

Einen gewichtigen Nachteil des gegliederten Systems kennen alle: Das ist der kritische Moment des Übergangs von einer einheitlichen Grundschule in mehrere Varianten einer weiterführenden Schule. Dass dabei Fehler passieren, ist prinzipiell nicht vermeidbar. Aber nur Giesecke scheint zu thematisieren, dass auch ein einheitliches System eben Nachteile und Fehlermöglichkeiten haben könnte, die aber gleichwohl in der Mainstream-Argumentation noch nicht einmal benannt und untersucht werden sollen. Was ist das für eine Wissenschaft, die bestimmte Fragen nicht zulässt (oder gar per se als “verboten” oder in der Politik als “rechtes Gedankengut” betrachtet)?

Wenn die Grundschule 9- oder 10-jährig wäre und es danach um den Übergang auf ein 2- oder 3-jähriges “Stummelgymnasium” ginge, wie gerecht wäre denn da der Übergang? Wie will man das bewerkstelligen, ohne dass wieder im Gymnasium die höheren sozialen Schichten  überrepräsentiert sind?

Es sei auch an so manche “wissenschaftliche Eintagsfliege” erinnert. Als die Werte für Deutschland bei der IGLU-Studie nach oben gingen, bei PISA aber weiter schwach waren, jubelten diejenigen, die es schon immer wussten: “Das nicht gegliederte Schulsystem ist einfach leistungsfähiger und gerechter dazu”, z.B. hier:

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/laengeresgemeinsameslernen/vortrag_prof_bellenberg_5.2.2010.pdf

Schon wenige Jahre später gingen auch die Werte bei IGLU nach unten und bei den nationalen Grundschultests des IQB ebenfalls. Die Eintagsfliege war gestorben.

Auch Klaus-Jürgen Tillmann, bekannt durch seine Bielefelder Laborschule, hat in dem Band “Hamburg macht Schule” (Sonderheft 2009) auf Seite 14  verkündet, die 6-jährige Grundschule sei der 4-jährigen überlegen, weil die damaligen Testergebnisse in Berlin besser ausfielen als in Hamburg bei ansonsten vergleichbaren Verhältnissen. Nur leider war es schon 10 Jahre später genau umgekehrt, womit auch diese Eintagsfliege verschwunden ist. Korrelationen ändern sich von Test zu Test, Kausalitäten aber bleiben etwas länger. Jedenfalls sollte man wohl davon ausgehen können.

Festzuhalten bleibt: Giesecke beschrieb vor 20 Jahren ziemlich genau die Probleme, die wir auch heute haben. Und konsensfähige Lösungen sind damals wie heute nicht in Sicht. Aber dieser Aufsatz ist aus einem Geist heraus geschrieben worden, der uns Hoffnung machen kann. Es lohnt sich, den ganzen Artikel zu lesen und mit der aktuellen Situation zu vergleichen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Tonio Schachingers Schul-und Gesellschaftsroman “Echtzeitalter”: “Eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation” https://condorcet.ch/2023/11/tonio-schachingers-schul-und-gesellschaftsroman-echtzeitalter-eine-unschuldige-und-dennoch-gnadenlose-simulation/ https://condorcet.ch/2023/11/tonio-schachingers-schul-und-gesellschaftsroman-echtzeitalter-eine-unschuldige-und-dennoch-gnadenlose-simulation/#respond Sun, 26 Nov 2023 14:43:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=15362

Unschuldig ist sie nicht, diese Welt des Wiener Elitegymnasiums Marianum, in der sich der pubertierende Till Kokorda auf möglichst unauffällige Weise versucht durchzuwursteln. Eher gnadenlos. Und wenn es im schulischen Alltag mit dem sadistisch-elitären Klassenlehrer Dolinar nicht mehr auszuhalten ist, gibt es zum Glück noch die Unschuld der Echtzeit-Strategiespiele "Age of Empires 2", wo es Till bis in die globale Spielerelite schafft. Für dieses mit viel Spott und Einfühlsamkeit entworfene Sittengemälde, das unspektakulär traditionell erzählt wird, hat der 31-jährige österreichische Schriftsteller zu Recht den Deutschen Buchpreis 2023 erhalten.

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“Till geht am russischen Siegesdenkmal vorbei und entscheidet sich, einen Umweg über den Karlsplatz zu nehmen. Alles ist gut. Till ist glücklich. Er muss nie wieder in die Schule, nie wieder von Felis Seite weichen. Er weiss nicht, dass es keine Happy Ends gibt. Dass Menschen, die sich lieben, wie Punkte im Universum sind, so klein, dass sie eigentlich keine Fläche haben, so klein, dass man glaubt, sie wären einander nahe, obwohl zwischen ihnen Platz für unendlich viele weitere Punkte ist, zwei Punkte, die sich in Bewegung setzen, zur Linie werden, zu zwei Linien, wenn man hineinzoomt, zwei parallelen Linien, die sich im Verlauf der Zeit als nicht parallel erweisen, auseinanderdriften, mit jeder Veränderung des Winkels oder der Geschwindigkeit, mit jeder fremden Linie, die sie kreuzen, jeder Widrigkeit und jeder Chance.”

Georg Geiger, pensionierter Gymnasiallehrer, Basel-Stadt

Was für ein lebenskluges, weises Ende dieser Geschichte, deren letzter Satz aber nochmals klarmacht, dass es keine vorschnelle Versöhnung und keine Verklärung der Vergangenheit gibt, was die unsägliche Zeit in diesem ummauerten Elitegefängnis anbetrifft: “Spinnst du?, sagte Till. Es war die Hölle, du Idiot!”

Seltsamerweise wird sowohl in der Laudatio der Buchpreis-Verleihung wie auch in einigen Rezensionen (vgl. etwa Adam Suboczynski in der ZEIT vom 16.3.2023) der Eindruck erweckt, dass sich der Held wegen des Schul-Drills, den Problemen mit seiner Mutter und dem frühen Tod des Vaters in die Gamer-Welt flüchte, was aber in keiner Weise zutrifft. Beide Welten, die Schule wie das digitale Strategiespiel, nehmen ihre Legitimation aus den Regeln, die es zu befolgen gilt, will man unbeschadet oder vielleicht sogar mit Erfolg aus der Sache herauskommen, wie es Philipp Bovermann in der SZ vom 15.4.2023 klug referiert.

Der Autor entgeht der Gefahr, auf plumpe Weise die analoge Welt gegen die digitale auszuspielen. Lesen oder gamen?, das ist nicht die passende Frage, denn: “Entweder man liest gerne, oder man spielt gerne Games. So oder so verpasst man etwas.” (S.256) Und das Gamen eröffnet Till eine ganze berufliche Zukunft: “Und er sieht ein neues Licht am Horizont, die Hoffnung auf Turniere, Sponsoren, eine Renaissance von AOE2, die ihm, genau zum richtigen Zeitpunkt, ermöglichen könnte, von dem zu leben, was er am liebsten macht, auch wenn das eher ein Gedanke für Tagträume ist als einer für die Berufsberatung.” (S.154)

“Mit Georg im Informatiksaal entdeckte er, dass das, was er sich immer gewünscht hatte, eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation, eine Möglichkeit, sich nicht nur heroisch zu fühlen, sondern es innerhalb einer ästhetisch stimmigen Fiktion von Krieg auch tatsächlich zu sein, längst existierte: als PC-Spiel, das im Jahr seiner Geburt erschienen war.”

Und wenn man als Leser oder Leserin über diese Welt, in der gemäss dem Anbieter “über 1000 Jahre Menschheitsgeschichte, 35 Zivilisationen und mehr als 200 Stunden Spielspass” steckten, genau so wenig weiss wie Tills Eltern, dann liefert der Roman interessante Hinweise, worin denn die ganze Faszination dieser Sache besteht: “Mit Georg im Informatiksaal entdeckte er, dass das, was er sich immer gewünscht hatte, eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation, eine Möglichkeit, sich nicht nur heroisch zu fühlen, sondern es innerhalb einer ästhetisch stimmigen Fiktion von Krieg auch tatsächlich zu sein, längst existierte: als PC-Spiel, das im Jahr seiner Geburt erschienen war.” (S.343)

Mit unserem Dünkel in den Senkel gestellt

Tills Eltern und wir alle, die wir bildungsbürgerlich geprägt natürlich der Literatur einen höheren Stellenwert beimessen als dem Echtzeit-Strategiespiel von Xbox Game Studio, werden auf sympathische und überzeugende Weise mit unserem Dünkel in den Senkel gestellt: “Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten,  der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.” (S.37)

Wir Lehrer*innen werden noch viel direkter in eine Reihe mit den Gamern gestellt, was durchaus unironisch verstanden werden kann und soll: “Vielleicht besteht kein so grosser Unterschied darin, ob man Streamer ist oder Sportreporter oder Lehrer. Ob man Elbisch lernt oder Finnisch, ob man die Geschichte von Westeros studiert oder die von Westfriesland. Tristan spricht zu Menschen, die jünger sind als er, und versucht, ihnen etwas beizubringen. Tristan kennt sich nur mit seinem Beruf aus, mit Videocontent und Age of Empires 2, während er von allem anderen erstaunlich wenig weiss. Er eint ein Publikum, indem er als Projektionsfläche für ihren Spott herhält, er interveniert, wenn es ihm zu viel wird, mahnt einen freundlicheren Umgangston an und lässt einzelne Störefriede von seinen Mods sperren, damit das, was Age of Empires besonders macht, die relative Freundlichkeit der Community, erhalten bleibt.” (S.79)

Eine weiterer Dimension des Lebens

Es gibt dann aber im Roman-Geschehen schon noch einen Moment, wo Till seine Gamer-Welt gegen die Echtzeit zwischenmenschlicher Begegnung austauscht. Dann nämlich, als er sich in Feli verliebt. Und das Verliebtsein eröffnet Till neben der sinnlosen schulischen Quälerei und der Omnipotenz, vom Sofa aus mit AOE Weltgeschichte zu kreieren, noch eine weitere Dimension des Lebens: “Wenn man nach einer langen Zeit eine körperliche Grenze überschreitet und einen neuen Menschen kennenlernt”, und dabei ein völlig neues Zeitgefühl erlebt. Das ist dann das ultimative Gegenstück zur Kurzformel des Nihilismus, wie sie das Leben von Till in dieser achtjährigen Schulzeit gnadenlos bestimmt hat: “Es vergeht eine Woche voller Referate und Zwischentests, Haus- und Schulübungen, eine Woche, in der keine Rede davon sein kann, dass Till auf sein nächstes Wahlpflichtfach wartet, denn er wartet ja nicht, sondern ist mit all den Sachen beschäftigt, die sein Leben ausmachen und ihm gar nichts bedeuten.” (S.165)

 

Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Roman. Hamburg 2023. Rowohlt Verlag

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